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Manche Kinder verkriechen sich und verstummen, wenn sie trauern. Andere sind kaum zu beruhigen und lassen ihren Tränen immer wieder freien Lauf. Nicht selten können trauernde Kinder auch aggressiv sein. Und wieder andere stellen die erstaunlichsten Fragen. Doch oft werden sie nicht wahrgenommen, sondern übergangen oder allein gelassen, weil auch die Eltern und Erzieher überfordert sind. Ihnen will Monika Specht-Tomann helfen, sensible Trauerbegleiter zu sein. Der empathische Ansatz ihres Buches eröffnet neue Blickwinkel und ermöglicht Erwachsenen wie Kindern, wieder Halt und Orientierung zu finden.
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Seitenzahl: 155
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Cover
Haupttitel
Inhalt
Über die Autorin
Über das Buch
Impressum
Hinweise des Verlags
Leseempfehlung
Monika Specht-Tomann
Trauernden Kindern Halt geben
Was Eltern tun können
Patmos Verlag
Einleitung
Teil I Kindern Halt geben
1. Mit kleinen Schritten in die Welt der Großen – Bausteine gelingender Erziehungsarbeit
Erziehung – eine ganz besondere Arbeit
Kinder lernen Vertrauen und entwickeln ihre eigene Weltsicht
2. Das kindliche Weltbild – seine Bedeutung für den Umgang mit Verlust, Abschied und Tod
Die Welt des Kleinkinds
Die Welt des Vorschulkinds
Die Welt des Grundschulkinds
Kinder an der Schwelle zur Pubertät
Teil II Beispiele aus dem Kinderalltag: Wenn Kinder trauern
1. Kindertrauer: Allgemeine Merkmale und Unterstützungsmöglichkeiten
2. Beispiele aus der Welt der Kleinkinder
»Was ist los mit Mama und Oma?«: Die Geschichte des zweijährigen Ben
Allgemeine Unterstützungsmöglichkeiten bei Sterben und Tod
3. Beispiele aus der Welt der Vorschulkinder
»Wo ist Opa jetzt?«: Die Geschichte des fünfjährigen Max
»Ich muss Sina suchen«: Die Geschichte der sechsjährigen Laura
Allgemeine Unterstützungsmöglichkeiten bei Sterben und Tod
4. Beispiele aus der Welt der Grundschulkinder
»… das rote Fahrrad von Sofia!«: Die Geschichte des neunjährigen Florian
Allgemeine Unterstützungsmöglichkeiten bei Sterben und Tod
5. Beispiele aus der Welt älterer Kinder
»Ob Jasmin ein Stern ist?«: Die Geschichte der dreizehnjährigen Lisa
Allgemeine Unterstützungsmöglichkeiten bei Sterben und Tod
6. Antworten auf häufig gestellte Fragen
Teil III Kinder einfühlsam begleiten: Anregungen und Hilfestellungen
1. Persönliche Auseinandersetzung mit Abschied, Verlust und Trauer – eine wichtige Voraussetzung
Die Schattenseiten des Lebens nicht ausklammern
Anregungen für eine persönliche Auseinandersetzung
2. Bausteine für eine vertrauensvolle Beziehung
Die Kinderwelt ernst nehmen
Beziehungspflege als Eckpfeiler jeder Begleitung
»Darüber reden« – hilfreiche Gespräche
Hilfreiche Kinderbücher, Märchen und Geschichten
Anhang
Anmerkungen
Literatur
Zitatnachweis
Bildnachweis
Abschied, Verlust, Vergänglichkeit, Tod und Sterben gehören sicher zu den »schweren« Themen im Leben von Kindern und brauchen eine behutsame Begleitung. Dies fällt vielen Eltern und Erziehern schwer, sie fühlen sich angesichts von Sterben und Tod häufig verunsichert und möchten Trauer möglichst lange vom Leben der Kinder fernhalten. Oft wird jedoch vergessen, dass es sich beim Thema »Verlust und Abschied« um Urerfahrungen menschlicher Existenz handelt, die jeden Menschen von der Geburt bis zum Tod begleiten, und dass die natürliche seelische Reaktion darauf Trauer ist – das ist bei Kindern nicht anders als bei Erwachsenen.
