Der Liberalismus gegen sich selbst - Samuel Moyn - E-Book

Der Liberalismus gegen sich selbst E-Book

Samuel Moyn

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Beschreibung

Mitte des 20. Jahrhunderts blickten viele Liberale missmutig auf die Welt der Moderne mit ihren verheerenden Kriegen, mörderischen Totalitarismen und der Atomkriegsgefahr. Sie kamen zu dem Schluss, dass die Ideale der Aufklärung Teil des Problems sind, nicht Teil der Lösung. Der amerikanische Historiker Samuel Moyn zeigt in diesem fesselnden Buch, das in der angelsächsischen Welt eine intensive Debatte ausgelöst hat, wie führende Intellektuelle in der Ära des Kalten Krieges den Liberalismus daraufhin transformierten und uns dadurch ein katastrophales Erbe hinterließen.

Feinsinnig und zugleich polemisch zeichnet Moyn nach, wie Hannah Arendt, Isaiah Berlin, Gertrude Himmelfarb, Karl Popper, Judith Shklar und Lionel Trilling den moralischen Kern der Aufklärung zugunsten einer Philosophie preisgaben, die sich einzig und allein um die Bewahrung der individuellen Freiheit dreht. Indem er diese Haltung sowie die jüngste Nostalgie für den Liberalismus des Kalten Krieges zwecks Verteidigung des Westens als moralisch entkernt, ja als gefährlich freilegt, weist Moyn zugleich einer neuen emanzipatorischen und egalitären liberalen Philosophie den Weg. Denn der Schaden jener Epoche muss repariert, das Überleben des Liberalismus muss gesichert werden.

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Seitenzahl: 408

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Cover

Titel

3Samuel Moyn

Der Liberalismus gegen sich selbst

Intellektuelle im Kalten Krieg und die Entstehung der Gegenwart

Aus dem Englischen von Christine Pries

Suhrkamp

Impressum

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Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel Liberalism Against Itself. Cold War Intellectuals and the Making of Our Times bei Yale University Press.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2024.

© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024 © 2023 by Samuel Moyn

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg, unter Verwendung des Originalumschlags von Yale University Press

eISBN 978-3-518-78062-6

www.suhrkamp.de

Widmung

5Für Gerald N. Izenburg und Martin Jay, durch die ich all dies kennengelernt habe

Motto

6Jedes Zeitalter schreibt bekanntlich die Geschichte für seine eigenen Zwecke neu, und die politische Ideengeschichte bildet keine Ausnahme von dieser Regel.

Wie genau solche Perspektivenwechsel aussehen, muss allerdings untersucht werden.

Denn ihre Erforschung kann nicht nur zum Verständnis der Vergangenheit beitragen, sondern auch zu einem besseren Verständnis unserer eigenen intellektuellen Situation führen.

Judith N. Shklar, 1959

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Motto

Inhalt

Einleitung

1

Gegen die Aufklärung: Judith Shklar

2

Romantik und gutes Leben:

Isaiah Berlin

3

Die Schrecken der Geschichte und des Fortschritts:

Karl Popper

4

Jüdisches Christentum:

Gertrude Himmelfarb

5

Weiße Freiheit:

Hannah Arendt

6

Dem Ich eine Festung bauen:

Lionel Trilling

Epilog Warum der Kalte-Krieg-Liberalismus immer wieder scheitert

Dank

Anmerkungen

Bildnachweise

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Informationen zum Buch

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Einleitung

Der Kalte-Krieg-Liberalismus war eine Katastrophe – für den Liberalismus.

Als er zeitgleich mit dem Kalten Krieg selbst in den 1940er und 1950er Jahren erstmals in Erscheinung trat, bestimmte er die neue Position des Liberalismus dadurch, dass er seinen Grundsätzen die Gestalt eines bedrängten, aber hehren Credos gab, das die freie Welt im Kampf gegen ein totalitäres Imperium aufrechterhalten müsse. Für seine Verfechter:innen stellten die ersten Jahre des Kalte-Krieg-Liberalismus eine Reaktion auf bittere Erfahrungen dar. In einer gefährlichen Welt voller Grausamkeiten, Torheit, Leidenschaft, Sündhaftigkeit und Bedrohungen schien ein ausdrückliches Bekenntnis zur Befreiung von staatlichen Exzessen in einem Zeitalter der Tyrannei einen Anflug von Weisheit zu bergen. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten in ganz Europa ausgemachte Reaktionäre triumphiert, was bewies, dass der Liberalismus sterben kann. Und Revolutionäre, die sich anschickten, den Faschismus im Namen einer über den Liberalismus hinausgehenden Gerechtigkeit zu bekämpfen, würden großes Unheil anrichten, weil sie zu viele Menschen für die terroristische Bedeutung von »Fortschritt« blind machten und andere davon überzeugt sein ließen, dass utopische Versprechungen mittlerweile hauptsächlich als Entschuldigung für teuflisches Verbrechertum fungierten.

Das Schlagwort vom »Kalte-Krieg-Liberalismus« wurde in 10den 1960er Jahren als Epitheton von dessen Feinden geprägt, die ihm seine innenpolitischen Kompromisse und außenpolitischen Fehler vorwarfen. Doch in den letzten 50Jahren ist es rehabilitiert worden und hat die Rahmenbedingungen für eine liberale Perspektive festgelegt. Als die krisenhaften Jahre des Kampfes um Bürgerrechte und des Vietnamkriegs vorüber waren, ermächtigten die Prinzipien des Kalte-Krieg-Liberalismus dazu, die Entspannungspolitik zwischen West und Ost hinter sich zu lassen und die Sowjetunion von neuem in eine bewaffnete Auseinandersetzung hineinzuziehen. Nach dem bipolaren Konflikt, der dem Kalte-Krieg-Liberalismus seinen Namen gab, schien das »Ende der Geschichte« seinen Ansatz einer Vorrangstellung der Freiheit in einer bedrohlichen Welt nachträglich zu rechtfertigen. Dieses Gütesiegel wurde nach dem 11. September 2001 erneuert, als es galt, den »tapferen Kampf« gegen die globalen Feinde des Liberalismus mit vereinten Kräften zu führen. Angesichts von Feinden nicht nur im Aus-, sondern auch im Inland ist die Furcht vor dem Umkippen von Freiheit in Tyrannei, die sein Markenzeichen bildet, zu neuem Leben erweckt worden, um Demokratien zu unterstützen, die fortwährend am Abgrund zu stehen scheinen und zu ihrer Verteidigung moralische Klarheit benötigen.

Die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten hat eine erbitterte Schlacht – oder zumindest eine Polemik – um den Liberalismus entfacht, die Gelegenheit zur neuerlichen Inthronisierung des Kalte-Krieg-Liberalismus bot. Patrick Deneens vieldiskutierter Attacke Warum der Liberalismus gescheitert ist schlug eine Unmenge von liberalen Selbstrechtfertigungen entgegen, die explizit oder implizit fast alle die Sprache des Kalten Krieges sprachen. Diese genauso gegen die Linke wie gegen die Rechte gerichteten Rechtfertigungen klangen nicht nur hohl, sie wendeten die politische Krise, 11die sie zu überwinden versprachen, auch nicht ab. Dennoch wirkte es so, als ob man trotz der vielen Alternativen in der Geschichte des Liberalismus zwischen dem Kalte-Krieg-Liberalismus und einer reaktionären oder revolutionären Nachfolgeordnung wählen müsste. Die Debatte trug keineswegs dazu bei, dass Liberale an Selbstvertrauen gewannen, sondern verschlimmerte ihr Unbehagen und verstärkte ihr Gefühl eines unmittelbar drohenden Vernichtungsschlags und Debakels.

Was inmitten der Behauptungen und Gegenbehauptungen unterging, war das Ausmaß, in dem der Kalte-Krieg-Liberalismus dem Liberalismus als solchem untreu geworden war. In Gestalt einer Überprüfung seiner Hauptdenker:innen lotet dieses Buch einige Dimensionen dieser Untreue aus. Das Wichtigste an der politischen Theorie des Kalte-Krieg-Liberalismus ist, wie gründlich sie mit dem Liberalismus gebrochen hat, den sie vorfand. Daraus folgt, dass es liberale Ressourcen gibt, mit deren Hilfe die Grenzen des Kalte-Krieg-Liberalismus überwunden werden können, die jeden Tag deutlicher werden.

