Was macht das Monster unterm Bett? - Monika Specht-Tomann - E-Book

Was macht das Monster unterm Bett? E-Book

Monika Specht-Tomann

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Beschreibung

Angst vor der Dunkelheit, vor Abschieden oder vor Schwierigkeiten in Kindergarten oder Schule - Kinder erleben vielfältige belastende Situationen, die sie im Laufe ihrer Entwicklung meistern müssen. Welche Ängste gehören zu jeder normalen Entwicklung? Wann werden Kinderseelen besonders belastet? Was können Eltern ganz konkret tun, um Kindern in ängstigenden Situationen Halt zu geben? Die erfahrene Psychologin Monika Specht-Tomann zeigt, wie Erwachsene ihren Kindern liebevoll helfen und mit ihnen gemeinsam das Monster unterm Bett zähmen können.

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Cover

Haupttitel

Inhalt

Über die Autorin

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

HAUPTTITEL

Monika Specht-Tomann

Was macht das Monster unterm Bett?

Patmos Verlag

Inhalt

Einführung

Teil 1: Kinderängste verstehen

1. »Gute« Angst und »schlechte« Angst: Vom Sinn der Angst

2. Vom Säugling zum Schulkind: Ängste im Verlauf der Entwicklung

3. Kinderworte und Kinderzeichnungen: Beispiele aus dem Alltag

Teil 2: Was Kinderseelen belastet und wie Eltern helfen können

1. Von den kleinen und großen Abschieden: »Lass mich nicht allein!«

2. Krankheit und Tod: »Kannst du auch sterben?«

3. Wenn die Familie zerbricht: »Kommt Papa wieder?«

4. Neue soziale Situationen: »Ich mag nicht in den Kindergarten!«

5. Wenn Kinder in die Schule kommen: »Ich kann das nicht – Keiner mag mich!«

6. Katastrophen: »Kann das bei uns auch passieren?«

Gedanken zum Schluss: Was Kinder trägt – Liebe geben und Geborgenheit vermitteln

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Zitat- und Bildnachweise

BUCH LESEN

Für meine Kinder:

Felix, Lilli, Hanna, Rita

Einführung

Viele Erwachsene haben eine Grundsehnsucht, Kinder von den dunklen Seiten des Lebens fernhalten zu wollen. Doch auch wenn es ihnen ein großes Anliegen ist, ihren Kindern ein möglichst angstfreies Leben zu ermöglichen, so wird es immer wieder Situationen geben, die mit unangenehmen Gefühlen und ängstlichen Reaktionen verbunden sind. Jede gesunde Entwicklung von Kindern durchläuft verschiedene Stationen, in denen potenzielle Gefahren lauern. Manche Übergänge von einem bestimmten Lebensabschnitt in einen anderen gehen nicht so glatt über die Bühne, wie es in Lehrbüchern steht oder von wohlmeinenden Verwandten erwartet wird. Wo Leben ist, da geht’s hoch her – das gilt ganz besonders für das Leben mit Kindern: Die ersten Kindheitsjahre sind prall gefüllt mit Wachsen, Veränderung, Neuorientierung, Neugestaltung und Umbruch. Mit rasantem Tempo werden Dinge gelernt, erweitert und neu eingeordnet. Das erfordert von Eltern und Erziehern hohe Flexibilität und die Fähigkeit, selbst wieder mit den Augen der Kinder sehen zu lernen und ein Stück in ihren Schuhen zu laufen.

Dieses Hineinschlüpfen in die Situation der Kinder bringt einem die Kinderwelt wieder ein Stück näher und macht sie begreifbarer. Mit einem Mal öffnen sich schon längst verschlossene Türen und alte Melodien klingen ans Ohr: Kinderfreud’ und Kinderleid sind mit einem Mal nicht mehr fremd, sie werden wichtig und können auf ganz besondere Weise ernst genommen werden. Die Öffnung der Erwachsenen hin zu den kleinen und großen Freuden der Kinder, aber auch zu deren Fragen, Sorgen und Ängsten schafft Vertrauen. Manchmal kann das aber auch zu einer gewissen Verunsicherung auf Seiten der Eltern und Begleiter führen. Die meisten Menschen macht es sehr betroffen, wenn sie auf existenzielle Kinderfragen keine Antwort wissen oder wenn sie angesichts der Tragik von Geschehnissen selbst verstummen.

Und so kommt es dann, dass sich sehr viele Eltern und Menschen, denen Kinder anvertraut sind, in der Konfrontation mit kindlichen Nöten und Ängsten hilflos und überfordert fühlen. Das ist etwas durchaus Verständliches und kommt sehr oft vor. Es ist schmerzhaft, mit ansehen zu müssen, wie schnell sich Unbeschwertheit und Lachen in Bedrücktheit und Tränen verwandeln kann – manchmal scheinbar grundlos wie aus heiterem Himmel, dann wieder mit gutem Grund und durchaus nachvollziehbar. Es tut weh, Kinder stolpern zu sehen und die Steine nicht von ihrem Lebensweg wegräumen zu können. Und manchmal ist man selbst den Tränen so nahe angesichts von Problemen, Elend, Schwierigkeiten und einer Welt, in der man sich nicht immer leicht zurechtfindet.

