Einstürzende Gedankengänge - Ulrich Land - E-Book

Einstürzende Gedankengänge E-Book

Ulrich Land

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Beschreibung

Kripo Trier. Hauptkommissar Dollinger hat Probleme mit seinem Kopf. Ihn plagen nicht nur starke Schmerzen, immer öfter muss er feststellen, dass sein Gedächtnis ihn im Stich lässt. Während Dollinger hartnäckige Tagträume immer wieder nach Island zurückversetzen, wo er mit seiner Tochter alles andere als erfolgreich versuchte, den größten Gletscher zu bezwingen, kann er sich auf wichtige Details der jüngsten Vergangenheit beim besten Willen keinen Reim machen. Dafür schießen ihm jetzt neuerdings auch noch quälende Erinnerungen aus seiner Kindheit messerscharf durchs Hirn. Eigentlich hat er also reichlich mit sich selbst zu tun, als ihm der Tod eines Kindes in die Quere kommt, das eingesperrt in einen Wohnhauskeller mitten in Trier jämmerlich verhungert ist. Als kurz darauf die Mutter des Jungen brutal ermordet aufgefunden wird und sämtliche Indizien Dollinger selber zum Verdächtigen machen, da weiß er sich keinen anderen Rat mehr, als die Polizeipsychologin aufzusuchen. Die aber kann auch nicht verhindern, dass er vom Dienst suspendiert wird. Was Dollinger jedoch keineswegs davon abbringt, auf eigene Faust weiter zu recherchieren. Schließlich will er auch den geringsten Zweifel an seiner Unschuld aus der Welt schaffen - und vor allem seine Selbstzweifel. Die Polizeipsychologin allerdings erweist sich dabei als wenig hilfreich.

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Land

Einstürzende Gedankengänge

Eifel/Island-Krimi mit Rezepten

Ulrich Land

Einstürzende Gedankengänge

Eifel/Island-Krimi mit Rezepten

Haftungsausschluss: Die Rezepte dieses Buchs wurden von Verlag und Herausgeber sorgfältig erwogen und geprüft. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Die Haftung des Verlags bzw. des Herausgebers für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

© 2010 Oktober Verlag, Münster

Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung des

Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster

www.oktoberverlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Claudia Rüthschilling

Umschlag: Tom van Endert

unter Verwendung eines Fotos von LP12inch/photocase.com

Rezepte: Ulrich Land

Herstellung: Monsenstein und Vannerdat

ISBN 978-3-938568-41-5

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

1

Stammt das Geschrei, das dich da aus diesem schwarzen Traum reißt, von deinem verfluchten Wecker oder vom nicht weniger verfluchten Handy? Heh Mann, du bist auf Island. Warst die ganze Nacht auf Island. Mal wieder mit dem größten Gletscher da gekämpft. Und hast nicht gesiegt. – Okay okay, du sattelst ja schon die Hühner. Knallst mit deiner frisch ausgebeulten, aber immerhin metallic-blau nachgespritzten Blechpocke durch die Schluchten der Steinwüste längs der Saarstraße. Merkwürdig, dass deine Hände das Steuer irgendwie treffsicher einschlagen, während du immer noch deinem Islandschocktraum nachsinnst und deine Augen bloß diese verdammt hohe, verdammt harte, kalte Eiswand im Visier haben. Im Visier haben wollen. Wer, verflucht, besitzt die Frechheit, an den Marionettenfäden zu ziehen, die an deinen Kopf und die Schultern geknotet sind? Du kannst machen, was du willst, du funktionierst einfach. Wer weiß, vielleicht liegt es auch bloß daran, dass der CD-Player in deiner Karre mal wieder genau die richtige Musik zu bieten hat. »Wir fordern etwas Abwechslung in uns’rer Umlaufbahn, endgültige Befreiung von Newtons Schwerkraftwahn, keine Gravitätlichkeiten, fliegen fällt sonst schwer«, singruft Blixa Bargeld zu Schrottschlagwerk und mit dem Bogen gequälter E-Gitarre, bevor der Punkchor loslegt, »nur was nicht ist, ist möglich.« Okay okay: Röntgenstraße. Röntgen Ecke Goethe. Bin schon unterwegs.

»Hier, Sheriff, kommen Sie hier durch«, natürlich die blecherne Stimme der Mahnemannschen, »hier hinten!«

»Wie kommt das eigentlich, verdammt und zugenäht, dass Sie grundsätzlich vor mir an Ort und Stelle sind? Aber auch jedes Mal!«, rufst du ihr vorsorglich schon mal zu, während du dich durch das emsige Kellertreiben der Kollegen nach vorne durchruderst.

Unversehens stehst du in einem hell erleuchteten Kellerraum. Du hältst die Hand vor die Augen, um das gleißende Scheinwerferlicht wenigstens ein bisschen abzumildern. Das erste, was du siehst, als du wieder was siehst, ist: das Kind. Spätestens jetzt ist Island restlos verschwunden, der Traum zu Ende.