Dabei ist es nicht so, dass es Formen des Liberalismus von vor dem Kalten Krieg gäbe, die man wiederbeleben könnte. Fürs Lebenlernen sind Friedhöfe keine besonders geeigneten Orte. Vor dem Kalten Krieg diente der Liberalismus weitgehend zur Rechtfertigung eines wirtschaftspolitischen Laissez-faire. Außerdem war er auf der ganzen Welt in imperialistische Expansion und rassistische Hierarchien verstrickt. Das heißt jedoch nicht, dass er keine Alternativen zum Kalte-Krieg-Liberalismus für diejenigen bereithält, die nach der von der Moderne verheißenen freien Gemeinschaft von Gleichen streben.

Bei vielen der zentralen Merkmale des Liberalismus von vor dem Kalten Krieg – vor allem bei seinem Perfektionis12mus und seinem Progressivismus – lohnt sich ein zweiter Blick. Der Perfektionismus gibt ein kontroverses öffentliches Bekenntnis zum guten Leben ab. Entgegen der Vorstellung, dass der Liberalismus unter den konkurrierenden Glaubensrichtungen eine neutrale Position einnimmt, rieten viele Liberale vor dem Kalten Krieg zu kreativem Handeln und zur Befähigung zu Handlungsfreiheit als höchsten Werten für Einzelpersonen, Gruppen und die Menschheit. Der Progressivismus wiederum sieht die Geschichte als ein Forum der Möglichkeiten zum Erlangen und Ausüben einer solchen kreativen Handlungsfähigkeit in der Welt. (Die intellektuelle Sünde, die der Kalte-Krieg-Liberale Karl Popper als »Historizismus« titulierte und welche die Geschichte so behandelt, als gehorche sie gesetzesähnlichen Prozessen, ist eine Version des Progressivismus – die allerdings von der Norm abweicht.) Ebenso wichtig ist, dass Liberale im gesamten 19. Jahrhundert gezwungen waren, das Aufkommen demokratischer Selbststeuerung zu akzeptieren. Sie sahen ein, dass die praktischen Verbindungen zwischen Liberalismus und Marktfreiheit generalüberholt werden mussten. Vor dem Kalte-Krieg-Liberalismus trugen die Bemühungen, sich solchen Herausforderungen zu stellen, letztendlich zur Glaubwürdigkeit des allgemeinen Wahlrechts und Mitte des 20. Jahrhunderts zur Vorstellbarkeit des Wohlfahrtsstaats bei.

Dies alles änderte sich durch den Kalte-Krieg-Liberalismus. Die – in dem intellektuellen Aufbruch des 18. Jahrhunderts, der unter dem Namen Aufklärung bekannt ist, wurzelnde – Beziehung des Liberalismus zu Emanzipation und Vernunft bekam im Kalten Krieg Risse. Hoffnungsvolle Erwartungen wurden jetzt als naiv empfunden und das Streben nach universeller Freiheit und Gleichheit als Vorwand für Unterdrückung und Gewalt angeprangert. In Reaktion darauf war 13die Art von Theorie, die von den Vertreter:innen des Kalte-Krieg-Liberalismus in den 1940er und 1950er Jahren erfunden wurde, keineswegs emanzipatorisch, vielmehr pochte sie auf die strikte Beschränkung der menschlichen Möglichkeiten. Der Glaube an ein emanzipiertes Leben sei, wenn nicht vorsätzlich, so doch faktisch, protototalitär. Politische Unterdrückung werde immer wieder durch historische Erwartungen gerechtfertigt. Am wichtigsten sei der Erhalt der bestehenden Freiheiten in einem Tal der Tränen; sie seien brüchig und zerbrechlich und immer kurz davor, verletzt zu werden oder in sich zusammenzufallen. Wo Liberale sich früher zu einer wenn auch zögerlichen und oftmals zähneknirschenden Akzeptanz der Demokratisierung durchgerungen hatten, verabscheuten die Vertreter:innen des Kalte-Krieg-Liberalismus jede Massenpolitik – einschließlich der Massendemokratie.

Und wo der liberale Imperialismus des 19. Jahrhunderts zumindest versprochen hatte, weltweit für die Verbreitung von Freiheit und Gleichheit zu sorgen, gab der frühe Kalte-Krieg-Liberalismus alle globalen Absichten auf, um in einer Welt der Tyrannei den Westen als Fluchtburg für die Freiheit zu erhalten. Als die Völker der Erde sich nach dem Ende der formalen Imperialherrschaft (einschließlich Amerikas philippinischer Besitztümer) aus der direkten Kontrolle transatlantischer Liberaler befreiten, bedrohte der Kommunismus nicht nur Europa, sondern auch die neuen Staaten der postimperialen Welt. Die Liberalen haben bis heute nicht herausgefunden, wie Freiheit sich ohne ein Imperium verbreiten lässt. Die völlig verlorenen Vertreter:innen des Kalte-Krieg-Liberalismus rieten dazu, es gar nicht erst zu versuchen.

Auf die frühere Forderung, dass der Liberalismus um der eigenen Glaubwürdigkeit willen über Grenzen hinausdrän14gen solle, entgegneten die Vertreter:innen des Kalte-Krieg-Liberalismus, der Wunsch nach mehr Emanzipation würde eher zu Versklavung führen. Sie warnten davor, die individuelle Befreiung vom Staat gegen eine versponnene und terroristische »Selbstverwirklichung« durch kollektiven politischen Wandel einzutauschen.

Mitunter räumten die Vertreter:innen des Kalte-Krieg-Liberalismus ein, dass für Freiheit irgendeine Art von gesellschaftlicher und politischer Gleichstellung erforderlich sein könnte. Doch sie traten keineswegs für größere Gleichheit in den Lebensbedingungen ein, um solch eine Gleichstellung glaubhaft zu machen und Wirklichkeit werden zu lassen, sondern behaupteten, Freiheit stände vor dem Untergang, wenn Rufe nach ökonomischer Fairness die Oberhand gewönnen. Die Armen in der Heimat und vor allem weltweit hätten lieber Brot als eine Wahl und seien bereit, die Freiheit fahren zu lassen, wenn man sie nicht sorgfältig im Auge behielte. Der Staat sei keineswegs ein Hilfsmittel für menschliche Befreiung, wie die Liberalen vor dem Kalten Krieg gedacht hätten, sondern müsse in Schach gehalten werden, damit er die Freiheiten der Privatsphäre nicht mit Füßen trete, auch wenn dies häufig ein Euphemismus für wirtschaftliche Transaktionen gewesen war.

Die Zukunft wurde ebenso aufgekündigt. Die einst von Liberalen als Forum der Möglichkeiten angesehene Geschichte wurde von jenen Theoretiker:innen mit Skepsis betrachtet, die befürchteten, große Erwartungen könnten Verbrechen rechtfertigen: Die Vorstellung von zunehmender und wachsender Freiheit erwiese sich als kaum mehr denn eine Rationalisierung ihrer heutigen Auslöschung. Mit seiner rivalisierenden Vision einer freien und gleichen Zukunft war einstmals sogar der Marxismus ein Anstoß für Liberale gewe15sen, ihre historische Selbstgefälligkeit in Frage zu stellen, um die Rationalisierung neuer Formen der Marktbeherrschung zu vermeiden. Als sie den Marxismus hart angingen, haben die Vorwürfe der Vertreter:innen des Kalte-Krieg-Liberalismus die Zukunft gleich mit vom Tisch gefegt.

Der Liberalismus war nun nicht länger eine Kraft, die einen Plan zur Hervorbringung einer besseren und erfüllteren Menschheit vorantreibt, sondern er musste als ein elementares und immerwährendes Prinzipienpaket verteidigt werden, das den Verzicht auf »Fortschritt« verlangte. Die Natur des Menschen sei düster und aggressiv und mache Selbststeuerung erforderlich. Viele Vertreter:innen des Kalte-Krieg-Liberalismus überwanden ihre vormalige feindliche Einstellung zur Religion und spannten den Liberalismus sowohl mit der Erbsünde als auch mit seelischer Grausamkeit zusammen. Gefallene Kreaturen müssten sich ihre lasterhaften Tendenzen eingestehen, meinten sie. Freiheit ließe sich nur durch die Preisgabe von Hoffnung und die Konfrontation mit Verfehlungen am Leben erhalten.