In der Auseinandersetzung mit Ängsten und Nöten von Kindern kommen Erwachsene dann oft an die eigenen Grenzen: die Grenzen der Geduld, der Zeit, des Verstehens und nicht zuletzt die Grenzen der eigenen Belastbarkeit. Es ist mitunter bedrückend, sich eingestehen zu müssen, dass man selbst ratlos ist und nicht weiß, wie man mit den eigenen Gefühlen und Gedanken umgehen soll. Dies gilt ganz besonders im Zusammenhang mit negativen Ereignissen, mit tiefgreifenden seelischen Erschütterungen oder mit Berichten über Katastrophen aller Art. Es verunsichert, wenn beispielsweise Krankheit, Tod und Trauer ihre Schatten werfen. Es verunsichert, wenn immer neue Schreckensmeldungen über Bildschirm und Äther in die eigenen vier Wände dringen und zunehmend auch zum Gesprächsthema von Kindern werden. So viele Fragen tauchen auf – und bleiben in den meisten Fällen unbeantwortet.

Das alles bedeutet jedoch nicht, dass es keine Möglichkeiten gibt, Kindern hilfreich zur Seite zu stehen – im Gegenteil: Das vorliegende Buch gibt Eltern eine Übersicht zu unterschiedlichsten Angstbereichen, die in jedem Kinderleben vorkommen oder vorkommen können. Es soll Mut machen, der kindlichen Angst zu begegnen und kindgerechte Bewältigungsmöglichkeiten nach dem Motto: »Angstbewältigung statt Angstverdrängung« zu finden.

Im ersten Teil des Buches geht es darum, die Welt der Kinder genauer anzusehen, dem Sinn der Angst nachzuspüren, typische Kinderängste im Verlauf der Entwicklung anzusprechen und Kinder selbst mit ihren Erfahrungen und Erlebnissen zu Wort kommen zu lassen. Alle Personennamen, auch in den Fallbeispielen, wurden anonymisiert.

Im zweiten Teil werden spezielle Situationen dargestellt, die Kinderseelen belasten. Dabei steht das Thema Trennung und Abschied auf unterschiedlichste Art und Weise im Mittelpunkt. Zunächst geht es um alltägliche Situationen – wie beispielsweise den Übergang vom Tag zur Nacht oder erste Schritte weg von der vertrauten Welt zu Hause –, die einem Kind Angst machen können und die es gemeinsam zu bewältigen gilt. Dann werden Fragen rund um Krankheit, Sterben und Tod sowie das Thema Scheidung aufgegriffen und hinsichtlich möglicher kindlicher Angstreaktionen besprochen. Schließlich werden unterschiedliche, häufig mit Angst verbundene Situationen von Kindergarten- und Grundschulkindern beleuchtet. Zum Abschluss kommen jene Ängste zur Sprache, die im Zusammenhang mit Eindrücken von Katastrophenmeldungen stehen. Neben Beispielen aus dem Kinderalltag werden konkrete Impulse und Hilfestellungen angeboten, die den Eltern und anderen Erwachsenen, die Kinder begleiten und betreuen, erste Orientierungsmöglichkeiten geben können. Unter der Überschrift »Was Kinder trägt – Liebe geben und Geborgenheit vermitteln« wird schließlich auf die spezielle Herausforderung eingegangen, die in einer guten Begleitung von Kindern liegt. Es werden jene Elemente dargestellt, die dazu beitragen, Kindern eine tragfähige Basis anzubieten, auf die sie in Krisenzeiten – in Zeiten der Angst – zurückgreifen können und die ihnen Halt gibt.

Das Buch wendet sich in erster Linie an Eltern und nahe Familienangehörige. Darüber hinaus bietet es Kindergärtnerinnen, Pädagogen und Lehrerinnen zahlreiche Hinweise für einen sinnvollen Umgang mit kindlichen Ängsten.

Teil 1: Kinderängste verstehen

1. »Gute« Angst und »schlechte« Angst: Vom Sinn der Angst

Jeder Mensch hat Angst

Angst begleitet uns von der Geburt bis zum Tod. Manchmal tritt sie ganz offen zu Tage, dann wieder bahnt sie sich im Verborgenen ihren Weg und wird nur indirekt sichtbar. Sie schützt uns vor körperlichen und seelischen Verletzungen, schafft nötige Anreize für Veränderung und Neuorientierung und hilft uns, mehr oder weniger unbeschadet durchs Leben zu gehen.

Ein gesundes Maß an Angst macht es beispielsweise möglich, in neuen Situationen innezuhalten, sich auf seine Stärken zu besinnen und sich nicht völlig wahllos allen Eindrücken auszusetzen. Ein gesundes Maß an Angst kann uns wachrütteln und achtsamer werden lassen. Manchmal zeigt sich die Angst allerdings auch von einer ganz anderen Seite. Dann kann sie das Selbstvertrauen mindern und lässt den Glauben an die eigene Stärke, Gelassenheit und Zuversicht schwinden. Angst kann also zum Motor von Entwicklung und persönlicher Entfaltung werden – sie kann aber auch Entwicklung verhindern und persönliche Entfaltung unmöglich machen. Das gilt für Erwachsene ebenso wie für Kinder.

