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Anfang der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts, ein winziges Eiland vor Norwegens Nordwestküste. Finn, der Leuchtturmwärter, und die alten Fischersleute Marit und Petter führen einen unerbittlichen Kampf gegen den Fortschritt. Finn fürchtet um seine Zukunft, denn immer mehr Leuchtfeuer werden digitalisiert. Und Petter schrumpfen unter der Hand die Fangmengen zusammen, weil die Engländer mit ihren schwimmenden Fischfabriken die Fanggründe wie mit riesigen Staubsaugern leer räumen. Wäre da noch der Fährmann Gunnar. Auch er wird mit seiner altersschwachen Fähre bald auf dem Trockenen sitzen; eine riesige Brücke soll über den Sund geführt werden. Was bleibt den Verlierern der Moderne im hohen Norden anderes, als zu ungewöhnlichen Mitteln zu greifen. Irgendjemand macht sich hin und wieder an einem der Leuchtfeuer zu schaffen. Dass dabei Schiffe in Seenot geraten und kentern, nimmt diese Person in Kauf. Oder ist das alles bloß die grausige Musik zu dem "satanischen Fest", das dem Fortschritt bereitet werden soll?
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Seitenzahl: 314
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Ulrich Land
Der Letzte macht das Licht aus
Norwegen-Krimi mit Rezepten
Ulrich Land
Der Letzte macht das Licht aus
Norwegen-Krimi mit Rezepten
Haftungsausschluss: Die Rezepte dieses Buchs wurden von Verlag und Herausgeber sorgfältig erwogen und geprüft. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Die Haftung des Verlags bzw. des Herausgebers für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.
© 2008 Oktober Verlag, Münster
Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung des Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster
www.oktoberverlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Anh Nguyen
Umschlag: Thorsten Hartmann und Tom van Endert
unter Verwendung eines Fotos von www.photocase.de/hui-buh
Rezepte: Ulrich Land
eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund www.readbox.net
ISBN: 978-3-938568-42-2
»Wieso«, lachte Marit, »was bleibt denn von so 'm ollen Kahn, um des Himmels Willen, wenn er hier an der Brustwarze von unsrer Insel ...«
»Brustwarze? Krähenkacke noch mal.« Finn spuckte in hohem Bogen aus und traf die vorwitzig hervorquellende Quarzader, die sich diagonal über den Fels zog. Eine Quarzader, wie sie schöner und glatter kaum hätte sein können, völlig blank poliert von Marits gravitätisch ausladendem Hinterteil. Denn, sofern Wind und Wetter es zuließen, saß sie jede freie Minute hier oben auf ihrem Lieblingsfels und schickte ihre Gedanken hinaus aufs Meer. »Keine Warze, Marit, das ist ein Leuchtturm! Mein Leuchtturm.«
Aber die Alte ließ nicht locker. »Was bleibt von so 'm ollen Kahn, wenn er hier an deiner Brustwarze von unsrer Insel vorbeiöttert? Na? Was bleibt? Will ich dir sagen: 'ne Minute oder zwei das Tuckern in der Luft. Musste schon verflucht schnell hinhörn, dann is' er weg. Schon weg. Verpufft, vertrieben, spurlos, noch schneller als wie die Qualmfetzen von seinem ollen Diesel.«
»Immerhin.« Finn platzierte eine ausgedehnte Kunstpause und warf einen Blick in den späten Augusthimmel, der sich von seiner besten Seite zeigte und ein strahlendes Azurblau an den Tag legte. »Immerhin: eine Erinnerung ist der Äppelkahn. Jedenfalls wär's, wenn wirklich ein Pott vorbei gekommen und nicht bloß dir einer durchs Gehirn gestottert wär.«
»Spurlos vertrieben, sag ich, spurlos, der Rauch, das Kockern, die Erinnerung. Schon weg. Im leichten Wind. Du hast den Kopp voll Spinnkrams, Finn; als wenn dir so 'n oller Kahn, der hier vorbeifährt, als wenn der dir 'ne Erinnerung wert wär. Erzähl mir doch nix! Die Furche von dem Kahn, die er durch die gelangweilte See zieht, die weißen Gischtschnüre hinten dran. Siehstet, schon verschlungen vom Wasser, wieder verschlungen.«
»Nein, seh ich nicht. Nichts seh ich, rabenschwarze Kacke noch mal. Nichts. Hier ist die letzten sieben Stunden nicht eine einzige Schaluppe rübergezogen. Das spielt sich alles bloß in deiner alten Birne ab. Was ja wohl heißt, dass du's eben doch aus deiner Erinnerung hervorkramst, irgend 'ne Nussschale, dass da eben doch was drin ist, in der Erinnerung, ein Kutter zum Beispiel. Dein Schädel ist nicht leer, nicht so leer, wie du immer tust.«
»Du versuchst bloß, meine Laune zu retten, Finn, willst mich festhalten, dass ich nicht in hohem Bogen runterspring und mich krachen lass auf die Felsklötzer da unten, wie sie bis zum Hals im Wasser stecken, dass ich mich nicht einfach absaufen lass Hals über Kopp. Weil ich nicht mehr rauskomm unter meinem Schädeldach.« Die Alte trat Finn auf den rechten Fuß, mit dem er die ganze Zeit unwirsch auf dem Fels herum kramte und ein ums andre Moospolster von den Steinen schabte. »Lass das Grünzeugs in Ruh, Finn, und gib dir mit mir keine Mühe. Hat kein' Zweck, verstehste. Kannst mich nicht vorm Absaufen retten. Mag sein, dass es noch bisschen was dauert, bis ich keine Luft mehr krieg, aber am Wasserschlucken bin ich schon.« Marit erhob sich ächzend von dem Granithöcker, tat ein, zwei Schritte und blieb dann, den Blick aufs Meer gerichtet, abrupt stehen. »Ihr jungen Leut habt gut Reden, Finn, diese Insel, ich werd wahnsinnig, diese winzige Warzeninsel ...«
»Mann oh Mann, krieg dich ein«, murrte Finn, »schließlich hockst du dein ganzes langes Leben hier auf diesem Felsklumpatsch. Also. Was musste auf deine alten Tage so 'n Aufstand machen?«
»Recht haste. Finn, ich bin fertig.« Die Alte setzte sich wieder in Bewegung. Ihre Schritte hatten jede Zögerlichkeit verloren, sie drückte den Rücken durch und marschierte schnurstracks weiter auf dem grau-schuppigen Fels, der vorne einige zehner Meter senkrecht zum Meer abfiel und sich unten im Wasser auflöste in zahllose Granitklötze, die kreuz und quer in der Brandung lagen. Wer hier den Halt verlor, ins Straucheln kam, einen Schritt zu viel machte ... eindeutig die gefährlichste Stelle der ganzen Insel.