Und über all diese Einschränkungen hinaus beschwor der Kalte-Krieg-Liberalismus außerdem Nachfolgebewegungen herauf, die unsere Zeit auf noch restriktivere Weise bestimmt haben: Neoliberalismus und Neokonservatismus. Wie bei einer mythologischen Figur, welche die Götter erzürnt hat und deshalb dazu verdammt ist, Monster zu gebären, lohnt es sich, den Kalte-Krieg-Liberalismus sowohl als solchen als auch daraufhin zu untersuchen, was auf ihn folgte.

Wenn man die Vertreter:innen des Kalte-Krieg-Liberalismus liest, fällt auf, wie nah sie von Anfang an dem Neoliberalismus kamen, den Friedrich Hayek und andere in denselben Jahrzehnten entwickelt haben. Doch sollte niemand die Vorstellung erwecken, der Kalte-Krieg-Liberalismus und 16der Neoliberalismus seien ein und dasselbe; beide Seiten erkannten die Unterschiede, die sie voneinander trennten. Der Kalte-Krieg-Liberalismus reifte im Umfeld des egalitärsten und emanzipatorischsten Staates heran, den Liberale je errichtet haben, auch wenn sie es versäumten, theoretisch für ihn einzutreten, was ihn heute angreifbar und verletzlich macht. Und wo den Vertreter:innen des Kalte-Krieg-Liberalismus angelastet werden kann, dass sie es versäumt haben, für den Wohlfahrtsstaat einzutreten, waren sie sich mit den Neoliberalen darin einig, die Moderne als protototalitär zu geißeln, die Aufklärung wie eine rationalistische Utopie zu behandeln, die Terror herbeiführte, und den emanzipatorischen Staat wie einen Euphemismus für Schreckensherrschaft. Kein Wunder, dass das, was mit diesem Gedankengebäude assoziiert wurde, genauso wie das, worüber es sich ausschwieg, unabhängig von den Absichten derer, die es errichteten, zur Weichenstellung für eine spätere Zeit beitrug.

Manche Vertreter:innen des Kalte-Krieg-Liberalismus machten sich die Religion als unverzichtbares Bollwerk gegen aufklärerischen Optimismus zu eigen und bereiteten so der späteren neokonservativen Bewegung den Weg. Dieses Buch schenkt Gertrude Himmelfarb als einer Vorreiterin des Kalte-Krieg-Liberalismus besondere Aufmerksamkeit, die wie Hayek versuchte, wieder Interesse am deutsch-englischen, katholischen Freiheitshistoriker Lord Acton zu wecken – dann aber schnell begann, sich ein neokonservatives Denken zurechtzulegen, dessen Wurzeln genauso in den 1940er wie in den 1960er und 1970er Jahren liegen.

Obwohl er von seinen Feind:innen als solcher bezeichnet worden ist, haben merkwürdigerweise in jüngerer Zeit fast ausschließlich seine Freund:innen über den Kalte-Krieg-Li17beralismus geschrieben. Nach einer langen Zeit der Apologetik bringt dieses Buch Argumente gegen ihn vor.

Der Kalte-Krieg-Liberalismus lässt sich nicht durch sein totalitäres Feindbild rechtfertigen oder auch nur erklären – nicht weil er auf die Sowjetunion gerichtet war, sondern weil er – mit schwerwiegenden Folgen für die lokale und für die globale Politik – übertrieben auf die Bedrohung reagierte, welche die Sowjets darstellten. Die Verunstaltung des Liberalismus angesichts dieser Bedrohung war eine Wahl, keine Notwendigkeit. Damals wie heute lag die höchste intellektuelle Hürde im Verhehlen der Möglichkeit eines glaubwürdigeren Eintretens für liberale Freiheit in einem attraktiveren und vertretbareren Rahmen, anstatt Gründe für einen Kalten Krieg zu liefern, dem unnötigerweise Millionen von Menschen zum Opfer fielen und der die Chance vertat, an einem Liberalismus zu arbeiten, der diesen Namen verdient.

Der Kalte-Krieg-Liberalismus wird auch als reizvolles »Ethos« gerühmt, als ein moderater Standpunkt, der diejenigen, die ihn einnehmen, vor Enthusiasmus, Ideologie und Leidenschaft bewahrt. Doch obwohl sie sich selbst als Jünger:innen der Befreiung vom Staat beschrieben, beharrten einige Vertreter:innen des Kalte-Krieg-Liberalismus auf gnadenloser und unerbittlicher Selbstkontrolle. Lionel Trillings Kanonisierung Sigmund Freuds für Liberale war so unnachgiebig, dass er damit einer Denunzierung seiner eigenen Ideologie näherkam, als seine vielen Bewunder:innen es eingestehen mochten.

Am schlimmsten ist, dass der Kalte-Krieg-Liberalismus gemessen an seinen Folgen nicht nur in seiner Zeit, sondern auch danach versagt hat. Täglich sehen wir deutlicher, dass sein Denkansatz genauso viele Widerstände hervorruft, wie er überwunden hat, und dass er die Bedingungen nicht für 18universelle Freiheit und Gleichheit, sondern für eine Woge der Feindseligkeit schuf, der diese Art von Liberalen immer wieder vor ihren Toren – oder bereits innerhalb von ihnen – begegnen. Seine ängstliche, minimalistische Herangehensweise an die Bewahrung der Freiheit in einer gefährlichen Welt hat nicht bloß andere Ziele wie Kreativität, Gleichheit und Wohlstand beeinträchtigt, sondern die Freiheit selbst. Es ist an der Zeit, den Kalte-Krieg-Liberalismus von neuem zu überprüfen – anstatt ihn ein weiteres Mal wiederzubeleben.

Der Kalte-Krieg-Liberalismus hat die liberale Tradition unkenntlich und zertrümmert zurückgelassen. Um die äußersten Winkel des Liberalismus zu erkunden, sind deshalb seine Versionen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert ein besserer Ausgangspunkt, denn sie entscheiden darüber, ob er es verdient, im 21. Jahrhundert eine Zukunft zu erleben. Insofern er vor dem Kalten Krieg emanzipatorisch und der Zukunft zugewandt war und sich vor allem anderen zur freien und gleichen Selbsterschaffung bekannte sowie Demokratie und Wohlstand (wenn auch bis heute nicht in ausreichendem Maße) akzeptierte, kann Liberalismus anders aussehen als der Kalte-Krieg-Liberalismus, den wir kennengelernt haben.

Die Beweiskette, die dieses Buch gegen den Kalte-Krieg-Liberalismus anführt, ist nicht lückenlos. Es bietet keine vollumfängliche Beschreibung der Geschichte des Liberalismus vor dem Kalten Krieg. In diesem Buch werden zwar einige wenige, für die angloamerikanische Auslegung des Kalte-Krieg-Liberalismus zwischen den 1930er und den 1950er Jahren exemplarische Persönlichkeiten eher kritisch betrachtet, aber es hat während des Kalten Krieges viele weitere liberale politische Denker:innen auf beiden Seiten des Atlantiks und auf der ganzen Welt gegeben.

19Doch immerhin macht es einen ersten Schritt hin zu einem Gesamtbild und zu einer allgemeinen Neubewertung. Es dokumentiert die Entwicklung des liberalen politischen Denkens Mitte des 20. Jahrhunderts anhand einer Porträtgalerie einiger seiner führenden Denker:innen und deren Generationsgenoss:innen. An der derzeitigen Neulektüre der Geschichte des Liberalismus vor und seit dem Kalten Krieg beteiligt dieses Buch sich dadurch, dass es zeigt, was für einen großen Unterschied die Mitte des 20. Jahrhunderts ausgemacht hat – und inwiefern sie die Erb:innen des Liberalismus in die Verlegenheiten brachte, denen sie sich noch heute gegenübersehen. Die Theorie des Kalte-Krieg-Liberalismus hat nämlich den Liberalismus nicht nur verändert, sondern aufgehoben – und diese Aufhebung war eine Katastrophe.

