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Lara und Maja sind ein ebenso glückliches Paar wie Anke und Fiona. Doch das Schicksal entreißt Lara und Fiona ihre geliebten Frauen und lässt sie trauernd zurück. Sowohl Fiona als auch Lara glauben, nie wieder lieben zu können. Nach ihrem Hinscheiden gerät Maja in eine Zwischenwelt, in der sie Anke trifft. Sie stecken dort fest, denn sie haben noch eine Aufgabe zu erfüllen: Ihre Frauen sollen wieder glücklich werden, und zwar miteinander. Und so versuchen die beiden (noch nicht ganz) Verblichenen ihre zurückgebliebenen Frauen miteinander zu verkuppeln, was sich als schwieriger erweist, als es zunächst den Anschein hat ...
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Seitenzahl: 351
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Roman
© 2013édition el!es
www.elles.de [email protected]
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-95609-076-9
Coverillustration: © MarioDL – Fotolia.com
Mit aller Kraft versuchte Maja, den Entgegenkommenden auszuweichen. Meine Güte, war das schwierig. Kaum hatte sie sich nach links bewegt, kam ihr schon wieder jemand entgegen und lief sie fast über den Haufen. Mit einem schnellen Sprung rettete sie sich nach rechts.
»Kannst du nicht aufpassen, du Idiot?« Ihre Stimme klang wütend und laut in ihren Ohren, aber der Mann drehte sich nicht einmal um.
Eine helle Frauenstimme lachte in ihrer Nähe. »Nein, das kann er nicht. Schon vergessen?«
Maja versuchte sich so nah wie möglich an die Hauswand zu drücken und atmete aus. Hier war die Gefahr geringer, dass jemand ihren Weg kreuzte. »Tut mir leid, Anke. Ist alles noch ziemlich neu für mich«, bemerkte sie sarkastisch.
»Ich weiß.« Anke, die nun zu ihr kam, war ebenso jung wie Maja, Anfang Zwanzig. Aber sie wirkte nicht so aufgeregt. Eben streifte eine andere Frau ihren Arm, und Anke zuckte zusammen. Die Frau, die fast durch sie hindurchgelaufen war, schien es gar nicht zu bemerken. »Hoppla«, sagte Anke und strich über ihren Ellbogen. »Ich sollte auch besser aufpassen.«
Maja verzog die Mundwinkel. »Du bist es wenigstens schon eine Weile gewöhnt.«
»So lange auch nicht.« Anke legte ihre Hand beruhigend auf Majas Arm. »Am ersten Tag wäre ich fast hysterisch geworden.«
»Können wir das? Hysterisch werden?«, fragte Maja mit zweifelnd hochgezogenen Augenbrauen.
»Genauso, wie du eben wütend geworden bist.« Anke lächelte sie an. »Wir können fast alles, was wir auch vorher konnten. An unseren Gefühlen hat sich nichts geändert.«
»Fast alles«, wiederholte Maja, und ihr Gesichtsausdruck wandelte sich in den tiefster Trauer.
»Ja, leider nur fast.« Anke streichelte sanft Majas Handgelenk. »Wir müssen loslassen. Und ihnen helfen loszulassen. Deswegen sind wir hier.«
»Warum können wir nicht einfach zurück?« Maja schlug die Hände vors Gesicht. Ihre Stimme klang tränenerstickt. »Nur noch ein kleines Weilchen . . . ganz kurz . . . einen Tag vielleicht . . .« Das Flüstern erstarb.
»Und dann noch einen Tag . . . und noch einen . . .« Anke seufzte. »Weißt du, wie oft ich mir das gewünscht habe? Aber es geht eben nicht. Was vorbei ist, ist vorbei.« Sie betrachtete Maja mitfühlend. »Du konntest dich wenigstens vorbereiten. Du wusstest, was passieren würde. Ich wurde ganz plötzlich von diesem betrunkenen Autofahrer aus dem Leben gerissen und hierher verbannt. Noch eine Sekunde vorher wusste ich von nichts. Und Fiona saß da und wartete, dass ich zu ihr kommen würde.« Nun klang auch Ankes Stimme nicht mehr ganz klar. Sie räusperte sich. »Wusste Lara es? Oder hast du es ihr nie gesagt?«
Maja nickte langsam. »Doch, sie wusste es. Sie wusste es fast von dem Tag an, an dem wir uns kennenlernten. Ich habe noch überlegt, ob ich es ihr sagen soll, aber dann . . . wir waren frisch verliebt. Es wäre unfair gewesen, ihr nicht die Chance zu geben, mich –« Sie brach schluckend ab.
»Dich gleich wieder zu verlassen, bevor sie sich zu sehr engagieren konnte.« Ankes Gesichtsausdruck wirkte zugleich verständnisvoll und schmerzlich. »Aber das hat sie nicht getan.«
»Nein, das hat sie nicht getan.« Maja schüttelte kaum sichtbar den Kopf. »Sie hat sich um mich gekümmert. Das letzte Jahr war . . .«, sie schluckte, »traumhaft.« Bevor sie zu sehr in Erinnerungen versinken konnte, straffte sie ihre Schultern und trat einen Schritt von der Wand zurück. »Die meisten Leute denken wahrscheinlich nicht, dass es so schnell geht, wenn ein Gehirntumor diagnostiziert wird. Ich hätte das auch nicht gedacht. Aber diese Kopfschmerzen . . . trotz der starken Schmerzmittel haben sie mich immer daran erinnert.« Sie verzog das Gesicht. »Die wenigstens bin ich jetzt los. Als ich . . . aufwachte, war das das Erste, was ich bemerkt habe. Es ist eine große Erleichterung, das nicht mehr jeden Tag spüren zu müssen.«
»Na, siehst du. So hat die Sache doch auch etwas Positives.« Anke strahlte sie zuversichtlich an. »Den Rest werden wir auch noch schaffen.«
Maja schaute unsicher zurück. »Ich habe Angst. Lara und ich, wir . . . wir waren so eng verbunden. Ich glaube, sie hat es einfach verdrängt, dass es nicht ewig dauern konnte. Und jetzt . . . jetzt kann ich ihr nicht mehr helfen. Sie wird sich um alles kümmern müssen, meine Beerdigung –« Sie legte eine Hand über ihre Augen, aber darunter floss eine Träne langsam ihre Wange hinunter.
