Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
14. April 1912, 23.39 Uhr. Was jetzt? William McMaster Murdoch, der Erste Offizier, steht schockstarr auf der Außenbrücke der Titanic. Vor ihm der Eisberg, der urplötzlich aus der pechschwarzen Nacht getaucht ist. Sekundenbruchteile für die folgenschwerste Entscheidung der Seefahrtgeschichte! Ausweichen oder draufzuhalten? Murdoch weiß um die Sicherheitsmängel des Schiffs und die Gefahren eines Ausweichmanövers. Also entscheidet er sich für die Frontalkollision! Und rettet damit anderthalbtausend Menschen das Leben. Doch noch in derselben Nacht wird er degradiert und festgesetzt, da durch seine Nachlässigkeit die Bugspitze dieses stolzen Schiffs demoliert worden sei. In Murdoch's Kopf beginnt ein Wirbelsturm zu toben, die Gedanken schlagen Kapriolen! Und was will der Revolver von ihm, der da auf dem Tisch der Haftkabine liegt und ihn auffordernd angrinst?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 337
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Land
Und die Titanic fährt doch Nordatlantik-Krimi mit Rezepten
Ulrich Land
Und die Titanic fährt doch
Nordatlantik-Krimi mit Rezepten
Haftungsausschluss: Die Rezepte dieses Buchs wurden von Verlag und
Herausgeber sorgfältig erwogen und geprüft. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Die Haftung des Verlags bzw. des Herausgebers für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.
© 2011 Oktober Verlag, Münster
Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung des
Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster
www.oktoberverlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Satz: MV-Verlag
Umschlag: Thorsten Hartmann und Roland Tauber
Rezepte: Ulrich Land
Herstellung: Monsenstein und Vannerdat
ISBN: 978-3-941895-18-8
eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net
Die Tür, wieso scheppert jetzt auf einmal das Türschloss? Was wollen die denn noch von mir? Sollen mich doch schmoren lassen hier unten in dieser verdammten Zelle, zu der sie extra für mich die Ausnüchterungskabine der Krankenstation umfunktioniert haben. Sollen mich doch meinen Gedanken nachhängen lassen, bis wir mit dem angeschlagenen Kahn vor Nova Scotia ankern, in Halifax, Boston, was weiß ich – wenn die überhaupt hinreichend große Liegeplätze zu bieten haben. Oder bis wir direkt in New York gelandet sind.
Aha, der Alte steht auf der Schwelle, ›Master next God‹, welche Ehre!
»Sir?«
Während ich es mit einiger Mühe noch hinbekomme aufzustehn, den Rücken durchzudrücken und den Zeigefinger zur Stirn zu heben, verzichtet Captain Smith mit offenbar auch nicht eben wenig Mühe darauf, meinen Gruß zu erwidern.
»Murdoch, ich muss Sie bitten ...«
»Ja?« Kurze Frage, kleine Chance, es dem Chef nicht ganz so leicht zu machen.
»Ich muss Sie bitten, Ihre Uniformjacke abzulegen und mir auszuhändigen.«
Wortlos ziehe ich die Jacke aus und leg sie ihm über den hingehaltenen Arm. Wortlos winkelt er den Arm enger an und schlüpft mit den Fingern in die Knopfleiste seiner Uniform. Wer war das noch, der alte Fritz oder Napoleon? Jedenfalls eine Geste, die er bei irgendeinem Potentaten geklaut hat. – Nicht zu fassen, dass ich es in dieser ernsten, bitterernsten Situation geregelt kriege, mir so idiotisch belanglose Gedanken zu machen.
Aber noch verblüffender zu hören, wie ich hinter dem abziehenden Captain herrede: »Immerhin hab‘ ich dafür gesorgt, Sir, dass Sie gestern Nacht nicht zum ersten und zum letzten Mal in Ihrer Kapitänslaufbahn den Satz der Sätze vom Stapel lassen mussten: ›Now it‘s every man for himself!‹«
Rette sich, wer kann, geht‘s mir durch den Kopf, als ich Smith nachsehe, der verbissen schweigend hinaus in den Flur tritt und die Nurse von der Krankenstation meine Tür wieder verschließen lässt. In dieser einen Nacht ist er zu einem alten Mann geworden. Was Jahrzehnten seiner an dramatischen Erlebnissen nicht armen Seefahrtskarriere versagt geblieben ist, diese eine Schreckensminute hat es fertiggebracht, ihn niederzuwerfen.
Vielleicht geht es in meinem Schädel selbst in diesem Moment trostloser Erniedrigung deshalb so drunter und drüber, vielleicht quasseln meine Gedanken deshalb wie ein Bilderbuch, statt sich in deprimiertes Schweigen zu hüllen, weil ich mir trotz allem sicher bin, alles richtig gemacht zu haben. Trotz dieses ungeheuren, dieses markerschütternden Schlags. Absolut sicher. Und genauso absolut sicher bin ich mir, dass man mir genau daraus den Strick drehen wird. Eigentlich hätte mir das klar sein müssen. Aber es war mir nicht klar. Weil ich nämlich über die Konsequenzen überhaupt nicht nachgedacht habe. Weil ich nämlich überhaupt nicht gedacht habe.
Weil ich nämlich überhaupt nicht dazu gekommen bin nachzudenken. Weil ich nämlich gehandelt habe. Einfach nur so. Ohne Gedanken. Instinktiv, intuitiv, aber richtig. Absolut richtig.
Dieses Schiff war nur so zu retten.
Ich wusste es in dem Moment nicht, aber ich weiß es jetzt: Mein Manöver war das einzig richtige. Und je mehr diese Gewissheit wächst, wächst die Ungewissheit, ob ich das irgendeinem Außenstehenden werde klarmachen können. Ganz im Gegenteil. Fahrlässige Tötung, man wird mir fahrlässige Tötung in soundso vielen Fällen vorwerfen. Ich weiß es nicht genau, keiner hat mir die genauen Zahlen genannt, drei Dutzend, vier Dutzend Tote und etliche Verletzte. Die Nacht der Nächte. Geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Wie denn auch?! Schicksalsnacht. Bitterkalt und glasklar. Neumond. Rabenschwarz der Himmel, aber übersät mit winzigen weißen Punkten. Steuerbord schräg voraus vergilbte soeben der lindgrüne, leise schwingende Seidenvorhang eines Nordlichts, bevor er sich endgültig wieder in der Finsternis auflöste, aus der er sich gerade erst vor ein paar Minuten entfaltet hatte. Und plötzlich – plötzlich baute sich dieser schwarze Brocken vor uns auf! Obwohl, eigentlich war er natürlich weiß. Aber nachts sind alle Katzen grau und alle Eisberge schwarz. Zumal dann, wenn sie wie offensichtlich dieser hier schon mal gekentert sind. Von einem Wasserfilm überzogen, spiegelglatt und glasig-blau, sind sie in der Dunkelheit praktisch unsichtbar. Stehen schwarz im schwarzen Wasser vorm schwarzen Himmel. Fallen vor allem dadurch auf, dass man da, wo sie rumdümpeln, die Sterne nicht sieht. Wie ausgestanzt, ein Loch im Sternenhimmel. Genau im Umriss dieses zwanzig, was weiß ich, dreißig Meter hohen Ungetüms. Kommt einem vor, als läge vor uns volle Breitseite ein Windjammer unter Segeln, unter vollen Segeln, unter anthrazitfarbenen Segeln, ein Totenschiff – und würde sich keinen Millimeter vorwärtsbewegen. Denn der Wind schafft es nicht mal, die Segel zu blähen. Das schwere Segelleinen wirft tausend Falten. Und oben in der Mitte läuft der Koloss nadelspitz zu, wirft sich auf zu einem scharf-alpinen Zinken. Fehlt nur das Gipfelkreuz.