Seit langem hatte Finn damit gerechnet, dass es irgendwann nicht mehr damit getan sein würde, auf Marit einzureden wie auf einen kranken Gaul. Trotzdem stockte ihm jetzt, als es endgültig so weit zu sein schien, der Atem. Er hatte die Situation schon zigmal durchgespielt, aber jetzt, im entscheidenden Augenblick hatte er nicht die leiseste Ahnung, was er tun sollte. Die Alte einfach festhalten, anbrüllen? Petter zu Hilfe holen? Aber der war ja selbst ziemlich baufällig, der konnte hier nichts ausrichten. Die Gedanken schossen hinter Finns Stirn hin und her, und das Schlimmste war: er hatte keine Zeit, kein bisschen Zeit zu verlieren. Wenn's irgendwo kurz vor knapp stand, dann hier.
»Doch, Marit, genau!«, brüllte er plötzlich los, ohne dass er wirklich gewusst hätte, wie der Satz weiter, geschweige denn zu Ende gehen sollte. »Du musst auf deine alten Tage noch so 'n Aufstand machen. Schnell noch, jetzt. Bevor's zu spät ist. Walhalla muss sich noch bisschen was gedulden, bis du kommst. Hast noch schnell was zu erledigen. Kann noch 'n Weilchen dauern. Ich brauch dich noch, Marit. Du musst mir helfen. Du bist die Einzige, die mir helfen kann. Wir müssen den Leuchtturm hier retten. Hörst du. Allein krieg ich das nicht hin.«
Die Alte war stehen geblieben und drehte sich langsam um.
»Es wird Herbst, Marit.«
Finn wusste, dass er jetzt so selbstverständlich wie möglich tun musste, sich also um Himmels Willen nicht weiter um sie scheren durfte. Er stand auf und ging den kurzen, aber steilen Weg zum Leuchtturm hinauf, den Blick starr auf seine Füße gerichtet. Obwohl nicht die geringste Gefahr bestand, ins Stolpern zu geraten. Er kannte den Weg mit jedem Knorz und jedem Buckel; tausendmal gegangen in den letzten Jahren. Warum, verdammt noch mal, hatten sie ihn hierhin verfrachtet? An dieses letzte oder vielleicht vorletzte Ende der Welt. Und das direkt nach der Ausbildung. Wenn er als Kandidat aus dem letzten, dem allerletzten Jahrgang der Leuchtturmwärterausbildung überhaupt noch eine Chance haben wolle, in diesem Beruf Fuß zu fassen, bevor man auch noch die letzten Leuchttürme automatisiert haben würde, hatte man ihm bedeutet, dann müsse er die Gelegenheit beim Schopf fassen und die vakant werdende Stelle auf den Vesterålen annehmen. Sein Beruf sei ja bekanntlich ein Auslaufmodell, und da müsse man eben nehmen, was man kriegen könne. Außerdem: so er sich dort oben in dieser zerfaserten Schärenwelt, auf einer der abgelegensten Inseln des Archipels bewähren würde, stünde seiner weiteren Karriere mit Sicherheit nichts mehr im Wege. Jetzt, 1980, waren zwar bereits vier lange Jahre – oder waren's schon fünf? – ins Land gegangen, ohne dass sich karrieremäßig irgendein Sprung nach vorne abgezeichnet hätte, aber gut, ihm selbst machte das ja weiter nichts aus, er hatte sich schließlich diesen Beruf ausgesucht, war im Grunde seines Herzens überglücklich, sich den Traum seiner Kindertage erfüllt zu haben. Und was raue Verhältnisse anlangte, da war er hart im Nehmen.
Das Nordland hier oben war ihm aus frühester Jugend vertraut. Sobald er lesen konnte, war er mindestens einmal im Jahr mit der Hurtigrute zum Großvater nach Alta geschickt worden. Vom Hafen aus ging's dann noch mal drei Stunden mit dem Bus übers Fjell. Eine endlose Fahrt, die er schon als kleiner Kerl allein absolvieren musste. Und wenn man dann endgültig glaubte, hier wäre die Welt zu Ende, dann schleppte sich der Bus knatternd und dieselstinkend über eine letzte Kuppe, und vor einem lag mitten in den ausufernden, lindgrünen Wellen Samilands der winzige Weiler mit seinen drei Gehöften und dieser zusammengestauchten Mischung aus Schule und Kirchlein. Da er seinen Großvater immer im Juni, Juli zu besuchen hatte – damit seine Mutter, die sich mit fortgeschrittenen 30 noch bis auf die Knochen von den 68ern infizieren ließ, ungestört ihren vorwiegend sommerlichen Protestgeschäften nachgehen konnte –, kannte er das samische Dorf nur in weitgehend verwaistem Zustand. Die Rentierzüchterfamilien zogen mit ihren Herden irgendwo auf den Weiden des Hochlands umher. Nur sein Großvater und zwei, drei andere gebrechliche Leute, die er allerdings so gut wie nie zu Gesicht bekam, bevölkerten die kleine Siedlung, die sich da auf ein paar felsigen Hügeln aus den Sümpfen erhob.