Ein gewisses Ausmaß an Angst ist für jeden Menschen wichtig, doch stellt sich die Frage: Wie viel Angst braucht der Mensch? Wann kann man von einer wichtigen, schützenden, positiven Kraft sprechen – einer »guten« Angst – und wann kehrt sich diese Kraft ins Negative, verhindert gesundes seelisches Wachstum, behindert die Menschen, führt sie in die innere und äußere Einsamkeit und wird zu einer »schlechten« Angst?

Wenngleich das Thema Angst jedem auf die eine oder andere Weise vertraut und bekannt ist und Angsterlebnisse sich nur zu oft als bleibende Erinnerungen einprägen, tauchen angesichts vieler scheinbarer Widersprüche und Probleme bei der Angstbewältigung immer wieder Fragen auf: Was ist Angst denn eigentlich wirklich? Wie entsteht sie? Wie äußert sie sich? Wie kann man am besten mit der Angst zurechtkommen?

Grundsätzlich handelt es sich bei der Angst um ein Reaktionsmuster des Organismus, das biologisch verankert ist. Seine Funktion liegt darin, das »System Mensch« vor unterschiedlichen Bedrohungen zu warnen. Es stellt sowohl bei allen Säugetieren als auch beim Menschen einen wichtigen Bestandteil in der Auseinandersetzung mit den Anforderungen des Lebens dar und kommt dann zum Einsatz, wenn Situationen als bedrohlich und gefährlich eingeschätzt werden und keine geeignet erscheinenden Möglichkeiten zur Verfügung stehen, diese zu bewältigen. Die Angst lässt sich demnach auch als biologisches, seelisches und soziales Warnsystem begreifen, das immer dann aktiviert wird, wenn unser Körper, unsere Seele oder wichtige soziale Bezüge in Gefahr sind. Der Ort, an dem diese Reaktionen ausgelöst und gesteuert werden, liegt in einem sehr alten Teil des Nervensystems. Hier ist gleichsam die Schaltzentrale für die Gefühlsregung Angst. Während die Angstreaktionen beim Tier instinktiv gesteuert werden und sich in Bruchteilen von Sekunden entscheidet, ob beispielsweise der Gegner angegriffen oder die Flucht angetreten wird, laufen diese Prozesse beim Menschen viel differenzierter ab und sind nicht nur an instinktiv verankerte Verhaltensmuster gebunden. Bis zu einem gewissen Grad können wir uns also entscheiden, ob wir Angst haben »wollen« oder nicht, d. h. wir haben eine ganze Palette an Möglichkeiten, mit diesem Grundgefühl umzugehen.

Die menschliche Angst ist weit davon entfernt, nach einem Schwarz-Weiß-Muster zu agieren. Sie zeigt sich in vielen schillernden Gewändern und kann sich hinter verschiedenen Masken verbergen. Das macht es auch im Einzelfall so schwierig, die Angst von Menschen im Allgemeinen und von Kindern im Speziellen zu verstehen. Ganz unterschiedliche Ereignisse, Erfahrungen und Erlebnisse können dazu führen, dass sich Menschen fürchten und Angst haben. Da ist beispielsweise an die Fülle von äußeren Bedrohungen zu denken, denen wir immer wieder ausgesetzt sind und deren äußerste Steigerungen so gewaltige Ereignisse wie Umwelt- und Naturkatastrophen sind. Im persönlichen Bereich gibt es vielfältige Formen von Verlust und Trennung, Erfahrungen von Krankheit und damit verbundenen Veränderungen, Behinderungen oder Todesfällen, die Angst machen. Doch nicht immer sind die Auslöser für ängstliche Gefühle oder panische Empfindungen in beobachtbaren Ereignissen zu suchen. Die eigenen Gedanken und Vorstellungen können innere Bilder entwickeln, die häufig mindestens genauso bedrohlich sind wie die konkreten Fotoaufnahmen von eingestürzten Häusern oder entgleisten Zügen in den Fernsehnachrichten. Diese ängstlich getönte innere Erlebniswelt kann in Angstfantasien oder Angstträumen zur subjektiven Wirklichkeit werden.

Da Angst speziell dann auftritt, wenn eine Situation unklar und hinsichtlich ihrer Gefährlichkeit nicht eindeutig einzuschätzen ist, sind viele Lebensabschnitte potenziell Angst auslösend. Die einzelnen Entwicklungsschritte, die wir alle von der Kindheit über die Jugend, das Erwachsenwerden bis hin zum Alter gehen müssen, sind immer mit einer Fülle von Veränderungen verbunden. Ein Grundthema ist dabei das Loslassen, das Abschiednehmen und der Mut, den nächsten Schritt in eine noch unbekannte Zukunft zu wagen. Das macht Angst – verlangt aber auch nach einem gewissen »Mut zur Angst«, um mit den Entwicklungsaufgaben klar zu kommen. Lebensübergänge und Wendepunkte in der eigenen Lebensgeschichte, in denen Veränderungen den Menschen aus seiner gewohnten und Sicherheit gebenden Bahn werfen, können ebenso Angst auslösen, wie die vielen Veränderungen des Körpers über die Jahre hin oder hormonelle Umstellungen sowie Krankheiten und die Sorge über deren Folgen. Letztlich beunruhigt den Menschen die Angst und die Furcht, an Körper, Geist und Seele nicht unversehrt zu bleiben. Dies kann zu einer intensiven Auseinandersetzung mit den Grundwerten des eigenen Lebens führen und eine tiefere Sinnsuche einleiten.