Dann der gigantische Knall! Ein kurzes Zittern erfasste den pechschwarzen eisweißen Klotz. Mich überkam eine Höllenangst, das Ding könnte kippen, könnte durch die Kollision mit unserem Vorsteven einen senkrechten Riss abbekommen haben, könnte sich in der Mitte spalten und umklappen. Könnte Hals über Kopf aufs Vordeck schlagen und zerschellen. Aber hielt, die Drecksau. Gott sei Dank. Paar Zähne abgebrochen, aber der Kern hielt zusammen und stand da mit stoisch stupidem Gleichmut. Schien kurz zu überlegen, soll er steuerbord, soll er backbord sich vorbeitrollen an unserm Rumpf. Er entschied sich für Stehnbleiben. Taumelte leicht, aber blieb eisern eisig stehn vor unserer Nase. Erst als die Schrauben endlich packten, die ich auf volle Kraft zurück hatte stellen lassen, als das Schiff langsam, unendlich langsam die zerquetschte Bugspitze vom Eisberg zurückzog und sich vom umgelegten Ruderblatt überzeugen ließ, über Backbord abzudrehen, da schob der Koloss sich gemächlich nach achtern. Längs unserer Steuerbordflanke. Eckte hier und da kurz an, aber schon war er – schwarzblau jetzt, nass und glibberig glitzernd von dem bisschen Licht, das ihm die Lampen des Schiffs hinterherwarfen – verschwunden. Irgendwo. In der Finsternis. Achteraus und auf Nimmerwiedersehn. Ich weiß nicht, fünf Minuten vielleicht, vielleicht hat er sechs, sieben Minuten gebraucht, um bei der geringen Fahrt, die wir jetzt machten, an den zweihundertsiebzig Metern Schiff längs zu ziehn. Eine Hand voll Minuten, dann war er vorbei. Und alles war vorbei.
Und ich wischte mir die Schweißlachen von der Stirn und ließ erst mal die Maschinen stoppen.
Wo, wo mag das verdammte Biest jetzt sein? Was gäb ich drum, seiner habhaft zu werden. Einfangen, festnageln, eine Antwort auf die Frage aus ihm rausprügeln, was er sich dabei gedacht hat! Und wie sich‘s als Eisberg lebt mit diesem pechschwarzen Gewissen, einen britischen Luxusdampfer ramponiert zu haben. Obwohl, die Hinrichtung des Eisbrockens übernehmen ja ohne jedes weitere Dazutun von dritter Seite die Temperaturen der gemäßigteren Breiten, wo er sich jetzt, vom Labradorstrom erfasst, allmählich, ganz allmählich, aber unweigerlich hinbegibt. Kann ich getrost die Hände in den Schoß legen. Gott sei Dank.
Ich weiß nicht, ob die zwei im Krähennest vorne eingenickt waren, wäre bei der Kälte eher verwunderlich, oder ob die und wenn ja, über was die geredet haben in dieser Nacht unterm schwarzen Lichtpunktfirmament, ob die gerade den Kopf gesenkt hatten und sich die Hände vors Gesicht hielten, um sich eine Zigarette anzuzünden. Jedenfalls kam die Alarmglocke verdammt spät. Aber ich will die andern nicht, will keinen dafür verantwortlich machen. Will die Schuld nicht abschieben. Weil ich selbst keine Schuld habe. Kein Gran. Im Gegenteil. Man müsste mich eigentlich feiern als den Retter. Als einen Held der christlichen Seefahrt. Hätte ich nicht gehandelt, wie ich gehandelt habe, das Schiff wäre abgesoffen mit Mann und Maus und Mokka. Gut, bräuchte ich mir jetzt keine Gedanken mehr zu machen. Bräuchte sich niemand mehr Gedanken zu machen. Auch eine Lösung. Aber ich hab‘ eben gehandelt und also, was weiß ich, an die zweitausend Leben gerettet. Um den Preis von fünfzig, achtzig, ich weiß es nicht, hundertfünfzig Leben. Ohne Opfer war die Rettung nicht zu haben, definitiv nicht.
Aber darum geht‘s mir nicht, ich muss nicht auf irgendeinen Heldensockel gehoben werden. Ich hab‘ bloß getan, was ich tun musste. Bin nichts als ein einfacher Offizier zur See. Okay, Erster Offizier hier an Bord. Aber mehr auch nicht. Ich will gar nicht in die Annalen der Seefahrtgeschichte eingehen, aber ich will verdammt noch mal auch nicht eingebuchtet werden. Hab‘ noch längst nicht jeden Winkel der Weltmeere gesehn, noch nicht jedem Orkan ins Auge geblickt, nicht jeden weißen Fleck der Ozeanatlanten vermessen. Ich habe noch so viel vor. Also – also lasst mich raus hier, lasst mich hier raus! Ihr habt den Falschen eingesperrt. Nein, niemand, es gehört niemand eingesperrt für diese Nacht. Nicht mal der verdammte Eisberg. Konnte schließlich nichts dafür, dass wir seinen Weg kreuzten. Auch der war von Mordgelüsten nicht beseelt. Auch der war vom Donnerschlag gerührt, von diesem Schuss vorn Bug überrascht. Überraschter noch als wir.
Dieser Augenblick, dieser eine Augenblick!
Wir waren genau auf Reisegeschwindigkeit. Endlich. Endlich machten wir die vorgesehenen 22,4 Knoten. Volle Fahrt voraus, westlicher Kurs.
Position: 41°46‘ Nord, 50°14‘ West.
23:40 Uhr Bordzeit.