»Fiona musste das auch«, erwiderte Anke trocken. »Sie war die Liebe meines Lebens, und ich – Sie hat mir oft dasselbe gesagt. Wir hatten noch so viel vor.« Sie atmete tief durch. »Lass uns weitergehen. Wir haben eine Aufgabe. Wenn Lara und Fiona glücklich werden sollen, dürfen wir nur an sie denken, nicht an uns.«
»Du hast Recht.« Maja riss sich sichtbar zusammen. »Entschuldige. Ich weiß, ich bin peinlich.«
»Bist du nicht.« Anke hakte sich bei ihr ein und zog Maja sanft mit sich. »Wir sind für das Leben gemacht, nicht für den Tod. Und ganz sicher nicht für diese Zwischenwelt, in der wir jetzt feststecken. Das hätte ich mir nie träumen lassen. Da ist man tot, und dann hat man noch nicht mal seine Ruhe!« Sie lachte leicht.
»Wir sind nicht richtig tot, das ist ja das Problem.« Maja seufzte. »Wenn wir wirklich tot wären, hätten wir keine Probleme mehr.«
»Ach, wer weiß, was dann ist?«, warf Anke leicht hin. »Wir wissen nichts darüber. Ich denke nicht darüber nach. Mir reicht schon die Zwischenwelt. Die ist merkwürdig genug.«
»Wie lange –?« Maja schluckte. »Wie lange bleiben die Leute hier?«
Anke zuckte die Schultern. »Ich habe keine Ahnung. So lange, wie es eben nötig ist, um die Sachen, die ungeklärt sind, zu einem Abschluss zu bringen, nehme ich an. Ich dachte, als ich das erste Mal nach meinem Unfall bei Fiona war, dass es danach für mich vorbei wäre. Ich habe mit Hilfe des Führers, der damals bei mir die Rolle eingenommen hat, die ich jetzt bei dir einnehme, Fiona eine Nachricht zukommen lassen. Er ist schon sehr lange in der Zwischenwelt und kannte ein paar Tricks. Dadurch kennt sie jetzt die Adresse der Gruppe, die Frauen, die ihre Partnerin verloren haben, hilft, ihre Trauer zu überwinden. Mehr konnte ich nicht tun.«
»Und du weißt, wie ich dasselbe für Lara tun kann?« Maja fühlte sich so hilflos. Sie wollte Lara nicht nur eine Nachricht zukommen lassen, sie wollte sie umarmen, berühren, küssen . . .
Aber das war unmöglich. Niemand aus der Zwischenwelt konnte Lebende berühren. Sonst wäre der Weg zwischen all den Passanten nicht so mühsam gewesen. Sie sahen Anke und Maja nicht und konnten deshalb keine Rücksicht auf sie nehmen, selbst wenn sie gewollt hätten.
Als Kind hatte Maja sich oft gewünscht, unsichtbar zu sein, Geheimnisse zu belauschen, überall hinein- oder hinausschlüpfen zu können, wo sie wollte, ohne gesehen zu werden. Nun hätte sie all das tun können, aber es erschien nicht mehr wirklich erstrebenswert. Wie gern wäre sie Lara in sichtbarer Form gegenübergetreten.
Anke nickte. »Ja. Das kann ich dir zeigen. Den Rest muss Lara dann allerdings selbst tun. Wir können sie nicht zwingen.«
Sie wird mich vergessen, dachte Maja für einen Augenblick zutiefst erschrocken. Das ist der Sinn dieser ganzen Aktion: sie dazu zu bringen, mich zu vergessen.
»Sie wird dich nie vergessen.« Anke antwortete leise, als ob sie Majas Gedanken gehört hätte. »Wenn sie uns wirklich geliebt haben, werden sie sich immer an uns erinnern. Aber ihr Leben geht weiter, unseres ist vorbei.«
»Es ist so ungerecht!« Wild stieß Maja die Worte hervor. »Du und ich, wir sind noch so jung. Wir standen gerade mal am Anfang unseres Lebens!«
Anke zuckte die Schultern. »Die ersten Tage war ich auch sehr wütend darüber, aber nun habe ich mich damit abgefunden. Wir können nichts daran ändern. Wir sind aus der Welt der Lebenden ausgeschlossen, ob wir wollen oder nicht.«
Majas Schultern senkten sich. »Ich weiß nicht, ob ich das kann«, wisperte sie. »Sie sehen und sie nicht . . . berühren zu können. Sie nie wieder umarmen zu können.«
»Es ist schwer.« Anke atmete tief durch. »Ich dachte, ich werde verrückt, als ich Fiona wiedersah, sie mich weder hören noch sehen konnte, nur ich sie. Ich hatte gehofft, danach wäre ich frei, könnte aus der Zwischenwelt entfliehen, alles hinter mir lassen, alles vergessen.« Sie seufzte. »Aber so war es leider nicht. Ihr nur die Adresse zu geben hat nicht gereicht.«
Maja runzelte die Stirn. »Was hättest du denn tun sollen?«
»Ich weiß es nicht.« Anke sah ratlos aus. »Das kann mir niemand sagen. Ich muss es selbst herausfinden. Vielleicht muss ich dir erst helfen, damit ich weitergehen kann. Wohin auch immer.«
»Aber wenn die Adresse nicht reicht? Wenn ich auch hierbleiben muss?« Majas Stimme klang fast wie die eines ängstlichen Kindes.
»Dann haben wir wohl eine sehr lange gemeinsame Zeit vor uns.« Anke schien sich wieder gefangen zu haben. Sie warf Maja einen fast flirtenden Blick zu. »Fändest du das so furchtbar?«
Maja musste über Ankes Gesichtsausdruck lachen. »Es ist besser, als allein zu sein«, antwortete sie. »Als ich zuerst auf diesem weißen, endlos scheinenden Weg lief und niemand da war, habe ich mich sehr verloren gefühlt. Als du dann auftauchtest, war ich wirklich froh.« Sie lächelte. »Ob ich allerdings die Ewigkeit mit dir verbringen möchte, da bin ich nicht so sicher.«
Anke grinste. »Ich fürchte, du hast nicht viel Auswahl. Aber vielleicht kommt es ja auch ganz anders, wenn wir unsere Probleme gelöst haben. Wenn Fiona und Lara wieder glücklich sind.«
»Ohne uns?« Ein Schatten fiel über Majas Gesicht.
»Ja, ohne uns.« Auch Anke sah nicht wirklich glücklich aus. »Darauf läuft es nun einmal hinaus.« Sie umfasste Majas Hand ganz fest. »Komm, wir können uns nicht mehr länger drücken. Wir müssen anfangen.« Und sie zog Maja mit sich die Straße hinunter.
Lara nahm das Geräusch nur verschwommen wahr. Alles war irgendwie verschwommen, seit Maja nicht mehr da war. Die Realität war in den Hintergrund getreten, sie klammerte sich an ihre Träume, an ihre Erinnerungen. Nur das Allernötigste drang noch zu ihr durch. So wie jetzt dieses Getrommel, das immer lauter wurde.