Du musst, musst einfach woanders hinsehn. Tust so, als würdest du dich rasend für die Arbeit der Spurensicherung interessieren, der Kamera beim Blitzen zusehn, den Schritten beim Durcheinanderrennen zuhören. Du willst alles, nur jetzt nicht kotzen müssen! Das nicht, nicht das. Jetzt. Vor der Mahnemannschen und der versammelten Mannschaft. Also redest du, redest auf Deibel komm raus.

»Scheiße«, sagst du und weißt, wie recht, wie verflucht recht du hast. »Ich war ja auf allerhand gefasst, aber das ...!«

Muss man mal vor seinem inneren Auge durchspielen: Da stehst du also im Keller eines ganz gewöhnlichen Mietshauses. Offenbar wenig frequentiert. Seit keine Kohlen und Kartoffeln mehr eingelagert werden, geht man eh nur noch einmal im Vierteljahr runter. Ziemlich verwaist, der ganze Keller. Trotzdem alles akkurat und ordentlich, die Türen brav in Reih und Glied, die Flurwände in makellosem, wenn auch schon etwas vergilbtem ... Nur der Putzdienst, der scheint seit Monaten nicht mehr ... obwohl einer der Mieter mit beamtischer Akribie einen Plan fabriziert und an die Kellerflurtür ... Dran angebunden ein speerspitzer Bleistift. Auf dem Putzplan erkennst du zwar ein paar Häkchen und Namenskürzel, aber das letzte Mal scheint da vor mehreren hundert Jahren einer was eingetragen zu haben. Wahrscheinlich ist der Putzkalenderbeamte längst ... Und du findest dich also am Ende des Flurs in diesem Keller hier wieder. Die Tür von den Kollegen aufgebrochen. Der Leichengestank könnte zwar deutlich penetranter ausfallen, reicht aber allemal, dir den Atem zu verschlagen. Du trittst noch einen Schritt vor und siehst an der Mahnemannschen vorbei und ... Scheiße! Du warst ja auf allerhand gefasst, aber das – ...!

Das kleine Gesicht eingefallen, die Wangenknochen hervorgetreten. Unter der schlaff herabhängenden Kleidung zeichnet sich kantig der hagere Körper ab. Etliche Fingernägel gesplissen, teilweise bis zum Nagelbett abgebrochen. Passend zu den Kratzspuren am Holzverschlag des Kellerraums und an diesem Vorkriegsküchenschrank. Das Haar büschelweise ausgerissen und im ganzen Raum verteilt. Ansonsten keine Wundmerkmale erkennbar. Der Körper zusammengekrümmt auf dem staubgrauen Kellerboden. Arme, Beine angewinkelt, der Rücken rund. Die rechte Hand zwischen schwerem Kopf und kaltem Boden, die linke aufs Gesicht gelegt. Wie zur Abschirmung gegen das grelle Licht der Dunkelheit.

»Ist Ihnen nicht gut, Herr Kommissar?«, was Intelligenteres konnte die Mahnefrau wahrhaftig nicht fragen. Nein. Dir ist nicht gut. Dir ist überhaupt nicht gut.

»Bühren nimmt an, dass der Kleine rasend hohes Fieber gehabt haben muss und dass er schon vier, fünf Tage ...«, setzt sie an.

»Und das da, dieser halbleere Napf, das war wahrscheinlich das Letzte, wovon er gegessen hat«, sagst du, um was gesagt zu haben. Und plötzlich merkst du: Die Routine trägt so was wie den Sieg davon und sorgt dafür, dass allmählich, so ganz allmählich die Blutversorgung des Gesichts wieder in Gang kommt. Und als wolltest du genau das unterstreichen, greifst du in den Werkzeugkoffer mit Sprechblasen: »Bloß noch Haut und Knochen, das Kerlchen.«

Jetzt weißt du auch endlich, wieso du so plötzlich die Fassung wiedergefunden hast: Der kleine Bursche hier hat die Augen zu. Als würde er schlafen, friedlich schlafen. Verflucht noch mal, ist das gut! Du dankst Gott oder wem auf Knien, dass der Junge die Augen noch rechtzeitig hat schließen können. Vielleicht ist das grundsätzlich so bei Kindern, die sterben, schießt es dir durch den Kopf, dass sie, weil sie nicht wirklich begreifen, was da auf sie zukommt, dass sie also, sobald der Tod im Anmarsch ist, merken, da passiert irgendwas, irgendwas Besonderes, wovor man Angst haben muss – oder doch müsste –, dass sie dann sozusagen reflexartig die Augen zumachen, die Flucht ins Dunkel ergreifen und in tiefen Schlaf sinken. Dass sie also hinüberschlafen, der Horror selbst sie gar nicht mehr erwischt. Und also musst du jetzt die Todesqual im letzten Blick von dem Jungen nicht mit ansehn. Jedenfalls vermutest du mal, dass sich die Qual in den Augen abzeichnet. Vor allem in den Augen!