Am Morgen hatte in der Offiziersmesse für ein paar handverlesene Passagiere der ersten Klasse und Crewmitglieder der Sonntagsgottesdienst stattgefunden. Die letzten Worte des Chorals: »Denen in Gefahr auf See.« Worte, die jetzt natürlich einen völlig neuen Klang haben. Aber davon wusste ich bis 23:39 Uhr nichts. An diesem späten Sonntagabend schien alles ganz normal zu sein. Alles lief präzise nach Plan. Und plötzlich aus heiterem schwarzklaren Himmel ist alles anders. Nichts ist normal. Die Alarmglocke! Aber ich hatte den Eisklotztitan vorher schon gesehn: gradeaus voraus. Blinzle kurz, da trifft mich der Schlag. Kurz bevor er das Schiff trifft. Ich weiß nur eins: Ich hab‘s in der Hand. Ich allein habe es in diesem Augenblick in der Hand. Das ganze Schiff. Mit Mann und Maus und Mokka. 1308 Passagiere, 898 Mann Besatzung. Und eine Entscheidung. Die Entscheidung des Ersten Nautischen Offiziers William McMaster Murdoch.
In diesen Sekundenbruchteilen. In den Augenblicken zwischen dem Augenblick, als Fleet oben im Krähennest ins Telefon »Iceberg right ahead!« kreischte und Moody »Iceberg right ahead!« nach draußen Richtung offene Brücke brüllte, wo ich stand und starrte, längst mit meilenweit aufgerissenen Augen auf den schwarzblauen Höllenfels starrte, der da langsam, aber erbarmungslos auf uns zu geschwommen kam, right ahead. Und right heißt hier nicht rechts, sondern recht. Recht voraus. Genau gradeaus. Hoffentlich ist das einem Richter begreiflich zu machen. Na ja, da das Verfahren erst mal beim Seegericht landen wird, dürfte das ja wohl klarzustellen sein. Das Biest ist jedenfalls frontal vorm Vorsteven, so frontal, wie‘s nur frontal sein kann. Noch 450 Meter liegen zwischen Eisen und Eis! Keine zwei Schiffslängen. 450 Meter oder 40 Sekunden. Bei unserem Tempo. Zweiundzwanzig Knoten, das bedeutet elf Meter fünfzig pro Sekunde. Also.
Also gab ich nach einem kurzen Moment des Zögerns »Volle Kraft zurück!« über den Maschinentelegraphen durch und wusste doch, dass allein das Umschalten der Maschinen auf Gegenschub 20 Sekunden frisst. Plus ein gigantisches Mehr an Zeit, bevor überhaupt eine spürbare Geschwindigkeitsdrosselung eintritt. Reine Kosmetik, dieses Kommando. Ein Beruhigungsmanöver für uns selbst, um uns das Gefühl zu geben, dass wir überhaupt was getan haben, nicht einfach kampflos aufgegeben haben.
Auf alle Fälle den Befehl, das Ruder rumzureißen – na ja, was heißt bei so einem schwimmenden Dinosaurier schon ›Ruder rumreißen‹! – und die linke Schraube ›volle Kraft zurück‹, die rechte ›volle Kraft voraus‹ laufen zu lassen, diesen Befehl hab‘ ich nicht gegeben. Anfängerlektion der nautischen Grundausbildung: Das Schiff einfach auf Linkskurs zu steuern, bedeutet, dass wir den Bug vielleicht grade noch rechtzeitig werden wegziehen können, dass aber das Heck mit Sicherheit genau in den Eisberg hineingedreht wird. Also müsste ich an der entscheidenden Scharnierstelle, an einem ganz bestimmten Punkt wieder nach rechts steuern, um nach dem Bug dann auch das Heck vom Eis fernzuhalten. Aber: Sonnenklar, für ein solches Porting-Around-Manöver mit auch nur einer Spur von Aussicht auf Erfolg, da reichte die Zeit einfach nicht! Hinten und vorne nicht, im wahrsten Sinne des Wortes. Völlig hoffnungslos.
Das alles schoss mir durch den Schädel, blitzte zwischen den Zeilen dieser winzigen Zeit auf, zwischen dem Ticken des Sekundenzeigers, schoss hin, schoss her, mal hü, mal hott. Ohne dass es wirklich zu einem einigermaßen klaren Gedanken gereift wäre. Aber ich wusste, ich muss mich entscheiden; jedes Zaudern ist tödlich, jede Sekunde, die du ungenutzt verstreichen lässt, kostet soundso viele Menschen das Leben. Ich gab also den Befehl zum Ausweichmanöver nicht! Mit der unausweichlichen Folge, dass ...
Aber dann spürte ich auf einmal trotzdem, obwohl ich mir absolut sicher war, nichts von Ausweichen gesagt zu haben, spürte ich in den Fußsohlen, dass sich das Schiff einen Hauch Richtung Backbord drehte, millimeterweise, aber das reichte schon; ich musste gar nicht erst zum Rudergänger rübersehn, um zu wissen, was Sache war. Drei Sätze, und ich war direkt neben Hichens. Der sah mich überhaupt nicht an, wandte den Blick keine Sekunde vom Eisberg, starrte ihn gradezu fasziniert an. Ein unglaublicher Magnetismus. Instinktiv drehte er das Steuerrad nach Backbord. Der Mann wollte nur eins: dran vorbei an dem Saustück! Ich sprach ihn an: Er hörte mich nicht. Ich schrie »Mittschiffs«: Nicht mal ein Lidschlag. Ich brüllte, das sei ein Befehl, er solle das Ruder sofort wieder in Geradeausstellung bringen: Er reagierte nicht. Ich rempelte ihn mit den Schultern an, um ihm klarzumachen, dass er hier nichts mehr zu suchen hatte. Aber er hielt sich krampfhaft am Steuerrad fest und wich keinen Zentimeter. Ein guter Rudergänger lässt erst los, wenn er … aber ich kann den Mann doch nicht einfach so … doch, blieb mir nichts andres übrig. Ich schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Ich hatte noch nie jemandem ins Gesicht … irgendwo hatte ich mal gelesen, wenn ins Gesicht, dann immer mit viel mehr Kraft, als man eigentlich will, als man eigentlich kann.
Hichens blutete aus Nase und Mund, hatte die schreckgeweiteten Augen immer noch starr an den Eisberg geheftet und … und hielt das Steuer. Mit einer Hartnäckigkeit, die eigentlich einen Orden verdient hätte. Ich dröhnte ihm meinen Ellenbogen mit voller Wucht in die Nieren. Er knickte saftkraftlos seitwärts ein, und das reichte mir, um seine schweißnassen Hände vom Steuerrad zu schieben. Das alles spielte sich in Sekundenbruchteilen ab. Ich hatte keinen Blick dafür, wie Hichens jetzt vollends in sich zusammensackte. Ich griff in die Speichen: einen Hauch nach Steuerbord, damit die Nase wieder grade nach vorn kommt. So. Wieder 0° auf der Ruderlageanzeige.