Manche der Denker:innen, deren Porträt in diesem Buch gezeichnet wird, waren erwartbar. Einige von ihnen – Isaiah Berlin, Karl Popper, Jacob Talmon – sind Ikonen des Kalte-Krieg-Liberalismus. Bei anderen, wie etwa Gertrude Himmelfarb oder Judith Shklar, ist das nicht im selben Maße der Fall. Ich habe ihnen gegenüber bekannteren Säulenheiligen des Kalten Krieges (ob nun Raymond Aron in Frankreich oder Reinhold Niebuhr, Richard Hofstadter oder Arthur Schlesinger Jr. in den Vereinigten Staaten) den Vorzug gegeben, weil sie bisher so wenig beachtet worden sind und deshalb ein weniger erwartbares Licht auf entscheidende Charakterzüge ihrer Zeit werfen. Außerdem soll der Kalte-Krieg-Liberalismus hier dadurch an Plastizität gewinnen, dass ich seinen Begründer:innen einige ihrer Weggenoss:innen zur Seite stelle, nämlich Hannah Arendt, Herbert Butterfield und Friedrich Hayek. Es sei hervorgehoben, dass sie alle durch Erfahrungen und Überlegungen in den Jahrzehnten zuvor, also während des Zweiten Weltkriegs oder sogar noch vorher 20zu ihren Standpunkten gelangt sind; bei einigen von ihnen bestimmten die radikalen Erlebnisse der Vergangenheit ihr gesamtes folgendes Denken, ja ließen es nicht mehr los.

Judith Shklar, die in Harvard Politische Theorie lehrte und eine Inspirationsquelle dieses Buches war, hat sich von außen in den Kalte-Krieg-Liberalismus hineinbewegt. Sie bleibt unter anderem deshalb dessen brillanteste Analytikerin, weil sie ihn kritisierte, bevor sie ihm näherkam. Angefangen mit Shklar, habe ich alle hier behandelten Figuren ausgewählt, weil sie Aspekte des Kalte-Krieg-Liberalismus beleuchten, die seinen größtenteils lobenden neueren Darstellungen entgangen sind. Zusammen zeichnen die Kapitel den Bedeutungswandel des Liberalismus in der Frühzeit des Kalten Krieges nach, indem sie zeigen, wie dessen Vergangenheit und Quellen neu interpretiert wurden. Zudem deuten sie darauf hin, dass der Kalte-Krieg-Liberalismus, der unser gemeinsames Erbe ist, eine Wahl war – eine Wahl, die zukünftige Liberale ausschlagen können.

Für jedes Kollektivporträt des politischen Denkens im Kalte-Krieg-Liberalismus spielt es eine Rolle, dass seine ersten Vertreter:innen einen jüdischen Hintergrund hatten, wenn nicht sogar jüdischen Glaubens waren. Welche ihrer Erfahrungen in einer Zeit des Massensterbens trugen dazu bei, dass sie zu ihren Ansichten gelangten? Ich habe Einwände gegen die stereotypen Vermutungen, die einige Interpretationsweisen der jüdischen Wurzeln des Kalte-Krieg-Liberalismus beeinträchtigt haben. Vertreibung und Gewalt führen mitunter dazu, dass Emigrant:innen und Opfer alte Fehler wiederholen und nicht unbedingt vor neuen gefeit sind. Sogar in den seltenen Augenblicken, in denen sie öffentlich als Juden auftraten, trafen die Vertreter:innen des Kalte-Krieg-Liberalismus fragwürdige Entscheidungen.

21Am entscheidendsten für die Art und Weise, wie sie ihre jüdische Identität auslebten, war nicht irgendeine jüdische Tradition oder das Leben, das sie als Ausgewiesene oder Emigrant:innen führten, sondern der Zionismus, über den sie in den Jahren, als sie ihre Positionen ausbildeten, sehr viel häufiger schrieben. Alle Vertreter:innen des Kalte-Krieg-Liberalismus waren anglophil, manche von ihnen in hohem Maße. Die Amerikaner:innen unter ihnen fragten sich zudem, ob ihr mittlerweile die weltweite Verteidigung des Liberalismus anführendes Heimatland englische Tugenden verkörpern oder ihnen sogar neue Impulse verleihen könne. Doch als Jüdinnen und Juden mussten die Vertreter:innen des Kalte-Krieg-Liberalismus auch darüber nachdenken, welchen nationalistischen Bewegungen sie sich sogar in der Diaspora am ehesten anschließen würden.

In der zionistischen Bewegung waren Nationalismus und Gewalt leibhaftige Phänomene. Für beide hatte sich der Liberalismus im 19. Jahrhundert begeistert, da er sie als Mittel zum Zweck für die liberale Sache betrachtete, und der Zionismus der Vertreter:innen des Kalte-Krieg-Liberalismus behielt diese Sichtweise bei – allerdings nur für einen Ort. Gerade weil die Vertreter:innen des Kalte-Krieg-Liberalismus im Inland vor ihm warnten und ihn an anderer Stelle im Ausland verurteilten, wo sich die nationalistische und gewaltsame Emanzipation im Zuge der Dekolonisierung weltweit verbreitete, bringt ihr Zionismus die Widersprüche ihrer Erneuerung des liberalen Credos besonders lebhaft zum Ausdruck.

Als ich in den 1990er Jahren ein junger Erwachsener war, ist es in Mode gewesen, das politische Denken der Vertreter:innen des Kalte-Krieg-Liberalismus zu rühmen, das für ein postpolitisches Zeitalter umfunktioniert wurde, in dem Liberale 22sich seinerzeit zuversichtlich gaben, dass sie auf alles eine Antwort hätten. Studierende wie ich waren aufgefordert, den Säulenheiligen der 1940er und 1950er Jahre zu Füßen zu liegen, wenn sie noch lebten, oder ihr Vermächtnis aufzupolieren, wenn das nicht der Fall war. Hatte nicht 1989, wenn nicht gar die Zeit davor ihnen Recht gegeben? Doch mit der Zeit begannen wir zu erkennen, dass die Grundannahmen des Kalte-Krieg-Liberalismus verheerende Folgen gehabt hatten, besonders in Anbetracht des neuen Lebens, das ihnen nach dem Ende des Kalten Krieges eingehaucht wurde.

Am wenigsten ist am Kalte-Krieg-Liberalismus zu beanstanden, dass er für die westliche Außenpolitik Nachfolgefeinde gesucht – und gefunden – hat. Zu seiner Zeit und möglicherweise auch in unserer wurde er nicht hauptsächlich oder bloß zur Begründung eines Krieges im Ausland, sondern eher zu der einer kollektiven und persönlichen Ordnung herangezogen, die dem Staat Grenzen setzte, während sie das Ich disziplinierte. Und für die Zeit nach der theoretischen Umgestaltung des Liberalismus während des Kalten Krieges hieß das, dass es gerade in den angloamerikanischen Ländern, die als Sinnbild der Freiheit galten, mehr Faktoren gab, die sich als genuin abträglich erwiesen, auf lange Sicht die ökonomische und soziale Hoffnungslosigkeit vorantrieben und an den Rändern – und zunehmend auch in der Mitte – Rebellionen und Aufstände auslösten. Die Folge ist, dass die liberale Tradition als solche heute in vielen Ecken der Welt einen Großteil ihrer Glaubwürdigkeit verloren hat.

Meiner Meinung nach sind viele liberale Grundsätze unverzichtbar, aber sowohl Aufrichtigkeit als auch Notwendigkeit gebieten es, dass wir zunächst eingrenzen, inwiefern der Kalte-Krieg-Liberalismus die Tradition, die er kurzfristig zu bewahren beabsichtigte, langfristig in eine anhaltende Krise 23gestürzt hat. Heute beharren viele Beobachter:innen, die wieder und wieder auf die Notstandsmentalität des Kalten Krieges zurückkommen, darauf, dass der Liberalismus am Abgrund stehe. Ich glaube nicht, dass wir schon so weit sind; wir haben die Gelegenheit, zu überprüfen, was wir tun können, damit der Liberalismus für eine Rettung in Frage kommt und sich ihrer würdig erweist, vorausgesetzt, das ist möglich. Falls und wenn sich eine letzte Chance auftut, dann muss sie dem Liberalismus erlauben, sich als Bezugssystem für die Verwirklichung universeller Freiheit und Gleichheit zu rehabilitieren. Es ist nicht leicht, sich des Eindrucks zu erwehren, dass das Vermächtnis des Kalte-Krieg-Liberalismus dazu führen könnte, dass er das Zeitfenster, das sowohl die Notwendigkeit dafür als auch Gelegenheit dazu bietet, verpasst.