Die Mahnemannsche scheint aus deiner zurückgekehrten Gesichtsfarbe geschlossen zu haben, dass du wieder einigermaßen zurechnungsfähig bist.

»Und der Wassernapf«, quasselt sie auf dich ein, »da drüben, sehn Sie, da ist nur noch eine Pfütze drin. Und zwar genau so tief, wie ein Kind mit der Zunge kommt, wenn’s das Gesicht auf den Rand presst. Wahrscheinlich hatte der Kleine am Ende gar nicht mehr die Kraft, den Pott zum Trinken anzuheben.«

Bevor die Farbe wieder aus deinem Gesicht weicht, gehst du schleunigst dazwischen: »Mahnemannsche, das will ich mir überhaupt nicht so genau ausmalen.«

Verflucht noch mal, das willst du dir nun wirklich nicht so genau ausmalen. Gibt keinen grausameren Anblick als den eines elend umgekommenen Kindes, und zwar nicht in den Blechhüttenfavelas von Sao Paulo, sondern mitten in der Wohlstandsgesellschaft, im Keller der Wohlstandsgesellschaft. Die Mahnemannsche weist dich zu allem Überfluss noch auf die Beißspuren an der Innenkante der Kellertür hin; er hatte offenbar versucht, sich durchzu... Jetzt ... Bühren zeigt auf den Rücken des Jungen ... da, durch das zerschlissene Hemd leuchtet ein sattes Hämatom durch. Bühren schiebt das Hemd hoch ... Es trifft dich der Schlag! Du kannst genau die fünf Finger der Hand erkennen, die man dem kleinen Kerl auf den Rücken geprügelt hat, mit solcher Kraft, dass ... dass er die Schnauze hält, dass er definitiv die Schnauze hält.

- . -

2

Du siehst sie fallen. Obwohl du sie beim Fallen überhaupt nicht gesehn hast, definitiv nicht! Warst viel zu sehr mit dir selbst beschäftigt. Du siehst, wie sie strauchelt, stürzt. Runter im freien Fall. Immer weiter, immer tiefer. Ins Bodenlose. Du hasst diese Träume. Aber sie kommen hartnäckig wieder.

Ständig schleicht sich diese brutal kahle Steinwelt ins Traumbild. Schon immer das Land deiner Träume. Als Knirps schon. Du wolltest, obwohl es natürlich vollkommen utopisch war, unbedingt nach Island. Dabei – was wusstest du als Siebenjähriger schon von Island! Wahrscheinlich waren’s die Filmbilder, die verfangen hatten. Brünhilds Herkunftsland, in diesem Uralt-Nibelungenfilm, war das noch Schwarz-Weiß oder schon Farbe? Wenn, dann blutarm blassbleiche Farben. Aber für Island, jedenfalls für vier Fünftel der Insel, macht’s ja eh kaum einen Unterschied. Steine sind eben grau, die allermeisten jedenfalls, auch auf Island, abgesehn von den schwefelgelbroten Vulkanausblühungen hier und da. Und Eis und Schnee sind eben weiß. Mehr oder weniger. Wenn sich nicht schwarzer Vulkanstaub reingefressen hat.

Aber: Zurück auf Los! Wie ihr beide also tatsächlich da hochgeklettert seid. Da, wo’s keine Zerrissenheit gibt, nicht hin, nicht her, nur vorwärts. Keine andere Besessenheit. Wo der Kampf nur dem Gletscher gilt. Woher jetzt dieses Irrsinns-Krachen? – Da drüben! Nein, kein Donner, viel zu nah. Da wird ein Eisstück abgebrochen sein und abgestürzt, die Gletscherzunge runtergeschlittert. Schlittenfahrt ohne Schlitten. Aber jetzt die Eiswand hier über der Gletscherzunge, die ist nicht zu schaffen. Kaum der Aufstieg, und schon umkehren? Zurück. Nicht zu schaffen. Ihr werdet aufgeben müssen.

Oder nein, vielleicht doch nicht. Es funktioniert doch einigermaßen. Weiter.

Deine Tochter macht mal wieder eine verflucht gute Figur. Kondition und Hartnäckigkeit, ohne verbissen zu sein. Sie will einfach nur hoch da. Ganz einfach. Also. Und du? Dir gerät der Atem kurz und kürzer. Aber du machst einigermaßen gute Miene zum bösen Spiel. Bloß nichts anmerken lassen. Schon gar nicht die verfluchte Angst, die du immer wieder um die Tochter hast, mit ihren siebzehn Lenzen. Dass die einen Abgang machen könnte. Immer diese Irrsinnsangst. Da kann die noch so sicher sein! Fragt sich doch verdammt noch mal, warum du dann überhaupt mit ihr hierher ... aber die Frage lässt du nicht zu. Sowieso zu spät.