»Mach auf, Lara! Du kannst dich nicht ewig verkriechen!«
Die Schlafzimmertür war geschlossen, und trotzdem hörte sie die Stimme laut und deutlich, die von der Wohnungstür zu ihr drang.
»Geh weg«, murmelte sie. »Lasst mich doch alle in Ruhe.« Sie drehte sich im Bett um und erstarrte. Majas Kissen lag direkt vor ihren Augen. Wie viele Nächte hatten sie gemeinsam in diesem Bett verbracht? Aber nun war da nur noch Majas Kissen – ohne Maja. Ihr Geruch schwebte noch darüber, als könne er sich nicht entscheiden, seiner Besitzerin nachzufolgen.
Ein Brennen in Laras Augen ließ sie blinzeln. Sie hatte keine Tränen mehr, nur noch dieses Brennen, das sie daran erinnerte, wie viele Tränen sie bereits geweint hatte.
Das Gewummere an der Tür klang nun fast lebensbedrohlich. »Lara! Ich höre Amor winseln. Warst du überhaupt mit ihm draußen?«
Amor. Ach ja, Amor. Maja hatte den Hund aus dem Tierheim geholt, als Überraschung für Lara. Sie hatten sich beide sofort in den großen, grauen Hund verliebt. Genauso wie umgekehrt. Ein einziger Spaziergang um das Tierheim herum hatte genügt.
Lara hatte sich zuvor keinen Hund halten können, weil sie den ganzen Tag arbeitete, aber Maja . . . Maja hatte damals gekündigt, nach der Diagnose, hatte ihre eigene Wohnung aufgegeben und war zu Lara gezogen. Sie wollte nicht den kurzen Rest ihres Lebens in einem Reisebüro verbringen und Reisen verkaufen, auch wenn sie dort zuvor sehr glücklich gewesen war. Sie hatte nicht umsonst den Beruf der Reisekauffrau gelernt.
So war Amor zu ihnen gekommen, Lara war weiterhin arbeiten gegangen, Maja hatte zuhause nach dem Rechten gesehen und täglich gegen ihre Kopfschmerzen angekämpft, um Lara abends nichts merken zu lassen, wenn sie von der Arbeit kam.
Aber Lara hatte es gemerkt. Den gequälten Ausdruck in Majas Gesicht, das Lächeln, zu dem sie sich zwang, um Lara zu begrüßen. Am liebsten hätte sie in Majas Kopf gegriffen und dieses furchtbare Ding dort einfach herausgeholt, aber das ging nicht.
Am Anfang hatte sie gedacht, es gäbe eine Möglichkeit zur Heilung, Medikamente, Therapie, eine Operation, aber das waren alles nur Wunschträume. Es gab keine Rettung mehr für Maja, und sie wussten es.
Lara versuchte Maja das Leben so schön wie möglich zu machen, gemeinsame Ausflüge, sonnige, lachende Tage, Spielen mit Amor, der dafür stets zu haben war und gar nicht mehr aufhören wollte. Er zumindest wusste nicht, was einem seiner Frauchen bevorstand.
Lara dachte zurück an den Ausritt, den sie gemacht hatten. Maja hatte einen Onkel, der eine kleine Reitschule betrieb. Sie waren hingefahren und hatten den Tag sehr genossen. An diesem Tag schien es, als hätte Maja keine Schmerzen. Sie waren so glücklich gewesen, so maßlos glücklich.
Sie hatten sich geliebt, als sie nach Hause kamen, stundenlang, in diesem Bett, Lara hörte jetzt noch Majas Seufzen. Jedes Mal, wenn sie sich liebten, war es, als würde der Himmel sich öffnen. Sie waren eins, es gab keine Unterschiede mehr, keine Krankheit, keine begrenzte Zeit.
Wenn sie nur gewusst hätte, wie begrenzt ihre Zeit gewesen war. Gerade einmal ein Jahr. Sie hatte die Liebe ihres Lebens gefunden und so schnell wieder verloren. Sie hatte es gewusst, aber sie hatte gehofft, dass es länger dauern würde. Nein, sie hatte noch viel mehr gehofft: dass es ein ganzes Leben dauern würde, ihrer beider Leben, gemeinsam.
Aber so war es nicht gekommen.
»Lara! Ich trete die Tür ein!«
»Ja, ja . . .« Lara zwang sich aus dem Bett, nur langsam stand sie auf. »Ich komme ja schon.«
Sie wankte zur Tür und öffnete.
Wie ein Wasserschwall, wenn sich ein Staudamm öffnet, stürzte ein junger Mann herein, aufgeregt und ganz rot im Gesicht. »Ich dachte schon, du –« Er verstummte abrupt.
Lara verzog das Gesicht. »Nein, ich bin nicht tot. Ich nicht.«
»Lara, Süße . . .« Er legte die Arme um sie. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht.«
»Ach, Chris . . .« Lara atmete tief durch. »Um mich musst du dir keine Sorgen machen. Mir geht es gut.«
Chris hielt sie auf Armlänge von sich weg. »Das sehe ich.«
Amor, der schon die ganze Zeit versucht hatte, die Aufmerksamkeit der Menschen zu erregen, sprang an ihnen hoch und versuchte sie abzuschlecken.
Chris fuhr ihm abwesend über den Kopf. »Soll ich mit ihm rausgehen?«, fragte er Lara. »Du siehst nicht so aus, als wärst du in der Lage dazu.«
»Danke.« Laras Stimme klang matt. »Willst du ihn nicht gleich mitnehmen? Und Cassiopeia auch?«
»Du willst die Tiere abgeben?« Chris schaute sie entgeistert an. »Hätte Maja das gewollt?«
Amor kratzte an der Tür.
»Ist gut, mein Junge, ich komme.« Chris warf einen Blick auf den Hund, dann wieder auf Lara. »Kommst du allein zurecht?«
Lara stand da, als hätte sie ihn gar nicht gehört.
»Leg dich hin«, sagte er leise. »Ich bin gleich wieder da.« Er griff nach Amors Leine und Halsband und legte es ihm um. Zum Schluss nahm er den Schlüssel vom Flurschränkchen und hob ihn hoch. »Dann brauchst du gleich nicht noch mal aufzustehen.«
Lara nickte, als ob selbst diese Bewegung sie ungeheuer erschöpfen würde.
Chris strich ihr über die Wange. »Ich bringe was zu essen mit, wenn ich zurückkomme. Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen?«
Laras Kopf bewegte sich wie von selbst langsam hin und her wie der einer Marionette. »Weiß nicht. Ist unwichtig.«
»Das sehe ich nicht so.« Chris schaute sie noch einmal besorgt an, dann ließ er sich von Amor in den Flur ziehen.