Und da … da war er, dieser Schlag, auf den ich gewartet hatte … ich sah den Göschstock wegknicken wie ‘n Streichholz! Der Rückschlag warf mich aufs Steuerrad, die Brust dröhnte, stechender Schmerz in den Rippen. Ich konnte mich mit Mühe aufrecht halten, während der willenlos nach vorn rutschende Hichens dem inzwischen dazugekommenen, völlig konsternierten Lightoller die Beine wegriss.
Nicht selten wird eine Wende des Schicksals von einem Rums eingeleitet. Und dann fängt‘s an, interessant zu werden. Dieser Rums hier hatte sich gewaschen! Sechzigtausend Tonnen Stahl krachten frontal auf dreihunderttausend Tonnen Eis. Eins zu fünf. Eigentlich war gar nicht der Knall das Erschütternde. Nicht das grausige Heulen und Knistern der wie Stanniolpapier nachgebenden Stahlplatten, das Knirschen der Eisenträger, das wie Hammerschläge dröhnende Aufspringen der kindskopfgroßen Nieten der Außenhautplatten, nicht das Wimmern der zerknüllten Spanten und Wrangen im Bug, das knarrende Holz, das Zersplittern der Glaskuppel überm A-Deck-Foyer, nicht das Gurgeln und Rauschen der in die beiden vorderen Rumpfkammern einschießenden Wasserfontänen, nein, das Erschütternde war die Stille nach dem Knall. Als das Schiff stand und auf den Eisfels starrte. Diese brüllende Stille.
Mit einem Schlag liegt der Titanic-Traum in Trümmern, ist zum Trauma geworden.
- . -
Keine große Kunst, sich auszumalen, wie‘s da unten zuging, im Salon der verlorenen Seelen. Wo sich zu nachmitternächtlicher Stunde immer ein paar versprengte Figuren einfanden, die an Schlafstörungen litten. Nichts schöner, als sich dort ab und zu an einen abgelegenen Ecktisch zu pflanzen und diesen seltsamen Vögeln beim Zwitschern zuzuhören. Schade, dass ich in der vergangenen Nacht Wache auf der Brücke hatte. Aber, wie gesagt, ich kann‘s mir lebhaft ausmalen, wie sich da unten das übliche harmlos-ahnungslose Geplänkel angelassen hatte. Da, mitten drin im Pott, wo man vom Wellengang selbst dann nichts hört, wenn‘s nicht so mucksmäuschenstill zugeht wie letzte Nacht. Mit Sicherheit einer der sichersten Punkte auf dem ganzen Dampfer, oder besser gesagt: einer der Punkte, wo man sich am sichersten fühlt. Eben: mittendrin. Und stabil. Denn da ist wahrhaftig die Mitte. Konnten die Konstrukteure der Harland & Wolff-Werft natürlich nicht ahnen, dass dorthin, nur ein paar Meter vom Massenschwerpunkt entfernt, wo man den Seegang deshalb so wenig spürt, weil hier der Mittelpunkt der Achse ist, über die sich das Schiff dreht, wenn‘s hoch hergeht, dass also die Nachteulen dorthin, ausgerechnet in die Messe für Butler und Zofen retirieren würden. Direkt überm Speisesaal der ersten Klasse. Und konnten noch weniger ahnen, dass diese graugesichtigen, tränensackbeladenen Gestalten sich regelmäßig erdreisten würden, den vorderen Teil der Butlermesse in einen Rauchsalon für späte, für sehr späte Stunden umzumodeln.
»Hier, wo selbst das Motorengeräusch so verhalten ist, dass man beim besten Willen nicht auf die Idee kommt, man könnte mitten im Atlantik sitzen«, wie diese Brünette jeden zweiten Abend zu sagen pflegt, die attraktive Mittoder meinetwegen Endzwanzigerin, die sich während der fünf Tage, die die Reise bis zum großen Schlag währte, keine Nacht vor vier Uhr in ihre Kajüte zurückzieht. Trotz ihres jugendlichen Alters aber sieht sie jetzt – in der Nacht danach – mit einem Mal so unglaublich schal aus, so blutleer, irgendwie erheblich älter. Falbe, welke Haut. Lichtleere Haut. Ein schattenloses Gesicht ohne jede Kontur. Bei allen Figuren übrigens hier in diesem Panoptikum! Einfach nur eigenartig. So, dass ich auf keinen Fall hinsehn will, aber ich kriege den Blick nicht losgeeist.
»Aayyyh! Bringen Sie das grässliche Tier zur Strecke!«, schreit die Schöne mir plötzlich ins Ohr! Wie, in drei Teufels Namen, kommt ihr Schrei hierher zu mir in die Haftkabine? Was will die mir sagen? Wieso ist die mit einem Mal vollkommen nüchtern?! Und diese Stimme! Die Stimme hört sich an, als wäre ihr Kehlkopf mindestens hundertzwanzig Jahre alt.
Der Steward baut sich an ihrem Tisch auf, um ihren spitzen Schrei mit dem Bassbaritonbrustton der Überzeugung zu parieren: »Sie befinden sich hier an Bord eines Luxus-Restdampfers. In unserm Laboratorium gibt‘s keine ...«
Während die Hübsche gar nicht daran denkt, ihm zuzuhören, sondern vom Stuhl hochschnellt und durch die Gegend kreischt: »Da vorne, unter die Anrichte gehuscht, das Vieh, hat eine, seltsam, eine Hutnadel, größer als es selbst, hinter sich hergezerrt. Tun Sie, machen Sie was!«
»Wir befinden uns hier an die zweitausend Meter unter der Meeresoberfläche, Lady. Und ich darf Sie daran erinnern, wir haben uns seinerzeit vor, ich weiß es nicht, vielleicht hundert Jahren auf der Jungfernfahrt befunden, und innerhalb der hundert Stunden, die diese währte, bevor … nun, wir haben ja vereinbart, das kleine Malheur nicht mehr beim Namen zu nennen, jedenfalls innerhalb so kurzer Frist nisten sich keine Tiere, auch nicht so wollige drollige, im guten Salon ein.« Der Steward unterbricht seine Expertise kurz, ganz kurz, um den Kragen seines Livrees zurechtzuzupfen und sich bei der Gelegenheit mit flatternden Fingern ein paar aufdringliche Schuppen von der Schulter zu wedeln. »Und sollte tatsächlich eine Maus zwischen den Mehlsäcken an Bord gelangt sein, so dauert‘s eine halbe Ewigkeit, bis das Geschöpf aus den Vorratskammern, die sich bekanntlich ganz hinten im Heck befinden, bis hier rübergewandert ist. Aber, schöne Lady, bis zum Verstreichen dieser halben Ewigkeit waren die Heckräume längst feucht geworden, komplett geflutet. Und schließlich weggebrochen. Hier gibt‘s keine Tiere!«
»Aber Mäuse«, zischt die verdammt, verdammt gut aussehende Brünette, bei der man eigentlich so eine gestelzte Empfindlichkeit gegenüber Kleinnagern gar nicht vermutet hätte.