In allen Situationen, in denen Kinder trauern, brauchen sie Verständnis und Zuwendung. Sie brauchen eine Hand zum Festhalten und Menschen, die ihnen Mut machen, ihre Gefühle zu äußern, ihre Betroffenheit auszudrücken und ihre Trauer zu zeigen, um dann immer wieder aufs Neue hoffnungsvoll und freudig in die Zukunft blicken zu können. Trauerbegleitung bedeutet Lebensbegleitung. Und so geht es immer auch darum, das Leben in seiner ganzen Bandbreite vor Augen zu haben, die positiven Momente des Lebens bewusster schätzen zu lernen und sich dem auf den ersten Blick so unterschiedlich wirkenden »Geschwisterpaar Freude – Trauer« behutsam zu nähern.
Angesichts der zahlreichen komplexen Erziehungsaufgaben in einer sich rasch wandelnden Zeit und den immer häufiger werdenden belastenden Situationen für Kinder ist es besonders wichtig, die elterliche Kompetenz zu stärken. Dies kann zum einen durch ein Bewusstmachen jener vielen kleinen persönlichen Verhaltensweisen geschehen, die dem Kind den Boden für ein stabiles Heranwachsen bereiten und Raum zur Bewältigung schwieriger Situationen schaffen. Zum anderen geht es darum, Wissen über die wesentlichen Entwicklungsschritte und die damit verbundenen Zugänge des Kindes zu den Menschen und Dingen seiner unmittelbaren Umgebung zu vermitteln. Viele Reaktionsweisen von Kindern, viele Fragen, die sie stellen, und Handlungen, die sie zeigen, werden auf dem Hintergrund dieses Wissens leichter verständlich. Auch kann dadurch eine dem Alter der Kinder entsprechende Begleitung besser gelingen. Dies ist besonders wichtig im Zusammenhang mit existenziellen Erfahrungen mit Tod und Sterben. Das Buch Trauernden Kindern Halt geben soll Eltern und Erziehern ein Begleiter sein, der ihnen Hilfestellungen und Anregungen für ihren Erziehungsalltag bietet und an konkreten Beispielen Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit trauernden Kindern aufzeigt.
Das Erleben von Verlusten, von Abschied, Sterben und Tod begleitet den Menschen sein ganzes Leben lang. Es handelt sich dabei gleichsam um Urerfahrungen menschlicher Existenz. Sie sind weder an einen bestimmten Wissens- oder Entwicklungsstand noch an ein bestimmtes Alter gebunden. Immer wieder berühren Abschied und Tod den menschlichen Lebensweg, legen sich für eine gewisse Zeit wie ein schwarzer Schatten über eine bestimmte Wegstrecke und lösen Gefühle der Trauer aus. Es ist und bleibt eine große Herausforderung, mit diesen Erfahrungen und Gefühlen gut umzugehen und gestärkt die nächsten Lebensschritte gehen zu können. Wichtige Bausteine, die helfen, die Schattenstrecken gut zu bewältigen und dabei die Sonnenseiten nicht aus den Augen zu verlieren, sind die Fähigkeiten, die Gefühle der Trauer zuzulassen, sich einer Gemeinschaft anzuvertrauen und sich begleiten zu lassen. Doch dies ist oft leichter gesagt als getan. Die Bereiche Abschied, Verlust, Sterben und Trauer gehören nach wie vor zu den großen Tabu-Themen unserer Zeit. Unsicherheit, ängstliche Zurückhaltung, Beiseiteschauen und ein Verschieben »auf später« sind nur einige der üblichen Reaktionsweisen, die Trauernde einsam und hilflos zurücklassen.
