Der letzte Wunsch: Zu Hause sterben - Monika Specht-Tomann - E-Book

Der letzte Wunsch: Zu Hause sterben E-Book

Monika Specht-Tomann

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Beschreibung

Angehörige zu pflegen, das ist mit erheblichen psychischen Belastungen verbunden. Nur derjenige kann gut pflegen, der auch mit sich selbst pfleglich umgeht. Einfühlsam beschreibt die renommierte Psychotherapeutin die zentralen Lebensthemen (Alter, Gebrechlichkeit, Abschiednehmen, Sterben), Grundlagen der Gesprächsführung, die Bedeutung der Berührung und die Fragen der »Selbstpflege". Das alles mit Beispielen aus der Praxis und mit Anregungen für die pflegenden Angehörigen, zu eigenen Quellen und Ressourcen zu finden, damit diese anstrengende, mühevolle und auch sinnstiftende Arbeit gelingen kann.

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Seitenzahl: 204

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Monika Specht-Tomann

Der letzte Wunsch: Zu Hause sterben

Impulse für pflegende Angehörige

Impressum

© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlaggestaltung: agentur IDee

Umschlagmotiv: © Corbis

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services, Leipzig

ISBN (Buch) 978-3-451-61280-0

ISBN (E-Book) 978-3-451-80249-2

Inhalt

Einleitung

Am Ende des Lebens

Mit den Augen des Alters: Den Pflegebedürftigen verstehen und annehmen

Verluste, Defizite, Einschränkungen: Vom Umgang mit Veränderungen am Lebensende

Auseinandersetzung mit Vorstellungen, Wünschen und Hoffnungen zum Lebensende

Pflege zu Hause: Belastung, Herausforderung und Chance

»Ich will zu Hause sterben!«

Bewusste Auseinandersetzung mit Fragen rund um die Betreuung und Pflege

Erkennen, wann Hilfe nötig ist

Begleitung und Pflege zu Hause – eine Herausforderung

Sterbebegleitung als Lebensbegleitung

Hospiz- und Palliativeinrichtungen

Hilfestellungen, Impulse und Anregungen für pflegende Angehörige

Erste Hilfe bei Belastungen

Gespräche am Lebensende

Die Lebensgeschichte im Mittelpunkt: Biografiearbeit

Wortloses Da-Sein und heilsame Berührungen: Nonverbale Kommunikation

Vom achtsamen Umgang mit sich selbst – Selbstpflege als Basis guter Begleitung

Der eigenen Trauer Raum geben

Die Burnout-Falle im Pflegealltag

Kraftquellen für Pflegende

Quellenverzeichnis

Einleitung

Immer mehr Familien müssen sich ganz konkret mit dem Thema Alter und Altwerden sowie mit den Herausforderungen einer Pflege im Alter auseinandersetzen. Auf dem Weg einer Begleitung »bis zuletzt« sind viele Hürden und Hindernisse zu bewältigen. Dies gilt vor allem ab dem Zeitpunkt, an dem sich der körperliche und geistige Zustand der alten Menschen verändert und Unterstützung, Betreuung und Begleitung notwendig werden. Wie kann dem Wunsch alter Menschen, bis zuletzt zu Hause bleiben zu können, zu Hause sterben zu dürfen, entsprochen werden, ohne in der Betreuung überlastet und überfordert zu sein? Was kann helfen, die Zeit der Pflege zu einer positiven Erfahrung für alle Beteiligten zu machen? Welche Unterstützungsangebote können den täglichen Betreuungsaufwand reduzieren?

Spätestens wenn die Vitalität und Aktivität der alten Angehörigen täglich nachlassen, tauchen bei den Betroffenen wie auch bei deren Angehörigen Fragen der Form der Begleitung auf. Diese Zeit ist für alle Familien eine schwierige Zeit, in der viele Entscheidungen getroffen werden müssen, angefangen von der Klärung finanzieller Unterstützungsmöglichkeiten bis hin zu einem effektiven Management aller notwendigen Betreuungsaufgaben. Es ist auch eine Zeit intensiver Auseinandersetzungen mit den eigenen Möglichkeiten und den persönlichen Ressourcen. Reichen diese aus, um den Wünschen und Bedürfnissen des pflegebedürftigen Menschen gerecht zu werden? Welche Form der Betreuung, Unterstützung und Pflege im Einzelfall auch zum Tragen kommt, so ist es für die Angehörigen in jedem Fall eine große Aufgabe, ein pflegebedürftiges Familienmitglied zu begleiten oder einem Sterbenden auf seinem letzten Lebensabschnitt nahe zu sein.

