Verwunschen und bezaubert - Laura Beck - E-Book

Verwunschen und bezaubert E-Book

Laura Beck

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Beschreibung

Inspiriert von Daphne du Mauriers "Rebecca" hat Laura Beck sich eine Liebesgeschichte der etwas anderen Art ausgedacht: Als Maklerin Annett den Auftrag bekommt, ein altes Anwesen in Beelitz zu verkaufen, erfährt sie zwar, dass die vor kurzem erst eingezogene Besitzerin etwas schwierig ist, aber mit dem, was noch auf sie zukommt, hat Annett nicht gerechnet. Das abgelegene Anwesen war seit Jahren nicht bewohnt, doch so verfallen und zugewuchert besitzt es eine verwunschene Aura. Von der bezaubernden Besitzerin Lea ist Annett sofort in den Bann gezogen, obwohl Lea ein merkwürdiges Verhältnis zu ihrem Haus hat: Sie will es verkaufen, aber nur an eine bestimmte Frau. Annett begibt sich auf die Suche nach der mysteriösen Unbekannten, während sie die abholde Lea umgarnt und die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit sich dabei aufzulösen scheinen ...

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Laura Beck

VERWUNSCHEN UND BEZAUBERT

Roman

© 2021édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-346-3

Coverfoto:

1

Heute Nacht hatte ich einen Traum. Normalerweise erinnere ich mich nicht an meine Träume, aber dieser war so lebendig – und so erschreckend. Es war dunkel, und ich stand vor einem eisernen Tor, das eine Art Park zu verschließen schien, der dahinter lag. Man konnte durch die in geschwungenen Formen geschmiedeten Teile des Tores auf eine Auffahrt schauen, die offensichtlich schon eine Weile nicht gepflegt worden war, denn Sträucher, Äste, Efeu und wild gewachsenes Gras und Unkraut überwucherten den Kies und die Platten, die einmal einen breiten Pfad zum Eingang des Hauses gebildet hatten.

Ich war noch nie in einem solchen Haus gewesen, und ich würde wahrscheinlich auch nie in einem sein, denn es wirkte wie ein hochherrschaftliches Anwesen. Ein sehr vernachlässigtes hochherrschaftliches Anwesen, in dem schon lange niemand mehr wohnte. Aber vor vielen Jahren musste es schön hier gewesen sein. Im Sonnenschein, nicht in der Dunkelheit, die nun alles umgab.

Auf einmal schien es mir, als hörte ich Kinderlachen, sah weiße Stühle in der Sonne blitzen, in denen Menschen saßen, die sich anscheinend angeregt unterhielten, sich amüsierten. Niemand schien unglücklich zu sein, niemand schien Sorgen zu haben. Es war wie eine Szene aus dem Paradies oder aus einem Film, einem alten Film, in dem eine Familie sich zur Sommerfrische auf dem Land getroffen hatte. Eine Familie, der es gutging, die wohlhabend genug war, sich so ein Anwesen wie dieses hier leisten zu können.

Die Sonne verschwand auf einmal, als wäre sie plötzlich heruntergefallen, und hinterließ wieder nur bedrückende Schwärze.

2

»Träumst du mal wieder?« Eine Stimme riss mich aus meinen Gedanken.

Ich schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Ich habe mich nur an einen Traum erinnert, den ich heute Nacht hatte.«

»Ouh . . .« Ein neugieriges Grinsen überzog das Gesicht meiner Kollegin oder eigentlich eher Geschäftspartnerin Nele. »Erzähl mir mehr. War es ein feuchter Traum?«

»Du bist unmöglich, Nele.« Obwohl ich Neles Direktheit manchmal schon peinlich fand, war sie nicht nur meine Kollegin, sondern auch eine Freundin, und ich konnte über ihre Frage nur lachen. »Nein, so ein Traum war es nicht. Ich habe von einem Haus geträumt. Und einem Park.« Ganz automatisch runzelte sich meine Stirn, weil die Bilder bereits verschwammen, obwohl sie eben noch so klar vor meinem inneren Auge gestanden hatten.

»Ach so.« Enttäuscht winkte Nele ab. »Ein Haus, das du verkaufen sollst?«

Noch einmal musste ich den Kopf schütteln. »Nein. Kein Haus, das ich kenne. Und das hätte auch nie jemand gekauft. Es war total heruntergekommen, in keinem guten Zustand. Der Park sah aus wie ein Urwald. Als ob da schon lange niemand mehr leben würde.«

»Was hast du denn für komische Träume?« Irritiert runzelte nun auch Nele die Stirn. »Ich glaube, meine Liebe, du solltest endlich mal wieder auf die Piste gehen. Du hattest zu lange keinen Sex. Dass du schon von Häusern träumst . . . Als ob du jetzt mit deinem Beruf verheiratet wärst.«

»In gewisser Weise«, ich blickte zu ihr hoch, weil ich am Schreibtisch saß und Nele davor stand, »bin ich das ja auch. Ich hetze von einem Termin zum nächsten.«

»Apropos«, schloss Nele gleich an. »Wie ist das heute? Wie teilen wir das auf? Ich muss sowieso nach Eberswalde. Dann könnte ich auch gleich den neuen Kunden dort übernehmen. Fährst du dann nach Beelitz?«

»Beelitz? Was ist in Beelitz?« Leicht verwirrt schaute ich sie an.

»Ach, stimmt, das weißt du ja noch gar nicht.« Nele schlug mit einer Hand durch die Luft. »Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, dir das zu sagen. Da hat gestern ein Maklerkollege angerufen, der dein Urteil zu einem Haus will. Ihr habt euch wohl mal irgendwo auf einem Seminar getroffen.« Sie grinste. »Und ich glaube, es geht gar nicht um das Haus. Er will dich wiedersehen.«

»Seminar?« Ich überlegte und versuchte, mich zu erinnern. »Wann war ich denn auf einem Seminar?«

»Dieses Gründungsdingens?«, vermutete Nele mit hochgezogenen Augenbrauen. »Da war ich damals nicht dabei.«

»Ach ja.« Auf einmal erinnerte ich mich. »Da war so ein Kerl, der mir hinterhergestiegen ist.« Ich lächelte. »Na ja, so übel war er gar nicht. Eigentlich ganz nett. Aber eben . . . ein Mann.«

»Und du hast ihm nicht eindeutig gesagt, dass du nicht an Männern interessiert bist?«, fragte Nele, ging jetzt aber zu ihrem eigenen Schreibtisch und packte ein paar Sachen zusammen.