Russel, der hagere Bestatter, der drüben auf der anderen Seite des großen Teichs nicht nur seine kärglichen Verhältnisse abschütteln, sondern auch die Profession wechseln und endgültig zum Lyra-Virtuosen und rechtmäßigen Nachfolger des himmlischen Hermes mutieren will, dieser Russel also gibt eines seiner selbstgestrickten Meisterwerke moderner Lyrik zum Besten:
»die Toten die Untoten fressen
die schwarzen Wellen der sieben Weltmeere spiegelglatt«
Mme Godot wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel, während Heizer Hart sich auf die Lippen beißt, um nicht loszuprusten, und der Bordanimateur namens Batman sein Fledermauslachen frank und frei durch die betretene Stille gackert. Indes die junge Schönheit mit dem alten Gesicht und der uralten Stimme bleibt – lyrische Höhen hin, atlantische Tiefen her – bei ihren irdischen Problemen: »Eine Maus! Hab‘ ich mit meinen ureigenen Augen gesehn!«
Aha, verdammt, jetzt – so ganz langsam – kapiere ich, das sind meine eigenen Gespinstgespenster, die mich da in der wasseraufgeweichten Hand haben. Die Hirnwindungen verknäulen sich, Lug und Trug, wilde Schimären gehn mit mir durch! Die rauben mir das Zeitgefühl, lassen alles anfangen zu schwimmen, zerreißen mir die Klarheit des Nautikerbewusstseins, lassen‘s zerfasern, ausfransen und schicken immer wieder irgendwelche ungerufenen Bilder daher. Lassen von jetzt auf gleich alle Farben wegtauchen, alles in Hell und Dunkel, Licht und Schatten sich verwandeln. Lassen die Figuren so eigenwillig schwammige, wellenförmige Bewegungen vollführen, und erwecken in meinem Schädel bei jedem Wort, das diese Untoten da unten über die Lippen stoßen, den Eindruck, als stiegen blubbernde Luftblasen auf.
Wie‘s aussieht, spielen meine Traum- und Trugbilder hundert Jahre danach und gehen einfach mal eben davon aus, dass der Kahn in der Nacht der Nächte denn doch abgesoffen ist. Wahrscheinlich weil ich Idiot dem Eisberg doch ausgewichen bin, besser: versucht hab, ihm auszuweichen, worauf aber das Saustück uns die Steuerbordseite aufgeschlitzt hat. Völlig anderes Szenario: Der Stoff, aus dem die Alpträume sind. Touché! Stahl schrammt über Eis, ein Geräusch wie klirrende Ketten, die Außenhautnieten fitschen weg, als wären‘s Büroklammern, schäumende grüne Wasser strömen hektoliterweise ein.
Während man auf dem Luxusdeck zunächst mal nur ein leises Klirren der Kristallgläser wahrnimmt und einen Lufthauch, als gaukle ein schwarzer Engel durch den Salon. Ein, zwei Stunden später sind schätzungsweise die Hälfte der Passagiere und die Hälfte der Crew tot. Vielleicht. Womöglich gibt‘s auch bloß neun- oder sogar nur achthundert Gerettete. Obwohl, selbst das nur dann, wenn wir mal davon ausgehen, dass die Rettungsboote rechtzeitig zu Wasser gelassen werden und das Manöver diszipliniert vonstatten geht.
Und, um in diesem Fantasiegemälde zu bleiben, nur zwei, drei Rumpfkammern mittschiffs – glorioserweise samt Kessel und Notstromaggregat – sind nicht geflutet worden. Darinnen eine Hand voll Menschlein, die nicht in Panik an Deck gestrauchelt sind, sondern tumb oder willig oder beides ihr Schicksal entgegengenommen und sich in den Tiefen des Salons der Nachtschattengewächse verschanzt haben. Und also ihre bizarre Vorstellung hegen und pflegen, der Kahn sei abgenippelt und auseinandergebrochen. Ein Drittel davon dümple nun mit seinen paar wenigen luft- und wasserdichten Räumen in den Tiefen des Atlantiks einher und sei auch nach diesem elend langsam verstrichenen Jahrhundert noch nicht zur Ruhe gekommen. Wie eine Art U-Boot ohne Antrieb. Von dem eingeschlossenen Luftpaket grade eben in der Schwebe gehalten. Und die paar Gestalten hier wollen nicht nur überlebt haben, sondern über die Jahre unsterblich geworden sein! Wer weiß, vielleicht vom in der verbliebenen Luft stetig sinkenden Sauerstoffgehalt, was bekanntlich den Verwesungsprozess ausbremst.
Klar, ihr Denkfiguren, klar, dass ihr unsterblich seid. Zum Spintisieren braucht man keinen Körper. Zum Spuken erst recht nicht. Da ist er eher hinderlich. Ballast. Aber denkt dran, manch einer, der abgehoben, ohne Leib, aber dafür mit reiner, reinster Vernunft vor sich hingedacht hat, ist schwer ins Stolpern geraten! Einer soll dabei sogar in einen tiefen Brunnen gefallen sein und – Thales, war das Thales? – musste sich das Hohngelächter seiner Hausmagd anhören. Woll‘n mal sehn, ihr knorzigen Kobolde da unten, wer von uns am besten lacht! Und eins ist schon mal klar: Wer am lautesten lacht, lacht noch lange nicht am besten.
»Hurra, unsere Leichen leben noch, lächeln noch. Dead man walking. – Kpow!«, grunzt dieser Batman.
Zentraler Treffpunkt der wässrigen Sippschaft: nach wie vor die zum Rauchsalon ausgerufene Ecke des Speiseraums für Butler und Zofen. Oder wahlweise der Palmenhof. Aber um dorthin zu gelangen, muss man die Unannehmlichkeit in Kauf nehmen, durch das kalte Wasser zu tauchen, das auf Grund der vor vier, fünf Jahrzehnten doch noch eingedrückten Fenster in den Rauchsalon erster Klasse eingedrungen ist. Diese Kaltwasserpassage aber ist nur was für Tage, an denen die Heizung mal wieder überfeuert ist und nicht auf ein erträgliches Maß runtergeregelt werden kann, weil Manfred Hart das defekte Steuerelement nicht in die Gänge bekommt. Tage also, an denen die untoten Titanen das Gefühl nicht loswerden, sie würden doch in der Hölle schmoren und dringend eine Abkühlung gebrauchen können. Jedenfalls: Man trifft sich und plaudert über die alten Zeiten. Wir schreiben das Jahr 2012, den 15. April, die hundertste Jubiläumsnacht, um die keiner weiß, weil sämtliche Uhren stehn geblieben, alle Kalender abgelaufen sind und die Versuche, die Tage mitzuzählen, aufgegeben wurden.