Viele Menschen äußern den Wunsch, im Alter möglichst lange zu Hause bleiben zu können. Im Vordergrund steht dabei die Sehnsucht, den geliebten und vertrauten Lebensraum nicht verlassen und gegen Unbekanntes und Neues eintauschen zu müssen. Umfragen zeigen, dass sich dieser Wunsch, zu Hause zu bleiben, nicht nur auf die letzten Lebensjahre beschränkt. Vielmehr wünschen sich weit über 90 Prozent der Befragten, auch zu Hause sterben zu können. Der Wunsch, bis zuletzt im Kreis vertrauter Menschen zu leben und nicht alleingelassen zu werden, nimmt bei vielen alten Menschen einen zentralen Stellenwert ein. Doch nicht nur diese äußern den Wunsch nach Geborgenheit in einem vertrauten Umfeld, nach menschlicher Nähe und Zuwendung. Auch vielen Angehörigen ist es ein Anliegen, den alten Menschen ihrer Familie nahe zu sein und sie bis zuletzt nicht alleinzulassen. Diese Einstellung spiegelt sich auch in den Statistiken wider, die zeigen, dass die meisten pflegebedürftigen alten Menschen im familiären Umfeld von ihren Angehörigen betreut werden. In vielen Fällen wird die Begleitung von Töchtern und Schwiegertöchtern übernommen oder vom – meist selbst schon alten – eigenen Ehepartner. Doch auch dann, wenn sich die Familie oder der Betroffene selbst für eine Fremdbetreuung entschieden haben, bleibt es Aufgabe und Chance der Familienangehörigen, die letzte Lebensstrecke begleitend mitzugehen. Sie können dabei jene Aspekte der Betreuung intensivieren, die beim alten Menschen Gefühle der Vertrautheit und Geborgenheit aufkommen lassen und dazu führen, dass er sich trotz Fremdunterbringung »wie zu Hause« fühlen kann.

Es ist und bleibt eine große Herausforderung, Menschen auf ihrer letzten Wegstrecke zu begleiten und ihnen körperliche Pflege, seelische Zuwendung und Geborgenheit zu schenken. Die Begleitung von schwerkranken, pflegebedürftigen oder sterbenden Menschen bedeutet für Angehörige wie für pflegende Fachkräfte die Konfrontation mit vielfältigen körperlichen und seelischen Veränderungen, mit Verfallsprozessen und schmerzlichem Abschiednehmen. Diese unmittelbare Betroffenheit bringt oftmals weggeschobene und verdrängte Gedanken an die eigene Vergänglichkeit, an das eigene Alt- und Schwachwerden und an den eigenen Tod an die Oberfläche. Pflegezeiten sind auf allen Ebenen des Lebens und Erlebens sehr intensive Zeiten und erfordern einen behutsamen Umgang mit den eigenen körperlichen und seelischen Kräften.

Die Praxis zeigt, dass sich viele alte Menschen dann »zu Hause« fühlen, wenn sie eine nahe und gute Beziehung zu ihrer Hauptpflegeperson haben. Was einerseits hilfreich und gut ist, kann jedoch auf der anderen Seite auch oft zu einer großen Belastung werden – denn je näher einem der zu begleitende Mensch steht, desto stärker berührt das die eigene Seele. Gefühle der Angst, Trauer und Hilflosigkeit können eine lähmende Wirkung auf Aktivität und Entscheidungsverhalten haben. Pflegende Angehörige laufen häufig Gefahr, ihre eigene Betroffenheit und Dünnhäutigkeit zu übersehen, nehmen zu selten und meist zu spät Unterstützung und Hilfe an und rutschen dadurch leicht in den Zustand einer Überforderung, der auch als Burnout-Syndrom bekannt ist.