Ich schüttelte leicht den Kopf. »Dazu kam es gar nicht. Das waren ja nur ein paar Stunden, die wir da in diesem Konferenzraum von dem Hotel waren. Und meistens haben wir den Vorträgen zugehört.«

»Na, dann solltest du jetzt auf jeden Fall nach Beelitz fahren und ihn aufklären.« Nele schmunzelte. »Vielleicht ist das Haus ja wirklich was für uns, und sein Interesse an dir bringt uns was.«

»Dann solltest besser du fahren«, schlug ich ebenfalls schmunzelnd vor. »Das hat wesentlich mehr Aussicht auf Erfolg. Du bist Single und du stehst auf Männer.«

»Ich glaube nicht, dass das dasselbe wäre. Zumindest nicht für ihn.« Nele grabschte ihre Handtasche und griff fast gleichzeitig nach dem Aktenkoffer, in dem sie die Prospekte untergebracht hatte, die sie mitnehmen wollte. »Und ich muss nach Eberswalde. Das liegt in der entgegengesetzten Richtung von Beelitz.« Sie hob die Augenbrauen. »Nun mach schon. Du fandst ihn doch ganz nett. So schlimm kann er also nicht sein. Außerdem vertraue ich da voll auf deine männermordenden Fähigkeiten als Lesbe. Seine Nummer steht im To do.« Sie lachte und ging eilig zur Tür. »Jetzt muss ich aber los. Tschüss!« Und schon war sie verschwunden.

»Unmöglich«, stellte ich wieder einmal kopfschüttelnd fest. Dann rief ich das To do auf. Sie hatte einiges dort eingetragen für heute, und die Nummer unseres Kollegen aus Beelitz prangte mir ebenfalls gleich entgegen.

Ich könnte ihm absagen, überlegte ich. Eigentlich habe ich genug zu tun.

Im selben Moment klingelte jedoch das Telefon und nahm mir die Entscheidung ab. Denn als ich den Anruf annahm, war es genau dieser Kollege.

»Guten Tag, Herr Pohle«, begrüßte ich ihn. »Meine Partnerin hat mir schon weitergegeben, dass Sie angerufen haben. Sie haben ein Objekt für uns?«

»Vielleicht«, sagte er. »Ich bin mir selbst nicht ganz sicher. Bisher gab es das Haus auf meiner Landkarte eigentlich gar nicht. Wir wussten nur, dass es jemand aus dem Westen gehört, der sich nicht darum gekümmert hat. Es verfiel immer mehr.«

»Und jetzt soll es verkauft werden?«, fragte ich.

»Jaa . . .« Seine Antwort klang verdächtig gedehnt.

»Aha.« Solche Indikatoren kannte ich. »Es gibt ein Problem. Erbengemeinschaft oder so etwas?«

Es raschelte ein wenig in der Leitung, was wahrscheinlich hieß, dass er den Kopf schüttelte. »Nein, die Besitzverhältnisse scheinen geklärt zu sein. Ein Anwalt aus Mainz hat mich angerufen. Da ist alles in Ordnung.«

»Dieser Anwalt verkauft für den Besitzer?« Das erschien mir logisch.

»So war es ursprünglich gedacht.« Pohle bestätigte das. »Und ich hätte auch fast schon einen Käufer gehabt. Das Objekt ist ja nicht mehr viel wert in dem Zustand. Da muss man eine Menge investieren, damit man es wieder nutzen kann.«

»Das ist klar«, nickte ich. »Aber das war dem Käufer nicht so klar? Deshalb ist er abgesprungen?«

»Nein, er wäre immer noch interessiert.« Pohle seufzte. »Aber die Voraussetzungen haben sich geändert. Die Besitzerin wohnt jetzt in dem Haus.«

»Die Besitzerin?« Erstaunt runzelte ich die Stirn. »Ich dachte, die wäre im Westen?«

»Das dachte ich auch«, sagte Pohle. »Aber als wir das Objekt besichtigen wollten, hat sie uns«, er machte eine kleine Pause, »vor die Tür gesetzt.«

»Eine alte Dame?« Ich hätte fast gelacht.

»So alt ist sie auch wieder nicht.« Pohles Stimme klang unzufrieden. »Und unfreundlich wie ein ganzes Regiment Dragoner.«

Ich musste schmunzeln. Nicht jeder mochte Immobilienmakler. Das hatte ich auch schon am eigenen Leib erfahren müssen. »Da kann man nichts machen«, sagte ich. »Wenn es eindeutig ihr Haus ist, kann sie damit verfahren, wie sie will. Verkaufen oder nicht verkaufen. Und Sie sagten ja, es wäre sowieso nicht viel wert. Dann kann Ihre Provision nicht so hoch sein, dass es ein großer Verlust ist.«

Ich dachte, ich hätte nur eine Tatsache festgestellt, aber an seiner Reaktion merkte ich, dass da noch mehr sein musste.

»Nein, die Provision wäre nicht so hoch«, antwortete er langsam, als müsste er sich jedes Wort einzeln überlegen. »Aber ich dachte mir . . . Sie sind doch eine Frau . . .« In mein erstauntes Lachen hinein räusperte er sich und setzte dann fort: »Deshalb dachte ich, Sie könnten doch mal mit ihr reden. So von Frau zu Frau.«

»Mit der Besitzerin?« Mein wachsendes Erstaunen setzte ein paar Rädchen in meinem Gehirn in Gang. Nele mochte ja gemeint haben, Pohle hätte angerufen, weil er mich wiedersehen wollte, aber mir schienen da doch ganz andere Interessen im Spiel zu sein. »Was ist so wichtig daran?«

»Na ja . . . Der Käufer . . . Der potenzielle Käufer . . . hat da eine Idee.« Pohle wollte offensichtlich nicht so richtig mit der Sprache herausrücken.