Wir leben in einer Gesellschaft, die für die belasteten und »dunklen« Wegabschnitte des Lebens wenig Hilfestellungen und rituell abgesicherte Verhaltensweisen bereithält. Doch auch auf der individuellen Seite gibt es eine Reihe von Hürden, die im Zusammenhang mit schwerwiegenden Verlusten sichtbar werden. Sich selbst auf positive Weise mit belastenden Situationen rund um einen schweren Verlust, einen Todesfall, auseinandersetzen zu können, hängt mit Fähigkeiten zusammen, deren Ansätze im Laufe der Kindheit erworben werden müssen. Es geht dabei um ein tief im Inneren verankertes Wissen, dass »alles gut werden kann«, und das Gefühl, in dieser Welt gut verwurzelt zu sein. Es geht um ein Vertrauen in sich selbst, in die Menschen der näheren und weiteren Umgebung – um ein Vertrauen »in Gott und die Welt«. Doch nicht jedem ist es vergönnt, in Geborgenheit groß zu werden und im geschützten Raum der Familie Schritt für Schritt in die Welt der Großen hineinwachsen zu können. Nicht jeder hat verständnisvolle Menschen um sich gehabt, die zur rechten Zeit die richtige Information, das richtige Wort oder die richtige Geste gefunden haben. Und nicht jeder hat das Glück, in einem Umfeld groß geworden zu sein, in dem die Erwachsenen selbst bereit und in der Lage sind, sich den existenziellen Fragen um Leben und Sterben, Abschied und Verlust zu stellen und das Kind bei der Suche nach Antworten auf diese Fragen zu unterstützen. Die ersten Lebensjahre sind demnach für die weitere Lebensgestaltung ungeheuer wichtig.
Da Entwicklung immer auch Abschied von Altem und Vertrautem bedeutet, wird das Kind immer wieder in Situationen kommen, wo es erfahren kann und muss, dass Leben und Sterben, Lachen und Weinen, Anfang und Ende zusammengehören. Wenn diese Pole des Lebens im Kinderalltag Platz haben und Eltern nicht krampfhaft versuchen, Trauriges möglichst rasch zu verscheuchen oder gar nicht erst zuzulassen, kann auch ein Kind Trauer als heilende Kraft der Seele kennenlernen. Bei diesem Lernprozess ist es für das Kind wichtig und hilfreich, dass es einen vertrauten Menschen hat, der es begleitet. Darum geht es im folgenden Abschnitt.
Erziehung – eine ganz besondere Arbeit
Kinder ins Leben zu begleiten, ihnen jenen Halt zu geben, der sie zu lebensfrohen Menschen werden lässt und sie für Krisenzeiten stark macht, ist Arbeit. Sie ist verbunden mit ganz besonderen Freuden – aber auch mit ganz besonderen Belastungen. Auf der einen Seite sind da viele Augenblicke, in denen einem das »Wunder Leben« bewusst wird; man kann die Welt in einem anderen Licht sehen, empfindet Ehrfurcht und Staunen angesichts der Vollkommenheit kleiner Kinder und deren Lebenskraft. Auf der anderen Seite stehen viele Belastungen, Sorgen, Ängste und Unsicherheiten, die manchmal auch die persönlichen Grenzen aufzeigen.
Die Welt der Erwachsenen ändert sich schlagartig, wenn ein Kind in ihr Leben tritt. Für viele beginnt eine Umstellung ihrer Aktivitäten, die alle Lebensbereiche betrifft und Anpassung, Neuorientierung, Kraft, Kreativität und Geduld verlangt. In der Begegnung und Begleitung von Kindern – dieser sehr speziellen Arbeit – liegen gleichermaßen Herausforderungen wie Chancen. Dies gilt natürlich in erster Linie für die Eltern, die als sogenannte primäre Bezugspersonen für eine gesunde und gute Entwicklung ihrer Kinder besonders wichtig sind. Sie werden zum Dreh- und Angelpunkt der Kleinkinderwelt und sind im Idealfall Quelle der Freude, Liebe und Zuwendung. Wo dies nicht möglich ist, können Kinder nicht gut gedeihen und werden eher Schwierigkeiten haben, sich gut zu entwickeln und vertrauensvoll in die Welt hinauszugehen. Eltern sind im wahrsten Sinne des Wortes Entwicklungshelfer – und dies auf allen Ebenen des kindlichen Heranwachsens, nämlich auf der körperlichen, seelischen, sozialen und geistigen Ebene.