Das Buch »Der letzte Wunsch: Zu Hause sterben« will pflegenden Angehörigen Informationen und Hilfestellungen anbieten, die sie in die Lage versetzen, die schwierige und belastende Pflegesituation möglichst gut zu bewältigen – zum eigenen Wohl wie auch zum Wohl ihrer Lieben. Im Mittelpunkt der Ausführungen steht die seelische Situation der am Pflege- und Begleitprozess Beteiligten. Was bedeutet es für den Betroffenen und seine Angehörigen, wenn Pflege und Begleitung notwendig werden? Welche Belastungen kommen auf die Familie zu, wenn sie sich für die Pflege eines Angehörigen entscheidet? Wie kann man liebevolle Begleitung anbieten, wenn man selbst tief betroffen ist? Wie kann man den Wunsch eines Pflegebedürftigen nach Vertrautem und Gewohntem entsprechen – auch wenn eine Begleitung zu Hause nicht mehr möglich ist? Welche Lebensthemen stehen am Lebensende im Vordergrund? Wie gestaltet sich die letzte Lebensstrecke? Der Prozess des Sterbens eines nahen Angehörigen kann starke Gefühle der Trauer, Wut oder Scham hervorrufen. Die Einsicht in das seelische Erleben dieses Prozesses kann den Betroffenen den Umgang mit diesen Gefühlen erleichtern.

Auch bei den konkreten Anregungen und Impulsen steht der Umgang mit den Gefühlen, den seelischen und spirituellen Bedürfnissen der Betroffenen im Vordergrund. Mit Beispielen aus der Praxis soll versucht werden, auf häufig wiederkehrende Fragen pflegender Angehöriger Antworten zu finden.

Wie finde ich die richtige Balance zwischen Nähe und Distanz?

Wie kann ich eine Überforderung meiner Familienmitglieder verhindern?

Wie kann ich rechtzeitig bemerken, dass ich eine Auszeit brauche?

Welche Informationen brauche ich, welche Organisationen, welche Menschen im Umkreis können mich entlasten?

Wie kann es gelingen, dem Wunsch, bis zuletzt zu Hause bleiben zu können, gerecht zu werden?

Was bedeutet dieses »zu Hause« und welche Ebenen körperlicher, seelischer und spiritueller Bedürfnisse wollen wahrgenommen und begleitet werden?

Welche Kraftquellen können mich für die schwierige Aufgabe der Begleitung stärken?

Viele verschiedene Bausteine tragen dazu bei, dass der letzte Lebensabschnitt in Würde gestaltet und gelebt werden kann. Besonders wichtig ist die Erfahrung intensiver menschlicher Zuwendung und Nähe. Dadurch kann dem Betroffenen das Gefühl vermittelt werden, angenommen zu werden und »zu Hause« zu sein. Auf Dauer kann das nur dort gelingen, wo Pflegende nicht nur mit ihren pflegebedürftigen Familienmitgliedern behutsam umgehen, sondern auch sich selbst und die eigenen Bedürfnisse wahr- und ernst nehmen. Gut begleiten und effektiv helfen zu können, ist nur dann möglich, wenn die Pflegenden auch mit sich selbst »pfleglich« umgehen. Dies kann umso eher gelingen, je offener über Schwierigkeiten und anstehende Probleme im Familien- und Freundeskreis sowie im Austausch mit Fachkräften gesprochen wird. Darüber hinaus können Informationen über seelische Prozesse und Impulse zur Gesprächsführung wichtige Hilfestellungen für die Bewältigung anstehender Probleme geben. Vielleicht kann es dann leichter gelingen, nicht nur die Last der Pflege zu spüren, sondern sich auch der sinnstiftenden Tätigkeit des Pflegens immer wieder einmal bewusst zu werden und Kraft aus den vielfältigen Erfahrungen des Pflegealltags zu schöpfen. Möge das Buch in diesem Sinne vielen pflegenden Angehörigen nützliche Anregungen geben und ihnen Mut machen, nach geeigneter Unterstützung zu suchen und gegebenenfalls Hilfe in Anspruch zu nehmen. Darüber hinaus soll es auch die Perspektive eröffnen, über die eigene Zukunft nachzudenken und sich mit den eigenen Wünschen und Gestaltungsmöglichkeiten am Ende des Lebens auseinanderzusetzen.

Am Ende des Lebens

Ende des Herbstes

Ich sehe seit einer Zeit,

wie alles sich verwandelt.

Etwas steht auf und handelt

und tötet und tut Leid.