Wesentliche Auslöser für Angst:

von außen einwirkende Bedrohungen,bedrohlich wirkende Vorstellungen, Fantasien und innere Bilder,körperliche Veränderungen (entwicklungs-, krankheits-, hormon- und stoffwechselbedingt),Veränderungen der Persönlichkeit (Wachstum, Differenzierung, Reifung).

Verschiedene Anzeichen für Angst

Wie kann man an sich oder bei anderen erkennen, dass Angst im Spiel ist? Schaut man auf das Wort »Angst« und verfolgt man die Spuren der Wortbedeutung bis hin zu seinen indogermanischen oder lateinischen Wurzeln – »anghu«, »angustia« –, wird vor allem die körperliche Ebene des Angsterlebens angesprochen. »Anghu« und »angustia« bedeuten »Enge«. Und es ist sehr oft diese Enge im Bereich des Brustkorbs, die uns in angstbesetzten Situationen zu schaffen macht. Mit einem Mal schnürt sich die Kehle zu, man hat das Gefühl, nicht mehr schlucken zu können; auch das Atmen wird schwer: Es bleibt einem die Luft weg! Die Veränderung in der Atmung vom Stocken bis hin zu sehr flachen Atemmustern ist ganz typisch in Situationen, die einem Menschen Schrecken, Furcht oder Angst einjagen. Doch dieses körperliche Zeichen ist nicht das einzige. Das menschliche Nervensystem stellt eine ganze Reihe von Reaktionen zur Verfügung, die zunächst dazu dienen sollen, Gefahrensignale als solche zu erkennen und darauf reagieren zu können: Der Blutdruck steigt, die Pupillen sind geweitet, der Puls rast, die Nackenhaare sträuben sich, man bekommt eine Gänsehaut und bricht in Schweiß aus, die Muskelspannung steigt und ein leises Zittern macht sich bemerkbar. Gefühle wie Hunger oder Durst versiegen, man bekommt einen trockenen Mund und kann keinen Bissen hinunterbekommen. Der ganze Körper wird in einen unangenehm erlebten Erregungszustand versetzt, der das Signal zum »Kampf« oder zur »Flucht« auslösen soll. Dies ist die körperliche Seite von Angstreaktionen.

Im seelischen Bereich bewirkt Angst ebenfalls einen Zustand erhöhter Erregung. Während bei geringem Angstpegel eine manchmal auch als lust#voll erlebte Steigerung der inneren Spannung zu beobachten ist, in der Wachsamkeit und Konzentrationsfähigkeit steigen, führen drastischere oder lang anhaltende Angstzustände zum Zusammenbruch der seelischen Kräfte. Die hohe seelische Spannung wirkt sich lähmend auf die Konzentration, das Denken und Handeln der Betroffenen aus. Häufig kommt es dann zu einer Art Negativspirale, wenn das Gefühl der Hilflosigkeit den Glauben an die eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten untergräbt und das Selbstvertrauen schwächt. So kann beispielsweise ein Mensch aus lauter Angst vor einer Prüfungssituation sich immer weniger konzentrieren, wobei die Wahrnehmung der schwindenden Fähigkeiten, klaren Kopf zu bewahren und sich auf die Situation einstellen zu können, selbst wiederum Panik auslöst und das Karussell negativer Gefühle beschleunigt. Schließlich kann das so weit führen, dass man sich nichts mehr zutraut, alles an andere abgeben möchte und in eine Situation angespannter Dauerängstlichkeit hineinschlittert, in der man vor lauter Angst überhaupt nicht mehr weiterweiß. Auch hier hat sich die »gute« Angst in eine »schlechte« Angst verwandelt und ihre Funktion als schützendes Warnsystem verloren.

Es ist nicht immer einfach, die Zeichen der Angst zu erkennen. Leicht ist es dann, wenn die körperlichen Begleiterscheinungen nicht zu übersehen sind. Wenn wir beispielsweise einem in Schweiß gebadeten Menschen begegnen, der heftig zittert und uns mit angstverzerrtem Gesicht anstarrt, dann liegt es nahe, an Angst, Furcht, Schrecken und Panik zu denken. Schwieriger wird es schon, wenn die seelischen Begleiterscheinungen von Angst in den Hintergrund rücken und von vielen anderen Gefühlen und Verhaltensweisen überlagert und geprägt werden. Am schwierigsten ist es jedoch, wenn sich die Angst hinter körperlichen Beschwerden versteckt – man spricht dann von psychosomatischen Reaktionsweisen. Seelische Zustände von Angst und Unsicherheit können sich z. B. in Bauchschmerzen, Atemnot, Appetitstörungen oder nächtlichem Einnässen niederschlagen. Das bedeutet nicht, dass jedes Bauchweh, jeder »Stich« in der Brustgegend oder jede Appetitschwankung als Zeichen von Angst gedeutet werden darf. Halten diese Zustände jedoch über längere Zeit an und sind körperliche Ursachen weitgehend auszuschließen, dann sollte an Angst als Auslöser der Beschwerden gedacht werden.