Er wusste also, was Einsamkeit war. Aber Brik! – Brik kam immerhin aus Trondheim. Sicher, Trondheim war alles andre als eine Weltmetropole. Aber da währte auch im tiefsten Winter der Tag noch fast fünfeinhalb Stunden. Stunden, in denen das Leben, eingehüllt in aufgeplusterte Daunenjacken, aus den Häusern kam, aus den Autos, die Türen hinter sich zuknallte und durch die Straßen schlenderte, sich das Licht anzusehen. In denen die Leute beim Zeitunglesen über die paar wenigen Stadtplätze flanierten, um keinen noch so dünnen Schimmer Sonnenlicht zu verpassen. Kurze, extrem dichte fünfeinhalb Stunden. Aber hier? Könnten die Wintertage noch so lang sein, würde kein Leben aus dem Haus kommen. Hier musste man das Leben in den Flechten suchen, die sich ängstlich an die harten Felsen krallen. Hier schaffte die Sonne schon im November nur noch eine Handbreit über die Berge am Ufer des Fjords und tauchte die Inselwelt in eine Art Licht. Ein schrill-oranges, kümmerlich kurzes Licht, das dann, paar Tage später völlig abtauchte. Immer wieder, erzählte Brik, habe sie sich die endlose Winternacht oben überm Polarkreis vorgestellt, und immer war mitten in diesem Horror ein Fünkchen Hoffnung aufgeblitzt: dass da Schnee und Eis aus dem bisschen Licht rausholen, was rauszuholen ist. Aber dann baute sich hinter ihrer Stirn sofort die bange Frage auf, ob am Ende der Schnee dort auch schwarz sei! Nein, der Schnee war nicht schwarz hier, aber Brik hatte vom ersten Tag an eine unerfindliche Unruhe in den Knochen. Schon bei der Überfahrt: Je stiller die Inselwelt wurde, desto unruhiger wurde sie. Irgendwie, sie konnte einem fast leidtun. Aber das musste man ihr ja nicht unbedingt zeigen.
»Das Radar also auch niente! Also Strøm, dann los! Wir müssen, und zwar schnell!«
Das ließ sich Strøm, Steuermann, Funker und Navigationsoffizier in einem, nicht zweimal sagen. Schon gar nicht, wo er genau wusste, wie der Käptn austicken konnte, wenn nicht alles nach Plan lief. Und das hier, das lief kein bisschen nach Plan.
»Radargerät blind wie 'n Maulwurf, okay, das kann vorkommen, bei der Waschküche da draußen kein Wunder, wo sich die ganze Zeit Nieselregen und Schneegriesel abwechseln! Da soll noch ein Radar durchblicken! Okay«, sortierte Strøm in Gedanken die Situation, »aber dass dieses Leuchtfeuer, das wir die ganze Zeit im Blick hatten, dass das auf einmal schlapp macht! Da wird's schon reichlich brenzlig. Und zu allem Überfluss mitten in so 'ner Höllengegend, wo alles voll ist mit Buckeln, ein Inselchen neben dem andern!«
Aber für irgendwelche Zwischenresümees war jetzt keine Zeit. Jetzt war Abspulen angesagt. Jetzt musste alles wie am Schnürchen laufen. Der Käptn ließ die Maschinen stoppen, während Strøm einen ersten Notruf absetzte. Kaum lief der Motor leise vibrierend im Leerlauf, war auf dem Radarmonitor wieder ein Bild. Flimmernd und flackernd, unscharf und immer wieder verschwimmend, aber erkennbar zeichneten sich Konturen ab. Die Fjordufer, landeinwärts allmählich aufeinander zu laufend, und der Küstenverlauf gleich mehrerer Schären und ... und ...
»Scheiße«, schrie der Käptn, »volle Fahrt zurück!«
»Volle Fahrt zurück«, brüllte Strøm nach unten Richtung Maschinendeck.
»Scheiße Scheiße, das reicht nie, wir machen viel zu viel Fahrt voraus, zu spät gestoppt! Aber man sieht ja auch die Hand nicht vor Augen. Meine Fresse, das geht ins Auge!«
Mitten ins beschwörende Flüstern des Käptns hörte man unten die Ventile rappelnd wieder anziehen. Wenn Vollgas gefahren wurde, dröhnte die Maschine bis oben auf die Brücke; bei einem Fischtrawler mit knapp 740 Bruttoregistertonnen kein Wunder. Gott sei Dank waren offenbar alle Mann auf dem Posten. Dass es trotz der leichten See um Leben und Tod ging, das schien noch bis zum letzten Bootsjungen durchgesickert zu sein.
»Das Steuer rum«, zischte Strøm den Käptn an, obwohl er sich selbstverständlich darüber im Klaren war, dass ihm dieser Kommandoton nicht im Entferntesten zustand, »was machen Sie denn da, Chef?! Sie müssen dem ausweichen.«
»Da ist nichts mehr mit Ausweichen, dafür machen wir noch viel zu viel Fahrt. Es dürfte dir ja nun wahrhaftig allmählich klar sein, dass man auch so 'n kleines Badewannenbötchen wie unsers nicht mal eben gebremst kriegt.«
»Aber rumgerissen!«
»Auch nicht rumgerissen. Das ist wie bei der Titanic. Nur dass wir's hier mit einem knallharten knochentrocknen Fels zu tun haben und nicht mit einem dämlich rumdümpelnden Eisberg.«
»Aber, genau, der von der Titanic, der Rudergänger ist doch auch ausgewichen.«
»Hat's versucht, Strøm, versucht. Und du weißt, wie's ausgegangen ist.«
»Verflucht noch mal, Sie halten ja frontal drauf zu! Sie sind des Wahnsinns!«
Strøm wusste nicht mehr, was er tat. Die Wucht seines rechten Hakens traf den Käptn völlig unvorbereitet irgendwo in der Magengegend und schleuderte ihn zur Seite. Er ging in die Knie und kotzte wie ein Reiher. Ohne ihn auch nur eines Seitenblickes zu würdigen, griff Strøm ins Steuer und riss es rum. Das Schiff stöhnte und ächzte in allen Fugen, legte sich mit halsbrecherischer Neigung auf die Seite und drehte seinen Bug einen Hauch mehr nach Steuerbord, um mit zwar langsamer werdendem, aber immer noch gespenstischem Tempo seitwärts auf die Felsinsel zuzufahren.
Plötzlich fuhr ein unglaublicher Schlag durch alle Planken und durchdrang Strøms Knochen wie ein Blitz von unten nach oben. Er hatte das Gefühl, die Halswirbel müssten sich ins Hirn bohren, der Schädel bersten. Ihm wurde schwarz vor Augen, und die Beine versagten ihren Dienst. Dumpf schlug er im Fallen mit dem Brustkorb auf den Kartentisch und warf die Arme reflexartig um die Tischplatte, die inzwischen zwar schon eine bedrohliche Neigung aufwies, dadurch aber, dass der Tisch fest verschraubt war, hielt. Irgendwo in weiter Ferne hörte Strøm den Käptn mit gebrochener Stimme dozieren.