Rainer Maria Rilke

Mit den Augen des Alters: Den Pflegebedürftigen verstehen und annehmen

Was kann Pflegenden helfen, die Welt aus der Sicht der Pflegebedürftigen sehen zu lernen? Was kann helfen, die Verhaltensweisen besser zu verstehen oder zu deuten? Und wie kann es gelingen, die Veränderungen des Alters nicht nur unter dem Vorzeichen eines Defizits zu sehen? In diesem Zusammenhang kann es hilfreich sein, bestimmte Gesetzmäßigkeiten in der Entwicklung von Menschen zu kennen. Im Laufe des Lebens stehen immer wieder Entwicklungsschritte an, die zu Veränderungen führen. Wie werden soziale Kontakte gepflegt, wie nimmt man sich und seine Umwelt wahr, welche Empfindungen und Einstellungen hat man wesentlichen Lebensfragen gegenüber, wie geht man mit den eigenen Kräften um und wie viel Energie steht zur Verfügung? Während diese Prozesse in der Jugend immer mehr Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten gewährleisten, stehen im Alter andere Dinge im Vordergrund.

Ob sich pflegebedürftige Menschen voller Vertrauen in pflegende Hände begeben oder misstrauisch reagieren, hängt in vielen Fällen nicht so sehr von der Beziehung zur Pflegeperson ab als vielmehr von Erfahrungen, die weit zurückreichen. Für Pflegende kann diese Sichtweise vielleicht hilfreich sein, um die Lebensgeschichte des pflegebedürftigen Angehörigen in ihrer Gesamtheit zu verstehen und das aktuelle Verhalten besser einordnen zu können. Auch lässt sich so die Frage leichter klären, wo der alte Mensch gerade in seinem augenblicklichen Erleben steht und mit welchem Lebensabschnitt seiner Geschichte er besonders in Kontakt ist.

Die Vorstellung, dass das Leben sich wie ein Bogen von der Geburt bis zum Tod darstellen lässt, verweist auf »aufsteigende« und »absteigende« Tendenzen in der Entwicklung jedes Einzelnen. Dabei geht es durchaus nicht nur um ein Mehr an Aktivität, Können, Wissen, Fähigkeiten, sondern um Entwicklung und Veränderung. In der Anpassung an die unterschiedlichen Aufgaben jeder Entwicklungsstufe und der Überwindung spezieller Umbruchssituationen liegt die eigentliche Leistung der persönlichen Lebensgeschichte.

Wenn sich der Lebensbogen neigt, tritt der alte Mensch in jene Phase ein, die auch mit dem Begriff »Greisenalter« umschrieben wird. Häufig ist dies der Lebensabschnitt, in dem die meisten Menschen der Pflege bedürfen. Der persönliche Umkreis, in dem sich soziale Kontakte abspielen, bleibt oft auf Betreuer, Pfleger und Begleiter beschränkt – ob zu Hause, in einem Heim oder einem Krankenhaus. Der alte Mensch muss sehr viele Verrichtungen rund um seine ureigensten Wünsche und Bedürfnisse an andere abgeben – das fällt oft sehr schwer und stellt eine große seelische Belastung dar. Nach und nach treten immer mehr körperliche Alterserscheinungen auf. Es ist mühsam, Arme und Beine zu koordinieren, das Sprechen wird langsamer und viele Dinge, die früher leicht und wie selbstverständlich erledigt werden konnten, werden zu unüberwindbaren Hürden. Manchmal treten auch Wesensmerkmale verdichtet bis überzeichnet hervor, die man für diesen Menschen als typisch bezeichnet hat. Aus einer sparsamen Frau kann eine geizige alte Frau werden, aus einem überschäumend temperamentvollen Mann ein wütend-aggressiver alter Mann, aus einer schüchternen Frau eine alles erduldende alte Frau. Ein Begleiter drückte das in einem Gespräch so aus: »Ich hatte das Gefühl, ganz zum Schluss hat sich ihr Wesen in gewissem Sinn vollendet.«

Was sich schon Jahre zuvor als Auseinandersetzung mit den großen und kleinen Abschieden des Lebens angedeutet hatte, findet nun im bewussten Zugehen auf den Tod seine Fortsetzung. Eine aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt wird immer seltener, die Menschen ziehen sich mehr und mehr in ihre innere Bilderwelt zurück und durchleben oft weit zurückliegende Dinge zum wiederholten Mal. Vieles, was früher wichtig war, wird gut erinnert und bekommt in der Erinnerung neuen Glanz. Demgegenüber fällt alles, was im Augenblick erlebt wird, jedoch rasch ins Vergessen.