In mir klingelten ganz gewisse Glöckchen. »Er ist kein Käufer, nicht wahr? Er ist ein Investor«, fragte ich deshalb gar nicht erst, sondern stellte es gleich fest. »Er will das Haus abreißen und da etwas anderes bauen. Etwas weit Profitableres.« Ich lachte, um ihm anzuzeigen, dass bei mir jetzt der Groschen gefallen war. »Und daran sind Sie beteiligt. Es geht gar nicht um die Provision.«

»Er könnte Sie auch beteiligen«, sagte Pohle sofort. »Das würde er bestimmt tun.«

»Davon bin ich überzeugt«, murmelte ich. »Wenn es um Geld geht, haben die Wessis immer die Nase vorn.«

»Sie ist auch ein Wessi«, erwiderte Pohle. »Also geht uns das eigentlich gar nichts an.«

Damit hatte er gleich meine Vermutung bestätigt, dass es sich bei dem Investor nur um einen Wessi handeln konnte. Wie die Geier waren die. Ich atmete tief durch. »Und warum lassen Sie die zwei das dann nicht unter sich regeln?« Immer weniger hatte ich Lust, mich mit dem Thema zu beschäftigen. Was ging vor allem mich das alles an?

Kurz war es still, als ob Pohle überlegen müsste. Dann sagte er plötzlich: »Das wäre doch ein guter Anlass, sich einmal wiederzusehen. Wir hatten damals auf dem Seminar so wenig Zeit, uns zu unterhalten. Wir könnten einen Kaffee zusammen trinken.«

Ich musste schmunzeln. Hatte Nele da vielleicht doch recht gehabt? Meistens hatte sie einen ziemlich guten Riecher, was Männer betraf.

»Nur deshalb soll ich extra nach Beelitz kommen?«, fragte ich. »Ich habe ein ziemlich gutes Café hier bei mir um die Ecke.«

Er seufzte. »Ja, war eine blöde Idee, ich weiß.« Wieder überlegte er eine Weile. »Aber dass Sie jetzt nicht aufgelegt haben oder mich gleich abschmettern, zeigt mir, dass Sie nicht ganz uninteressiert sind. Oder irre ich mich da?«

Der Junge ist gar nicht so dumm. »Ich mag alte Häuser«, sagte ich. »Da haben Sie recht. So etwas interessiert mich immer.«

»Dann kann ich Sie vielleicht doch noch herlocken?« Seine Stimme klang hoffnungsvoll. »Sie sind doch auch Geschäftsfrau. Und ich kann mich daran erinnern, dass wir damals auf dem Seminar über den nicht so rosigen Geschäftsgang in unserer Branche gesprochen haben. Wenn man kein Investor ist, wenn man nicht Millionen auf der Bank hat. Was bei uns beiden glaube ich nicht der Fall ist.«

»Ich werde diese Frau nicht zu etwas überreden, das sie nicht will«, erwiderte ich scharf. »Es geht bei solchen Dingen nicht nur um Geld.«

»Aber sie hat nie in diesem Haus gewohnt«, hielt er dagegen. »Sie kann nicht aus sentimentalen Gründen daran hängen. Das haben Sie ja wahrscheinlich gemeint.«

»Auch«, sagte ich.

»Und sie will es verkaufen. Also geht es ihr ganz klar um Geld«, setzte Pohle seine logische Beweisführung fort. »Nur will sie nicht mit mir darüber reden. Ich habe keine Ahnung, was ich falschgemacht habe, aber plötzlich hat sie zugemacht. Dabei bin ich mir keiner Schuld bewusst.«

Wahrscheinlich müsste ich mir das Gespräch Wort für Wort wiedergeben lassen. Dann wäre bestimmt klar, was er Falsches gesagt hat. »Sie haben nur über den Kaufpreis gesprochen?«, fragte ich. »Sonst nichts?«

»Na ja . . .« Er wand sich. »Ich habe eigentlich gar nicht so viel gesagt. Der Investor hat auf ein paar Sachen hingewiesen, die an dem Haus nicht in Ordnung sind –«

»Um den Preis zu drücken, hm?«, vermutete ich. »Und das hat ihr nicht gefallen.«

»Zuerst sagte sie nur, der Preis wäre ja ohnehin schon sehr niedrig. Aber als er dann nicht lockerließ«, Pohle holte tief Luft, »hat sie einfach auf die Tür gezeigt.«

Die Frau gefällt mir. Ich musste schmunzeln. »Er hat sie verärgert«, stellte ich fest. »Sie mag ja vielleicht nicht in dem Haus gewohnt haben, aber wenn es ihr jetzt gehört, muss es mal ihrer Familie gehört haben, nehme ich an.«

Auf einmal sah ich wieder die Bilder aus dem Traum vor mir und hörte sogar Geräusche. Kinderlachen. Eine Familie, die im Garten saß. Weiße Stühle, die in der Sonne blitzten . . .

»Gibt es dort weiße Stühle?«, fragte ich, ohne darüber nachzudenken. »Im Garten?«

»Weiße Stühle?« Die Überraschung war seiner Stimme deutlich anzuhören. »So Plastikstühle für den Garten, meinen Sie?«

»Nein«, sagte ich. »Keine Plastikstühle.«

»Die hat doch wahrscheinlich jeder«, entgegnete er gleichgültig. »Aber ob da jetzt welche sind, das weiß ich nicht. Darauf habe ich nicht geachtet. Ist das denn wichtig?« Immer noch wirkte er verwundert.