»Wissen Sie, was inzwischen, Jahrzehnte später, die Titanic-Reederei rausgefunden hat, mit Modellversuch und Computersimulation? Der Pott hätte nur eine einzige Chance gehabt, nicht abzusaufen. Eine einzige! Frontal vor den Eisberg zu knallen. Wissenschaftlich erwiesen. Dann hätte's ordentlich gerumst und der Bug wäre komplett demoliert gewesen, aber, rapp zapp, die Schotten runter, und alle bis auf die erste Rumpfkammer wären dicht gewesen. Der Kahn wäre schwimmfähig geblieben, und man hätte in aller Ruhe retten können, was noch zu retten ...«
Allmählich, ganz allmählich wurde es ruhig in der Ecke, aus der die Stimme des Käptns herüber gekrochen war. Verdammt ruhig. Aber Strøm hatte sich jetzt erst mal um sich selbst zu kümmern. Sein Kopf also hatte offensichtlich gehalten. Sonst hätte er den Exequien-Sermon des Käptns schließlich nicht mitgekriegt. Und als die Bilder, die seine Augen dem Gehirn ablieferten, langsam wieder Farbe annahmen und versuchten, sich mit den Gleichgewichtsorganen in Deckung zu bringen, da begriff er, wie schräg der Trawler schon lag. Das ging den Bach runter, keine Frage.
Strøm hatte das Gefühl, in seinem Kopf wär's taghell, alles völlig klar, alle Seitengedanken, Nebenträume, Unterfantasien wie weggeblasen. Sämtliche Hirnwindungen nur auf ein Ziel fokussiert: Wie mit heiler Haut hier rauskommen?! In den wenigen Minuten, vielleicht nur noch Sekunden, die ihm blieben, bis das finstre Wasser der Nacht über ihm zusammenschlagen würde.
Da fiel ihm der Plastikkanister ein. Irgendwie musste man hier, vom Inneren der Brücke aus an diesen Kanister mit dem Spirituswasser zum Auftauen der Sichtscheibe kommen. Irgendwo in der Nähe des Scheibenwischers. Irgendwo. Strøm riss sämtliche Schranktüren, Dach- und Bodenklappen im größeren Umkreis auf. Es blieb nur noch eine Möglichkeit. Und da war sein Kopf plötzlich überhaupt nicht mehr taghell. Es blieb nur der Schrank, an den sich der Käptn für seinen letzten Schlaf gelehnt hatte. Besser gesagt: auf den er gedrückt wurde, weil das Schiff dabei war, kopfüber wegzukippen. Strøm schluckte. Er sah, dass der Käptn mit offenen Augen und abgeknicktem Kopf schlaff dasaß. Das sah nicht gesund aus.
»Der ist, das darf nicht wahr sein, der ist – nein! – tot? Käptn, aufwachen! Chef, wir brauchen Sie. Unser Pott geht baden. Chef!« In irgendeinem Film hatte er mal gesehen, dass man Ohnmächtigen Ohrfeigen verpassen musste, aber er traute sich nicht. Schließlich hatte er dem Käptn grad eben erst eine gepfeffert. Er versuchte es dann doch, setzte eine ganz sanfte Ohrfeige an, und sofort schlug Arndahlens Kopf zur Seite wie eine Kokosnuss auf einem Grashalm, riss in der Seitwärtsbewegung den Körper halb mit in die Schräglage.
Strøm schossen wider Willen die Tränen in die Augen. Seit er denken konnte, vom ersten Tag seiner praktischen Ausbildung an, war er unter Arndahlen zur See gefahren. Und selbst jetzt, nachdem Strøm sich noch vor ein paar Minuten derart daneben benommen und den Käptn zu Boden geschlagen hatte, selbst auf diesem Schlafgesicht mit den weit aufgerissnen Augen lag so etwas wie ein Lächeln. Er schien es ihm jedenfalls nicht krumm genommen zu haben.
»Wieso«, ging es Strøm durch den Kopf, »wieso ist der tot? Ich leb doch auch noch. Wer weiß, vielleicht ist der im Sturz auf einen spitzen Gegenstand gefallen. Auf eine Kante geknallt. Wer weiß.« Strøm nahm all seinen Mut zusammen und schob die Leiche ächzend zur Seite. »Dass so kleine, leichte Männlein wie Arndahlen derart schwer werden, wenn sie tot sind!«
Nachdem der Trawler inzwischen fast senkrecht stand und mit seinen letzten Lichtern wie ein spärlich flackernder Leuchtturm aus dem Wasser ragen mochte, war nichts anderes möglich, als den Käptn unsanft zur Seite zu schieben und rüber auf eine der andern Schranktüren zu hieven. Nein, eine blutende Wunde war nicht zu entdecken.
»Wahrscheinlich sein Magengeschwür. Und ich Wahnsinniger zimmer ihm genau da so 'n Hammerschlag drauf! Ich hab den, den hab ich auf dem Gewissen. Ganz allein: ich! Das ist, das war Mord.«
Strøm hatte mal was gehört von Magengeschwürdurchbruch, aber er hatte keine Ahnung, ob man daran so schnell sterben konnte. Und ob man so was überhaupt von außen, durch einen Schlag in die Magengrube etwa, bewirken konnte. Kam ihm eher unwahrscheinlich vor. Also vielleicht lag es doch an was anderem und er trug nicht die Verantwortung für Arndahlens Tod. Vielleicht.