Den Gedanken, dass menschliches Leben in verschiedenen Abschnitten verläuft und wir immer wieder herausgefordert sind, Altes und Vertrautes aufzugeben und loszulassen, um uns neuen Aufgaben und Herausforderungen zu stellen, hat Hermann Hesse in seinem Gedicht »Stufen« dargestellt. Die Schlusszeilen lassen sich als Hoffnung und als Auftrag lesen: »Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden … Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!«

Am Ende des Lebens

glücklich:

Das Scheitern

war der Weg.

Wolfgang Schuster

Verluste, Defizite, Einschränkungen: Vom Umgang mit Veränderungen am Lebensende

Im Laufe der gelebten Jahre entwickelt jeder Mensch seine ganz eigenen Vorstellungen von sich selbst. Dieses Bild der eigenen Person betrifft alle Lebens- und Seinsbereiche. Petzold hat in diesem Zusammenhang auch von den tragenden Säulen der Identität gesprochen und benennt sie mit »Leiblichkeit, soziale Bezüge, Arbeit und Leistung, materielle Sicherheit und Werte«. Solange der Lebensbogen eine aufsteigende Tendenz hat, sind diese Säulen bei den meisten Menschen stark und tragfähig und bekommen durch individuelle Erfahrungen ihren ganz eigenen Schliff. Aber was geschieht, wenn der Zenit des Lebensbogens überschritten ist? Was geschieht, wenn der Lebensbogen sich neigt? Meistens sind es kleine körperliche Anzeichen, die auf das Brüchigwerden der Lebenssäulen hindeuten: der Körper kann sich nicht mehr so rasch regenerieren, die Anfälligkeit gegenüber Krankheiten und Verletzungen steigt oder die Beweglichkeit einzelner Körperteile lässt drastisch nach. Auch die Konzentrationsfähigkeit ist nicht mehr die alte und das Gedächtnis weist die eine oder andere Lücke auf. Nach und nach haben diese Veränderungen auch Auswirkungen auf den Arbeitsbereich und die Leistungsfähigkeit des Einzelnen. Schließlich bleibt auch das soziale Netz nicht davor verschont, brüchig zu werden. Wichtige soziale Netzwerke, die über viele Jahre des Lebens gehalten haben, verlieren ihre Kraft durch den Verlust einzelner Mitglieder. Anstelle eines steten Zuwachses an Halt gebenden Kontakten tritt eine Abnahme nicht nur der Quantität, sondern oft auch der Qualität der Beziehungen. Das Thema »Vergänglichkeit und Endlichkeit« tritt ganz konkret in das Bewusstsein und bleibt nicht mehr nur ein Gedankenspiel.

Die individuellen Reaktionen alternder Menschen auf die unterschiedlichen Veränderungen und Einbrüche können recht verschieden ausfallen. Während die einen sehen können, dass beispielsweise das Ende einer bestimmten Aktivität einer anderen Tür und Tor öffnet – zum Beispiel: »Ich kann jetzt nicht mehr regelmäßig Sport betreiben, dafür habe ich jetzt mehr Zeit und lese meinen Enkeln Bücher vor« –, kann das bei anderen tiefe Verzweiflung auslösen: »Ich kann nicht mehr gut sehen und hören, da ist es wohl das Beste, zu Hause zu bleiben, was soll ich da noch unter Menschen?« Doch trotz individueller Unterschiede werden sich Menschen im letzten Abschnitt ihres Lebens immer wieder der vielen Veränderungen bewusst, die unweigerlich darauf hindeuten, dass ihr Weg zu Ende geht.

Was viele Menschen im Alter belastet, sind Einsamkeit, ein fehlendes Ziel, Langeweile, körperliche Gebrechlichkeit, Schwierigkeiten sich auf Neues einzustellen und schließlich das unausweichliche nahende Sterben. Das alles macht traurig. Alte Menschen müssen von vielem Abschied nehmen – manchmal sogar von allem, was ihnen einmal wichtig war.