Wenn sich die zunächst recht kleine und überschaubare Welt der Kleinkinder erweitert, treten zusätzlich noch andere »Entwicklungshelfer« ins Blickfeld. Auch sie werden zu wichtigen Stützen auf dem Weg ins Leben: Verwandte, Freunde der Familie, ErzieherInnen, LehrerInnen – sie alle tragen dazu bei, dass sich Kinder orientieren können und Halt finden. Dabei werden von den Erwachsenen Verstand und Herz gleichermaßen gefordert: Es geht zum einen um intellektuelle Anregungen und um das Bereitstellen von Lernmöglichkeiten. Für viele Menschen ist der Begriff »Lernen« eng an »Schule« gebunden und bezieht sich auf Faktenwissen. Doch Lernen ist viel umfassender zu verstehen und bezieht sich auf alle Bereiche des Lebens, umfasst einen lebenslang anhaltenden Prozess des »Nachspürens«. Es ist vergleichbar mit einer Spurensuche, einer Suche nach Orientierung und Wissen, einer Suche nach Anhaltspunkten, um aus Unbekanntem etwas Bekanntes und Vertrautes entstehen zu lassen. Kinder lernen vom ersten Tag an: Sie müssen beispielsweise sich selbst außerhalb des Mutterleibes neu entdecken; sie lernen, sich an Geräuschen, Stimmen, Licht und Schatten zu orientieren, oder versuchen mit unendlichem Eifer, ihre Bewegungen gezielter einzusetzen. So vollziehen sie einen Entwicklungsschritt nach dem anderen. Dabei brauchen sie Anregungen, Unterstützung und viel Lob von den Menschen, die sie umgeben.
Neben diesen vielen konkreten Impulsen im Bereich Lernen stehen auf der anderen Seite Gefühle im Zentrum der Begegnungen zwischen Kindern und Erwachsenen. In allen Handlungen, in jeder Geste, jedem Blick und jeder Berührung schwingen Emotionen mit und überbringen Botschaften. Oft sind es gerade diese versteckten Signale, die deutlich machen, was mit den Worten eigentlich gemeint ist und was sich hinter ihnen verbirgt. Kinder haben dafür besonders feine Antennen und »verstehen«, lange bevor sie der Wortsprache mächtig sind, »die Sprache des Herzens« nur zu gut. Sie nehmen mit allen Sinnen die ihnen entgegengebrachten Gefühle auf, sie lauschen dem Klang der Stimme, achten auf Art und Tempo der Zuwendung, nehmen die Zartheit der Berührung oder die Flüchtigkeit im Streicheln ebenso wahr wie die mitschwingende Lebensfreude in einem hellen Lachen oder die gute Absicht hinter einer ungeschickten Geste. Manchmal kann man sich geradezu ertappt fühlen, wenn man die Reaktionen von Kindern auf die eigenen Gedanken deutlich sehen kann. Gedanken, Worte und Handlungen sind eng miteinander verwoben und beeinflussen einander, wie es in einem alten Sinnspruch aus dem Talmud trefflich beschrieben wird:
Achte auf deine Gedanken, denn sie werden Worte.
Achte auf deine Worte, denn sie werden Handlungen.
Achte auf deine Handlungen, denn sie werden Gewohnheiten.
Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden dein Charakter.
Achte auf deinen Charakter, denn er wird dein Schicksal.
Damit Kinder Halt finden, sich entsprechend ihren Möglichkeiten optimal entwickeln und den von außen kommenden Anforderungen gerecht werden können, braucht die kindliche Seele als Grundnahrungsmittel Liebe und die Botschaft: »Ich liebe dich, so wie du bist«, »Du bist in Ordnung«, »Du bist wunderbar!« Diese menschliche Grundbotschaft kann sowohl durch Worte als auch durch Gesten zum Ausdruck kommen. Für den täglichen Umgang mit Kindern bedeutet das, dass es mindestens genauso wichtig ist, wie mit Kindern gesprochen wird, wie, was gesprochen wird. Kinder brauchen die Erfahrung, um ihrer selbst willen geliebt zu werden; sie brauchen Menschen, die an sie glauben und sie ohne Wenn und Aber annehmen, so wie sie sind. Dieses bedingungslose Angenommenwerden ist ein Geschenk, das das ganze weitere Leben bereichert. Es ist die Basis für Liebesfähigkeit und Selbstvertrauen und hilft in schweren, traurigen und belastenden Momenten, den Glauben an das Gute in der Welt nicht zu verlieren. Erich Fried drückt das in seinem berühmt gewordenen Gedicht Was es ist mit folgenden Worten aus:
Was es ist
Es ist Unsinn
sagt die Vernunft
Es ist was es ist
sagt die Liebe
Es ist ein Unglück
sagt die Berechnung
Es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst
Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht
Es ist was es ist
sagt die Liebe
Es ist lächerlich
sagt der Stolz
Es ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich
sagt die Erfahrung
Es ist was es ist
sagt die Liebe1
Für eine gute und harmonische Entwicklung spielen viele verschiedene Momente eine Rolle, wobei nicht immer äußerlich sichtbare Größen wie materieller Wohlstand oder das Fehlen von Problemen entscheidend sind. Es ist in erster Linie die Atmosphäre, in der Kinder groß werden oder einen Teil ihrer Zeit verbringen, die für ihr Wohlbefinden eine wichtige Rolle spielt. In der Alltagssprache verwendet man Begriffe wie »warm«, »kalt«, »eisig«, »herzlich«, um die Qualität von Beziehungen zu charakterisieren und das Klima zwischen Menschen oder in Familien zu beschreiben. Wie sich so ein spezielles soziales Klima »anfühlt«, weiß jeder von uns. Niemand kann sich auf Dauer in einer »eisigen« Atmosphäre entspannen oder wird bereit sein, sich in einer »kalten« Umgebung anderen Menschen zu öffnen. Andererseits kann ein Klima der Herzlichkeit und Wärme ein Gefühl von Geborgenheit vermitteln, das Verängstigten Mut macht, Schüchterne stärkt und Trauernde tröstet. Diese oft schwer fassbaren Stimmungen wirken sich auf die noch offenen und sensiblen Kinderseelen besonders stark aus und hinterlassen Spuren.
In diesem Zusammenhang sei noch auf den Unterschied zwischen einer momentanen Stimmungslage und einem überdauernden Gefühlszustand hingewiesen. Gerade Reaktionen auf dramatische Ereignisse wie Sterben und Tod können punktuell jedes auch noch so »warm« getönte soziale Klima verwandeln. Mit einem Schlag kann sich die Welt durch einen Schicksalsschlag verändern, und Schwermut, Düsternis und Trauer legen sich für Tage, Wochen oder Monate über die Mitglieder einer Familie. Davon sind Kinder nicht ausgenommen. Doch wird es ganz entscheidend von der Reaktion der Erwachsenen und ihrem Umgang mit den Kindern abhängen, wie diese Ereignisse und ihr emotionaler »Hof« eingeordnet und verkraftet werden können. Dies gilt auch bei Ereignissen, die nicht durch einen konkreten Verlust in unmittelbarer Nähe der Kinder gekennzeichnet sind. Die Verunsicherung, die Bedrohungen aller Art auch bei Erwachsenen auslösen und die oftmals ihren Glauben an die Welt und eine tragende, schützende Kraft dahinter ins Wanken bringt, bleibt Kindern nicht verborgen. Hier braucht es ehrliche und offene Worte, Geduld und die Bereitschaft, gemeinsam nach kleinen Zeichen der Solidarität zu suchen. Rainer Maria Rilke beschreibt dies so:
Und ich möchte Sie, so gut ich kann,
bitten, lieber Herr, Geduld zu haben
gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen
und zu versuchen, die Fragen selbst
lieb zu haben wie verschlossene Stuben
und wie Bücher, die in einer sehr fremden
Sprache geschrieben sind.
Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten,
die Ihnen nicht gegeben werden können,
weil Sie sie nicht leben könnten.
Und es handelt sich darum, alles zu leben.
Leben Sie jetzt die Fragen.
Vielleicht leben Sie dann allmählich,
ohne es zu merken, eines fernen Tages
in die Antwort hinein.2
Kinder lernen Vertrauen und entwickeln ihre eigene Weltsicht
In jedem Menschenleben wird es eine Reihe von Situationen und Erfahrungen geben, die schwer zu verarbeiten sind. Manche Menschen fallen in ihrem Familien- und Freundeskreis dadurch auf, dass sie mit einem ungebrochenen Optimismus durch die großen und kleinen Tragödien und Katastrophen des Lebens gehen. Andere wiederum brechen schon bei kleinen Unstimmigkeiten und relativen Kleinigkeiten zusammen und finden nur unter großen Mühen jene Kraft, die für eine Bewältigung größerer Krisen nötig ist. Hier stellt sich die Frage, womit dies zusammenhängt und ob bzw. wie man in der Begleitung von Kindern einen Beitrag leisten kann, diese konflikt- und krisenfähig zu machen, und wie man ihnen das Bild einer guten Welt und guter Menschen sowie den Glauben an das eigene Gutsein vermitteln kann. Der Blick auf die Situation kleiner Kinder, die sich in ihrer Abhängigkeit von liebenden Erwachsenen so ganz und gar an diesen orientieren, erhellt mögliche Zusammenhänge.