Während also die Schönste aller Brünetten die Sichtung des grauen, kaum radiergummigroßen blinden Passagiers beschwört und der Steward das Gegenteil, schaltet sich jener zigarillorauchende Lackaffe ein, bei dem man wegen seiner leiblichen Größe unweigerlich geneigt ist, sich Sorgen zu machen, ob die Luft, die er dort oben einatmet, nicht zu dünn und also der geistigen Brillanz abträglich ist. Ein ewiglanges Elend, das, wie gesagt, darauf insistiert, Batman genannt zu werden. Überhaupt muss man den Kerl, will man seinem kraftstrotzenden Gehabe Glauben schenken, für einen verirrten, aber maßlos von sich selbst überzeugten Vollender und Vollstrecker halten, der der Titanengalerie entsprungen ist. Auch wenn er mit seinem ausgesprochen winzigen, aus einem überbordenden Muskelberg stechenden Kopf, geziert von rund geblähten, vorm Wind segelnden Ohren, jedem antiken Heldenmythos Hohn spricht. Titan Sorte »seltendämlich«. Jetzt springt der Bursche mit einem Satz auf den Tisch, bückt sich, um sich den kleinen Schädel an der niedrigen Decke des Salons nicht noch kleiner zu stoßen, und verkündet, voll wie eine Haubitze, aber präzise die Stimmlage eines frisch erleuchteten Predigerpaters treffend: »Fledermäuse sind keine Nagetiere! Wow. – Batman steht zu Diensten.«
Was die verzweifelte Braunholde zu der vielleicht etwas dünn und adrenalinverzerrt vorgetragenen Aufforderung verleitet: »Dann voran!«
»Krrrh! – Leidenschaft brennt. – Bratta Bratta. – Brennt eiskalt«, dröhnt Batman von seiner wackligen Kanzel herab und stößt sich jetzt doch den Hinterkopf an einem der Deckenträger.
»Kannz doch sowieso keiner Maus watt zu Leid tun. Ma ehrlich!« Das ist unverkennbar Hart, einziger überlebender Heizer und, wie er jedem, der‘s wissen will, und jedem, der nicht, mit wachsender Begeisterung erzählt, ehedem Abbausteiger auf Zeche Auguste Victoria im deutschen Kohlenrevier an der Ruhr. Mit Leib und Seele Bergmann, aber er musste weg aus Deutschland, führte kein Weg dran vorbei. So jedenfalls die Sachlage aus seiner Sicht. Hat die Flucht ergriffen angesichts der martialischen Aufrüstung von Kaiser, Volk und Vaterland. Weichling oder Pazifist. Das kriege ich aus seinem Palaver nicht so richtig rausgehört, aber die fidele Aufmüpfigkeit der Sprüche, die er sich selbst bei niedrigem Alkoholpegel rausdreht, spricht eher für die zweite Variante. Aus politischen Gründen also seit hundert Jahren auf dem Weg in die Neue Welt. Bis jetzt indes noch nicht angekommen.
»Ein graupelziger Herold! Endlich«, schwärmt Angélique Godot, klappert wieder unentwegt mit der Mokkatasse, die sie auf der Untertasse balanciert, und starrt diesen Fledermaushünen an, der sich soeben anschickt, seine unbequeme Position unter der Decke aufzugeben und vom Tisch übern Stuhl die rettenden Gestade der Salonplanken aufzusuchen. »Endlich ein Bote im Boot. Von oben, von draußen. Ein Kassiber meines Mannes!«
»Ihres Mannes? Madame Godot, ich versteh überhaupt nichts mehr«, gesteht Russel. »Ihr Mann? Den gibt‘s doch längst nicht mehr. Godot ist tot. Um des hohen Himmels Willen, den hab‘ ich doch nicht retten können, hab‘ ich doch schon zigmal zugegeben. Müssen Sie mich denn immer an dieses traurige Kapitel erinnern!«
»Godot lebt«, entgegnet Angélique Godot dem konsternierten Bestatter und ergeht sich in Sehnsuchtsverzückungen – ihre Methode, die endlose Zeit totzuschlagen. »Das Leben gibt es noch! Mein Mann sieht von irgendwo herüber zu mir, sieht mich hier auf dieser Endlosreise und hat ein Wohlgefallen. Und schickt mir zum Zeichen diese Maus. Eine Maus als Lebenszeichen.«
»Unsinn!«, der Steward ist dabei, den letzten Rest Contenance fahren zu lassen, »Unsinn! Von außen kann sie schon gar nicht kommen. Sie wäre längst ertrunken auf dem Weg hierher. Wir sind umgeben von einer 82 Millionen Quadratkilometer großen Wasserfläche. Und wollen Sie mir vielleicht mal sagen, wie eine Maus, wenn sie denn bis hierher zu unserem Schiff durchs Wasser gesprattelt wäre, wie sie durch die Rumpfwände unserer Unterseetitanic eindringen soll?! Sie wollen mir ja wohl nicht weismachen, dass sie die Abflussfontänen unserer beiden Pumpen aufwärts geschwommen ist. Das dürfte selbst für den stärksten und hartnäckigsten der Lachse ein Ding der Unmöglichkeit sein.«
»Na ja«, knurrt Hart, »sind ja noch ganz andre Sachen eingedrungen. Damals. Aber Schwamm drüber.«
»Ich hab‘ sie da unter der Anrichte verschwinden sehn, wenn ich‘s Ihnen doch sage!«, stammelt die schöne Brünette mit immer noch schreckgeweiteten Augen.