»Oh mein Gott, Lara . . .« Maja starrte mit aufgerissenen Augen auf ihre große Liebe, die sie nicht sehen konnte. Sie hob die Hand, wollte Lara berühren –
Anke hielt ihr Handgelenk fest. »Nicht. Du könntest sie erschrecken. Jeder Lebende reagiert anders, es kann sogar zu einem Herzinfarkt führen. Wir wissen nicht, wie sie reagiert. Sie sieht sehr geschwächt aus.«
Maja ließ die Hand sinken. »Ja, das tut sie«, flüsterte sie matt. Sie musste nicht flüstern, Lara hätte sie nicht hören können, selbst wenn sie laut geschrien hätte, aber sie konnte es sich immer noch nicht vorstellen. Außerdem hätte sie keinen lauten Ton herausgebracht, selbst wenn sie gewollt hätte.
»Mau?«
Maja fuhr herum. »Cassiopeia!« Diesmal sprach sie lauter als eben noch.
Anke schaute etwas skeptisch auf die Katze, die zu ihnen und Lara herüberstarrte. »Sie sieht uns. Katzen können Verstorbene sehen«, sagte sie.
»Sie kann mich . . . sehen?« Maja ging in die Knie und streckte ihre Hand nach Cassiopeia aus.
Cassiopeia schien nicht sicher zu sein, was sie tun sollte. Sie setzte sich erst einmal hin und begann sich zu putzen.
»Ich weiß, Cassiopeia.« Das war Laras müde Stimme. »Du hast Hunger.« Sie griff sich an den Kopf. »Oh, diese Schlaftabletten. Wie lange habe ich geschlafen?«
Nun erhob Cassiopeia sich und schlenderte in typisch majestätischer Katzenmanier zu Lara hinüber. Kurz bevor sie bei ihr angekommen war, machte sie einen Katzenbuckel und versuchte sich an Majas Hand zu reiben. Erstaunt darüber, dass sie Majas Hand zwar sehen konnte, die Hand aber trotzdem nicht da war, stutzte sie einen Moment.
Doch in diesem Augenblick ging Lara in die Küche und öffnete eine Dose Katzenfutter. Cassiopeia vergaß ihre Verwunderung und lief schnell in Richtung des Geräuschs.
Maja stand auf. Enttäuschung stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Sie kann mich zwar sehen, aber ich kann sie nicht fühlen und sie mich nicht.«
»Nein.« Anke schüttelte den Kopf. »Ich würde ihr Fell auch gern streicheln. Es sieht sehr weich aus.«
»Das ist es.« Majas Blick wanderte in die Küche, in die sie von hier aus hineinsehen konnten.
Lara hatte eine zweite Dose geöffnet, eine größere, und sie in Amors Fressnapf geschüttet. Wenn er mit Chris vom Spaziergang zurückkam, sollte er etwas zu essen vorfinden.
Etwas schwankend ging Lara in die Hocke und strich sanft über Cassiopeias Rücken. Cassiopeia schnurrte. »Ich weiß, es ist ungerecht euch gegenüber«, wisperte Lara schwach. »Aber ich habe sie so geliebt. Ich kann sie nicht vergessen. Deshalb nehme ich die Tabletten, damit ich schlafen kann. Und ihr müsst darunter leiden.«
Sie zog sich mit großer Anstrengung an der Arbeitsplatte hoch, und, wie es schien, mit letzter Kraft wankte sie ins Schlafzimmer zurück.
Kurz darauf wurde die Tür aufgeschlossen, und Chris kam mit Amor herein. Als Chris sein Halsband löste, stürzte Amor sofort in die Küche und machte sich über sein Futter her.
Chris legte Leine und Schlüssel auf den Tisch. »Lara?« Er schaute sich kurz um, sein Blick streifte Maja und Anke, doch er sah sie nicht.
Maja hielt die Luft an, aber es war unnötig. Chris konnte sie weder sehen noch hören.
»Lara?«, rief er wieder und ging auf die Schlafzimmertür zu.
Maja folgte ihm schnell. Als sie hinter Chris das Schlafzimmer betrat, sah sie die Tablettenpackungen überall. Ihr stockte der Atem. Versuchte Lara sich etwa umzubringen?
Chris trat auf das Bett zu, in dem Lara nun wieder lag. Sie hatte sich einfach darauf fallen lassen, quer über beide Seiten. Ihr Gesicht hatte sie in Majas Kissen vergraben.
Maja kamen die Tränen. »Lara . . .«, flüsterte sie erstickt. »Meine liebste Lara . . . mein süßer Schatz . . .«
Anke legte einen Arm um ihre Schultern. »Ich weiß, es ist schlimm«, sagte sie leise. »Aber wir können nichts tun.«
Maja versuchte sich zu beherrschen. »Warum kann ich ihr nicht zeigen, dass ich hier bin, dass es mir gut geht? Dass ich keine Schmerzen mehr habe? Darüber zumindest könnte sie sich freuen.«
»Sie denkt, dass du tot bist. Sie weiß, dass du keine Schmerzen mehr hast.« Ankes Stimme klang beruhigend, aber den Aufruhr in Majas Innerem konnte sie nicht vollständig zurückdrängen.
»Ich muss zu ihr!« Maja riss sich los und warf sich aufs Bett, halb über Lara.
Lara fuhr hoch. »Was soll das?«
»Was?« Chris schaute sie verständnislos an.
»Kannst du deine Scherze nicht mal jetzt lassen?« Lara starrte ihn aufgebracht an.
»Scherze?«
»Du hast mir einen Eisbeutel in den Rücken gedrückt.«
Chris lachte irritiert auf. »Eisbeutel? Wo denn?« Er hob die Hände. »Siehst du hier irgendwas?«
Lara griff sich an den Rücken. Offenbar erstaunt zog sie ihre Hand zurück. »Es war so kalt. Eisig kalt. Ich dachte –«
»Lara, wirklich . . .« Chris machte einen Schritt auf sie zu. »Ich weiß, ich bin nicht immer der Rücksichtsvollste, aber traust du mir so etwas tatsächlich zu?«
»Nein.« Lara schüttelte irritiert den Kopf. »Es war nur so . . . real. Ich dachte, mein Herz friert ein. Für einen Moment fühlte es sich an, als wäre es stehengeblieben.«
»Vielleicht ein Luftzug von der Tür«, vermutete Chris. »Du bist im Moment eben sehr empfindlich.«
Amor stürzte herein und lief direkt durch Anke hindurch, bevor sie zur Seite springen konnte. Er taumelte, fiel hin, stand stolpernd auf und schüttelte sich verwirrt.