Ebenen der Angst:

körperliche Ebene (z. B. Zittern, Herzklopfen, Muskelanspannung, flache Atmung, Erregungszustand),kognitive Ebene (z. B. Gedanken, Bewertungen, Situationseinschätzungen, Erwartungen),Verhaltensebene (z. B. motorische Reaktionen wie Fliehen oder Kämpfen),Gefühlsebene (z. B. Hilflosigkeit, Ungewissheit, Haltverlust, Aktivierung angstverwandter Gefühle).

Angstsymbole

Was löst Angst aus? Situationen, Menschen, Gegenstände, Orte, Landschaften, Stimmen, Tiere – dies und noch viel mehr kann Angst auslösen. Nicht immer und nicht bei allen Menschen. Warum hat das eine Kind vor Hunden Angst, ein anderes vor dem Besuch bei der Tante und ein drittes scheint sich nicht einmal vor dem »Teufel« zu fürchten? Warum reagieren wir manchmal auf traurige Botschaften ruhig und gelassen, ein anderes Mal geraten wir bei ähnlichen Nachrichten fast in Panik? Allgemeingültige Antworten wird man darauf nicht finden können. So viel ist nur klar: Das Erleben von Angst hat immer mit Erfahrungen – individuellen oder kollektiven – zu tun und mit Erinnerungen an diese Erfahrungen. Oft werden diese Erinnerungen noch durch die Fantasie erweitert, ergänzt oder verzerrt. Neue Situationen und Konfrontationen werden immer auf dem Hintergrund schon gemachter Erfahrungen nach möglichen Anzeichen von Gefahr abgesucht. So bergen neue, noch nie da gewesene Erlebnisse für Menschen immer auch ein hohes Maß an Angst in sich – dies wird im Zusammenleben mit Kindern besonders deutlich. Neues, Fremdes und Unbekanntes muss erst vorsichtig abgetastet und ausgelotet werden, dabei spielen »Urreize« wie bestimmte Körperumrisse oder situative Merkmale der Enge, Höhe oder Unbegrenztheit eine Rolle.

In Bezug auf die sogenannten kollektiven Erfahrungen sind bestimmte Schlüsselmerkmale wesentlich, die uns Menschen das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit oder aber von Bedrohung und Gefahr vermitteln. Es sind bestimmte Symbole, die seit Menschengedenken für Angst stehen und die in ihrer Symbolsprache Botschaften an uns vermitteln. Die kollektiven Angstsymbole machen sehr deutlich, dass in jeder kleinen Angst auch eine Spur jener großen Angst aller Menschen vor dem Tod steckt. Die Angst vor dem Tod kann so groß sein, dass sie wie ein lähmendes Gift durch die Gedanken und Gefühle der Menschen zieht und zu einer Angst vor dem Leben führt. Welche Angstsymbole kann man auch als kollektive Angstsymbole sehen? Die meisten Arbeiten zu Menschheitssymbolen stehen in der Tradition der psychoanalytischen Schulen – allen voran der Arbeiten von S. Freud (1856–1939) und C. G. Jung (1875–1961).

Aus der Fülle von Angstsymbolen hier ein paar Beispiele:

Kaum ein Tier löst so heftige Reaktionen aus wie Schlangen – auch wenn sie keine Giftschlangen sind, ja selbst wenn es sich um harmlose Blindschleichen handelt, die gar keine Schlangen sind. Auf der Verstandesebene wird oft mit der Gefährlichkeit ihres tödlichen Bisses argumentiert. Doch das, was im Innersten unserer Seele Angst auslöst, das ist die Symbolkraft der Schlange, die uns an das Totenreich, an die letzte uns allen bevorstehende Wandlung hin zum Tod mahnt. Als Sinnbild des Lebens steht sie für Erneuerung und »Häutung«, als Symbol des Todes steht sie für Verwandlung. In dieser Verbindung zwischen »Tiefstem«, im Staub Kriechendem, und »Höchstem«, sich aus der Enge der eigenen Begrenztheit Befreiendem, liegt das Besondere, das in allen Kulturen und allen Generationen Bewunderung, aber auch Furcht ausgelöst, zu künstlerischem Schaffen angeregt und intellektuelle Anregung geliefert hat.

Auch die Dunkelheit – ob nun in Form der Nacht oder von dunklen Gewässern – steht mit der Angst vor dem Tod in Verbindung. Die Undurchsichtigkeit der Nacht symbolisiert alles Unheimliche, Nicht-Durchschaubare und Fremde. Die Schwärze der Nacht steht stellvertretend für unsere Schattenseite, für das Dunkle in uns selbst, vor dem wir Angst haben und das wir lieber nicht so genau ansehen wollen. Hinter dem Schleier der Dunkelheit kann vieles von uns selbst und von anderen verborgen sein aber auch verborgen werden.