Und Mme Godot zirpt: »Solange nur eine Maus lebt, lebt auch mein Mann noch, hat er noch nicht die Sterne von der Stirn gestrichen. Gott weiß wo, aber er lebt.«
»Aber Sie wissen, wissen doch«, stolpert der Totengräber über seine eigene Zunge, »Sie haben doch höchstpersönlich miterlebt, wie er mir aus dem Arm – da können Sie doch jetzt nicht allen Ernstes glauben, dass Godot sich aus dem Jenseits bei uns hier unten meldet, einen Herold aus Fleisch und Blut und Pelz auftreten lässt vor versammelter Mannschaft!«
»Melde: Besatzung des Salons der einsamen Herzen vollzählig zum Mitternachtsappell angetreten: die brünett Gelockte, die auch nach diesen hundert Jahren anonym bleiben möchte; rechts davon Madame Angélique Godot; Heizer Manfred Hart; Mister Ronald Russell, schreibender Bestatter; Bruce Wayne alias Batman; Ernest Steel, Steward im dunklen Livree mit stets frisch gestärktem Kragen. Und meine Wenigkeit: Jonathan Phillips, Erster Funker auf der Titanic, Seiner Majestät King Georges treuester Diener im Endlosruhestand. All on board.«
»Sehen Sie«, rasselt Russell und hustet, als wäre er auf dem besten Weg, sein eigener Kunde zu werden, »Ihr Mann ist nicht dabei, Mme Godot. Eine Tragödie sondergleichen! Aber ich drehe mich im Kreis. Die Worte, mir gehen die Worte aus.«
»Schlecht, Rüssel, verdammt schlecht, für‘s Gedichtedichten. Un für‘s Verschaufeln erst recht!«, grinst Hart. »Aber gezz lass die gute alte Frau Godot doch Jenseitsgeflüster von ihrn Gatterich hören, so viel wie sie will. Macht do nix.«
»So einfach ist das nun auch wieder nicht«, braust der sonst so bedächtige Phillips auf, »die treibt mich zur Weißglut, wissen Sie? Zur Weißglut! Ständig mit dieser scheppernden, klappernden Mokkatasse immer! Ich bin Funker, Himmel noch mal, und Funker haben nun mal ein sensibles Gehör.«
Und damit herrscht erst mal Ruhe im Karton. Jeder hier unten weiß genau, mit dem Funker darf man sich‘s nicht verscherzen; Phillips ist der Einzige, der einem noch wenigstens halbwegs berechtigte Hoffnung machen kann, dass man hier aus diesem hundertjährigen U-Boot heraus jemals wieder Kontakt mit der Außenwelt bekommt. Aus rein dramaturgischen Gründen wäre es natürlich hervorragend gewesen, wenn jetzt, genau jetzt mitten in die Stille aus Anlass des einhundertsten Jubiläums eine Rekonstruktion des Rums geplatzt wäre. In diese Lücke, genau in diese vielsagende sprachlose Lücke hinein der Donnerschlag des Eisbergs, oder im Fall der unsterblichen Titanicbewohner hier, wohl besser: das Knirschen der Eismesser und -meißel, das Schnarren der Raspeln aus Eisgrus, das Kreischen der aufgeschlitzten Rumpfplatten. Quasi als akustisches Erinnerungsspektakel zur Feier des Tages.
Aber wieso, zum Teufel, wieso interessiert mich eigentlich, was in hundert Jahren hier unten im Schiffsbauch los sein mag!? Wo doch verdammt noch mal mein Hier und Jetzt schon reichlich Sprengstoff zu bieten hat. Wahrscheinlich grade deshalb! Weil die Gegenwart, weil dieses Schmoren in der schwimmenden Zelle hier einfach nicht zu ertragen ist.
- . -
Was ist das jetzt wieder? Ich schrecke aus traumlosem Schlaf.
»Aah, besten Dank«, stammle ich. Die wirklich verdammt nicht schlecht aussehende Nurse von der Krankenstation hier – dass ich für so was schon wieder einen Blick habe! He he, warte mal, kommt mir so bekannt vor, die mit ihrem brünetten Haar, traumhaft weich fallende Locken rahmen das bildschöne Gesicht ein, kristallblauer Blick, der unter absolut grade gezogenen Augenbrauen hervor glitzert. Als hätte ich sie schon zigmal gesehen. Ich weiß es nicht, aber … die Nurse gibt mir einen klobigen Becher, und ich, durstig wie nach sieben Wochen Sahara, lege sofort die Lippen ans Porzellan und … und trete eilends den Rückzug an: Heiß! Glühend heiß, der Tee. »Bevor ich mir das Maul verbrenne, Miss, sagen Sie mir doch um Himmels Willen mal endlich, um wie viele Opfer es sich eigentlich handelt!«
»Ich darf nicht mit Ihnen sprechen.«
Ja! Die Stimme kenne ich. Nur viel jünger die hier, wie‘s scheint, mindestens hundert Jahre jünger. Seltsam. Aber egal jetzt.
»Jetzt stellen Sie sich doch bitte mal vor, was sich in meinem Schädel für ein Rodeo abspielt. Ich will wissen, verdammt noch mal, was ich für eine Tragödie hinterlassen habe. Begreifen Sie das nicht?«
»93.«
»93 was?«
»Tote. 93 Tote und 434 Verletzte«, flüstert sie und schleicht zur Tür hinaus.
Grauenhaft. Doch so viele Tote. Und über 400 Verletzte. Und da reservieren Smith und meine wackeren Offizierskollegen auch noch eine von den paar wenigen Krankenstationskabinen, um mich aus dem Verkehr zu ziehen! Muss man sich mal vorstellen.
Lag ich also mit meiner Vermutung deutlich drunter: fast hundert Tote! Ich meine, sicher, war schon gewaltig, der Schlag. Oben auf der Brücke, obwohl wir es da oben ja haben auf uns zukommen sehn, genau wussten, woher der Stoß kam – trotzdem hat uns die Wucht umgehauen. Wie mag‘s da erst in den Salons drunter und drüber gegangen sein! War ja noch vor Mitternacht, da wird noch so einiges an Betrieb gewesen sein. Am wenigsten Opfer wahrscheinlich in den Kabinen. Vor allem in der dritten Klasse, wo ja um 22:00 Uhr das Licht gelöscht wird und die allermeisten wahrscheinlich brav in den Betten liegen. Trotzdem, es wird natürlich schon einige aus den Betten geholt haben: nicht schnell genug aus dem Schlaf geschreckt, über die Kojenbegrenzung gerollt, dem Sturz auf den Kabinenboden nichts entgegenzusetzen. Wohl dem, der in den Etagenbetten nicht oben liegt. In erster Linie natürlich wird es, Nachtruhe hin, Nachtruhe her, die Passagiere in den Kabinen ganz vorne im Bug erwischt haben; da also dann doch die dritte Klasse. Und eine Menge Besatzungsmitglieder, die noch weiter vorn, in der zweiten Rumpfkammer ihre Kojen haben, oder sagen wir: hatten. Aber, Moment mal – Schnitt durchs Gestern, zurück ins Heute: ein Geräusch … was ist das für ein Geräusch?
Hört sich an, als ob … ein Motorengeräusch. Aber nicht unseres. Definitiv nicht. Das kommt von draußen – da ist ein anderes Schiff im Anmarsch! Ohne Zweifel. Mein Gott, wie haben wir uns das gestern Nacht herbeigesehnt! Vor allem für die Verletzten. Und für all die Leute, die, ein Schleudertrauma im Nacken und von Irrsinnspanik ergriffen, keinen Meter mehr, auf den Tod keinen Meter mehr an Bord der angeschlagenen Titanic weiterfahren wollten. Letztlich blieb ihnen ja nichts anderes übrig, aber wahrscheinlich gibt es unter den Passagieren kaum einen, der nicht von dieser Angst besessen ist, dass der Kahn im Bug noch mehr vollläuft, schließlich den Schnabel unter Wasser steckt und dann irgendwann denn doch noch absäuft. Da kann man noch so oft predigen, das Schiff sei unsinkbar. Das glaubt den Herrn Offizieren jetzt eh keiner mehr, und dem Ismay, unserm White Star-Zeus, und seinem Chefkonstrukteur Andrews noch viel weniger. Aber Letzterer bramarbasiert auch schon längst nicht mehr mit der grandiosen Technik, hat das Wort Unsinkbarkeit vom ersten Rums an schon nicht mehr in den Mund genommen. Der Ruf der Titanic ist ruiniert. Den hab‘ ich auf dem Gewissen. Obwohl ich ja eigentlich genau das Gegenteil bewiesen hab, dass nämlich der Pott noch schwimmfähig bleibt, selbst wenn er einen ordentlichen Schlag abgekriegt hat! Auf alle Fälle müssen die zu Tode erschreckten Passagiere ja auch irgendwie wieder aufgerichtet werden, und da wäre letzte Nacht ein zu Hilfe eilendes Schiff wahrhaftig ein Segen gewesen.