»Amor, du bist doch ein Trampel«, schimpfte Maja unwillkürlich. »Nie passt du auf, wo du hintrittst oder ob du jemand über den Haufen rennst.«
Amor spitzte die Ohren, als hätte er etwas gehört. Im selben Moment betrat Cassiopeia das Schlafzimmer, und er drehte sich zu ihr um. Kaum hatte er sich auf den Teppich gelegt, sprang Cassiopeia auf seinen Rücken und benutzte ihn als Couch, während sie sich putzte.
»Die zwei sind süß«, bemerkte Anke lächelnd.
»Ja, das sind sie.« Majas Augen hingen an Lara. »Es tut mir so leid, mein Liebling«, flüsterte sie. »Fast hätte ich dich umgebracht.«
»Du warst leider zu schnell für mich«, fügte Anke bedauernd hinzu. »Ich sagte ja, es kann zu einem Herzinfarkt führen. Du darfst sie nicht berühren, wenn du ihr nicht schaden willst.«
Maja schloss die Augen. »Ich darf sie nicht berühren«, wiederholte sie mit versagender Stimme. »Nie mehr.«
»Ja.« Anke schaute sie mitfühlend an. »Das war auch das Schwerste für mich, als ich bei Fiona war. Es war so – Ich fühlte mich so hilflos. Da stand ich, direkt neben ihr, und konnte nicht einmal ihre Wange streicheln.«
Majas Blick nahm Laras Bild in sich auf, ließ sie nicht mehr los, als wollte sie sie ganz in sich einsaugen, sich mit ihr vereinigen.
»Es geht nicht«, sagte Anke. »Es ist nicht möglich. Sie sind von uns getrennt, jetzt und für alle Zeit.«
Maja legte verzweifelt ihr Gesicht in die Hände und begann zu schluchzen. »Ich kann nicht. Ich kann nicht ohne sie leben!«
»Du lebst nicht mehr.« Anke strich ihr sanft über den Rücken. »Jedenfalls nicht wirklich. Ich weiß, es fühlt sich nicht so an, aber wir sind eigentlich nicht mehr da. Nur unsere Gedanken sind noch da, um eine Aufgabe zu erfüllen.«
Chris hatte unterdessen begonnen, die Tablettenschachteln einzusammeln, die vollen wie die leeren. »Die nehme ich besser mit«, sagte er, »sonst kommst du noch auf dumme Gedanken.«
»Was würde es schon ausmachen?« Lara sank völlig ausgelaugt auf das Bett zurück. »Was hat mein Leben noch für einen Sinn? Sie war mein Leben. Ohne sie ist alles sinnlos.«
»Ich weiß, dass es dir im Moment so vorkommt.« Chris presste die leeren Schachteln flach zusammen. »Ich habe vorhin Daniel angerufen, als ich mit Amor draußen war. Du weißt, dass er Amor und Cassiopeia jedes Mal gern mitgenommen hätte, wenn wir hier waren.« Er lachte liebevoll auf. »Als ob er als Tierpfleger nicht schon genug Tiere zu versorgen hätte!«
Lara hob die Augenbrauen. »Du kennst Tiere eben nur in der Pfanne.«
»Ich bin Koch.« Chris zuckte die Achseln. »Ich hab’s nicht so mit lebenden Tieren. Außer Hummern.« Er betrachtete Amor und Cassiopeia, die eindeutig ein Bild von Herrin und Sklave vermittelten. »Also, was ich sagen wollte, Daniel hat vorgeschlagen, dass ihr alle drei zu uns kommt, du, Amor und Cassiopeia. Was hältst du davon?«
»Hat er mich tatsächlich erwähnt?« Lara wirkte skeptisch. »Er hat doch bestimmt nur was von den Tieren gesagt.«
»Hat er nicht.« Chris lächelte. »Wirklich nicht. Du weißt, er ist eine Seele von Mensch. Ich weiß gar nicht, womit ich ihn verdient habe.«
»Ich auch nicht.« Laras Mundwinkel verzogen sich leicht. »Maja hat Daniel immer geliebt. Wer weiß, wenn sie hetero gewesen wäre und er auch – vielleicht hätten die beiden geheiratet und nicht Maja und ich.«
»Da hätte ich ja wohl auch noch ein Wörtchen mitzureden gehabt!« Chris lachte. »Also? Was sagst du? Du solltest jetzt nicht allein sein. Ein paar Tage wenigstens, bis du dich ein bisschen erholt hast.«
»Das ist lieb von dir, Chris. Und Daniel. Aber –«, sie schaute sich im Zimmer um, »ich kann nicht. Die Beerdigung war so furchtbar . . .« Als ob ein grausamer Schmerz durch ihren ganzen Körper fahren würde, krümmte sie sich zusammen. »Das Geräusch, als die Erde auf ihren Sarg fiel . . . ihre Eltern . . .« Laras Stimme klang rau vor Qual. »Ich glaube, sie geben mir die Schuld an ihrem Tod. Besonders ihr Vater. Er hat mich nie gemocht. Er hat nie akzeptiert, dass ich kein Mann bin und Maja mich trotzdem wollte.«
»Wohl nicht trotzdem, sondern deswegen.« Chris lächelte. »Ja, Eltern sind manchmal schon komisch.«
»Alles, was noch von ihr da ist, ist hier.« Lara atmete tief durch. »Aber wenn ihr Amor und Cassiopeia solange nehmen würdet . . .«
Chris nickte. »Natürlich. Daniel wird Luftsprünge machen. Aber«, er hob einen Finger, »ich verlange einen Schlüssel. Falls etwas ist . . .«
Ein schwaches Lächeln umspielte Laras Mundwinkel. »Du hast doch alle Tabletten mitgenommen.«
»Aber ich kann dich nicht festbinden. Du kannst dir neue kaufen.« Chris zog besorgt die Augenbrauen zusammen. »Versprichst du mir, dass du es nicht tust?«
Lara legte den Kopf aufs Kissen zurück und schloss die Augen. »Ich glaube, ich schaffe es nicht, die Wohnung zu verlassen. Auch wenn ich nicht weiß, wie ich ohne die Tabletten schlafen soll.«
»Na gut, ein paar lasse ich dir hier.« Chris zählte einige Tabletten ab und legte sie Lara auf den Nachttisch. Er betrachtete die blasse, hohlwangige Frau im Bett noch immer voller Sorge. »Weißt du«, sagte er leise, »etliche meiner Freunde sind an AIDS gestorben, ich war auf vielen Beerdigungen. Viel zu vielen. Ich kann gut nachfühlen, was du empfindest. Aber das Leben geht weiter. Ich habe Daniel gefunden und bin glücklich mit ihm. Du wirst auch wieder jemand finden.«
Lara lag da, ihre Haut so grau, als wäre sie ebenfalls bereits tot. Nach einer Weile hob sie halb die Augenlider, als wären sie zu schwer, um sie ganz zu heben. »Niemals«, flüsterte sie mühsam. »Sie war die Liebe meines Lebens, und mit ihr ist die Liebe gegangen. Für immer.«
»Sie war ein wunderbarer Mensch«, sagte Chris. »Wir werden sie nie vergessen.« Er beugte sich zu Lara hinunter und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Schlaf, wenn du kannst. Ich rufe dich an.«
Als er sich aufrichtete, hob er Cassiopeia von Amors Rücken und nahm sie auf den Arm. »Komm, Junge«, sagte er zu Amor. »Wir gehen.«
Majas Gesicht war angeschwollen von all den Tränen, die darübergelaufen waren, während sie Lara und Chris zuhörte. Sie schluckte und versuchte sich zu fassen. »Früher fand ich es immer eine lustige Idee, wenn in Filmen Leute gezeigt wurden, die bei ihrer eigenen Beerdigung zusahen.« Sie wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. »In Wirklichkeit ist es nicht so lustig.«
»Warst du auf deiner eigenen Beerdigung?«, fragte Anke.