Egal jetzt, der Käptn musste weg da. Und zwar schnell. Strøm zerrte ihn vollends zur Seite und fand tatsächlich den Kanister. Natürlich viel kleiner, als er gedacht hatte, vielleicht drei, vier Liter Fassungsvermögen, wenn's hoch kam. Aber auch ein seidener Faden war ein Faden! Er zog den Schlauch ab, der aus dem Kanister Richtung Scheibenwischer führte, schüttete das Wasser achtlos in den sperrangelweit offen stehenden Unterschrank und klebte mit Lassoband den Ausfüllstutzen des Kanisters zu, um ihn dann mit dem Deckel zusätzlich zu verschrauben. Würde wohl, musste einfach dicht sein. Strøm sah, dass jetzt das Fjordwasser in dicken Bächen und Fontänen durch die Wandverkleidungen eindrang, und als er aus dem Hauptkabelbaum der Brücke die längste Strippe, die er kriegen konnte, riss, dröhnte hinter ihm ein ohrenbetäubender Knall in den halbgewässerten Raum: die Wand mit Funkgerät, Radarmonitor und was der Navigationsgerätschaften mehr waren, war halb aus der Verankerung gerissen und öffnete einem gewaltigen Sturzbach Tür und Tor. Aber da hatte Strøm das Kabel bereits dem angesichts des Wasserschwalls noch jämmerlicher wirkenden Kanister durch den Griff gesteckt, zu einer Schlaufe gebunden und sich diese unter einem Arm durch um die Brust gelegt. Einzige Überlebenschance, nachdem die Schwimmwesten absolut unerreichbar irgendwo da unten in den Kajüten im Wasser trudeln mochten.
Er suchte mit der linken Hand irgendwo Halt, bückte sich, fuhrwerkte – bis zum Hals im Wasser – mit der Rechten auf der Schranktür unter seinen Füßen herum und förderte tatsächlich den Absperrriegel des Armaturenschranks zutage. Eine schnelle Drehung und der Eisenriegel zertrümmerte mit lautem Getöse die Heckscheibe der Brücke, die – waagerecht jetzt – den Blick in den Himmel freigab. Übersät von Glassplittern und Schnittwunden, zog Strøm sich mit seiner Kanisterschwimmweste am messerscharf glasgespickten Fensterrahmen nach oben. Und, obwohl Klimmzüge noch nie seine Stärke waren, kam er schreiend vor Schmerz und Anstrengung nach oben, bekam einen Stahlbügel zu fassen und konnte ein Bein ums Fensterkreuz schlingen, so dass er sich schließlich auf die Rückwand der Kommandobrücke ziehen und aufrichten konnte.
Wie ein Desperado der sieben Weltmeere stand er breitbeinig auf seiner langsam sinkenden Eiseninsel und blickte in den Nachthimmel. Die Nebel hatten sich verzogen, aber der Himmel war immer noch pechschwarz zugezogen und ließ nicht einen einzigen Stern blinken. Strøm fror. Und von unten stieg ihm allmählich das Wasser entgegen.
Sack und Asche! Diese Frau, was starrt die mich so an? Ganze Zeit schon. Mein Gott, was die für 'en Blick hat. Augen wie Vulkanseen – komische Idee –, na jedenfalls abgrundtief. Und wie Feuer. Glühend. Brandheiß. Oder? Oder, Mann, stimmt gar nicht, sieht mich nicht an, überhaupt nicht, sieht gradewegs an mir vorbei! Wohin denn? Kann man gar nicht ausmachen, die Richtung, in die die da guckt. Seltsam. Guckt wirklich an allem vorbei. Und ich muss ständig hingucken. Werd ich ja schließlich für bezahlt, hier auf die Bilder von diesem Beckmann, wie der heißt, aufzupassen. Dass keiner von diesen kunstbeflissenen Trotteln dem Pinselstrich zu nah kommt. Wär ja noch schöner, wenn hier was passieren tät. Wenn so Bilder – sind ja 'n Vermögen wert, was man so hört – wenn die sich also im Jahre des Herrn 1975 schon mal einmal in dreitausend Jahren nach Trondheim verlaufen. Da ist es weiß Gott besser, wenn man die unter meine Fittiche gibt, unter die von Gunnar, dem Bootsmann, den diese beschissene losschnarrende Ankerkette vor drei Jahren den Fuß gekostet hat. Wenn man diese sündhaft teuren Schinken von meinen Adleraugen bewachen lässt.
Teuer vielleicht, aber schön? Also alles was recht ist! Du zum Beispiel, Tänzerin oder was du bist, schön? So richtig schön? Eher dunkel. Finster das Gesicht, trotz all der weißen Haut. Sieht aus, als hättste Puder drauf. Und die Lippen viel zu fett rot angemalt, knallrot, am Mundwinkel bisschen verschmiert. Kein Wunder, wenn du so viel drauf machst, zentimeterdick! Und die Augenlider auch geschminkt, schwarz. Da wirken die Augen noch größer. Fast größer als das Gesicht, die Augen. Irgendwie enorm die Augen, wie die gucken und wohin. Schwarzglühend. Aber die Nase bisschen breit, wirft Schatten aufs Gesicht, aufs puderweiße. Und das lange braune Haar fällt dick und schwer und schön und wirft auch düstere Schatten ins Gesicht. Schlagschatten, wie man das nennt, glaub ich.
Dieser Blick, Anblick, diese Frau, es ist der Wahnsinn!
Mist, hält sie diesen Fächer, oder was es ist, vor die Brust. Genau davor, kann man gar nicht sehn, wie viel Holz die hat vor der Tür. Scheinen aber nicht besonders schwer zu sein, die Brüste. Die rechte, da, die gibt der Fächer ja 'n Stück frei, also schwer nicht, nicht sonderlich, kein Kracher, kein Wonnevulkan. Aber passt irgendwie gut, zwischen die Arme, irgendwie genau.
Jetzt stellt sich dieser Kerl, Sack und Asche, genau davor vor die Frau, und ich kann nichts mehr sehn. Stellt sich davor und glotzt se an. Was hat der die anzulinsen?! Spannmichel der! Glubsch woanders hin, Pupillenverrenker, gefälligst! Sonst kriegst du's mit Gunnar zu tun, der hat zwar nur ein' Fuß, aber zur See gefahren ist der, Kraftpaket, sag ich dir, mit dem ist nicht zu spaßen! Also sieh zu, dass du deinen Knick in der Optik auf 'ner andern Alm weiden gehst!