»Nein, überhaupt nicht wichtig.« Ich schüttelte den Kopf. »Kam mir nur so in den Sinn. Wahrscheinlich weil es das so oft gibt. Sie haben recht.«

Das war überhaupt keine logische Erklärung, aber ich kam mir plötzlich sehr komisch dabei vor, dass dieser Traum, den ich da heute Nacht gehabt hatte, sich wieder in mein Bewusstsein geschlichen hatte.

Warum nur? Ich hatte mit Träumen sonst überhaupt nichts am Hut. Entweder ich erinnerte mich gar nicht daran oder sie verblassten sehr schnell und ich konnte sie nicht zurückholen, selbst wenn ich wollte. Was war nur an diesem Traum, dass er anscheinend an meinem Gedächtnis haftete wie Kaugummi, den jemand unter einen Stuhl geklebt hatte?

Stuhl. Schon wieder. Ich kam einfach nicht davon los.

Wahrscheinlich würde ich erst davon loskommen, wenn ich nach Beelitz fuhr und diesen Garten sah. Und eventuell auch diese Stühle. Irgendwelche Stühle. Die gab es schließlich in jedem Garten.

Dann würde dieser Traum – oder die Erinnerung daran – vermutlich schnell ein Ende haben, denn ganz bestimmt war alles ganz anders, als ich das im Traum gesehen hatte. Und dann würde dieser Traum mich auch nicht mehr verfolgen.

Ich schüttelte noch einmal den Kopf, aber diesmal ging das Schütteln fast bis in meine Schultern über wie bei einem Hund, der aus dem Wasser kommt. Als wollte ich die weißen Stühle, den Traum, alles, was damit zu tun hatte, einfach abschütteln.

»Sie haben mich neugierig gemacht, Herr Pohle«, erwiderte ich mit einer bewusst geschäftsmäßigen Stimme. »Jetzt will ich dieses Haus tatsächlich sehen. Ich sagte ja, ich habe ein spezielles Interesse für alte Häuser«, schob ich noch schnell nach, damit ich mir nicht allzu albern vorkam. »Wo sollen wir uns treffen?«

3

Beelitz ist nicht gerade der Nabel der Welt, das sah man sofort, wenn man hineinfuhr.

Vorbei an einer Kleingartenanlage landete ich in einer Straße gesäumt mit Einfamilienhäusern, unterbrochen von größeren oder kleineren Betrieben. Ein Stadtzentrum in dem Sinne gab es nicht, es bestand lediglich aus ein paar Reihenhäusern mit Geschäften, dem einen oder anderen Restaurant, sogar ein Döner hatte sich hierher verirrt. Ansonsten nur Einfamilienhäuser, viel Grün, Bäume, ein Sowjetischer Soldatenfriedhof, wie man das eben so kannte.

Im nicht richtig vorhandenen Stadtzentrum traf ich mich mit Pohle. Er hatte ein kleines Büro in einem der Geschäftsreihenhäuser.

»Wir fahren jetzt also zusammen dahin?«, fragte ich ihn.

Er verzog das Gesicht. »Ich glaube, es ist besser, wenn sie mich nicht noch einmal sieht. Sie wird mich gar nicht reinlassen«, sagte er.

Das war natürlich gut möglich. »Aber mich kennt sie überhaupt nicht.« Ich strich mir sinnierend übers Kinn. »Wenn ich allerdings sage, dass ich Maklerin bin, wird sie mich vielleicht auch gar nicht erst hereinlassen.«

Ziemlich ratlos sah er mich an. Anscheinend hatte er dazu, wie ich eventuell ins Haus kommen könnte, nicht die geringste Idee. Ich war seine Idee gewesen. Von Frau zu Frau . . . Ich hätte noch im Nachhinein lachen können.

»War da eben nicht ein Fahrradgeschäft?«, erinnerte ich mich.

Er schmunzelte. »Nicht nur Fahrrad. Fahrrad, Roller, Gartentechnik. Alles, was das Herz in einem ländlichen Gebiet begehrt.«

»Vermieten die auch Räder?« Nachdenklich fragend sah ich ihn an.

Pohles Augenbrauen schossen überrascht in die Höhe. »Ich glaube nicht, dass dafür hier Bedarf besteht.«

»Jetzt besteht Bedarf«, entschied ich entschlossen. »Ich brauche ein Fahrrad. Möglichst ein kaputtes.«

Das verstand er nun überhaupt nicht mehr. Seine Augen wurden groß wie Fußbälle.

»Oder eins, das demnächst kaputtgeht«, erklärte ich. »Ein Schlauch mit einem Platten reicht schon.« Ich nickte ihm zu. »Wenn Sie mir beschreiben, wie ich zu dem Haus komme, fahre ich dann mit dem Rad da hin.«

Mittlerweile hatte er offensichtlich beschlossen, dass ich verrückt war. »Was wollen Sie denn machen?«

»Ich weiß zwar nicht, wie unfreundlich Frau . . .« Auffordernd blickte ich ihn an.

»Von Rohden«, sagte er. »Lea von Rohden.«

»Oh. Von.« Das hatte ich nicht erwartet.

Er zuckte lediglich mit einer Schulter. »Heißt nicht mehr viel heutzutage, oder? Aber vielleicht bildet sie sich noch was drauf ein.«

»Das werden wir dann sehen.« Ich holte tief Luft. »Also wie unfreundlich Frau von Rohden auch immer ist«, fuhr ich fort, »aber wenn jemand eine Panne mit dem Rad hat, kann man sich doch eigentlich nicht weigern zu helfen, oder?«

Sehr skeptisch verzog er das Gesicht. »Sie kann, würde ich vermuten.«

»Nun ja, einen Versuch ist es wert.« Ich zuckte die Achseln. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Davon hatte er anscheinend noch nie etwas gehört. Kein Wunder, dass er mich zu Hilfe rief, statt es selbst weiter zu versuchen.