Also: weiter steigen, klettern, der Tochter hinterher. Weiter. Acht, vielleicht neun Meter, die Hälfte der Eiswand hast du. Der Schritt steht. Während Marina ein Stück weiter oben den nächsten Stand baut. Drüben, die erste Sonne wirft ihr Altgold auf die bizarren Schnee-Eishänge.

Der Felsbrocken, vorne, über euch, der aus der Eiswand ragt, wenn ihr den schafft, habt ihr erst mal wieder festen Boden untern Füßen.

Und plötzlich – schwarz!

- . -

3

Da sticht er sofort wieder in die Augen, der Blick auf diese Fels-, Eis- und Aschewüste. Krallt sich fest hinter der Stirn. Während ihr, die Mahnemannsche, der halbe Tross der Spurensicherung und du, während ihr mehr schlecht als recht verrichteter Dinge die Kellertreppe wieder raufsteigt. Im Eingangsbereich des Treppenhauses angekommen, verfliegt sämtlicher Tatendrang wieder, der dich die letzten ein, zwei Stunden hat überstehen lassen, der sich völlig automatisch abspulte, sämtliche Kreuz- und Quergedanken ausschaltete, dich perfekt funktionieren ließ – alles weg. Nur noch die eine Frage im Kopf: Und was jetzt? Was jetzt als Nächstes? Einer wie der andre blicken die Kollegen dich ratlos an. Schließlich bist du der Boss hier. Aber du, Mann, du weißt doch am allerwenigsten, wo’s langgeht. Sämtliche Gedanken wie festgefroren, angefroren von innen an der Schädeldecke. Eisern eisig. Stillstand.

Genau in dem Augenblick, als die bleierne Ratlosigkeit unerträglich wird, hörst du plötzlich, wie mit einem Schlüssel im Schloss der Haustür rumgestochert wird. Ihr steht stumm wie die Ölgötzen da und starrt die Frau an, die jetzt den Hausflur betritt, euch mindestens ebenso konsterniert anstarrt und mit der geistesabwesenden Mechanik einer Gliederpuppe ihren Briefkasten öffnet, dessen Klappe unter herzerweichendem Kreischen nachgibt.

»Was ist denn hier los?«, nörgelt die junge Frau und meint damit nicht etwa die vier, fünf Kuverts und die farblose Broschüre der Arbeitsagentur, die ihr durch die aufgeklappte Briefkastentür entgegenpurzeln.

»Kerstin Engelsberg?« Aha, eine Stimme hast du also noch. Wenigstens das.

»Und mit wem hab ich das Vergnügen?«, kontert sie, während sie auf den Knien rutschend ihre Briefkastenschätze aufklaubt.

»Hauptkommissar Dollinger, Trierer Mordkommission.« Und wieder, jedes Mal aufs Neue bist du überrascht über die Wirkung dieser Visitenkarte.

»Mordkommission?«

»Und das ist meine Kollegin Barbara Mahnemann.«

Worauf die sofort den Staffelstab übernimmt: »Sie sind die Mutter des fünfjährigen Johannes?«

»Ich, ähm ...«

»Ja?«, gehst du in die Lücke, um der Frau die Luft für irgendwelche Ausflüchte zu nehmen.

»Ich such ihn wie verrückt, die ganze Zeit.« Man kann zusehn, wie sie die bislang in Anschlag gebrachte Unnahbarkeit tauscht gegen eine deutlich, ausgesprochen deutlich sichtbare Betroffenheit. »Haben Sie was von ihm gehört? Ist er ... er ist doch nicht ... doch nicht etwa ...«

»Doch, Frau Engelsberg, ich muss Ihnen leider mitteilen«, stichst du erbarmungslos in die bereitwillig hingehaltene Wunde – wobei du ihr nicht mal die wirklich abnimmst, stinkt doch gen Himmel alles, da ist verdammt was faul. »Frau Engelsberg, wir haben Ihren Sohn tot im Keller gefunden.«

»Nachbarn war der Geruch aufgefallen«, assistiert die Mahnemannsche.

»Das ähm, nein nicht, tot, mein kleiner, mein winziger ...! Im Keller, das ist doch nicht zu glauben! Da wär ich als Allerletztes drauf gekommen. War ich schon ewig nicht mehr, im Keller.«

»Aber irgendwer muss ihn da unten versorgt haben. Mehr schlecht als recht. Aber immerhin«, baut die Mahnemann ihr noch eine goldene Brücke, die du natürlich sofort wieder einreißt: »Und schließlich dann irgendwann nicht mal mehr das! Jedenfalls nicht so, wie ein fieberkrankes Kind das braucht.«

»Fieber? Wieso denn Fieber?«, und endlich hält diese Kerstin Engelsberg den Zeitpunkt für gekommen, in Tränen auszubrechen. »Er ist also elend zugrunde gegangen?«, resümiert sie stammelnd und schluchzt noch einmal herzzerreißend.