Aber nix da, der glotzt die immer noch an, staksiger Spieritz der, glotzt unmöglich lang, rührt sich nicht vom Fleck, stiert ihr mitten ins Gesicht, untern Fächer auf die Dutten gradzu. Die werden abgenutzt, noch kleiner, unter dem seinen quadratgeilen Schmirgelblicken. Für die eitrigen Tränensäcke untern läufigen Augäpfeln zu dränieren oder was? Steht unverfrorn und stundenlang genau vor dieser Frau. Museumsbesucher sind einfach dreist, sag ich doch. Aber ich will ja nichts sagen, hab ich wenigstens einen Job hier. Aber wenn ich noch den zweiten Fuß noch hätt und anständig auf See – obwohl, dann hätt ich dich ja auch nicht vorm Visier hier.
Du jedenfalls hast dich nicht gerührt. Kein Stück. Lässt dir nichts anmerken. Guckst einfach vorbei an dem Kiebitz, dem dämlichen.
Finn nestelte nervös am Funkgerät. Aber es war nichts rauszuholen außer diesem undurchdringbaren Rauschen und Knistern. Brik stand in gebührendem Abstand, warf ihr langes flachsgelbes Haar zurück und murmelte irgendwas von wegen neuer Computertechnik, die könne ihm doch verdammt gute Dienste leisten hier auf seinem Leuchtturm. Wenn er bloß nicht so eselsstur wär. Eine Handbewegung Finns brachte sie zum Schweigen.
»Also was ist jetzt, ist er drumrum gekommen?«, knurrte die Alte am andern Ende des Dienstraums über ihren Pfeifenkopf hinweg.
»Wer?«, gab Finn nicht weniger knurrig zurück.
»Der Trawler, wo die Rede von war. Ist er nun auf deine Klippen gekracht oder nicht?«
»Wieso?«, fragte Finn scheinheilig und antwortete: »Natürlich nicht. Kein bisschen.«
»Ein Elend! Wieso ist uns der denn durch die Lappen gegangen? Waren doch beste Bedingungen: ausgewachsenes Sauwetter, 'ne Nacht so schwarz wie die Seele des Satans und das Leuchtfeuer von deiner Boje da draußen wie zufällig ausgefallen, so was von zufällig so was von ausgefallen. Und diese ollen Torfdeppen, die schippern trotzdem drumrum um all unsre kleinfeinen Felsbrocken!«
Finn öffnete bedächtig die schwere Tür zur Galerie, die auf gleicher Höhe wie das Dienstraumdeck außen um den Leuchtturm herumführte. Nicht sonderlich hoch, bloß eine Hand voll Meter, aber auf den Felsen von Stjernholman ragte der Leuchtturm trotzdem allemal fünfzig Meter über den Nordatlantik. Finn trat nach draußen. Schwere gelbgraue Wellen jagten sich gegenseitig, versuchten das winzige Eiland wund zu schlagen und zankten sich mit dem verschüchterten Morgen. Ganz allmählich gewann das milchige Licht die Lufthoheit und ließ am Horizont immer mehr Schären auftauchen, die sich tiefgrau gegen den Himmel absetzten. Finn musste grinsen, stellte sich auf den eiskalten, gischtgeladenen Brechern, die da unten am Ufer die Granitbuckel verprügelten, diese neumodischen Wellenreiter vor, die er gestern Abend in einer Fernsehreportage aus Miami hatte bewundern dürfen, wahnwitzige Wasserläufer, komplett von Sinnen, als wollten sie auf Jesus' Wasserspuren wandeln. Übten sich auf ihren rundgeraspelten Brettern in aufrechter Gangart, knapp unter den überschlagenden Wogen, die ihnen, wie's aussah, gar nicht grimmig genug schnauben konnten. Brik hatte den Mund vor lauter Staunen nicht mehr zubekommen.
»Hier oben, auf 68½° Nord«, murmelte er laut vor sich hin, »die möcht ich sehn, diese Lackaffen, was die für 'ne jämmerliche Figur hier oben vor der Küste der alten Dame Norwegen machen würden, satte 250 km überm Polarkreis!«
In diesem Moment hörte er von drinnen das schrille Geräusch, auf das er schon die ganze Zeit gewartet hatte. Und im gleichen Atemzug krähte auch schon Marit: »Finn, rühr dich! Telefon!«
Als wisse er nicht, was dieses nadelspitze Klingeln zu bedeuten hatte! Marit drückte ihm den Hörer in die Hand, worauf Finn sie eines energischen Seitwärtsnickens bedachte. Zutiefst beleidigt schluffte sie die Treppe runter, brummte: »der hat Geheimnisse vor mir, 'n faules Ei, der Kerl, 'n ziemlich faules«, und warf, unten angekommen, die Tür des Leuchtturms krachend ins Schloss.
Erst jetzt nahm Finn die Hand von der Sprechmuschel und raunzte ein »Ja, Werenskiold« in den Hörer.
• »SOS? Krähenkacke. Nein, ist hier nicht durchgekommen. Mein Gott, wenn ich das hier in der Funkkiste gehabt hätte! Aber kann man sich bei euch ja den Mund fusselig quasseln, wenn man 'n modernes Funkgerät braucht.«
• »Ja ja, die Leier kenn ich, von wegen würde sich nicht mehr lohnen, sowieso nur noch 'ne Frage der Zeit, bis ihr hier bei mir den Laden dicht macht. Ich weiß. Aber ich sag euch, 'n vernünftiges Funkgerät und dann wär ich sofort, wär ich im Handumdrehn da draußen an Ort und Stelle. Bis ihr bei so was draußen seid, da kommt jede Hilfe zu spät. Ist ja auch klar, das dauert eben, bis ihr eure Leute aus den Betten getrommelt habt. Also, könnt ihr euch jedenfalls schon mal 'n Schlachtplan ausdenken, wie ihr das geregelt bekommen wollt, wenn hier statt mir bloß noch 'n Rechner hockt.«
• »Wieso? Doch. Wie viel waren's denn?«
• »Ouh, das ist übel. Also jedenfalls fahr ich sofort raus, mal sehn, wen ich da noch rausgeangelt kriege.«
• »Na ja, wieso denn, ich bin doch immer sofort zur Stelle, wenn's 'ne Havarie gibt? Bin ja nun nicht von der lahmen Truppe. Alles, was recht ist. Sitze schon im Boot, kaum dass ich Wind davon krieg über meine vorsintflutliche Krächzkiste hier – um das noch mal gesagt zu haben.«
• »Fischtrawler aus Stavanger? Kacke.«
• »Sicher, als Allererstes heut Morgen. Das da 'ne Laterne durchgebrannt war oder was, das konnte ich doch an den Kontrollleuchten hier sehn.«
• »Nein, besten Dank. Ist ja nicht die erste Boje, die mir diese Chaoten demolieren, und nicht die erste, die ich repariert hab. Also das krieg ich schon selbst hin. Da geh ich jedenfalls von aus; und wenn's nicht nur an der Leuchte liegt, dann ruf ich noch mal an, dass ihr 'n Techniker rüberschickt. Aber glaub ich nicht, dass das nötig sein wird.«
• »Na ja, was heißt: ›dass ich mir da so sicher bin‹? Also die Devise, nach der ich hier arbeite, ist einfach: erst mal vom kleinsten Übel ausgehn und dann weitersehn. Das dicke Ende kommt sowieso.«
• »Mein Gott, sollte 'n Scherz sein.«
• »Ja sicher, danke. Und nichts für ungut.«
• »Bis die Tage denn.«
Er wartete das Klacken der Hörergabel am andern Ende der Leitung ab, sagte: »Krähenkacke, hätte verdammt nicht gedacht, dass die so auf der Hut sind«, und legte ebenfalls auf.