Menschen müssen sich im Alter oft verabschieden …

… von Fähigkeiten und Fertigkeiten (»Ich kann nicht mehr alleine gehen«, »Ich brauche Hilfe beim Ankleiden«)… von Ideen und Träumen (»Ich werde mein Haus nicht mehr umgestalten können«, »Ich werde keine Pilgerreise mehr machen«)… von aktiven Handlungsmöglichkeiten (»Ich muss mein Hobby aufgeben«, »Ich kann nicht mehr frei über meine Zeit verfügen«)… von sozialen Spielräumen (»Ich kann meine Freunde nicht mehr besuchen gehen«, »Ich habe keine Möglichkeit, meine Gesprächspartner selbst auszuwählen«)… von geliebten Menschen und dem vertrauten sozialen Umfeld (»Nach und nach sterben alle meine Freunde weg«, »Meine Generation – da gibt es nicht mehr viele!«)

Je weitreichender die Einschnitte sind, die der Einzelne erlebt, und je schwieriger die Gesamtsituation ist, desto häufiger kann man Abweichungen von einem »normalen Verhalten« feststellen. Das Interesse an der Umwelt scheint zu erlahmen und auch die Fähigkeit, sich jemandem liebevoll zuzuwenden, schwindet. Verbunden ist dieser Zustand mit einer starken Verminderung der Leistungsfähigkeit, was bei sehr alten Menschen oft dazu führt, dass die Aktivität stark eingeschränkt ist. Im Extremfall kann es zu depressiven Verstimmungen kommen.

Wie muss Menschen zumute sein, die sich unerwünscht und nutzlos vorkommen, die sich eingeschränkt und überfordert fühlen und gleichzeitig sehr intensiv erleben, wie die kostbare Lebenszeit verrinnt und der Tod näher rückt? Bei allen Schwierigkeiten, die in Pflegesituationen auftreten können, ist es manchmal hilfreich, sich mit dem einen oder anderen der nachfolgenden Sätze auseinanderzusetzen und nachzuspüren, welche Gefühle in einem selbst entstehen und welche Möglichkeiten einem einfallen, diesen belastenden Gedanken und Gefühlen etwas entgegenzusetzen.

Was lösen diese Sätze in Ihnen aus und was könnte Ihnen helfen?

»Ich bin doch nur unerwünscht, mich braucht keiner.«

»Ich kann ja nicht mehr mit anpacken, ich bin einfach nur noch nutzlos.«

»Auch wenn sie es gut mit mir meinen, ich kann mich an die neue Situation nicht gewöhnen – einen alten Baum soll man halt nicht mehr verpflanzen!«

»Alle meine alten Freunde sind gestorben, von den Nachbarn lebt auch keiner mehr – die Nächste werde wohl ich sein?«

Welche Reaktionen aus der Umwelt könnten helfen, die Not zu lindern? Wenig sinnvoll ist es, mit einem »Aber das ist doch nicht so« oder »So darfst du gar nicht denken!« zu reagieren. Ein erster Schritt könnte darin bestehen, diese Sätze anzuhören, ohne sich selbst schuldig oder angegriffen zu fühlen. Manchmal hilft es dem pflegebedürftigen Menschen schon, wenn es jemanden gibt, dem er solche Sätze zumuten kann und der es aushält, seine innere Not mit anzusehen. Auch wenn es in vielen Fällen tatsächlich wenig zu verändern gibt, kann menschliche Nähe und das Gefühl, wahrgenommen zu werden, Linderung bringen. Bleiben Menschen jedoch mit ihren belastenden Gedanken und Gefühlen allein, kann sich rasch eine tiefe Resignation einstellen. So entsteht eine Negativspirale, an deren Ende das gesamte Leben als eine einzige große Kränkung und Zumutung erlebt wird.

Was macht alte Menschen dagegen zu zufriedenen Alten? Subjektives Wohlbefinden scheint trotz erheblicher Einschränkungen möglich und zwar dann, wenn Menschen aktive »Zukunftsbemühungen« anstellen. Diese Erkenntnis, die vor allem den Arbeiten des österreichischen Soziologen und Altersforschers Leopold Rosenmayr zu verdanken ist, hat für alle, die mit der Pflege und Begleitung alter Menschen betraut sind, große Bedeutung. Auch wenn der Handlungsspielraum kleiner und kleiner wird, auch wenn die Umsetzung der einen oder anderen »Zukunftsbemühung« den Pflegealltag erschwert, sollten Menschen dabei unterstützt werden, jede noch so kleine Chance zur Selbstverwirklichung und Lebensgestaltung zu ergreifen. Professionelle Pflegekräfte sprechen in diesem Zusammenhang von »aktivierender Pflege« oder »aktivierender Förderung«.