Doch der Kalte-Krieg-Liberalismus ist nicht unser Schicksal. Wenn die große Debatte der letzten Jahre über den Liberalismus weitergeht, sollten wir eine Pluralisierung unserer Optionen ins Auge fassen. Unsere größte Chance, den Liberalismus zu retten, dürfte darin bestehen, zugunsten einer vollkommen neuen Version hinter das Kalte-Krieg-Credo zurückzugehen, das wir geerbt haben. Eine nochmalige Überprüfung der Beschaffenheit des Kalte-Krieg-Liberalismus erinnert uns daran, dass es weniger darauf ankommt, Traditionen zu bewahren und zu retten, als darauf, dass wir uns die Freiheit nehmen, sie um unserer gemeinsamen Zukunft willen über ihre Beschränkungen hinaus neu zu gestalten.

Judith Shklar, 196624

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Gegen die Aufklärung: Judith Shklar

Judith Shklars erstes Buch, After Utopia, erschien 1957.1 Auf beiden Seiten des Atlantiks, klagte sie, hätten politischer Optimismus und politische Möglichkeiten sich erschöpft. Die Aufklärung sei preisgegeben worden und in einigen Fällen habe sie eine Umgestaltung erfahren, um ihren Kern vor ihren Exzessen zu bewahren. Mitte des 20. Jahrhunderts feierten in der gesamten intellektuellen Landschaft der Fatalismus eines seinerzeit populären Christentums und der Pessimismus der romantischen Bewegung Triumphe.

Im Jahr vor der Veröffentlichung von Shklars Buch hatte Peter Laslett das bekannte und eher in Erinnerung gebliebene Epitaph der Ära verkündet: »Die politische Philosophie ist tot, jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt.«2 Shklars Diagnose in Buchform verfolgte den Zweck, die (aus ihrer Sicht) angespannte und aussichtslose Situation der transatlantischen Politik zu bewerten, wobei die Situation des politischen Denkens als Stellvertreterin für die Politik selbst fungierte. Obwohl sie darin auch eine Reihe von konservativen und nichtkommunistischen sozialistischen Positionen analysierte, ist und bleibt Shklars Essay die beste Aufschlüsselung und Kritik des Kalte-Krieg-Liberalismus, die je geschrieben wurde.

Aufgrund ihrer Vorreiterrolle beim Zusammentragen eines Gesamtüberblicks über den Kalte-Krieg-Liberalismus lasse 26ich mich in meinem ganzen Buch von Shklar leiten. Sie wird mir dabei weniger als Beatrice denn als Vergil dienen, dem wir in der Hoffnung durch eine Höllenlandschaft folgen, dass dahinter das Fegefeuer – wenn nicht der Himmel – liegt. After Utopia war nicht bloß der letzte Überblicksversuch über den Kalte-Krieg-Liberalismus, sondern auch kritische Widerrede. Das Buch missbilligte die Neuerfindung des Liberalismus, obwohl Shklar nicht unmittelbar eine Möglichkeit sah, ihn zu rehabilitieren.

Und Shklar zufolge bestand die grundlegendste und zweifelhafteste Innovation der Vertreter:innen des Kalte-Krieg-Liberalismus möglicherweise in ihrer Ambivalenz gegenüber der Aufklärung, die mitunter bis zu deren Preisgabe ging.

Natürlich kennen wir auch Shklar selbst als Kalte-Krieg-Liberale. Ebenso wie andere Angehörige dieser Schule, wie etwa Raymond Aron, Isaiah Berlin und Jacob Talmon, stellte sie aus Entsetzen über die durch staatliche Exzesse möglichen grausamen Gesetzesbrüche die Furcht vor dem Umkippen von Freiheit in Tyrannei ins Zentrum ihres Denkens.

Wie die anderen orientierte auch Shklar sich nach den Verwüstungen des totalen Krieges, der Tragödie des Holocaust und dem Skandal des Totalitarismus daran, dass ständig ein gewaltsames Ende des Pluralismus drohte. Die kollektive Politik war nicht mehr emanzipatorisch oder pädagogisch und schon gar nicht um die Schaffung von Institutionen kollektiver Freiheit bemüht. Für Sicherheit war der Staat eine Notwendigkeit, in erster Linie stellte er aber das größte Risiko für sie dar. Desillusioniert durch die Fortdauer des Bösen und aufgerüttelt von der Erinnerung an die Schrecken, ließen die Unterstützer:innen dieses »Liberalismus der Furcht« (wie Shklar ihn später nannte) alle radikalen Verbesserungserwar27tungen fallen, um die Gegenwart des summum malum in der Politik auf theoretische Begriffe zu bringen.3

Jede:r, der oder die mit Shklars Denken vertraut ist, wird sie in dieser gängigen Beschreibung wiedererkennen, und doch fehlt ihr etwas Wichtiges. Shklar begann ihre Karriere mit der Suche nach einer Alternative zum Kalte-Krieg-Liberalismus. After Utopia legte dar, dass die Treuepflicht gegenüber den Grundsätzen der Aufklärung in den 1950er Jahren so weit zurückgegangen war, dass sie zu Shklars größter Enttäuschung selbst unter Liberalen aufgegeben wurden.

Das Buch ging auf ihre Doktorarbeit am Radcliffe College zurück, die sie 1955 unter dem Titel »Fate and Futility: Two Themes in Contemporary Political Theory« (»Verhängnis und Vergeblichkeit: Zwei Themen der Politischen Theorie der Gegenwart«) verteidigte. Anschließend machte sie als einflussreiche Lehrkraft am Department of Government der Harvard University Karriere. Es dauerte erstaunlich lange, bis sie einen Lehrstuhl erhielt. Angesichts der Untätigkeit ihrer männlichen Kollegen, die sie nicht auf eine ordentliche Professur beriefen, ihr aber aufgrund ihrer Fähigkeiten nur ungern eine Festanstellung verwehren wollten, handelte sie 1963 eine Teilzeitdozentur aus – ein Provisorium, dem erst zwei Jahrzehnte später abgeholfen wurde.4 Dennoch zeigte Shklar sich in einem 1981 im Rahmen von Judith Walzers Erhebung über die wenigen weiblichen Fakultätsangehörigen in Harvard aufgezeichneten Gespräch mit Walzer nostalgisch in Bezug auf die Jahre, in denen sie After Utopia schrieb – eine Arbeit, der »ich mich mit Haut und Haaren verschrieben habe«. »Ich las Tag und Nacht«, sagte sie, »jedes einzelne fantastische Buch«, während »ich in dem kleinen Untergeschoss der Bibliothek in Radcliffe saß«, wo ihr eine »zweite Ausbildung« zuteilgeworden sei.5

28Shklar lernte, mit »der Aufklärung« anzufangen, wie die transformative Bewegung (bzw. die Reihe von Bewegungen) im 18. Jahrhundert nach wie vor genannt wird, die im Namen einer zukünftigen Befreiung die Vergangenheit hinterfragte. Sie gelangte zu der Auffassung, dass die Aufklärung eine postchristliche Wiederbelebung des alten stoischen Versprechens war, universelle Vernunft zum institutionellen Prüfstein für menschliche Belange zu machen. Doch eigentlich drehte sich Shklars Verständnis von Aufklärung am ehesten um die Ausbildung von Handlungsfähigkeit in der Welt: um ein Konzept dafür, dass Individuen und Gesellschaft die Last auf sich nehmen, sich selbst zu erschaffen, anstatt sich auf eine vermeintlich äußerliche, ob nun metaphysische oder politische Autorität zu stützen. »Das Wesen des Radikalismus«, erklärte sie, »liegt in dem Gedanken, dass der Mensch mit sich und seiner Gesellschaft tun kann, was immer er möchte.«6 Einfaches Überleben reiche nicht; kollektive und persönliche Selbsterschaffung lieferten das Richtmaß, wie weit die Gesellschaften schon gekommen seien und wie weit sie noch gehen müssten. »Dieses Anliegen lächerlich zu machen, ist ziemlich leicht«, stellte sie fest. »Aber ob etwas Besseres auch nur in Erwägung gezogen wurde, ist eine ganz andere Frage.«7