Sicher, hab‘ ich ja nicht mitbekommen, die Panik nach dem Eisbergschlag, da war ich ja schon hier unten weggesperrt. Aber was sich auf dem Flur vor meiner Haftkabine abspielt, das hab‘ ich natürlich registriert. Das Hin- und Hergerenne, das Heulen, das Schreien. Das sind nicht alles nur Schmerzensschreie. Da sind nicht wenige, die schreien gegen ihre Alpträume an! Mein Gott, wie gut wäre es gewesen, wenn wir wenigstens die schwersten Fälle a tempo einem anderen Schiff hätten überantworten können! Aber nichts. Hatte nicht wer anderthalb Stunden nach dem Crash durch den Gang gerufen, man habe am Horizont die Californian ausgemacht?! Aber auch Stunden später, Stunden nach Phillips Havarie-Funksprüchen kreuzt sie nicht auf. Im Gegenteil, ich hab‘ von meinem Bullauge aus mit eigenen Augen gesehn, wie ihre Lichter hinterm Horizont verschwanden. Nicht zu begreifen. Partout nicht zu begreifen, aber genauso passiert.
Aber jetzt das da vorne, das kann nicht mehr einfach abdrehen, das ist auch nicht nur ein Lichtschimmer am Horizont, das ist ein Schiff mit Schloten und Planken, mit Steven und Gösch, mit nicht zu überhörendem Typhon und vor allem mit Ladekränen und mit Gangways, die man nach dem Andocken rüberschieben kann. Das hier ist die Rettung nach sechzehn langen Stunden auf einem elend tuckernden Todeskutter!
Der Name ist beim besten Willen von hier aus nicht zu lesen. Könnte, wie‘s aussieht, ja, könnte die – das ist die, muss die Olympic sein. Auf dem Weg nach Europa. Von der hatte Phillips doch ein Antwortsignal auf unser SOS aufgeschnappt. Wenn es wirklich unser Schwesterschiff ist, und ich bin mir ziemlich sicher, dann müssen die jetzt eine Kehrtwende machen. Einen Teil unserer Leute übernehmen und zurück marsch marsch. Denn der Weg nach Amerika ist von hier aus erheblich kürzer als der nach England. Nach dem Havarieschock jetzt also die Aussicht auf New York in vielleicht anderthalb Tagen! Daher auch der Applaus, das Gekreische und Gejohle auf unserm Promenadendeck, oder von wo das hier herunterschallt.
Langsam drehen sie bei, unendlich langsam, legen sich längsseits neben uns. Ich hör schon die ersten Taue durch die Luft sirren. Sie holen ein, während an der Bordwand noch die Fender in freudiger Erwartung der tonnenschweren Stöße, die sie aufzufangen haben, herabgelassen werden. Unglaublich: die beiden teuersten und größten und fast baugleichen Ozeangiganten – jeder für zweieinhalb Millionen Pfund Sterling von Harland & Wolff, der weltbesten Werft, im Auftrag der White Star Line erbaut – auf offener See direkt nebeneinander! Vielleicht noch zwei, anderthalb, noch ein Meter Atlantik dazwischen.
Jetzt – jetzt ist gar nichts mehr zu sehn von hier aus. Nur die Bordwand gegenüber. Die beiden Riesenrümpfe verschieben sich noch ein paar Meter, voraus, achtern, voraus, dann sitzt die Chose. Und mein Bullauge – das ist ja hochinteressant: Mein Bullauge gibt den Blick jetzt frei direkt und gradeaus in die Empfangshalle der Olympic! Also wenn wir mal davon ausgehn, dass es sich dabei um die Olympic handelt.
Jedenfalls ist mir der direkte Blick aufs Passagiergewimmel gegönnt! Und, ja tatsächlich, die Gesichter kenne ich. Die sind von der Titanic. Erste-Klasse-Herrschaften, die jetzt da drüben verdattert rumstehn, mit schwammigen Knien, mit ungläubigen noch, aber zunehmend freudestrahlenden Gesichtern. Bis wenige Minuten vor dem Crash noch hatten sie an Bord Squash gespielt, gepflegt bei Kerzenlicht ein Zwölf-Gänge-Dinner vertilgt, sich im türkischen Bad verwöhnen lassen, hatten im Swimmingpool ein paar wohltemperierte Bahnen gezogen, im eichengetäfelten Salon einen nach Leder, Karamell und Rauch schmeckenden Whisky zu sich genommen und dem Offenbachschen Gondellied gelauscht, das Wallace Hartley und seine Jungs dahinplätschern ließen. Und jetzt, sechzehneinhalb Stunden und ein paar gehörige Portionen Angst später, wissen ihre hochwohlgeborenen Damen nicht, wohin mit sich, stöckeln auf dem Parkett der Empfangshalle des fremden Schiffs von einem Fuß auf den andern und sehen ihren Männchen entgeistert zu, wie diese umgehend wieder Haltung angenommen haben und unterm zitternden Zylinder wild gestikulierend den nächstbesten Steward anraunzen, er möge jetzt sofort und zwar auf der Stelle directement das Gepäck von diesem elenden todgeweihten Äppelkahn herüberschaffen. Allez allez! Man gedenke nicht, eine einzige weitere Nacht, geschweige denn einen weiteren Tag ohne die Leuten ihres Standes zustehenden Annehmlichkeiten zu verbringen. Was wisse er denn schon, welche Schätze und Kleinodien in den Koffern der gnädigsten Gattin ruhten! Er glaube doch wohl nicht, dass er mit seinem kümmerlichen Stewardsalär dafür werde aufkommen können, wenn all die unschätzbaren Werte an Bord dieser bleiernen schwarzen Ente mit eingedrücktem Schnabel in den Fluten versinken würden. Nein, diese Dinge hätten ja wohl Vorrang vorm dreisten Geplärr irgendwelcher runtergekommenen Jammergestalten und Auswanderergrüppchen aus der dritten Klasse.
Natürlich kann ich kein Wort verstehen, aber man braucht die Gesten nur eins zu eins zu übersetzen. Merkwürdig, Bilder ohne Ton, das verstärkt die Wirkung enorm.