Zu Beginn stehen vor allem finanzielle Dinge, gesundheitliche Aspekte und die aktive Pflege sozialer Kontakte im Vordergrund. Nach und nach verringern sich die konkreten Gestaltungsmöglichkeiten und beschränken sich auf das unmittelbar erreichbare und überschaubare Umfeld. Deshalb ist es wichtig, sich beizeiten mit den Vor- und Nachteilen der unterschiedlichen Betreuungsangebote beschäftigen zu können. Dies führt zu einer größeren Sicherheit für jene Zeitspanne, vor der sich die meisten fürchten: »Wenn es alleine nicht mehr so gut geht.«

Neben einer Beschäftigung mit der Gegenwart und der gedanklichen Zukunftsplanung spielt für das subjektive Wohlbefinden auch die Möglichkeit eine Rolle, die Gedanken in die Vergangenheit wandern zu lassen. Es wird von älteren Menschen zumeist als sehr bereichernd erlebt, jemandem unter dem Motto davon zu erzählen, wie man »damals« Zukunft gestaltet hat. Was hat früher schon in Krisensituationen geholfen? Es tut ganz offensichtlich nicht nur gut, tatsächliche Zukunftsgestaltung vorzunehmen, sondern auch mit einem Menschen über das zu sprechen, was einst wichtig und möglich war und was dem Leben Sinn und Freude verlieh. Vielleicht lässt sich auch leichter entdecken, welche kleinen Wünsche man doch noch umsetzen kann – in der Realität oder zumindest in Gedanken. An dieser Stelle sei auch auf die große Bedeutung von Zufriedenheit und einer positiven Lebensbilanz hingewiesen. »Positiv« meint nicht, dass das Leben rückblickend nur als schön, einfach und gut beschrieben wird, »positiv« bedeutet vielmehr, dass der Mensch zu diesem seinem gelebten Leben steht und einen inneren Sinnzusammenhang herstellen kann.

Die altersbedingten Veränderungen werden es in jedem Fall notwendig machen, in der Lebensgestaltung eine klare Auswahl (Selektion) der anzustrebenden Ziele zu treffen, genau zu überlegen, wie man sie am ehesten erreichen kann (Optimierung) und wie man dabei bestimmte Schwächen oder Ausfälle geeignet ersetzen kann (Kompensation). Dieser »SOK-Prozess« findet ein Leben lang statt, erhält allerdings im Alter eine besondere Bedeutung. Da das Selbstbild eines Menschen über die Jahre hin relativ stabil bleibt, kann man nie früh genug damit beginnen, sich bewusst und sorgfältig mit den aktuell nötigen Anpassungsprozessen zu befassen, die die neuen Lebensbedingungen erfordern.

❖ Aus der Praxis

Frederike war ihr ganzes Leben lang eine gute Musikerin und Sängerin. Mit zunehmendem Alter – sie war zum Zeitpunkt unseres Gesprächs knapp 80 Jahre alt – bemerkte sie ein deutliches Nachlassen ihrer Hör- und Merkfähigkeiten. Auch hatte sie Gehprobleme, die es ihr immer schwerer machten, an den regelmäßigen Musiziertreffen teilzunehmen. Aber die heiß geliebte Musik aufzugeben – nein, das konnte und wollte sich Frederike gar nicht vorstellen! Doch etwas musste getan werden. Frederike hat sich dann entschlossen, einen kleinen Kreis von Musikern zu regelmäßigen Treffen zu sich nach Hause einzuladen und die Auswahl der Stücke auf einige wenige zu beschränken. Um auch weiterhin einen wertvollen Beitrag im Chor zu liefern, übte Frederike mehr als bisher, und dieses zusätzliche Üben erfüllte sie mit großer Freude. Der Schwierigkeit, sich neue Stücke zu merken oder zu erlernen, ging sie aus dem Weg, indem sie ihre Kolleginnen und Kollegen bat, doch »unsere guten alten Stücke« zu spielen. Frederike folgte unbewusst jenem Prinzip der Selektion (es wurden nur einige wenige Musikstücke ausgewählt), Optimierung (sie übte mehr) und Kompensation (exaktes Wiedergeben von »Altem« ließ die Schwierigkeiten beim Einstudieren neuer Stücke verblassen). Die gesamte Vorgehensweise von Frederike kann als »kompensatorische Maßnahme« betrachtet werden und ist ein bemerkenswertes Beispiel einer aktiven Auseinandersetzung mit altersbedingten Defiziten und der Suche nach Lösungsmöglichkeiten.