Diese in der Aufklärung wurzelnden »radikalen Bestrebungen des Liberalismus« hätten sich allerdings inzwischen verflüchtigt.8 Statt ihrer hätten Philosophien, die ursprünglich Entgegnungen auf die Aufklärung gewesen waren, den Liberalismus weniger verdrängt als vielmehr neu definiert. Im Anschluss an eine ausführliche Darlegung der romantischen Auflehnung gegen die Aufklärung gab After Utopia eine Beschreibung des eng damit verwandten »christlichen Fatalismus«. Und das Buch erreichte seinen aus dem Rahmen fallenden Höhepunkt mit einer Untersuchung der existenzia29listischen Antipolitik und religiösen Malaise, die mittlerweile die zerborstene Landschaft des Kalten Krieges einer intellektuellen Schutthalde gleich zumüllte und alle Ausgänge versperrte. Doch dem Ganzen die Krone auf setzte in Shklars Augen das Scheitern sowohl des Liberalismus als auch des Sozialismus, der Krise des Zeitalters zu entrinnen, in dem niemand einen Ausweg sah und die Intellektuellen die Hoffnung auf schrittweise Emanzipation aufgaben. Der Liberalismus, behauptete sie, habe selbst die Gestalt seines alten konservativen Gegenspielers angenommen.

In Anbetracht ihres Rufs ist Shklars Blickwinkel zweifellos bemerkenswert. Sie ging davon aus, dass die moderne politische Theorie nicht für ihr zögerliches Eingeständnis des summum malum gewalttätiger Folgen – wie im späteren Liberalismus der Furcht – gelobt, sondern für ihren unerhörten Verzicht auf eine aufklärerische Sichtweise menschlicher Emanzipation kritisiert werden sollte.

Es ist nicht verwunderlich, dass der radikale Theoretiker Sheldon Wolin in seinem heute vergessenen, ausführlichen Essay über das Buch die These von After Utopia dahingehend wiedergegeben hat, »dass die Launen des Radikalismus über das Schicksal der politischen Theorie entschieden«.9 Solch eine Auffassung, stellte Wolin scharfsinnig fest, beruhe auf einer bestimmten Lesart »der Aufklärung«. Er schloss daraus, dass Shklar, als sie die Operationsbasis für ihre Vorwürfe gegen Denkströmungen im 20. Jahrhundert schuf, umstrittene strategische Entscheidungen in Bezug auf die Darstellungsweise des 18. Jahrhunderts traf. »Die herausragendsten Vertreter des Liberalismus«, führte er in seiner Besprechung aus, die sich im Rückblick wie ein hochironischer Kommentar liest, »neigten eher dazu, sich mit den auf der Welt in großer Zahl drohenden Qualen zu befassen als mit den reichlich vorhan30denen Glücksmöglichkeiten.«10 Indem sie die Radikalität der Aufklärung hervorhob, ließ Shklargenau die Eigenschaften der Aufklärung weg, die sie später ins Zentrum ihres Liberalismus der Furcht stellen sollte. Allerdings verfolgte sie auch noch nicht das Ziel, die neuzeitliche Moralpsychologie wiederzubeleben, auf der ihr Liberalismus der Furcht fußte: Keiner ihrer späteren Helden, wie der Essayist Michel de Montaigne und der politische Philosoph Montesquieu, ist ihr in ihrem ersten Buch eine Erwähnung wert.

Shklar stellte sich eher die Frage, was der auf Handlungsfreiheit konzentrierten Aufklärung widerfahren sei. »Die Menschen sehnen sich nach sozialer Freiheit«, führte sie aus, »nach einer Gelegenheit, tatsächlich Entscheidungen zu treffen.«11 Ihre primäre Antwort lautete »der romantische Geist« – eine Antwort, der dieses Buch im nächsten Kapitel nachgehen wird, das von der Art und Weise handelt, wie der Kalte Krieg der politischen Romantik die Schuld an den Verbrechen der Moderne in die Schuhe geschoben hat. Auch Shklars Einwände gegen die christliche Neoorthodoxie und ihre schnöde Kritik an Hannah Arendt sind es wert, später noch einmal aufgegriffen zu werden. Anfangen sollte man aber mit dem von Shklar diagnostizierten Schicksal der Aufklärung – deren Beinahe-Preisgabe – im Rahmen der Transformation des Liberalismus im Kalten Krieg, denn diese Diagnose prägte alle ihre weiteren Urteile.

Die Neubelebung der historischen Literatur über den Liberalismus, die erst vor kurzem begann, hat bereits ein Goldenes Zeitalter erreicht. (Vor noch nicht allzu langer Zeit gab es nur einen einzigen Überblicksversuch von Bedeutung, der von dem italienischen Emigranten Guido de Ruggiero stammte und vor beinahe einem Jahrhundert erschien.) Mittlerweile 31ist es zu einer wahren Explosion von Geschichten des liberalen Denkens gekommen, obwohl es regelmäßig heißt, der Liberalismus als solcher sei in einer Krise oder sogar vorbei.12

Im Streit darüber, worauf Liberalismus zurückgeht, besteht die Uneinigkeit vor allem darin, ob man eine begriffliche oder eine nominalistische Herangehensweise wählen soll. Im ersten Fall muss explizit oder implizit eine vorab festgelegte Definition des Liberalismus – etwa eine Liste unverzichtbarer Merkmale – am Anfang stehen. Wenn man so vorgeht, ist es möglich, viele, denen das Wort Liberalismus völlig unbekannt war, wie zum Beispiel John Locke, zu den Liberalen zu zählen. Andere beginnen nominalistisch: Es sei ungefährlicher, das primäre Kriterium für Liberalität darauf festzulegen, dass eine Person sich selbst als liberal bezeichnet oder von anderen so bezeichnet wird.

Niemand, der den Kalte-Krieg-Liberalismus mit Vorgängerversionen vergleichen möchte, kann eine begriffliche Grundannahme darüber vermeiden, was einstmals die Tradition bestimmt hat. So ging Shklar zum Beispiel davon aus, dass ein konstruktives Verhältnis zum aufklärerischen Projekt der Emanzipation menschlicher Handlungsmacht zentral für den Liberalismus sei. Aus ebendiesem Grund sei dessen Fallenlassen im Kalten Krieg so verhängnisvoll gewesen. Kein »Liberalismus«, der die Aufklärung preisgebe, könne lange liberal bleiben – doch der Kalte-Krieg-Liberalismus ging am weitesten. Dennoch lässt sich auch aus dem eher nominalistischen Ansatz eine Menge lernen, weil er der Gefahr einer Naturalisierung des Liberalismus zu einer unveränderlichen Tradition vorbeugt. Die Frühzeit des Kalten Krieges konnte nur aufgrund der Vorstellung entscheidende Auswirkungen auf den Liberalismus haben, dass er höchst wandelbar ist. Die Notverteidigung der Freiheit gegen die Sowjets im Kalte-32Krieg-Liberalismus transformierte ihn fast bis zur Unkenntlichkeit.

Aus diesem Grund dramatisiert dieses Buch die Art und Weise, wie die Vertreter:innen des Kalte-Krieg-Liberalismus den Kanon des politischen Denkens umgestalteten. Der möglicherweise größte jüngere nominalistische Liberalismushistoriker, Duncan Bell, hat uns daran erinnert, dass die Umstrukturierung der liberalen Tradition teilweise in einer Rekanonisierung bestand. Natürlich ist nichts daran spezifisch für den Liberalismus; wenn alle Geschichte Gegenwartsgeschichte ist, dann gilt das auch für die Kanonisierung, weil die Vergangenheit im Lichte der Gegenwart rekonfiguriert wird.