»Wenn Sie meinen . . .« Er war augenscheinlich nicht überzeugt. »Warten Sie. Ich gehe mit«, sagte er und schnappte sich sein Handy. »Lutz ist ein netter Kerl, aber wenn er Sie nicht kennt, weiß ich nicht, ob er Ihnen ein Fahrrad leiht. Wo er gar keinen Fahrradverleih hat.« Er seufzte ein wenig. »Die Leute auf dem Land brauchen manchmal ein bisschen länger, um sich umzustellen.«

Lutz war nicht nur ein netter Kerl, sondern auch ein Kerl wie ein Baum. Mit einem Bart, der so schwarz sein Kinn umgab, dass darin hätten Vögel nisten können. Er konnte sicherlich selbst ein schweres Hollandrad mit dem kleinen Finger anheben. Zwar war er meiner Idee gegenüber mindestens so skeptisch wie Pohle, aber anscheinend wollte sich keiner der Männer eine Blöße geben. Das war meine Gelegenheit. Die ich nutzte.

»Sie müssen nur der Straße hier folgen«, erklärte Pohle mit ausgestrecktem Arm, als wir dann vor dem Geschäft standen. »Ist nicht weit.«

Hier in diesem Nest war vermutlich nichts weit. Da hatte ich keine Sorge. Auch wenn das Rad, das Lutz mir widerstrebend anvertraut hatte, sicherlich noch aus DDR-Produktion stammte, wirkte es solide und zuverlässig. Zu zuverlässig vielleicht, aber da würde ich schon einen Weg finden.

»Gut«, sagte ich. »Danke. Dann versuche ich mal mein Glück.« Ich nickte ihm zu und radelte mit einem entschlossenen Schub los.

Keine Gangschaltung, das war auf jeden Fall schon mal gut. Nicht für mich, aber für den Eindruck, den das Rad machte. Ich keuchte etwas. War schon eine Weile her, dass ich Rad gefahren war. Aber glücklicherweise war hier ja alles flach.

Eine Gaststätte mit brasilianischer Küche glitt an mir vorbei. Was es hier alles gab . . . Ein Brautmodengeschäft? Wie viele Leute heirateten denn in einem solchen Dorf dauernd, dass sich so etwas lohnte?

Die Straße führte trotz des langsamen Fahrrads als Bewegungsmittel so schnell wieder aus der Stadt hinaus, dass ich beinah an der Zufahrt zu dem Anwesen vorbeigefahren wäre, denn sie lag kaum sichtbar zugewuchert zwischen Bäumen.

Was aber auch wiederum ein Vorteil war, denn selbst wenn da jetzt jemand an einem der praktisch blinden Fenster gestanden hätte, hätte er mich wohl kaum sehen können. Oder sie.

Ich fuhr vorbei und stieg hinter dem Grundstück ab, versteckte mich so lange, bis ich die Luft aus einem meiner Reifen gelassen hatte. Dann führte ich das Rad zurück zum Grundstück und ließ es gegen das schmiedeeiserne Tor fallen, dass es einen Mordskrach machte. Gleichzeitig stieß ich einen Schrei aus, als hätte ich mich furchtbar verletzt.

Warum kam mir dieses Tor so bekannt vor? Irgendwie erinnerte mich das an was . . .

Im Haus blieb es still. Nichts rührte sich. Noch einmal ließ ich Metall auf Metall schrammen und gab schmerzerfüllte Geräusche von mir. Gut, dass diese alten Räder aus Eisen waren und nicht aus Aluminium oder gar Karbon wie der ganze moderne Kram.

Endlich hörte ich etwas. Schritte auf dem Kies.

Halb gegen einen Flügel des Tores gestützt dasitzend, halb schon am Boden liegend lehnte ich mich stöhnend gegen Zaun und Rad.

Der andere Flügel des Tores, gegen den ich nicht lehnte, wurde geöffnet. »Was ist passiert?«, fragte eine Frauenstimme, die mir durch und durch ging. Sie hatte ein Vibrato, das einem Cello Ehre gemacht hätte. Dunkel und warm.

»Mein Reifen ist geplatzt«, stöhnte ich und wies auf das Rad, das neben mir lag. »Dabei bin ich in das Tor geknallt.«

»Ach du liebe Güte«, bemerkte sie bestürzt.

Als ich nun zu ihr aufblickte, musste ich schlucken. Alte Dame, hatte ich vermutet? Und auch wenn Pohle gesagt hatte, sie wäre gar nicht so alt, war ich doch immer noch der Überzeugung gewesen, dass sie die Mitte des Lebens weit überschritten haben musste.

Aber das hatte sie nicht. Sie war in meinem Alter. Vielleicht ein paar Jahre älter, aber nicht viele.

»Tut mir leid«, sagte ich, stand auf und klopfte mir den Staub von der Hose. Ich humpelte etwas, um bemitleidenswerter zu erscheinen, als ich versuchte, mein Rad aufzuheben.

»Lassen Sie nur«, sagte sie. »Das mache ich schon. Kommen Sie herein. Da können Sie sich von dem Schreck erholen.«

Na, das war einfacher gewesen als erhofft, ins Haus zu kommen, dachte ich.

Ich humpelte ihr hinterher, während sie mein Fahrrad aufs Grundstück schob und an der Hauswand anlehnte.

Haus ist nicht gleich Zuhause – das wusste ich, denn schließlich hatte ich schon viele Häuser besichtigt, eingeschätzt und verkauft, und auch hier merkte ich es sofort, als ich hinter ihr dieses durchaus beeindruckende Landhaus betrat. Sie war noch nicht lange hier – das hatte Pohle mir ja gesagt –, aber es gab Leute, die machten sich ein Haus, in das sie einzogen, sofort zu eigen. Sie verteilten überall persönliche Kleinigkeiten, nahmen das Haus in Besitz und passten es sich an, verliehen ihm eine persönliche Aura. Ihre persönliche Aura.

Das war hier auf keinen Fall geschehen. Das Haus wirkte genauso vertrocknet wie der Vorgarten draußen, der schon eine Weile nicht mehr bewässert worden war. Man sah ihm an, dass es sehr lange Zeit nicht bewohnt worden war, aber was das Irritierendste war, war der Eindruck, dass es auch jetzt nicht bewohnt wurde. Obwohl Frau von Rohden eindeutig hier wohnte.