»Nein.« Maja schüttelte den Kopf. »Das muss in der Zeit gewesen sein, als ich den weißen Weg entlanglief. Bevor ich dich traf. Ich dachte, ich wäre nur ein paar Stunden gelaufen, aber anscheinend waren es Tage.«
»Zeit hat für uns keine Bedeutung.« Anke stand dicht neben Maja und hatte den Arm um sie gelegt. »Es hätten auch Jahre sein können, die dir wie Minuten vorkamen. In unserem Universum, in der Zwischenwelt, ist nichts mehr so, wie es einmal war.«
Maja presste die Lippen zusammen. »Mein Vater. Warum hat er Lara das angetan? Ich dachte, er hätte es akzeptiert. Am liebsten würde ich zu ihm gehen und ihm die Meinung sagen.«
»Wir können die Menschen nicht ändern«, sagte Anke. »Das ist noch genauso wie früher. Deine Eltern waren nicht damit einverstanden, dass du lesbisch bist?«
»Meine Mutter schon.« Maja seufzte. »Ich meine, sie war zuerst auch überrascht, aber dann war es für sie völlig in Ordnung. Aber mein Vater . . . er hatte da immer seine eigenen Ansichten. Nach einer Weile schien es so, als hätte er sich in sein Schicksal ergeben. Er hat ja gesehen, wie glücklich ich mit Lara war. So ganz verstanden hat er es wohl nie, aber ich dachte, er mochte Lara. Er hat sie immer ein bisschen wie einen Schwiegersohn behandelt.«
»Das hat sich wohl mit deinem Tod geändert. Er wollte dir wahrscheinlich einen Gefallen tun, solange du lebtest, jetzt ist das nicht mehr nötig.«
Maja schüttelte den Kopf. »Nie hätte ich das gedacht. Aber wenigstens hat Lara ihre eigenen Eltern. Die sind ganz anders. Sie haben mich aufgenommen wie eine zweite Tochter.«
Lara schien wieder eingeschlafen zu sein. Anke und Maja betrachteten sie eine Weile.
»Fiona ist eine Zeit zu ihren Eltern gezogen nach meiner – nachdem ich tot war«, setzte Anke dann an. »Vielleicht wäre das für Lara auch das Beste.«
»Es würde mich sehr beruhigen, wenn sie nicht allein wäre«, stimmte Maja zu. »Sie hätte das Angebot von Chris und Daniel annehmen sollen.«
Anke lächelte. »Hättest du es getan? Wenn Lara tot wäre?«
Maja verzog schmerzvoll das Gesicht. »Es ist so grausam. Sie quält sich so. Irgendwie hatte ich gehofft, dass sie darauf vorbereitet wäre. Sie wusste es ja die ganze Zeit. Ich hatte so gehofft, dass es nicht so schlimm für sie sein würde.«
Anke nahm sie in den Arm. »Sie hat dich sehr geliebt. Sie kann sich ein Leben ohne dich nicht vorstellen. Bei Fiona war es genauso. Es war vierzehn Tage nach meinem Tod, als ich das erste Mal zu ihr ging. Alles sah so aus, als würde sie immer noch auf meine Ankunft warten. Sie hatte sogar einen Pyjama für mich rausgelegt, als ob ich gleich hereinkommen und ins Bett gehen würde.« Sie schluckte. Auch sie konnte schwer damit umgehen, was sie gesehen hatte, genauso wie Maja.
»Es sieht so aus, als wollte sie sich nicht aus der Wohnung fortbewegen, weder zu Daniel und Chris noch zu ihren Eltern. Und selbst, wenn sie die Adresse von dieser Gruppe hätte, würde sie wohl auch da nicht hingehen.« Wieder traten Maja Tränen in die Augen. »Was soll ich nur tun? Was kann ich überhaupt tun?«
Als wäre es eine Antwort auf ihre Frage, klingelte in diesem Moment das Telefon. Obwohl es so ausgesehen hatte, als ob Lara schliefe, hatte sie wohl nur die Augen geschlossen gehabt. Sie stöhnte gequält auf und wälzte sich herum.
Das Telefon klingelte erneut.
»Verdammt, Chris . . .« Laras schwach murmelnde Stimme enthielt einen Anflug von Ärger. »Musst du jetzt schon anrufen? Hätte das nicht noch ein bisschen Zeit gehabt?«
Da das Telefon sich jedoch von ihrem Ärger nicht beeinflussen ließ, klingelte es weiter. Lara zog sich das Kissen über den Kopf. Nach einer Weile hörte das Klingeln auf.
»Sie igelt sich ein«, sagte Anke. »Sie antwortet einfach nicht.«
»Wenn es Chris war, wird er sich davon nicht abhalten lassen, es wieder zu versuchen«, vermutete Maja. »Können wir sie nicht irgendwie dazu bringen dranzugehen? Jede Minute, die sie nicht mit Grübeleien im Bett verbringt, wäre ein Anfang.«
»Es würde sie davon abhalten Schlaftabletten zu nehmen, meinst du? Ja.« Anke strich sich nachdenklich übers Kinn. »Ich weiß nicht, ob ich so gut bin wie er, aber wir könnten unsere Gedanken bündeln und ihr den Wunsch, doch zu antworten, ins Ohr setzen.« Sie hob ein wenig entschuldigend die Schultern. »Garantieren kann ich es nicht. Er war damals schon sehr erfahren, als er mich unterstützte. Ich habe das noch nicht so oft gemacht.«
»Einen Versuch ist es wert.« Majas zärtlicher Blick ruhte auf Lara. »Wenn ich dir doch nur noch einmal sagen könnte, wie sehr ich dich liebe«, flüsterte sie. »Du bist mein Ein und Alles. Nie hätte ich dich freiwillig verlassen.«
Anke schaute sie nur mitfühlend an. In ihr regten sich dieselben Gefühle für Fiona, aber sie wusste, dass es vorbei war. Maja brauchte da wohl noch eine Weile, um das zu begreifen.