Tatsächlich gibt es vielleicht keine bessere Verständnismöglichkeit des politischen Denkens, als wenn man untersucht, welche Ahnen es für sich beansprucht – und wen es tadelt oder ausschließt. »Jedes Zeitalter schreibt bekanntlich die Geschichte für seine eigenen Zwecke neu, und die politische Ideengeschichte bildet keine Ausnahme von dieser Regel«, verzeichnete Shklar1959. »Wie genau solche Perspektivenwechsel aussehen, muss allerdings untersucht werden. Denn ihre Erforschung kann nicht nur zum Verständnis der Vergangenheit beitragen, sondern auch zu einem besseren Verständnis unserer eigenen intellektuellen Situation führen.«13

Doch wie der Liberalismus sich Mitte des 20. Jahrhunderts seine eigene Vergangenheit ausgemalt hat, ist bisher kaum zur Sprache gebracht worden. In seinem klassischen Aufsatz stellt Bell die für Unruhe sorgende, aber knappe Behauptung auf, dass Locke erst im 20. Jahrhundert zum Begründer des Liberalismus ernannt wurde. Dabei wäre über den Kanonisierungsprozess sehr viel mehr zu sagen. Er stürzte eine im 19. Jahrhundert tonangebende Version liberaler Theorie mit 33perfektionistischen und progressistischen Merkmalen vom Sockel, die der Kalte-Krieg-Liberalismus transformierte. Kreative Handlungsmacht war das Ziel des Liberalismus gewesen und Geschichte sein Forum der Möglichkeiten. Mitte des 20. Jahrhunderts änderte sich das alles.

Die Auswirkungen waren gewaltig. Im gleichen Maße wie die Gnosis die Kanonisierung des Neuen Testaments bewirkte – Adolf von Harnack hat behauptet, es habe »in der ganzen Kirchengeschichte keine Schöpfung« gegeben, »die eine größere That gewesen wäre«14 –, trat die Furcht vor dem Kommunismus eine neue Sicht auf die Abkunft des Liberalismus und darauf los, welche Bücher in seine Entstehungsgeschichte einbezogen und welche Bewegungen gegeißelt und aus seiner Vorgeschichte entfernt werden sollten. Ebenso wie das übrige neuzeitliche Denken war Locke eigentlich marginal für den Kanon des Kalte-Krieg-Liberalismus; bei ihm bot es sich eher an, dass Linke wie C.B. Macpherson oder Rechte wie Leo Strauss ihn ins Zentrum stellten.15 Für die Vertreter:innen des Kalte-Krieg-Liberalismus rückte das in den Vordergrund, was ich den »Anti-Kanon« moderner Emanzipation nennen werde, und dann noch neue moderne Quellen, welche dem Reiz der Emanzipation entgegenwirken sollten, die vorher in Sachen Liberalismus tonangebend gewesen war.

Anhand von Kanons lassen sich nicht bloß Engel, sondern auch Dämonen ermitteln, auch wenn das schlimmste Schicksal für gewöhnlich alldem beschieden ist, was überhaupt keine Beachtung findet – wie die Religionsgeschichte einmal mehr zeigt. Anti-Kanons – Bücher, Persönlichkeiten oder Bewegungen aus der Vergangenheit, die mit einem Bann belegt werden, um Traditionen zu definieren und zu stabilisieren – sind von höchster Relevanz für die Kanonbildung.1634Die Bestandteile von Anti-Kanons dienen als bleibende Gegenbeispiele, die es zu vermeiden gilt: »Ihre Irrtümer« seien dergestalt, »dass wir sie nicht auf sich beruhen zu lassen bereit sind«.17

Die erste Hälfte dieses Buches erkundet den Anti-Kanon des Kalte-Krieg-Liberalismus von der Aufklärung und Jean-Jacques Rousseau bis zu G.W.F. Hegel und Karl Marx. Die zweite Hälfte wendet sich den Ersetzungen zu, die vorgeschlagen wurden, um den Liberalen in der tragischen, jeder Hoffnung auf Emanzipation abholden Zukunft Orientierung zu bieten.

Wo der Liberalismus im 19. Jahrhundert als mit Romantik und Progressivismus verwobene Folgeerscheinung der Aufklärung aufgetreten war, hat der Kalte-Krieg-Liberalismus ihn im Namen eines nahezu ausschließlichen Vorrangs von individueller, vermeintlich durch alle drei bedrohter Freiheit von der Verunreinigung durch dieses Vermächtnis befreit. Das Bewusstsein von der Erbsünde im neoorthodoxen Christentum und das Gewahrwerden psychischer Zwiespältigkeit bei Sigmund Freud wurden wie Amulette zur Abwehr einer verlockenden, aber schimpflichen Emanzipation ins Feld geführt. Auch in geografischer Hinsicht wurde der Liberalismus in Anbetracht dessen beschnitten, was die Vertreter:innen des Kalte-Krieg-Liberalismus als Gräuel der Dekolonisierung wahrnahmen: Er wurde in den kanonisch und politisch sicheren Hafen am Nordatlantik heimgeholt, obwohl die Globalisierung der Freiheit welthistorisch gerade am weitesten fortgeschritten war.

»Am Anfang war die Aufklärung«, heißt es zu Beginn von Shklars After Utopia.18 Doch der Liberalismus ihrer Zeit, behauptete sie, habe sich dem Hass auf die Aufklärung seiner 35historischen Gegenspieler angenähert, ja sich ihn sogar einverleibt.

Ursprünglich, bevor sie ihre Doktorarbeit für die Buchveröffentlichung umarbeitete, hatte Shklars Kritik am Kalte-Krieg-Liberalismus an erster und nicht an letzter Stelle gestanden.19 Diese Anordnung machte ihr Hauptanliegen sichtbarer. Mit dem, was Shklar als »Ende des Radikalismus« titulierte, war die Preisgabe der liberalen »Überzeugung« gemeint, »dass die Menschen sich selber und gemeinsam ihr soziales Umfeld kontrollieren und verbessern können«.20 Daran seien die Vertreter:innen des Kalte-Krieg-Liberalismus schuld und nicht bloß die christlichen Fatalisten und romantischen Pessimisten, die den intellektuellen Obskurantismus und die politische Resignation während des Kalten Krieges noch extremer zugespitzt hätten als die Liberalen. Shklars Schilderung der liberalen Bankrotterklärung erfolgt in zwei Stufen, die den ersten beiden Kapiteln ihrer Doktorarbeit entsprechen und im letzten Kapitel ihres Buches zusammengefasst werden.

Die Erfindung des politischen Konservatismus in Reaktion auf die Französische Revolution, legte Shklar dar, griff sofort auf den Liberalismus über und versetzte der Aufklärung einen Schlag, von dem sie sich nur schwer zu erholen vermochte. Der totale Krieg und der Totalitarismus im 20. Jahrhundert, versicherte sie, »machten die Schlappe nur noch endgültiger«.21 Diese rechtsgerichtete Neudefinition des Liberalismus sei mit der Übertreibung der Wichtigkeit der Freiheit für seine Geschichte einhergegangen; sie habe seinem Perfektionismus und Progressivismus abgeschworen und die Intellektuellen, ja sogar die Theorie selbst attackiert. Den Staat behandele sie als geborenen Unterdrücker und die Demokratie als ein Rezept für Totalitarismus, es sei denn, der 36Staat werde auf ein Minimum reduziert und der Demokratie würden strenge Grenzen auferlegt.