Aber du bist noch nicht zufrieden, willst noch mehr aus dieser Situation rausholen. Du weißt genau, so waidwund kriegst du diese – ja, soll man sagen: Mutter? – nie wieder vor die Flinte. »Kann es sein, Frau Engelsberg, dass Sie sich mit Ihrem Sohn überfordert fühlten? So jung, wie Sie sind.«

»Was soll denn das heißen?« Augenblicklich ist das Gejammer verstummt, und sie blitzt dich mit nadelspitzem Blick an. Ein Blick, mit dem sie wahrscheinlich jeden bedient, der sich ihr von Amts wegen auf weniger als zehn Meter nähert. Hartz-IV-Sozialarbeiter, Jugendamtsmenschen, Familienberatungsstelle – du musst unbedingt rauskriegen, wer sich schon alles in den Vorgang Engelsberg eingeklinkt hatte. Aber das kommt später. Jetzt zückst du erst mal die Handschellen und ...

»Moment mal!«

Es gibt Momente, da könntest du deine Kollegin so was von an die Wand quacken! Wieso jetzt »Moment mal«? Die Mahnemannsche nimmt dich zur Seite und lispelt dir irgendwas von wegen beileibe nicht ausreichendem Anfangsverdacht ins Ohr. Bloß weil die Engelsberg die Mutter sei, heiße das ja noch lange nicht ... reiche auf alle Fälle nicht, sie mir nichts, dir nichts in U-Haft zu stecken ... sei doch zum jetzigen Zeitpunkt noch völlig spekulativ, dass die Frau am Hungertod des Kleinen beteiligt sein könnte.

»Beteiligt, was heißt denn hier beteiligt?!«, willst du grade lospoltern, als die Mahnefrau dir auf den Fuß tritt und den mahnenden Zeigefinger zu den Lippen führt. Ja, ist ja schon gut, du flüsterst ja schon. Aber das heißt noch lange nicht ... obwohl, doch, sieht verdammt so aus, als wär’ dein Widerstand schon gebrochen. Du merkst, wie von deinen Einsichten und Argumenten nur noch Fransen übrig bleiben, nichts als blinder Zorn.

Du begibst dich also zähneknirschend zurück in die Arena und brummst dieser Frau zu, die dreist genug ist, sich Mutter zu nennen: »Ich muss Sie bitten, sich zu unserer Verfügung zu halten. Bitte verlassen Sie in den nächsten Tagen auf keinen Fall die Stadt!«

»Wieso, warum?«, geht die Engelsberg hoch. Und im gleichen Moment bereust du wie der Bischof von Trier seine schlimmste Sünde, dass du da grade so butterweich eingeknickt bist.

»Nun beruhigen Sie sich erst mal«, springt die Mahnemannsche in die Alleinerziehenden-Bresche, »sollen wir Ihnen fürs Erste einen Kollegen hierlassen?«

»Oder eine Kollegin?«, schwenkst du ein, »Frau Mahnemann könnte Ihnen sicher ...«

»Nein nein, geht schon.«

Sie dreht sich auf dem Absatz rum und stiefelt die Treppe hoch, nicht ohne unterwegs noch mal den einen oder andern Schluchzer abzusondern. Du glaubst ihrem Geheule kein Wort. Um etwas wenigstens einigermaßen Plausibles zu tun, gibst du der Mahnemann zu verstehn, dass dich hier nichts mehr, aber auch absolut überhaupt gar nichts mehr hält. Du legst die Hände auf die Schultern deiner Kollegin und schiebst sie mit einem Druck, der keinen Widerspruch duldet, nach draußen.

»Mist«, sagst du, was Geistreicheres fällt dir nicht ein, »ein Mist, ein verdammter. Können Sie mir vielleicht mal sagen, wieso ich Ihnen auf einmal so lammfromm nachgebe?!«

Von der Mahnemannschen kommt kein Kommentar. Aber damit war ja nun auch nicht zu rechnen. Sie scheint das alles weniger eindeutig zu sehn; hat eben nicht deinen geschärften, erfahrungsgeschulten Blick. – Du Erfahrungen? Mit weggesperrten Kindern? Was für Erfahrungen? Wo und wann denn? Will dir partout nicht einfallen. Komisch, wie kommst du darauf, du hättest Erfahrungen mit so was?

»Tja, Sheriff, und was wird jetzt aus unserm Essen heute Abend?«

»Ist mir im Moment nicht nach.«

»Im Moment. Im Moment mir auch nicht. Aber bis heute Abend ist ja noch einiges Wasser die Mosel hinabge...«

»Ist mir unbegreiflich«, weil’s dir einfach unbegreiflich ist, beim besten Willen unbegreiflich, »wie Sie, grade als Frau, ich meine – keine Ahnung, versteh ich nicht, wie Sie jetzt ans Essen denken können.«

»Heh, Moment mal, Sie sind doch sonst auch nicht grade zartbesaitet. Im Übrigen ist das ja nun wahrlich nicht unser erster ungemütlicher Fall, Herr Dollinger. Erinnern Sie sich noch an das ›Allerweltsmotto‹, wie Sie’s nannten, das ich mir, als ich als Greenhorn in Ihre Dienste trat, in solchen Fällen immer zuflüstern sollte: Das Leben geht weiter!«