»Was, wa-was wollen die«, stotterte Brik, der das kalkweiße Gesicht ihres Mannes alles andre als geheuer war, »Marit hat recht, du spielst 'n unsaubres Spielchen, heh, hast mir doch selber noch mitten in der Nacht in den Ohren gelegen von wegen diesem Notruf, der nicht still werden wollte.«
Schon wieder 'ne Dings, 'ne Führung. Kann man denn hier nicht mal einmal in Ruhe bloß aufpassen, einfach nur sitzen und wachen?! Bei meinem einen mir verbliebnen Fuß! Wenn ich eins hasse, dann sind das Museumsführungen. Irgendso 'ne akademische Trulla – aus Oslo am Ende noch! – brabbelt was von wegen, an dieser Stelle wolle sie Beckmann selbst mal zu Wort kommen lassen: »Möchte gern etwas von dem Zucken, dem magnetischen Zusammenreißen der Geschlechter hineinbringen. Diese immense Pracht der Natur.«
Also dein Pinselschwinger, ehrlich! »Diese immense Pracht der Natur«? Bei all der Hässlichkeit, die der gemalt hat! Bisschen hochgegriffen, Meister Beckmann. Mal ehrlich mal. Aber – »Zucken der Geschlechter«, das schon, muss man zugeben. Sag mal, du, ich meine, kannst du mit diesen Bildern was anfangen, schöne Frau? Also wenn de mich fragst, ich find se zu allererst und fast alle dreckig irgendwie. Also als er noch jung war, dein Beckmänne, so ganz am Anfang, konnt er ja ganz or'ntlich noch malen, dass man auch was erkennen konnt, richtige Gesichter und so und nicht so schlampig, verbeult und verbogen, nicht so falsch. Also, ich weiß ja nicht, ob ich's besser, aber, ich mein, der konnt's doch mal besser! Hat dich doch auch zustandegebracht. Schließlich. Also Brüste malen, das konnt er, satt! Der hat fantastische Dirnenbirnen gemalt, ha, rund und fest und gradaus. Mann, und du? Unterm lila Kleid, hinterm Fächer? Den Fächer, mal ehrlich, könntste mal für 'en Augenblick zur Seite fallen lassen, mal für 'en menschlichen Augenblick nur. Ich mein ja nur.
Und die Schlaubergerin kramt weiter in ihren Beckmann-Karteikärtchen: »Salz leckst du, armer größenwahnsinniger Sklave, und tanzt lieblich und unendlich komisch in der Arena der Unendlichkeit unter dem tosenden Beifall des göttlichen Publikums. Je besser du's machst, um so komischer bist du.«
Also ich kapier gar nichts mehr. »Größenwahnsinniger Sklave«, wen meint dieser Beckmax? Und macht sich lustig und lacht unterm tosenden Beifall des göttlichen Publikums, und ich bin der Dings, der Gelackmeierte oder wer. Göttlich jedenfalls kann ich das Publikum wahrhaftig nicht finden, bei aller Liebe. Die Kunsttante zum Beispiel, wie die ständig ihre Brille auf der Nase zurechtrückt und Beckmannverse predigt: »Am traurigsten der absolute Wollüstling, weil er Pech säuft statt Wasser. – Halten wir uns an die Verachtung.«
Unmöglich, dein Schöpfer, war doch 'n gebildeter Mensch, 'nen Kunstprofessor sogar, denk ich, und dann: Verachtung! Nur weil einer so viel Pech hat.
Kaum ist die Uni-Truppe abgezogen, ist dieser Kiebitzkerl wieder da. Und schielt unter dein lila Kleid. Schamlos. Mann, dass das aber auch so hochgerutscht sein muss, kann der ja bis sonst wohin und geil glotzen. Nur gut, dass du die Beine übernandergeschlagen hast. Der würd dir glatt reinpeilen, direktemang. Der Sphinx spinxen durch 'en Spalt bis zum Blinddarm. Kennt der nix. Gut gut, wahrscheinlich käm er nur bis zum Stoff. Und so 'n Tüllunterrock oder was, wie Balletteusen so anhaben, scheinste ja nicht drunter zu haben. Aber 'ne jungfrauweiße Balletthose.
Würd der garantiert völlig ungeniert hinschielen, ob kein Blutsfleck, kein Ausfluss nicht zu sehn ist. Würd mit seinen verquasten Kiekerlingen nachfahrn den Umriss, wie sich die Balletthose einkerbt, – 'ne Unterhose haste da bestimmt nicht drunter, ist jedenfalls nichts von zu sehn, kein Saumabdruck oder was – würd den feinen Schattenstrich nachfahrn, das Schwein, Ferkel das! Würd der fertig bringen, glatt und ohne rot zu werden. – Gut wirklich, dass du die Beine überkreuzt, bisschen auf Eleganz hältst. Bitter notwendig der Fächer, bitter.