In den ersten Jahren eines Kinderlebens wird der Grundstein dafür gelegt, ob »die Welt an sich« als gut und schön erlebt werden kann und ob man Menschen vertrauen darf. Ganz zu Beginn spielt die sogenannte primäre Bezugsperson – dies ist in den meisten Fällen die Mutter – und ihre Bereitschaft, sich auf das Kind ganz einzustellen und eine gebende und liebende Beziehung aufzubauen, die wichtigste Rolle beim Entstehen von Vertrauen. Nach und nach treten andere Personen in das Blickfeld des Kindes und gewinnen an Bedeutung für den weiteren Ausbau und die Stabilität des Gefühls Vertrauen – des Urvertrauens. Der Begriff »Urvertrauen« ist längst nicht mehr nur ein wissenschaftlich verwendeter Begriff aus der Disziplin der Psychoanalyse. Mit Urvertrauen meint man gemeinhin ein ganz tief sitzendes Gefühl von Geborgenheit. Es ist das Gefühl, gut aufgehoben zu sein in dieser Welt und von wohlwollenden, liebenden Menschen durchs Leben getragen zu werden. Dieses Gefühl ist die Grundlage für einen vertrauensvollen Umgang mit sich selbst, mit anderen Menschen und mit der ganzen Welt. Martin Buber beschreibt dies mit den Worten:
Vertrauen, Vertrauen zur Welt, weil es diesen Menschen gibt – das ist das innerlichste Werk des erzieherischen Verhältnisses. […]
Weil es diesen Menschen gibt, ist gewiß in der Finsternis das Licht, im Schrecken das Heil und in der Stumpfheit der Mitlebenden die große Liebe verborgen.
Weil es diesen Menschen gibt.
Und so muß denn aber dieser Mensch auch wirklich dasein.3
Die Wurzeln des Urvertrauens reichen in die ersten Wochen und Monate des Lebens zurück, in denen die kleinen Erdenbürger noch ganz und gar auf die liebende Fürsorge der Erwachsenen angewiesen sind. Der Anblick von Neugeborenen bringt die meisten Menschen zum andächtigen Staunen und macht sie sensibel für das Wunder des Lebens. In der Abhängigkeit, Bedürftigkeit und Schutzlosigkeit kleiner Kinder liegt etwas zutiefst Menschliches. Verglichen mit Neugeborenen aus dem Reich der Tierwelt kommen Menschenkinder äußerst »unvollkommen« auf die Welt: Sie können nicht reden, sie können nicht gehen und sind in allem auf die Hilfe anderer angewiesen. Erst mit einem Jahr entspricht ihr Können demjenigen neugeborener Säugetiere, die innerhalb weniger Minuten nach der Geburt bereits auf den – wenn auch wackligen – Beinen stehen und erste Schritte unternehmen.
An die Stelle der schützenden und bergenden Gebärmutter muss bei Menschenkindern der sogenannte »soziale Uterus« treten, um ein gesundes Großwerden zu ermöglichen. Man kann sich den sozialen Uterus auch als soziales Netz vorstellen, das von den einzelnen Familienmitgliedern, den Freunden und allen Menschen geknüpft wird, die die Welt des kleinen Kindes bevölkern. Sie alle schaffen mit ihrer Liebe, Zuwendung und Verlässlichkeit den Nährboden für kindliches Wohlergehen und Wachstum. Und so kann das kleine Kind in seinen ersten Wochen und Monaten langsam »Vertrauen in das Vertrauen« lernen. Rilke beschreibt dies mit den Worten:
So bin ich nur als Kind erwacht,
so sicher im Vertraun
nach jeder Angst und jeder Nacht