»Na ja, vielleicht ... vielleicht haben Sie ja recht. Außerdem – ich hab immerhin Sauerbraten in der Röhre. Vom Eifeler Hirschkalb, ich sag’s Ihnen! Rezept von meiner Großmutter, Gott hab sie selig.«

Du wirfst dich in deine Blechpocke, drückst erst mal eine andere CD in den Schlitz, Volume bis zum Anschlag, bevor du dem Tier unter der Motorhaube Zunder gibst. Es gibt Tage, da sind Triers Straßen einfach zu klein, zu eckig, zu gewunden. Du hebst ab mit den Flügeln dieser messerscharfen Stimme auf grobgehauenen Klängen: »Halber Me-ensch. Halber Me-ensch, geh weiter, in jede Richtung. Halber Me-ensch!« Wieso eigentlich halber? Und die zweite Hälfte, was ist mit der? Wo ist die zweite Hälfte hin?

- . -

4

Black-out. Sturz.

Muss wohl, wird wohl. Das begreifst du erst jetzt, wo das Licht zurückkehrt, punktweise, Lichtflocken durch deinen Kopf tanzen lässt. Lichtspieltheater isländisch. Fast wie die Sonne, die in den Frühlingstagen deiner Kindheit durch die Baumkronen des Mattheiser Walds gegenüber sickerte und ein Lichtschattenlichtspiel auf den Boden der Küche zauberte.

Scheiße, das Kinn, ein einziger brennender Schmerz. Aber als du’s vorsichtig am Ärmel vorbeistreichen lässt, siehst du, dass es kaum blutet. Und die Zähne, jetzt merkst du erst, dass der ganze Kiefer schmerzt, die Schneidezähne, als hätte dir einer mit dem Hammer unter’n Unterkiefer gezimmert. Du hast keine Ahnung, aber allzu viele Zähne können nicht mehr fest in ihrer Verankerung sitzen. Du tastest sie vorsichtig mit der Zunge ab und jaulst bei jeder Berührung auf. Eins ist klar: Es hat dich richtig übel erwischt. Dein ganzer Kopf rumort. Und dann wird dir übel, dir wird speiübel, so was von ...

- . -

5

»Die Fingerabdrücke am Trinknapf des Jungen, das stimmt alles. Und die Umrisse des blauen Flecks auf seinem Rücken decken sich genau mit der Hand der Mutter.«

Deine Assistentin redet und redet. Textet sämtliche Löcher in deinem Kopf zu. Der Redeschwall genau deckungsgleich mit den Löchern in diesem Schweizer Käse, der sich Hirn nennt. Da redet eine auf dich ein, quasselt, als wenn sie’s bezahlt be... Redet, redet, und du hast alle Mühe, deinen Gedanken von grade festzuhalten. Dass der dir nicht zerfleddert, wo du dabei bist. Und je mehr du deinen Gedankenfaden festhalten willst, je dichter du dich für das Gequatsche deines Gegenübers machst, desto mehr öffnet sich deine Faust und lässt den roten Faden rauskauen. – Erst sind sie festgefroren, die Gedanken, durchstochen von glasscharfen Kristallen, kleben unter der Schädeldecke wie Eiszapfen und knirschen eiskalt. Und wenn du sie anpacken willst, zu fassen versuchst, gehen sie dir durch die Lappen, schmelzen weg, lösen sich auf, sind plötzlich Luft, heiße Luft. War da nicht was, worüber du dich tierisch aufgeregt hast? Zwei Tage her vielleicht. Irgendwas, wo dir die Mahnemann in die Parade gefahren ist, dich irgendwie vollstoff ausgebremst hat. Und dir ist, als hättest du mal wieder recht gehabt, so was von recht gehabt, aber ... aber du weißt verdammt nicht mehr, worum es ...

»In welchem Film sind Sie grade, Sheriff? Wissen Sie, wovon ich rede? Ich meine das tote Kellerkind von vorgestern. Sie hatten mir doch aufgetragen, ich soll noch mal hin zu der Mutter. Fingerabdrücke, Speichelprobe, das ganze Programm. Gesagt, getan. Und die im Labor sind jetzt durch damit. Die Indizienlage ist ziemlich eindeutig. Und die Todesurache ist jetzt auch klar: Lungenentzündung.«

»Hab ich’s doch gewusst«, antwortest du und kommst zurück ins Hier und Jetzt gestolpert, »hab ich die ganze Zeit gesagt, dass es diese so genannte Mutter war. Dass die ihr Kind auf dem Gewissen hat. Mord durch unterlassene Hilfeleistung. Aber wollten Sie ja nichts von wissen, Sie mit Ihrer braven Beamtenvorsicht.«