»Tee?«, fragte sie jetzt, allerdings ohne zu lächeln, während sie mich kurz anschaute. »Ich hatte den Kessel gerade aufgesetzt.« Sie ging zu dem alten Gasherd, der in einer dunklen Ecke der großen Küche stand, in die sie mich geführt hatte.

Diese Küche war für andere Dimensionen gebaut als heutige Einbauküchen. Sie lag etwas abseits im Haus, fast wie in einem eigenen Flügel. Man hatte Platz hier, sodass auch mehrere Leute miteinander am Herd und an dem großen Holztisch – massive Eiche, schätzte ich – in der Mitte arbeiten konnten.

Personal war das Erste, was mir einfiel. Das hier war keine Küche für die moderne Hausfrau – oder den Hausmann –, die kurze Wege liebten und alles gleich zur Hand haben wollten. In dieser Küche hatten sich in früheren Zeiten Köchinnen und Küchenmädchen die Arbeit geteilt, die reichlich anfiel, um die kulinarischen Gelüste hoher Herrschaften zu bedienen.

Frau von Rohden wirkte darin einigermaßen verloren. Selbst wir beide zusammen konnten dieser Küche nicht den Anschein verleihen, dass sie richtig genutzt wurde.

Dass die Besitzerin dieses Hauses sie überhaupt für die Zubereitung von Essen nutzte, darauf gab es keinen Hinweis. Lea von Rohden wirkte so abgezehrt, als hätte sie schon lange nichts Richtiges mehr gegessen. Tee bereitete sie vielleicht zu, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie an diesem Herd stand, um sich etwas Leckeres zu essen zuzubereiten. Das sie dann auch noch mit Genuss zu sich nahm.

Was für ein schöner Name: Lea. Ich musste fast lächeln, als ich den Namen dachte. Es war ein Name, den man automatisch mit etwas verband. Mit einer Art von Vornehmheit und Eleganz, die heute eher selten war. Genauso antiquiert wie dieses Haus.

In gewisser Weise strahlte Lea von Rohden diese Vornehmheit und Eleganz aus, das konnte man nicht bestreiten, aber es war eine ähnliche Vornehmheit und Eleganz wie die des Hauses: mit abgeblättertem Putz.

»Es tut mir leid, dass ich Sie bei Ihrem Nachmittagstee störe«, sagte ich, denn ich hatte das Gefühl, gute Manieren könnten sie mir gewogen stimmen. Obwohl sie die wahrscheinlich ohnehin erwartete. Sodass so etwas vielleicht weniger beeindruckend für sie war, sie es eventuell noch nicht einmal bemerkte, es sie aber auch nicht gleich abschreckte, wie dieser ungehobelte Wessi-Investor es getan hatte. »Ich werde gleich wieder gehen, sobald ich ein bisschen besser laufen kann.« Ich lachte leicht. »Denn ohne mein Fahrrad muss ich ja zurücklaufen und schieben.«

»Ich kann Sie fahren«, sagte Lea von Rohden. Der Kessel, den sie jetzt vom Gasherd nahm, sah so aus, als hätten ihn wirklich noch die Hände von Dienstmädchen berührt. Er war leicht verbeult und ganz offensichtlich schon sehr oft benutzt worden. Der Gasherd hatte ihn von unten schwarzgebrannt.

Ein Schreck fuhr mir durch die Glieder. Mich fahren? Wohin? Zu meinem Auto, das vor Pohles Maklerbüro stand? Dann wusste sie sofort Bescheid, wer ich war. Oder würde vielleicht zumindest vermuten, dass ich mit Pohle zu tun haben könnte. Und ich hatte das eindeutige Gefühl, es war noch viel zu früh, um sie mit dieser Tatsache bekanntzumachen. Ich musste erst ihr Vertrauen gewinnen, bevor ich mein weiteres Vorgehen festlegen konnte.

»Ich . . . ähm . . . Ich bin nur zu Besuch hier«, stammelte ich von ihrem unerwarteten Angebot etwas aus dem Konzept gebracht. Wenn ich über die Idee hinaus, sie hier mit meinem getürkten Fahrradunfall aus der Reserve zu locken und mir gewogen zu stimmen, überhaupt eins hatte. »Ich wohne in einer Pension.« Irgendwo an der Straße hatte ich auch so ein Schild gesehen.

»Wenn Sie mir sagen, wo die ist, bringe ich Sie dorthin.« Sie hatte das Wasser aus dem Teekessel in eine altertümliche Teekanne gegossen, die mich an die meiner Großmutter erinnerte. Und die hatte sie schon von ihrer Mutter geerbt. »Kein Problem.« Sie brachte die Kanne zu dem großen Tisch, zögerte dann jedoch. »Normalerweise esse ich hier«, sagte sie zweifelnd. »Aber normalerweise habe ich auch nie Besuch. Ich bin immer allein. Dafür reicht es.«

Ich lachte. »Ich bin doch kein Besuch. Ich bin nur gegen Ihr Eingangstor geknallt.« Schuldbewusst verzog ich das Gesicht. »Durch meine eigene Dummheit. Das Fahrrad ist nur geliehen, und ich hätte mich erst einmal daran gewöhnen sollen.«

»Wenn Ihnen ein Reifen geplatzt ist, können Sie ja nichts dafür«, sagte sie. Sie blickte zur Tür. »Lassen Sie uns in den Salon gehen. Da sind auch Tassen. Zucker und Milch können wir hier aus der Küche mitnehmen. Oder nehmen Sie Zitrone?« Nun wirkte sie etwas schuldbewusst. »Ich fürchte, ich habe keine da.«

»Wenn man so hereingeplatzt kommt wie ich, kann man wohl keine großen Ansprüche stellen«, erwiderte ich etwas verlegen lächelnd. »Außerdem trinke ich Tee meistens schwarz. Es ist doch schwarzer Tee, kein Kräutertee?« Ich blickte sie fragend an.