Schließlich sei noch das Symbol der Höhe genannt, das ebenfalls mit der Unsicherheit des Lebens zu tun hat, einem Leben, das über Erfolgs- und Glücksmomente schlussendlich doch in den Abgrund, in den eigenen Tod führt. Dieser drohende, durch nichts und niemanden aufzuhaltende Sturz ins Bodenlose, ins Unbekannte des Todes symbolisiert die Höhe – die uns fasziniert, abstößt und uns immer wieder deutlich vor Augen führt, wie wichtig es ist, gut verwurzelt im Leben zu stehen.

Typische Angstsymbole sind:

SchlangenDunkelheitHöhe

Abbildung 1: Ein Gesicht der Angst

2. Vom Säugling zum Schulkind: Ängste im Verlauf der Entwicklung

Im Leben von Kindern und im Zusammenleben mit Kindern spielen ganz verschiedene Ängste eine Rolle. Sie hängen zum einen mit dem Alter der Kinder und dem jeweiligen Entwicklungsstand zusammen, zum anderen sind sie immer auch Ausdruck ganz persönlicher Wahrnehmungen der Umwelt und der gelebten Beziehungen. Die Angst von Kindern kann ganz unterschiedliche Formen annehmen und ist nicht immer auf den ersten Blick auch tatsächlich als Angst zu verstehen. Und so sind auch die Fragen, die Eltern beschäftigen, sehr verschieden:

»Warum weint mein Kind immer, wenn ich aus dem Haus gehe?«»Warum fürchtet sich Anna vor dem Nachbarjungen?«»Wie kommt es, dass Daniel einfach nicht einschlafen kann?«»Was soll ich nur machen, Maja will nicht im Kindergarten bleiben?«»Hans ist nicht vom Fernseher wegzubekommen und dann kommt er jede Nacht weinend in unser Bett …?«»Katrin hängt wie eine Klette an mir, seit Oma gestorben ist – was soll ich nur tun?«

Eltern wollen Antworten auf die vielen Fragen haben, die im Laufe des Heranwachsens ihrer Kinder entstehen. Und sie wollen Unterstützung, Rat und Beistand. Für viele Mütter und Väter ist es ist belastend und stimmt sie selbst traurig, dass sie ihren Kindern kein Leben ohne Angst bieten können. Manche fühlen sich schuldig, haben ein schlechtes Gewissen oder fühlen sich in ihrer Elternrolle als Versager. Das belastet ihre Beziehung zu den Kindern, aber auch ihr Verhältnis zueinander. Manchmal wird es den einen oder anderen hilfreichen Tipp, die eine oder andere wegweisende Einsicht im Umgang mit kindlichen Ängsten geben – doch bei allen Bemühungen, sein Kind gut ins Leben zu begleiten, muss man sich im Klaren sein, dass es ein Leben ohne Angst nicht gibt und auch nicht geben soll. Im vorangehenden Kapitel wurde bereits dargestellt, dass die Angst einerseits eine wichtige Schutzfunktion hat, andererseits auch zu einem entscheidenden Motor in der Entwicklung des Kindes – und der Erwachsenen – werden kann. Dies wird besonders deutlich, wenn man auf die Anfänge kindlichen Lebens schaut und beobachtet, wie sich das Gefühl Angst bei einem kleinen Kind zeigt, welche Formen es annimmt und in welchen Zusammenhängen es sich zeigt. Nicht zu vergessen sind auch die Reaktionen der begleitenden Erwachsenen, die dazu beitragen können, dass sich das Gefühl Angst in eine Kraft verwandelt, die immer häufiger zum Motor für positive Veränderung und Neuorientierung wird und gleichzeitig ihre angemessene Rolle als warnendes Signal beibehalten kann.

Das Unbehagen des Säuglings als Vorläufer der Angst

Macht man sich auf die Suche nach den Anfängen der Angst im Leben eines kleinen Kindes, muss man weit zurückgehen und sich die Situation eines Neugeborenen vor Augen halten. Wenn die Kinder geboren werden, dann sind sie ganz auf die Hilfe von Menschen angewiesen, die sie betreuen und für sie sorgen. Sie brauchen Liebe, Zuwendung, Geborgenheit und die Sicherheit, dass ihre Bedürfnisse wahrgenommen und gestillt werden. Anstelle der Nabelschnur, die für eine optimale Versorgung des Kindes in der Gebärmutter zuständig war, muss das Band der Liebe zwischen Mutter und Kind treten, das nach und nach durch die Beziehung zum Vater und anderen Menschen erweitert, ergänzt und bereichert wird. Der Körper des kleinen Kindes ist ganz auf »Aufnahme« gerichtet, und die konkrete Umwelt stellt mit Geräuschen, Licht, Temperatur und Düften eine einzigartige Erfahrungsquelle dar. Alle Signale aus der Umwelt kommen als Reize beim Kind an und müssen verarbeitet werden. Zuständig für die Verarbeitung ist das Nervensystem des Kindes, das durch die Fülle an Eindrücken viel zu tun bekommt und dadurch in seiner Entwicklung auch angeregt wird. Es ist nicht leicht für so einen kleinen und an die Bedingungen des Lebens außerhalb des schützenden Mutterleibes noch wenig gewöhnten Organismus, mit der Fülle an Eindrücken und Informationen richtig umzugehen: da ist es plötzlich laut und ein kalter Windhauch streift die Haut, dann wieder hallen schrille Töne durch den Raum und Nässe löst unangenehme Gefühle aus …