Die Liberalen »gaben« die Aufklärung »preis«, weil die Beschränkung staatlicher Autorität und ein Bekenntnis zu persönlicher Freiheit in einem sich aus dem Hass auf jakobinischen Radikalismus speisenden, fatalistischen Geist plausibel zu sein schienen.22 Ursprünglich habe der Konservatismus als eine Strategie »im Widerstand gegen den Jakobinismus« Einheitlichkeit erlangt, aber dies sei keine eindeutige Definition gewesen, da »sich der Liberalismus in Bezug auf dieses Anliegen bald zum Konservatismus gesellte«.23 Die Erfindung des Kalte-Krieg-Liberalismus, machte Shklar geltend, habe sich deshalb »über längere Zeit hingezogen«.24

Mit Ausnahme von John Stuart Mill wendeten die ersten Liberalen im 19. Jahrhundert sich rasch von dem aufklärerischen Antiklerikalismus ab, der die französischen Philosophen des 18. Jahrhunderts ausgezeichnet hatte. Mit einem Seitenblick auf ihre eigene Zeit diagnostizierte Shklar einen tiefer reichenden Verzicht auf die progressive Rolle von Intellektuellen, die – wie sie Alexis de Tocqueville zitierte, der davon in Der alte Staat und die Revolution gesprochen hatte – nicht mehr »an sich selbst« glaubten und sich durch unbelehrbare und unberechenbare Mehrheiten bedroht fühlten, deren potenziellem Abgleiten in säkularen Fanatismus jetzt mit Hilfe von einstmals verhasster religiöser Frömmigkeit Einhalt geboten werden musste.25 Mill, räumte sie ein, verkörperte einen Restglauben an Bildung und Erziehung, doch diente diese nicht mehr der eigenständigen universellen Emanzipation von Individuen und Gesellschaft, sondern eher der Verhinderung der verheerenden Übernahme des Staates durch fehlgeleitete Mehrheiten.

Judith Shklars Doktorarbeit, Titelblatt

Wie Shklar zugab, war dieser Liberalismus des 19. Jahrhun37derts ohne Zweifel meilenweit von romantischer Schwermut entfernt, denn die Liberalen seien lange Zeit »noch bereit gewesen«, den Massen »ihre Dienste anzubieten«.26 Doch nach der Französischen Revolution stand die Schrecklichkeit der Macht selbst allen klar vor Augen, und Liberale wie Lord 38Acton, der vor ihrer Korrumpierung warnte, unterschieden sich nur um Haaresbreite von Pessimisten wie Jacob Burckhardt, der Macht an sich als Übel brandmarkte. Trotzdem waren ihre Befürchtungen nicht besonders groß, sie dämpften lediglich den Optimismus der Aufklärung, bereiteten aber auch spätere Anhänger nicht auf die schlimmsten Perversionen der Macht vor. Der Liberalismus des 19. Jahrhunderts öffnete dem Konservatismus die Tore zur liberalen Festung, doch erst die Totalitarismuskritiker:innen des Kalten Krieges machten aus dieser Offenheit eine bedingungslose Kapitulation.

Judith Shklars Doktorarbeit, Inhaltsverzeichnis

Erst Mitte des 20. Jahrhunderts, hob Shklar hervor, behandelten die Liberalen die Aufklärung selbst als Hauptquelle für das totalitäre Trauerspiel. Die Kritik an der Aufklärung wurde von einer beunruhigenden Zahl Liberaler übernommen. Dies führte zu einer Art Libertarianisierung dessen, wofür der Liberalismus stand, die mit dem in der politischen Theorie des 19. Jahrhunderts tonangebenden Perfektionismus und Progressivismus brach, obwohl ökonomisches Laissez-faire für die liberale Praxis bereits seit langem zentral gewesen war.

Shklar legte dar, dass die Erfahrung totalitärer Herrschaft in ganz Europa einen Verlust an Selbstvertrauen bewirkte, der wiederum den Anschein erweckte, als sei die individuelle Freiheit dermaßen in Gefahr, dass Liberale sich ausschließlich um ihren Schutz bemühen sollten. Und selbst dies, so deren verzweifelter Gedanke, ließe sich möglicherweise nicht lange aufrechterhalten. Auf diese Weise wurde der Liberalismus »bloß zu einer weiteren Ausdrucksform von sozialem Fatalismus, nicht zu einer Antwort darauf. Denjenigen, denen der ästhetische und subjektive Drang der Romantiker fehlt oder die es schwierig finden, das offizielle Christentum zu akzeptieren, bietet der konservative Liberalismus die Gelegenheit zu einer säkularen und sozialen Form von Verzweiflung.«27

39Man muss Shklars zweistufigen, beinahe schon in der Entstehungszeit des Liberalismus einsetzenden Niedergang der Aufklärung mit kritischen Augen betrachten. Um so etwas wie Kontinuität zwischen beiden Stufen zu erzielen, schoss sie übers Ziel hinaus und dem fiel ihre eigene Hervorhebung 40der Verschlimmerung des liberalen Pessimismus im Kalten Krieg zum Opfer.

Wie sich herausstellt, hat Shklar mit ihrer ersten Stufe die intelligenteste neuere Darstellung des liberalen Denkens durch Amanda Anderson vorweggenommen, insofern sie behauptete, der Liberalismus sei von Geburt an schwermütig bzw. abgeklärt gewesen, was ihn zu einer Dauerauflehnung gegen die Aufklärung veranlasste, obwohl er sie beerbte. Diese Neigung habe der Kalte Krieg lediglich verstärkt.28 In ihrem brillanten neueren Buch, Bleak Liberalism – das unter Ideenhistoriker:innen und politischen Theoretiker:innen kaum bekannt ist, weil eine Literaturwissenschaftlerin es geschrieben hat –, vertritt Anderson die These, dass der »düstere« und »geläuterte« Liberalismus des 20. Jahrhunderts, und zwar besonders im Kalten Krieg, »optimalerweise nicht als Anomalie innerhalb der Geschichte des liberalen Denkens betrachtet werden sollte, sondern eher als zugespitztes Beispiel für dauerhafte Merkmale des liberalen Denkens«.29 Insbesondere, fügt sie hinzu, »die tiefreichende Entzauberung des politischen Denkens im 20. Jahrhundert trägt zur Erhellung eines dauerhaften Merkmals liberaler Bestrebungen bei«.

Wie Shklar vor ihr liegt Anderson zweifellos richtig, dass Liberale immer in so etwas wie einem Zwiespalt zwischen Optimismus und Pessimismus bzw. Hoffnung und Skeptizismus gefangen waren – wer ist das nicht? Indem sie die fallibilistische und skeptische Einstellung von vielen Parteigänger:innen der Vernunft hervorheben, versuchen die beiden besten Darstellungen der Aufklärung, Generationen von konservativen, reaktionären und dem Kalte-Krieg-Liberalismus verpflichteten Karikaturen von deren Hybris und Selbstüberschätzung entgegenzuwirken. Gewiss hat es auch schon im 19. und frühen 20. Jahrhundert Vorwegnahmen von 41Entwicklungstendenzen im Kalten Krieg gegeben. Aber so wichtig es ist, die dauerhaften Merkmale des politischen Liberalismus nach der Französischen Revolution zur Kenntnis zu nehmen, ist es noch wichtiger, zu betonen, dass der Kalte Krieg ihn theoretisch bis zur Unkenntlichkeit transformiert hat. Und dafür ist das, was Anderson und sogar Shklar weglassen, unverzichtbar.

Gemeinsam mit dem Sozialismus ist der Liberalismus eine der zwei großen modernen Emanzipationslehren gewesen, und viele Liberalismustheoretiker:innen haben die Errichtung von Rahmenbedingungen für individuellen und kollektiven Fortschritt in Angriff genommen – was ein bemerkenswert ambitioniertes und transformatives Projekt war –, die ihre Erb:innen heute rekonstruieren müssen. Vielen dieser Theoretiker:innen war eine romantische Bindung an den perfektionistischen Liberalismus zu eigen, der der Menschheit in der Moderne einen Weg zum guten Leben wies. Auch Shklar räumte ein, dass der Liberalismus sich im 19. Jahrhundert nur selten gegen den Sozialismus ausgesprochen habe und sich manchmal zu ihm ausweitete; der Oxforder Moralphilosoph T.H. Green und andere Liberale griffen die libertäre Metaphysik aufgrund ihrer Blindheit für soziale Gerechtigkeit an und ebneten einem neuen Liberalismus und dem Wohlfahrtsstaat den Weg. Und so würdigten sowohl die Vertreter:innen des Kalte-Krieg-Liberalismus als auch ihre marxistischen Gegenspieler:innen denn auch unter der Hand dieses Emanzipationsversprechen, als sie frühere Liberalismusformen aus entgegengesetzten Gründen geißelten: die Vertreter:innen des Kalte-Krieg-Liberalismus wegen deren vermeintlich utopischen Exzessen und die Marxist:innen wegen deren fortwährenden Einschränkungen.

Doch sogar als Shklar behauptete, dass der Anti-Jakobinis42