Es dauerte über zwei Stunden, bevor das Telefon erneut klingelte. Maja und Anke hatten Laras Schlaf bewacht und einfach gewartet. Maja erkannte nun, dass Zeit wirklich keine Bedeutung hatte. Sie spürte weder Ermüdung noch Unruhe, keine hektische Erwartung, dass demnächst etwas passieren müsste. Vermutlich hätte sie tage- oder wochenlang hier so stehen können.
Anke stieß sie an, als der Ton des Telefons Lara weckte. Genau wie beim ersten Mal machte sie keine Anstalten, den Anruf anzunehmen.
»Wir müssen sie dazu bringen«, sagte Anke. »Du musst dich darauf konzentrieren, was sie tun soll, wir müssen ihr das Bild in den Kopf setzen, so dass sie denkt, sie will es.« Sie griff nach Majas Hand und drückte sie.
Lara hatte sich schon wieder das Kissen über den Kopf gezogen und presste es auf ihre Ohren.
Maja spürte, wie etwas nach ihr griff – nicht nach ihrem Körper, der ja ohnehin nur noch Einbildung war, sondern nach ihrem Geist. Im ersten Moment wollte sie sich wehren, aber dann erkannte sie, dass es Anke war. Wie die sanften Finger einer streichelnden Hand tasteten sich ihre Gedanken in Majas vor.
Es dauerte nicht lange, da hatte sich dieser eine Gedanke mit Majas Wunsch verschmolzen, und gemeinsam konzentrierten sie sich auf Lara.
Maja wäre fast zurückgezuckt, als sie Lara endlich spüren konnte. Da war so viel Schmerz, so viel Verzweiflung, so viel Verlust, so viel Zorn auf das Schicksal und so viel Hoffnungslosigkeit, die kaum mehr Platz für etwas anderes ließen. Es war wie ein schwarzes Loch, das sie fast in tiefe, unergründliche Strudel von Angst und Verlorenheit hineinzog.
Anke spürte Majas Entsetzen und drückte ihre Hand fester. »Deshalb sind wir hier«, flüsterte sie drängend – oder war es nur ein Gedanke in Majas Kopf? »Damit sie nicht mehr so sehr leiden muss.«
Maja nickte unwillkürlich. Ja, so sehr sie dieser Schmerz auch erschreckt hatte, sie musste weitermachen. Für Lara.
Lara fühlte sich plötzlich unwohl. Sie hatte nur darauf gewartet, dass das Klingeln aufhören würde, damit sie weiter von Maja träumen konnte, sich ihrem Schmerz hingeben, fast hatte sie den Störfaktor schon völlig ausgeblendet, aber auf einmal verringerte sie den Druck mit dem Kissen auf ihre Ohren, schob es ganz weg, sah das Telefon vor sich und wie sie es in die Hand nahm.
Irritiert runzelte sie die Stirn. Nein, sie wollte nicht mit Chris sprechen. Wahrscheinlich würde er sie doch wieder nur zu überreden versuchen, zu ihm und Daniel zu ziehen. Oder noch schlimmer: Daniel rief an, mit seiner lieben, lieben Art, die es fast unmöglich machte, nein zu sagen.
Doch noch während sie das dachte, streckte sie die Hand nach dem Hörer aus. Ohne es richtig zu merken, nahm sie das Gespräch an.
»Ach, Mama . . .« Es war fast wie eine Erleichterung.
»Wie geht es dir, Liebes? Ich habe schon so oft angerufen. Bald hätte ich mich ins Auto gesetzt und wäre zu dir gekommen. Ich habe mir große Sorgen um dich gemacht.« Die Stimme von Laras Mutter klang mitgenommen. »Papa auch. Wir denken nur noch an dich. Du hättest nach der Beerdigung mit zu uns kommen sollen.«
Ebenso wie Chris hatten ihre Eltern versucht sie zu überreden, bei ihnen zu bleiben, sich zu erholen, zu versuchen, alles zu vergessen.
Aber sie wollte nicht vergessen. Gerade das wollte sie eben nicht. Sie wollte die Erinnerung an Maja wachhalten, hier in der Wohnung waren immer noch ihre Dinge, ihre Kleider, ihr Geruch. Woanders hätte sie das nicht gehabt. In jeder Ecke hingen die Bilder, der Klang von Majas Stimme, ihr Lachen – ihr Weinen, wenn der Schmerz zu schlimm geworden war. Hier hatte Lara sie getröstet, sie in den Arm genommen und ihr Zittern gespürt, ihre Schwäche. Besonders in den letzten Wochen, als Maja nur noch ein Schatten ihrer selbst gewesen war, manchmal nicht einmal mehr aufstehen konnte.
»Ich kann nicht, Mama.«
»Und wenn ich zu dir komme? Eine Weile bei dir bleibe? Die Tiere müssen ja auch versorgt werden.«
»Die sind bei Daniel und Chris. Du weißt, wie tierverrückt Daniel ist.« Es strengte Lara sehr an, mit ihrer Mutter zu sprechen, aber irgendwie war es auch tröstlich.
»Ja, er ist ein lieber Junge.« Laras Mutter seufzte. »Ich könnte für dich kochen. Du isst bestimmt nichts. Du hast immer aufgehört zu essen, wenn es dir schlecht ging.«
»Ich brauche nichts«, sagte Lara. »Ich habe keinen Hunger.«
»Das ist ja gerade das Schlimme. Du merkst es gar nicht«, antwortete ihre Mutter. »Bis du wieder in Ohnmacht fällst.«
»Ein Mal, Mama. Das war ein einziges Mal«, protestierte Lara matt.