In den ersten Wochen ist das Kind noch gleichsam eingehüllt in einen Schutzmantel, der es vor allzu großer Überreizung bewahrt. Nach und nach wird dieser passive Schutz abgelöst durch Möglichkeiten des Kindes, sich selbst vor Überreizung zu schützen – etwa ab dem dritten Monat dreht es in diesem Fall schon seinen Kopf zur Seite, wird quengelig oder ist besonders anlehnungsbedürftig. Gerade in den Zeiten des Übergangs von einem passiven zu einem aktiven Schutz gegenüber den Reizen aus der Umgebung ist es wichtig, alle Anregungen gut auf die Fähigkeiten des Kindes abzustimmen und selbst Ruhe zu vermitteln. Auch körperliche Nähe tut gut. Die Reizvielfalt ist für ein kleines Kind sehr groß, und nicht immer gelingt es den einzelnen Systemen des kindlichen Organismus, alles zu verarbeiten. Wenn dies der Fall ist, dann kann kurzfristig kein Ausgleich zwischen Erregung und notweniger Dämpfung stattfinden und die Erregung nimmt überhand. Es ist in diesem Zusammenhang noch nicht von Angst zu sprechen, die das kleine Kind erfährt, doch viele Empfindungen sind deutlich negativ gefärbt und mit Unbehagen verbunden. Die enge Bindung an Menschen, die das Kind beruhigen und ihm Gelegenheit geben, selbst das Ausmaß an Anregung und Stimulation mitzubestimmen, schafft Vertrauen und bringt dem Kind die nötige Ruhe. Langsam kann es sich nicht nur an die typischen Reize seiner Umgebung gewöhnen, sondern auch an das Verhalten der Menschen, die es umsorgen. Ein rascher Wechsel in der Art der Betreuung oder der plötzliche Verlust von Zuwendung löst unangenehme, angstähnliche Empfindungen und Gefühle aus.

Fremdes und Unbekanntes macht dem Kind Angst

Entscheidend für die Entstehung und Entwicklung unterschiedlicher kindlicher Ängste ist die Zeit zwischen dem 6. und dem 24. Monat. Es ist die Zeit, in der das Thema Trennung und Fremdsein eine zentrale Rolle im Kinderleben spielt. Zunächst trifft das Kind eine ganz wichtige Unterscheidung – es kann irgendwann um die Mitte des ersten Lebensjahres zwischen Ich und Du unterscheiden. Das ist eine ganz gewaltige Entdeckung, denn in den ersten Wochen und Monaten war die Welt für die Kinder noch ein »einziges Großes Ich«. Nach und nach kann das Kind zwischen unterschiedlichen Menschen unterscheiden und trifft feine Abstufungen zwischen »fremd« und »vertraut«, zwischen bekanntem Verhalten und unbekannten Aktionen. Die Steigerung dieser zunehmenden Unterscheidungsfähigkeit wird auch als »Fremdeln« oder 8-Monats-Angst bezeichnet.

Wenngleich einige Kinder tatsächlich mit ängstlichem Verhalten auf fremde Menschen oder neue Situationen reagieren, so steht weniger die Angst im Vordergrund, sondern vielmehr die Fähigkeit, zwischen Vertrautem und Fremdem zu unterscheiden. Manchmal kann es schon eine markante Veränderung bei einem vertrauten Menschen sein, die dieses ängstlich neugierige Erstaunen auslöst: eine neue Frisur der Mutter, ein breitkrempiger Hut des Vaters, ein buntes Kopftuch der Oma … Das menschliche Gesicht und die Umrisse des Kopfes prägen sich dem Kind früh sehr tief ein. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass Veränderungen rund um diese gut eingeprägten und lieb gewonnenen Merkmale geliebter und vertrauter Menschen mit Erstaunen bis Angst aufgenommen werden. Auch Veränderungen in der gewohnten Geräuschkulisse – Stimmlage, Lautstärke – können das Kind verunsichern.

Besonders sichtbar wird die Fähigkeit des Kindes, zwischen Bekanntem und Unbekanntem zu unterscheiden, wenn fremde Menschen in seine Welt treten, zum Beispiel eine neue Nachbarin, ein zufällig vorbeikommender Passant oder ein alter Schulfreund des Vaters, der erstmals nach vielen Jahren wieder zu Besuch kommt. Diese Begegnungen versetzen das Kind in eine Spannung und innere Alarmbereitschaft. Hier wird es jetzt ganz besonders vom Verhalten der Mutter, des Vaters oder eines anderen bekannten und vertrauten Begleiters abhängen, ob das Kind eher seiner Angst oder seiner Neugierde nachgibt, denn schließlich sind die neuen Menschen ja auch spannend und interessant! Das Kind fährt alle seine »Antennen« aus, um an der Körperhaltung, der Stimme, dem Gesichtsausdruck und vielen anderen kleinen Signalen der vertrauten Personen Hinweise auf eine potenzielle Gefahr oder auf »Entwarnung« zu bekommen. Das Verhalten der sogenannten Bezugspersonen ist das Zünglein an der Waage, wenn es darum geht, ob das Kind seiner Angst oder seiner Neugierde nachgeben soll. Hier wird wiederum deutlich, wie sehr frühe Angsterfahrungen im sozialen Zusammenhang zu sehen sind.