»Aber ...«

»Sei’s drum; Ei drüber. Also – dann müssen wir die ja jetzt bloß noch bisschen in die Enge treiben und zugucken, wie das Geständnis aus ihr raussprudelt.«

»Gehe ich verschärft von aus«, nickt Kollegin Mahnemann eifrig, offenbar froh, dass der ermittelnde Hauptkommissar Dollinger doch nicht so ganz neben der Kapp’ steht und außerdem nicht sonderlich nachtragend ist, »die endgültige Überführung dürfte für Sie bloß ’n Kinderspiel sein.«

»Was für Kinder?«

»Kinder?«

»Mir war, als hätten Sie grade was von Kindern gesagt.«

Die hat doch was von Kindern gesagt. Scheiße, dir war tatsächlich, als habe die Mahnemann grade irgendwas von Kindern erzählt.

»Sheriff, Sie kommen mir irgendwie so durch ’n Wind vor.«

Und da ist er wieder. Plötzlich ist der Gedanke wieder da und das Pack-Ende. Jetzt bloß nicht wieder aus den Fingern gleiten lassen!

»Ach, bloß Kopfschmerzen, Barbara. Rasende Kopfschmerzen, die werd ich nicht mehr los. Seit, was weiß ich, zwei vollen Tagen mindestens.«

»Seit wir an dem neuen Fall dran sind, kann das sein?«

»Kann hinkommen. Verflucht, ja, da können Sie wahrhaftig recht haben. Seit diesem jämmerlich umgekommenen Knirps. – Mahnemannsche, hab ich schon gesagt, wie wir jetzt hier weitermachen?«

»Nee.«

»Aha.«

- . -

6

»Kopfschmerzen, als wenn mir einer mit der Brechstange die Schädeldecke aufhebeln wollte, ganz langsam. Und der gibt immer mehr Druck drauf. Das lähmt einen; ein Irrsinn ist das.«

»Wie war noch mal Ihr Name?«

»Dollinger. Tom Dollinger.«

»Eine Namensamnesie also noch nicht.«

»Eine was?«

»Wenn Sie also mal ganz tief in sich hineinhorchen, was richtet das alles in Ihnen an?«

»Sag ich ja, ich kriege überhaupt keine Entscheidung mehr hin, von der ich auch nach drei Minuten noch überzeugt bin. Was das für meinen Job bedeutet, brauch ich Ihnen ja wohl nicht auseinanderzuklamüsern.«

Und du brauchst ja wohl noch weniger auseinanderzuklamüsern, was das für eine Überwindung kostet, überhaupt auf die Idee zu kommen, dich an einen Seelenklempner ... das erste Mal in deinem Leben, dass du zu diesem Strohhalm greifst. Muss es dir schon verflucht scheiße gehn, wenn du dich zu so was ... Gut nur, dass es hier so ’ne Trulla vor Ort gibt. Seit ein paar Jahren hier im Präsidium. Und trotzdem kennt die dich kaum. Gut so.

Aber jetzt weiter im Text. Wenn du dich schon mal drauf eingelassen hast, dann musst du da auch durch. Also gib ihr Text: »Außerdem tauchen im Tagesablauf immer wieder so total merkwürdige Zeitlöcher auf.«

Sofort regnet ein warmer Regen auf dich herab. Zephirleise gesäuselte Sätze flattern mit Schmetterlingsflügeln von der Kanzel herab, lassen sich bassbaritonweich irgendwo in deinen Gehörgängen nieder. – Achtung, alter Knabe, aufgepasst, dass die dich nicht um ’n Finger wickelt, dich nicht bei Hammelbeinen kriegt, von deren Existenz du gar nichts weißt, nichts wusstest, woran du aber auf jeden Fall nicht gepackt werden willst. Entscheidend ist, dass DU derjenige bist und bleibst, der die eigenen Marionettenfäden in der Hand hält. DU und kein anderer. Und keine andere schon gar nicht.

»Zeitlöcher, als würden einzelne Minuten, manchmal auch Stunden oder sogar halbe Tage von einem kosmischen Black-Hole verschluckt«, rieselt es verständnisvoll auf dich herab.

»Halbe Tage nicht, so weit ist es noch nicht.«

»›So weit ist es noch nicht‹, Sie glauben also, Herr Dollinger, es könnte durchaus so weit kommen!«