Gunnar, altes Haus, merkst du eigentlich überhaupt nicht, wie diese Frau da grad dabei ist, dich komplett um den Finger zu wickeln. Pass auf, pass bloß auf!
Nein, das sei absolut hundertprozentig auszuschließen. Man habe die Havariestelle weiträumig abgesucht, habe Taucher eingesetzt und auf der Schäreninsel speziell ausgebildete Suchhunde. Und: nichts! Nein, man müsse jetzt, nachdem ja nun doch auch schon einige Tage ins Land gegangen seien, davon ausgehen, dass er der Einzige gewesen sei, der noch so weit habe schwimmen und sich über die Insel und den Fjordarm bis zum Festland durchschlagen können, dass also außer ihm die gesamte Crew ertrunken sei. Nach den vier Leichen seiner Kollegen habe man nichts Menschliches mehr gefunden und gestern Abend die Suche eingestellt. Vom Käptn und zwei andern Seeleuten keine Spur. Insgesamt sieben Tote, ein Überlebender und ein zerschellter Trawler, das sei die traurige Bilanz dieser Schreckensnacht vorige Woche.
Nun, man könne seine Wut ja bestens verstehen und sein alles andre überlagerndes Bedürfnis, als einziger Überlebender der Katastrophe um alles in der Welt rauszukriegen, wer den Ausfall der Leuchtfeuer zu verantworten habe. Aber, seine unmittelbare Betroffenheit in Ehren, zu ermitteln – das sei seine Aufgabe nicht! Dafür habe er weder die fachliche noch die exekutiv-juristische Kompetenz! Nein nein, da wäre er bestens beraten, wenn er das der amtlichen Küstenwache überlasse. Hier habe man ausgewiesene Spezialisten für so was. Und was die Loyalität des Leuchtturmwärters angehe, da gebe es nach den Erfahrungen der letzten Jahre keinen Anlass zum Zweifel. Aber wenn ihn das beruhige, so sei ihm hiermit versichert, dass man den Leuchtturm von Stjernholman ohnedies ganz besonders im Blick habe, schon zuständigkeitshalber. Man empfehle ihm also, die Staatsorgane machen zu lassen, sich zurück nach Stavanger zu begeben und erst mal richtig Urlaub an der Adria oder wo zu machen. Nachdem er sich selbstredend vorher mit der Versicherung in Verbindung gesetzt und tunlichst einen Rechtsanwalt konsultiert habe, denn da käme doch einiges an Papierkrieg auf ihn zu. Wenn man sich beispielsweise so seine Hände ansehe, da würde ihm doch mit ziemlicher Sicherheit ein anständiges Schmerzensgeld zustehen. Und da könne ein Rechtsbeistand sicherlich ausgesprochen nützlich sein. Wenn er sich also in den nächsten Wochen statt in Arcona partout auf einem Schlachtfeld tummeln wolle, dann bittschön auf diesem. Und zwar in seinem eigenen, seinem ureigensten Interesse. Statt sich hier in dieser unwirtlichen Gegend mit irgendwelchem Ermittlungsgestümper rumzuschlagen. Da könne er sich nur blamieren, unsterblich blamieren. Und seinem Käptn und den Kollegen nützen werde das auch nicht mehr.
Nach dieser Lektion schlug der Chef der Küstenwache die Akte zu und sah seinem Gegenüber fest in die Augen.
»Mir läuft das Wasser im Mund zusammen! – Finn, was is nu?«
Aber der hatte nur Augen und Ohren fürs Funkgerät. Während er versuchte, im weißen Rauschen irgendwelche verlorenen Silben, Wörter, Meldungen auszumachen, starrte er Löcher in den muffigbraunen Stoff, womit sein Vorgänger die ursprüngliche, vermutlich seit Jahrzehnten verschlissene Bespannung der kleinen Lautsprecherbox ersetzt hatte. Das gesamte technische Equipment hier wirkte wie ein Überbleibsel aus vorchristlichen Jahrhunderten, war vermutlich seit 1912, dem Jahr der Inbetriebnahme des Leuchtturms, nicht ausgetauscht worden. Wenn's hoch kam, mochte das ein oder andere Gerät oberflächlich überholt worden sein, wie die wenigen noch nicht ganz erblindeten Sichtscheiben der Messinginstrumente verrieten.
Schließlich stand Finn langsam auf, ging rüber zum Fenster und richtete den Blick ins Leere, als wolle er seine Gedanken draußen an der Reling des Galerieumlaufs zum Trocknen aufhängen. Während Marit den Dienstraum mit den langen Schritten eines Admirals durchmaß und dabei unverwandt aufs Funkgerät starrte, den stieren Blick nicht mal lockerte, als sie mit dem Fuß den baufälligen Stuhl anrempelte, den Petter gepachtet hatte. »Was meinste, hat er's?«
»Was?«
»Geschafft. Ob der Pott nu mal endlich vor unsre Felsen gerumst ist und schön unten auf'm Meeresgrund rumdümpelt! Stell dich doch nicht dämlicher, als du bist.«
»Keine Ahnung. Wirste schon früh genug merken. Du hast doch die Funkkiste bestens im Blick«, antwortete Finn. Er stand unbeweglich, den andern seinen merkwürdig kurzen Rücken zugewandt, und blickte gebannt aus dem Fenster, als könne er irgendwas erkennen in dieser dumpfen Schwärze da draußen, die regelmäßig vom kreisenden Lichtschweif der Leuchtturmlaterne für kurze Zeit in ein nicht weniger undurchdringbares nebliges Weiß verwandelt wurde. Marit klopfte fahrig an ihrer Pfeife herum, stopfte sie mit ihrem schwarzgelben Zeigefinger und schob sie dann, ohne die Lippen zu öffnen, zwischen die Zähne, um sich augenblicklich wieder daran festzubeißen.
»Will's aber jetzt wissen!« Sie tat zwei kräftige Züge, bis die Glut wieder durchgezogen war und stopfte noch einmal mit dem Finger nach, ohne dass ihr Gesicht auch nur den leisesten Anflug von Schmerz verraten hätte.
»Dann sei still und stell deine Lauscher auf Empfang. Sag ich doch«, kam es vom Fenster.