Was hilft gegen die Angst?

Kinder fühlen sich sicherer und werden eher neugierig auf andere zugehen, wenn sie selbst mitbestimmten können, wie rasch und wie nah ein fremder Mensch auf sie zukommen kann. Respekt vor der Grenze des Kindes ist wichtig! Man sollte bereits kleinen Kindern keinen Kontakt, keine Berührung aufzwingen. Die Eltern sollten ihre eigene Haltung gegenüber »Fremden« überprüfen, um zu vermeiden, dass unbewusste Haltungen und Einstellungen eins zu eins auf das Kind übergehen. In jeder Situation, in der viele neue Eindrücke auf das Kind einstürmen – seien es neue Menschen, neue Situationen, neue Gegenden – ist es gut, wenn das Kind einen sicheren »Heimathafen« hat, bei dem es Schutz und Geborgenheit erfahren kann. Manchmal müssen aber auch Menschen aus dem engen Familienkreis gleichsam neu entdeckt werden, wie das Beispiel des kleinen Gregor zeigt:

Gregor, ein kleiner Junge von knapp einem Jahr, lebt mit seinen Eltern in einer Siedlung am Stadtrand. Seit der Geburt ihres Sohnes ist Frau R. nicht mehr berufstätig. Herr R. ist beruflich viel unterwegs und kommt oft für längere Zeit nicht nach Hause. Die Kontakte von Frau R. zu anderen Müttern sind sehr spärlich und sie geht ganz in der Betreuung des Kindes auf. Mit Sorge bemerkt sie, dass Gregor mit einem Mal nicht mehr so freudig auf das Wiedersehen mit seinem Vater reagiert – ganz im Gegenteil: Als Herr R. nach einer längeren Abwesenheit nach Hause kommt, schmiegt sich Gregor ängstlich an die Mutter, drückt sein Gesichtchen fest an ihre Hand und will sich von seinem Vater nicht hochheben lassen. Erst nach etlichen Stunden am Arm der Mutter lässt sich Gregor auf die Spielangebote des Vaters ein. Frau R. scheint es fast, als müsse ihr Sohn den Vater wieder neu entdecken.

Fortgehen und Wiederkommen: Kleinkindliche Trennungsängste

Bald schon ist das Kind der kleinen überschaubaren Welt des Säuglings entwachsen. Mit der Unterscheidung zwischen Ich und Du kann das Kind Trennungen erstmals bewusst erleben, und die Möglichkeiten, sich aus eigener Kraft fortzubewegen, führen zu vielen kleinen und großen Entdeckungsreisen. Langsam setzt auch ein spielerischer Umgang mit dem Fortgehen und Wiederkommen ein: Kinder krabbeln weg – und kommen zurück; Kinder verstecken sich hinter der Tür – und schauen wieder hervor; Kinder ziehen eine Mütze über den Kopf – und nehmen sie wieder ab. Das Alter der »Guck-Guck-Da!-Spiele« ist für das Selbstständigwerden der Kinder enorm wichtig. Schritt für Schritt erobern sie sich ihre Welt. Damit dies alles problemlos möglich ist, muss es einen Ort der Sicherheit und der Beständigkeit geben. Für diese Zeit der »Welteroberung«, in der das Kind Tag für Tag aufbricht, um sich in »gefährliche Abenteuer« zu stürzen, Angst und Freude erlebt, vor dem Fremden zurückschrickt und sich ihm doch lustvoll neugierig nähert, braucht es die Mutter oder einen anderen verlässlichen Begleiter.

Ein Kind auf seiner Entdeckungsreise gut und unterstützend zu begleiten ist eine spezielle Herausforderung, die viel Einfühlungsvermögen und Verständnis für die Kinderwelt braucht. Es geht darum, ein richtiges Maß an Schutz auf der einen und Ermutigung auf der anderen Seite zu finden. Wie ein versierter Steuermann gilt es, gefährliche Klippen zu umschiffen, sichere Gewässer im Auge zu behalten, sich auf Neues einzulassen und bei all dem das Steuer nicht aus der Hand zu geben. Es geht um eine Begleitung der kindlichen Eroberungszüge unter einem wohlwollenden und fürsorglich wachsamen Auge bei gleichzeitiger Freude an den immer klarer zu Tage tretenden Selbstständigkeits- und Autonomiebestrebungen des Kindes. Beim Spiel mit dem Weglaufen und Wiederkommen lotet das Kind erstmals aus eigener Kraft wohltuende Nähe und notwendige Distanz aus, wobei ihm der Blickkontakt zur Mutter oder einer anderen vertrauten Person hilft, sich zu orientieren und die körperliche Distanz besser zu verkraften. Später kommt dann das Rufen und Fragen hinzu und hilft, auch weitere Entfernungen zu überbrücken. Der fragende Ruf »Mama!?« und die immer wiederkehrende Antwort »Ja, ich bin da!« bilden gleichsam ein Sicherheitsnetz, das ein Kind vor einem Absturz in den Abgrund des Alleinseins schützt.