»Außerdem ist da ewig diese Angst, ich könnte irgendwie nicht mehr funktionieren können. Das ist Terror!« Genauso Terror wie diese beknackte Couch, auf der du’s dir hast »gemütlich« machen sollen. Gemütlich, das ist ja wohl ’n Witz. Du hast schon lang nicht mehr auf so’m ungemütlichen Ding gelegen. Erinnert dich verdammt an deinen Urologen. Der hat auch so ’n knochenhartes Teil, da aber dann noch strafverschärfend mit Kunstleder überzogen. Dass man’s anschließend, wenn einer bei der Untersuchungsprozedur nicht ganz dicht gehalten hat, problemlos abwischen kann. Da lob ich mir doch hier den Baumwollstoff, oder was das ist. Aber von der gemütlich einfühlsamen Sorte jedenfalls ist das Ding nun wahrlich nicht. Meilenweit entfernt von einer Knautsch-Couch. Vielleicht ist das Gerät auch aus gutem Grund nicht so ganz der Gipfel der Bequemlichkeit. Damit nicht einer auf die Idee kommt, sich wirklich gemütlich darauf einzurichten. Damit man’s flugs hinter sich bringen will und nicht vergisst: Das hier ist Arbeit. Das Verfertigen der Gedanken beim Reden erleben und erleiden, ist alles andre als ein Kinkerlitzchen. Das ist ernst hier, so richtig ernst, Dollinger, hier geht’s um deinen verdammten verqueren Schädel, Mann! Hier geht’s um deinen Arsch.

Wie dem auch immer sei, es hilft alles nichts, du musst was vorlegen, musst dem Tiger was anbieten zum Zerfleischen. »Diese Angst, ich weiß nicht, dass man die Abläufe nicht mehr hinkriegt, den Tagesablauf, die Ermittlungsabläufe, egal was, also das ist wie eine Prügelstrafe, ohne dass ich wüsste, was ich ausgefressen hab.«

»Aber dass Sie was ausgefressen haben, das scheint Ihnen plausibel. Dass die Strafe also nicht ganz unberechtigt ist, auch wenn Sie nicht wissen weshalb.«

»Ganz die Psychologin!«, konterst du und bist total überrascht, dass du doch noch fähig bist, einen senkrechten Gedanken zu fassen. Und dein aufmüpfiges Maul ist auch noch nicht ganz verstummt. Grund zum Jubeln, findest du.

»Was lachen Sie?«, ist die Wernigge gleich wieder zur Stelle.

»Sorry. Dabei ist mir nicht im Entferntesten nach Lachen zu Mute. Ein einziger Horror, mein Leben zur Zeit, alles enorm anstrengend, jeder Tag, jede Stunde. Und keine halbe Woche her, da war alles noch ganz klipp und ganz klar strukturiert, alles hatte hieb- und stichfeste Konturen. Ich war ein verflucht guter Polizist, wissen Sie.«

»Und jetzt gerät alles ins Schwimmen. Nicht wahr?«

Das gerät jetzt alles … Dir gerät jetzt alles irgendwie ins Schwimmen.

- . -

7

Wie ihr – du warst sechs, vielleicht auch erst fünf, wahrscheinlich fünf, in der Schule jedenfalls warst du noch nicht, definitiv nicht – wie deine Eltern und du also mit diesem beigefarbenen Käfer ... du erinnerst dich noch genau an den Geruch, wirst du dein Leben lang in der Nase haben, hast nie wieder in einem Auto gesessen, dessen rostbraun feuchtigkeitsfleckiger Himmel einen derart warmen, derart heimeligen Geruch verströmte ... wie ihr im Käfer durch die Nacht gefahren seid. Dir wollten die Augen ständig zufallen. Der aufs Blech prasselnde Regen und der monoton vor sich hin jaulende Scheibenwischer taten ein Übriges. Das Einzige, was dich wach hielt, war das permanente Gezeter deiner Eltern. Aber auch wieder nicht permanent genug, um dich in den Schlaf zu singen. Mal flüsterten sie fast, und im nächsten Moment schlugen die Wellen hoch, brandeten mit wüstem Getöse gegen die Windschutzscheibe, wurden von dort zurückgeworfen und erwischten dich volle Breitseite, während du mutterseelenallein auf der Rückbank kauertest.

»Kannst du vielleicht mal ’n bisschen mehr auf die Tube drücken? Ist ja zum Kotzen, die Kriecherei«, mokierte sich deine Mutter.

»Kannst du vielleicht mal nicht wegen jedem Scheiß sofort diesen Ätzton anschlagen!«, rumpelte dein Vater zurück. Aber da war das Maß schon voll. Du spürtest dieses irgendwie rote Britzeln unter den Augenlidern, das dich unweigerlich zwang zu zwinkern, diesen salzigen Geschmack, der langsam aus irgendeiner Mundhöhle oder was oder wo angekrochen kam, den ganzen Mundraum ausfüllte und sich pelzig auf der Zunge niederließ, bevor dich endlich die Tränen überrollten, die dann schon wie eine Erlösung wirkten und sich mit den immer neu rüberschwappenden pechschwarzen Elternstreitwellen mischten. Um das Ungemach nicht noch zu vergrößern, versuchtest du, möglichst leise zu wimmern. Am liebsten ganz klein sein, am liebsten gar nicht da sein.

»Und dann noch vor Tom! Musst du mich vor dem Kind so bescheuert runtermachen? Außerdem, falls du’s noch nicht bemerkt haben solltest, es regnet! Und hier ist Tempo 70 bei Nässe«, sagte dein Vater mit beschwörend leiser Stimme.