Ich hatte einen entsprechenden Geruch nach Kräutern vermisst – und auch ihre Frage bezüglich der Zitrone wies darauf hin –, aber die Küche war so groß, da konnte ich mich natürlich auch geirrt haben. Und eine Frage konnte man immer falsch interpretieren. Möglicherweise gab es Leute, die auch ihren Kräutertee mit Zitrone verfeinerten, da kannte ich mich nicht so aus, denn ich trank nie welchen.

Sie nickte jedoch. »Zum Nachmittagstee gehört für mich echter Darjeeling. Kräutertee trinke ich nur, wenn ich krank bin.« Sie blickte zweifelnd auf die Kanne. »Er ist jedoch recht stark. Ich würde zumindest Milch empfehlen.«

Erneut musste ich lachen. »Ich trinke Kräutertee noch nicht einmal, wenn ich krank bin, muss ich zugeben. Aber schwarzen Tee mag ich. Den trinke ich oft abwechselnd mit Kaffee.«

»Ich trinke nie Kaffee«, sagte sie, ging zum Kühlschrank, nahm die Milch heraus und ging dann in mindestens zwei Metern Entfernung an mir vorbei. »Bitte, kommen Sie.«

Einen weiteren Blick warf sie mir nicht zu. Sie ging wohl davon aus, dass ich keine zusätzliche visuelle Aufforderung benötigte, um ihr zu folgen.

Und damit hatte sie recht. Ich fühlte mich regelrecht von ihr mitgezogen, stand auf und ging ihr nach – und erinnerte mich erst nach ein paar Metern, dass ich ja humpeln sollte. Das tat ich dann auch, wie albern ich mir auch immer dabei vorkam. Aber das hatte ich mir schließlich selbst eingebrockt.

Sie führte mich in ein großes Zimmer, eine Art Wohnzimmer, das sie jedoch Salon genannt hatte. Der Weg dahin war allein schon eine halbe Hausführung, denn der sogenannte Salon lag keinesfalls direkt in der Nähe der Küche. Er gehörte zum Wohnbereich, während die Küche und alles, was dort in der Nähe war, wohl den Wirtschaftsbereich markierte.

Die Küche hatte zumindest ein wenig benutzt ausgesehen, doch als wir nun den Salon betraten, hatte ich das Gefühl, es schlüge mir die Kälte jahrelanger Missachtung entgegen. Da Lea von Rohden – wie sie gesagt hatte – so gut wie immer allein war, hatte es sich für sie wohl nicht gelohnt, hier irgendetwas zu verändern, um das Zimmer wohnlicher zu machen oder gemütlicher.

Irgendjemand musste jedoch hier geputzt haben, denn Staub, wie er nach Jahren hätte liegen müssen, sah ich keinen. Möglicherweise hatte sie das für Pohles Besuch getan, denn ihm und dem Investor hatte sie das ganze Haus gezeigt, wenn ich das richtig verstanden hatte. Auf jeden Fall aber sicher die repräsentativsten Räume. Und das war dieser Raum eindeutig: repräsentativ. Man konnte sich richtig vorstellen, wie hier früher die Dame – oder vielleicht auch der Herr – des Hauses Gäste empfangen hatte.

In Schränken, die durch großzügige Glaseinsätze den Blick auf das gestatteten, was darin verwahrt wurde, stand altes Meißner Porzellan, und nachdem sie die Teekanne und das im selben Dekor gehaltene Milchkännchen auf einem kleinen Tisch mit verschnörkelten Beinen im wilhelminisch neobarocken Stil – das war der Stil des ganzen Salons – abgestellt hatte, ging sie zu einem der vitrinenartigen Schränke hinüber und nahm zwei dieser edlen Tassen mit deren Untertassen heraus. Auch die stellte sie auf den Tisch, um dann eine Schublade aufzuziehen, in der anscheinend das Familiensilber lag, denn sie kam mit zwei schön ziselierten silbernen Teelöffeln zurück.

»Zum Nachmittagstee gehört üblicherweise natürlich auch etwas zu essen, aber da ich nicht auf Besuch vorbereitet war, muss ich da leider genauso passen wie mit der Zitrone«, sagte sie mit einem entschuldigenden, aber durchaus selbstbewussten Ton in der Stimme. Sie wies auf ein kleines Sofa – mindestens hundert Jahre alt, so sah es aus –, neben dem der kleine Tisch stand, auf dem sie alles abgestellt hatte. »Bitte, setzen Sie sich doch. Mit Ihrem verknacksten Knöchel sollten Sie nicht so lange stehen.«

Tja, mein verknackster Knöchel . . . Aber wie man sich bettet, so liegt man, und also humpelte ich so gekonnt wie möglich zum Sofa und ließ mich so elegant wie möglich darauf nieder. Eleganz war – im Gegensatz zu dem Eindruck, den Lea von Rohden machte – nicht gerade mein zweiter Vorname, aber wenigstens versuchte ich, einen allzu ungraziösen Plumpser zu vermeiden.

»Danke«, sagte ich. »Das wäre wirklich nicht nötig gewesen. Und zu essen brauche ich nichts. Ich trinke nachmittags nur Kaffee oder Tee.«

»Ich frage mich, wie Leute es ertragen können, ständig Kaffee zu trinken.« Sie verzog fast etwas abschätzig das Gesicht. »Ich könnte das nicht. Den ganzen Tag über.« Sie hatte mir eine Tasse Tee eingeschenkt und reichte sie mir. »Wenn er Ihnen zu bitter ist . . . Milch hilft.«

Es klang für mich wie ein Scherz, und doch war es keiner. Ich hatte den Eindruck, Lea von Rohden machte keine Scherze.

»Ach, übrigens . . .«, sagte sie. »Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt. Rohden.« Sie nickte mir zu. »Lea Rohden.«

Also auf ihr von bildete sie sich offensichtlich nichts ein, wie Pohle vermutet hatte. Aber das war wahrscheinlich nur der Neid der Besitzlosen.