Wie können Begleiter helfen, seelische Verletzungen aufzufangen? Zunächst können Gespräche über die aktuelle Situation eine Entlastung mit sich bringen. In diesen Gesprächen sollte alles Platz haben, was den alten Menschen gerade beschäftigt und bewegt: Erinnerungen an früher, Trauer, dass es nicht mehr so ist wie damals, Ängste, Hoffnungen, Weinen und Lachen. Die Rolle der Pflegenden beschränkt sich in einem ersten Schritt lediglich auf ein achtsames Zuhören. Nach und nach können dann die heiklen Fragen einer notwendigen Anpassung an die realen Möglichkeiten angesprochen werden. Mithilfe eines einfühlsamen Begleiters kann es dem alten Menschen leichter gelingen, die persönlichen Erwartungen auf ein realistisches Maß einzupendeln. Besonders wichtig ist es, keinen zeitlichen Druck auszuüben. Für alte Menschen ist es meist sehr schwer, sich den sich stetig verändernden körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Bedingungen anzupassen. Oft braucht es viel Zeit, um alte Vorstellungen und Erwartungen loszulassen und sich neu zu orientieren. Wird von Begleitern eine rasche Anpassung und ein rasches Akzeptieren der Defizite gefordert, führt dies bestenfalls in eine Scheinanpassung. Während es scheint, als habe sich der alte Mensch mit seiner Situation arrangiert, schreitet hinter dieser Maske der Prozess der Vereinsamung voran und führt nicht selten zu einem raschen körperlich-geistigen Verfall oder in seelische Leere.

Und dann eines Tages alt sein und noch lange nicht alles verstehen, nein, aber anfangen, aber lieben, aber ahnen, aber zusammenhängen mit Fernem und Unsagbarem, bis in die Sterne hinein.

Rainer Maria Rilke

Auseinandersetzung mit Vorstellungen, Wünschen und Hoffnungen zum Lebensende

Wie gut oder wie schlecht die Anpassung an altersbedingte Veränderungen gelingt, hängt von einer Reihe äußerer und innerer Faktoren ab. Manche dieser Faktoren kann man beeinflussen, andere wiederum muss man hinnehmen. Was man aber machen kann ist, seine persönliche Einstellung und Haltung gegenüber diesen Situationen zu ändern. Damit kann es gelingen, aus dem Gefühl der Ohnmacht und Erstarrung auszubrechen. Solange man die eigenen Einstellungen beeinflussen, steuern, überdenken und regulieren kann, bleibt man ein Stück weit »Herr seiner selbst«. Dazu passt auch Johann Wolfgang von Goethes Auffassung vom Alter: »Älter werden heißt: selbst ein neues Geschäft antreten; alle Verhältnisse verändern sich, und man muss entweder zu handeln ganz aufhören oder mit Willen und Bewusstsein das neue Rollenfach übernehmen.«

Was wünsche ich mir für meine letzten Lebensjahre, wo will ich sie verbringen? Was macht mir Angst, wenn ich an mein Ende denke? Was möchte ich noch regeln? Wem vertraue ich meine letzten Wünsche an? Von welchen Gegenständen möchte ich mich auf gar keinen Fall trennen? Gespräche mit alten Menschen zeigen immer wieder, dass die Klärung dieser und ähnlicher Fragen als wichtig und hilfreich angesehen wird – allerdings: später … irgendwann einmal …! Für viele ist ein »Später« dann leider nicht mehr möglich und Familienmitglieder oder behandelnde Ärzte und Pflegepersonen müssen die Entscheidungen für sie treffen.