»Ein Mal zu viel.« Diesmal war Laras Mutter beharrlich. Sie hatte sich die ganze Zeit Vorwürfe gemacht, dass sie das letzte Mal zu schnell nachgegeben hatte. Sie hätte ihre Tochter mitnehmen sollen nach Hause, wo sie sie versorgen und im Auge behalten konnte. Schon nächtelang hatte sie kaum noch geschlafen, weil sie Lara telefonisch nicht erreichte. »Bitte, ich möchte für dich da sein. Du bist noch so jung. Niemand sollte so etwas Schlimmes erleben, wenn er noch so jung ist. Das ist nicht richtig.«
»Das Schicksal hat wohl eine andere Vorstellung von richtig und falsch«, erwiderte Lara mit unterdrückter Stimme. Sie musste die Tränen zurückhalten. »Es hat mir Maja genommen, ohne danach zu fragen.«
»Daran können wir nichts mehr ändern. So schrecklich es ist, aber wir müssen das Schicksal akzeptieren, selbst wenn es uns das Herz herausreißt.« Laras Mutter atmete tief durch. »Ich werde kommen«, sagte sie. »Du bist meine einzige Tochter. Für eine Weile war es so, als hätte ich zwei, und ich habe mich darüber gefreut, aber ich kann dich jetzt nicht alleinlassen. Dann wäre ich eine schlechte Mutter.«
»Mama, ich –«
»Nein.« Laras Mutter hatte sich entschieden. »Ich glaube, du bist jetzt nicht in der Verfassung, für dich selbst zu sorgen. Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn ich dich in so einer Situation im Stich lassen würde. Ich habe schon viel zu lange gewartet. Ich komme noch heute Abend.« Die Entschlossenheit in ihrer Stimme wurde von weicher Zärtlichkeit abgelöst. »Ich liebe dich, mein Schatz. Ich weiß, es ist nur die Liebe einer Mutter und nicht die Liebe, nach der du dich jetzt sehnst, aber auch wenn ich Maja nicht ersetzen und nicht zurückholen kann, hoffe ich, dass du mich reinlässt und mir erlaubst, mich um dich zu kümmern.«
Lara schluckte. Sie brachte keinen Ton heraus.
»Sag ja, Liebes«, bat ihre Mutter leise. »Sag doch bitte ja.«
»Ja.« Es war nur gehaucht und kaum zu verstehen, aber Lara fühlte sich wie erlöst, nachdem sie es gesagt hatte.
Zu lange hatte sie sich dagegen gewehrt, die Schwache zu sein. Für Maja hatte sie immer stark sein müssen – und wollen. Nie hatte sie ihr gezeigt, wie sehr sie selbst litt, wenn sie Maja leiden sah. Die Sorge um Maja hatte all ihre eigenen Sorgen ausgelöscht. Sie sah nichts außer Maja, es gab nichts anderes als Maja, keine Bedürfnisse, die über die von Maja hinausgingen. Sie hatte nichts mehr gespürt als die allumfassende Liebe, die sie für Maja empfand. Ihre ganze Welt war Maja gewesen.
Und dann war diese Welt zusammengebrochen in dem Augenblick, als Maja gestorben war, und zurück blieb nur Leere, keine Sorge mehr, keine Liebe mehr, gar nichts.
»Ich bin schon unterwegs«, sagte ihre Mutter.
Fiona saß auf der Couch und las. Oder vielmehr: Sie versuchte zu lesen. Es fiel ihr immer noch schwer, sich auf irgendetwas zu konzentrieren.
Heute war es drei Monate her, dass Anke . . . dass dieser Betrunkene, dieser Mörder Anke umgebracht hatte. An einem Mittwoch. Seither war jeder Mittwoch eine Qual.
Und dann musste auch noch ausgerechnet mittwochs die Gruppe stattfinden.
Sie atmete tief durch und schaute auf die Uhr. Gleich musste sie los. Jedes Mal fragte sie sich erneut, was für einen Sinn das Ganze haben sollte.
Es wird dir besser gehen, wenn du mit anderen redest, die dasselbe erlitten haben wie du, hatten ihr alle gesagt. Es wird dir helfen, dich von deinem Schmerz abzulenken, deine Trauer zu verarbeiten. Das Leben geht weiter. Anke kommt nicht mehr zurück. Du musst dich auf die Lebenden konzentrieren und auf dich selbst.
Fiona hatte den leisen Verdacht, dass alle, ihre Eltern, ihre Freundinnen und Freunde, jeder, mit dem sie gesprochen hatte, sie einfach nur loswerden wollten. Sie hatte alle angerufen, es jedem erzählt, nachdem der Schock sie getroffen hatte, hatte in ihrer Verzweiflung auf Unterstützung gehofft. Die hatte sie am Anfang auch bekommen, aber keiner von all diesen Menschen hatte Anke so geliebt wie Fiona. Und keiner konnte sie zurückbringen.
Nach einer Weile hatte sie gespürt, dass es ihnen zu viel wurde, über Anke zu sprechen. Ihr tägliches Leben hatte nichts mit Anke zu tun, sie wollten das Thema abschließen und erwarteten, dass Fiona das auch tat.
Aber Fiona konnte nicht. Sie dachte fast jede Minute an Anke, jeden Tag. Es war, als hätte Anke sie nie verlassen, als würde sie jeden Augenblick zur Tür hereinkommen. Immer wieder schaute sie auf, wenn sie ein Geräusch im Flur hörte, wenn jemand durchs Haus ging.
Sie wusste, es war völlig irrational, gegen jede Vernunft und Erfahrung, aber sie hatte den Eindruck, Anke wäre gar nicht tot. Sie konnte einfach nicht tot sein.
Auf der Beerdigung hatte sie am Grab gestanden und immer nur gedacht: Da liegt jemand anderer im Sarg. So ein Sarg, das wäre nichts für Anke, das hätte ihr überhaupt nicht gefallen. So eingeschlossen zu sein, sich nicht frei bewegen zu können.
Anke war der freiheitsliebendste Mensch, den sie kannte. Sie ließ sich nichts vorschreiben, hatte ihren eigenen Kopf. Einen Sturkopf manchmal.
Immer wenn sie daran dachte, schlich sich ein schmerzliches Lächeln in ihre Mundwinkel. Sie sah Anke vor sich, in einem Sommerkleid auf einer Sommerwiese, lachend, sich drehend, die langen Haare wehten im Wind, diese Löwenmähne, die sie kaum bändigen konnte.
Wie gern hatte Fiona ihre Finger durch diese Mähne gleiten lassen, die weichen Wellen darumgewickelt. Es war immer wie ein Traum gewesen, als wären sie gemeinsam im Himmel.
Und dann, an diesem Tag, an diesem unglückseligen Tag, war daraus die Hölle geworden.
Ihr Blick fiel erneut auf die Uhr an der Wand. Es wurde Zeit, sie musste gehen. Die Gruppe war der einzige Ort, an dem sie noch über Anke sprechen konnte, an dem andere ihr zuhörten, wenn sie von Anke erzählte, und sich nicht genervt abwandten. Oh ja, sie versuchten zu verstecken, dass sie genervt waren, aber es war kaum zu übersehen. Es richtete sich wie eine Mauer vor Fiona auf. Und dann waren sie so schnell wie möglich verschwunden.
Eine weiche Schnauze schob sich zwischen ihre Beine, treue braune Augen sahen sie mitfühlend an.
Fiona lächelte leicht. »Nein, du nicht, mein Mädchen. Du lässt mich nicht im Stich. Und dir kann ich immer von ihr erzählen.« Sie streichelte sanft Lunas Kopf. »Wenn ich dich nicht hätte . . .«