»Sorbach«, sagte ich und wollte mich leicht erheben, aber sie machte sofort eine Geste, dass ich sitzenbleiben sollte. »Annett Sorbach.« Sie würde wohl kaum einen meiner Prospekte gesehen haben, auf denen mein Name als der einer der beiden Maklerinnen von Sorbach und Meinert stand, Neles und meiner Agentur. Zumindest hoffte ich das. »Entschuldigen Sie bitte. Ich hätte mich natürlich sofort vorstellen sollen.« Ich lächelte leicht um Verzeihung bittend.

»Sie waren in Schock«, sagte sie. Einer ihrer Mundwinkel zuckte, als wollte sich von dort aus auch ein Lächeln auf ihre Lippen stehlen, aber das tat es nicht. Es blieb im Ansatz stecken. »Aber ich weiß immer gern, mit wem ich es zu tun habe.«

»Das ist doch selbstverständlich«, stimmte ich ihr sofort zu und nahm einen Schluck Tee. Er war wirklich sehr stark. Deshalb griff ich zum Milchkännchen und färbte ihn weiß. Was natürlich nicht klappte. Selbst sehr viel Milch ergab nur ein recht dunkles Hellbraun. »Sie hatten recht«, sagte ich. »Man braucht die Milch.«

»Es ist die englische Art.« Sie erklärte das, während sie sich nun in einen der Sessel setzte, die dem Sofa gegenüberstanden, ihre Teetasse grazil mit zwei Fingern balancierend. »Stark ist dort normal. Manchmal sieht Tee in England wirklich fast aus wie Kaffee. Dagegen ist meiner schwach.«

IKEA-Bestelltischchen für jeden waren hier nicht. Solche Möbelstücke waren eine moderne Einrichtung. Hier in diesem Haus fühlte sich alles an wie das Gegenteil von modern. Wie eingeschlafen, ehrlich gesagt. Als wäre nicht nur das Haus, sondern alles hier wie in einem Dornröschenschlaf gefangen.

Und es wollte noch nicht einmal erwachen, wenn Besuch kam. Ich war definitiv nicht der Prinz, der Dornröschen wachgeküsst hatte, woraufhin dann das ganze Haus erwachte, von der Küche bis zu den Rosensträuchern im Garten.

Wachgeküsst . . . Unwillkürlich wanderte mein Blick auf ihre Lippen. Es waren schmale Lippen, keine auch nur angedeutete Tendenz zu einem Schmollmund oder Ähnlichem.

Das hätte aber auch nicht zu ihr gepasst. Diese schmalen Lippen waren nicht das, was man als schmale Lippen bezeichnete, weil jemand die Lippen zusammenpresste. Es waren vornehm schmale Lippen, die nichts Zusammengepresstes hatten, sie fügten sich einfach nur nahtlos in den Gesamteindruck von Vornehmheit ein, der alles an dieser Frau namens Lea umgab.

Kein Wunder, dass Pohle hier gescheitert war, dachte ich. Er war in diese fast etwas verwunschene Dornröschenschloss-Atmosphäre hereingeplatzt und hatte nur von Geld gesprochen, von Modernisierung, von all dem, was von einem Salon wie diesem, einem Haus wie diesem mit einer Besitzerin wie dieser so weit entfernt war wie der Mond.

Das musste man ganz anders angehen.

Wenn ich auch noch nicht so genau wusste, wie.

4

»Na, was ist mit dem Haus in Beelitz?« Nele fragte es nur beiläufig, während sie etwas auf dem Display ihres Handys betrachtete. »Interessant?« Sie blickte für einen Wimpernschlag auf. »Oder nur der Makler, der es verkaufen will?« Anzüglich grinste sie.

»Der wäre höchstens für dich interessant«, gab ich etwas geistesabwesend zurück. »Ich sagte ja, er ist ein netter Kerl. Solltest ihn dir vielleicht mal ansehen.«

»Und das Haus in Beelitz übernehmen?« Neles Stirn runzelte sich.

»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Das mache ich schon.« Ich seufzte. »Wahrscheinlich.«

»Wahrscheinlich?« Leicht irritiert blickte Nele zwischen ihrem Display und mir hin und her. »Wieso wahrscheinlich?«

»Weil ich nicht weiß, ob ich mit der Besitzerin klarkomme«, sagte ich. »Und sie noch nicht weiß, dass ich Maklerin bin.«

»Du warst gar nicht in dem Haus?« Wieder nur kurz blickte Nele auf. Musste sehr interessant sein, was sie da auf dem Bildschirm hatte. Es fesselte ihre Aufmerksamkeit zu mindestens neunundneunzig Prozent.

»Doch«, sagte ich. »Aber ich hatte einen Unfall mit dem Fahrrad nötig, um da reinzukommen.«

Neles Kopf ruckte hoch. »Du hattest einen Unfall?« Völlig verständnislos runzelte sie die Stirn. »Mit einem Fahrrad?«

»Nicht wirklich.« Ich verzog das Gesicht. »Ich habe nur so getan.«

»Du?« Das lenkte Neles Aufmerksamkeit endgültig auf mich. Sie starrte mich überrascht an. »Aber du bist doch die Ehrlichkeit in Person. Für eine Maklerin, meine ich«, schränkte sie zum Schluss noch ein.

»Normalerweise«, sagte ich, »sind mir Lügen zu anstrengend. Und es liegt mir auch nicht, das stimmt. Aber in diesem Fall . . .«, ich lehnte mich in meinem Bürostuhl zurück, »hatte ich das Gefühl, es musste sein. Pohle und dieser Wessi-Investor hatten da verbrannte Erde hinterlassen. Damit wollte ich nicht in Verbindung gebracht werden. Dann hätte sie mir wahrscheinlich noch nicht mal mit dem Fahrrad geholfen, sondern mich gleich kalten Blickes in die Wüste geschickt.«

»Reizende alte Dame«, meinte Nele schmunzelnd.

»Sie ist keine . . . alte Dame«, erwiderte ich zögernd.