Der Liebe verfallen - Nora Darcy - E-Book

Der Liebe verfallen E-Book

Nora Darcy

4,0

Beschreibung

Vincent Graham stand in dem großzügigen Büro seines Anwesens am Rande von Cork und ließ bedächtig den Hörer seines Telefons auf die Gabel sinken. Dass nun auch noch Agatha ausfiel, glich einer mittleren Katastrophe. Eben hatte die Haushälterin angerufen und ihm unter Tränen versichert, wie leid ihr das Dilemma tat. Sie war gestern Abend über eine Stufe gestolpert und hatte sich den Arm gebrochen. Ausgerechnet jetzt. In zwei Wochen musste er aus beruflichen Gründen für ein paar Tage nach Waterford. Es war weder möglich, diesen Termin abzusagen, noch konnte er Brenda in der Zeit allein lassen. Vincent rieb sich die Schläfen. Er brauchte eine Lösung – und zwar schnell. Er ließ sich auf den Bürostuhl aus schwarzem Leder fallen, der hinter seinem stattlichen Schreibtisch stand. Wo bekam er so rasch Ersatz für Agatha her? Vincent Graham stand in dem großzügigen Büro seines Anwesens am Rande von Cork und ließ bedächtig den Hörer seines Telefons auf die Gabel sinken. Dass nun auch noch Agatha ausfiel, glich einer mittleren Katastrophe. Eben hatte die Haushälterin angerufen und ihm unter Tränen versichert, wie leid ihr das Dilemma tat. Sie war gestern Abend über eine Stufe gestolpert und hatte sich den Arm gebrochen. Ausgerechnet jetzt. In zwei Wochen musste er aus beruflichen Gründen für ein paar Tage nach Waterford. Es war weder möglich, diesen Termin abzusagen, noch konnte er Brenda in der Zeit allein lassen. Vincent rieb sich die Schläfen. Er brauchte eine Lösung – und zwar schnell. Er ließ sich auf den Bürostuhl aus schwarzem Leder fallen, der hinter seinem stattlichen Schreibtisch stand. Wo bekam er so rasch Ersatz für Agatha her? Noch dazu einen Ersatz, der bereit war, nur für einige Wochen einzuspringen, solange die Haushälterin krankgeschrieben war. Vermutlich nirgends. Die meisten Leute suchten eine langfristige Anstellung. Grübelnd ließ er den Blick durch den Raum schweifen, über die wandhohen Bücherregale, in denen dicht an dicht jede Menge Lesestoff stand. Von der holzgetäfelten Zimmerdecke hing ein Kristalllüster, und den dunklen Parkettboden bedeckte ein großer rot-gemusterter Teppich. Die hohen Sprossenfenster blitzten im Licht der Morgensonne. Agatha war eine zuverlässige Kraft. Wieder klingelte sein Telefon. Das Display zeigte an, dass der Ruf aus dem Haus kam. Brenda wünschte ihn zu sehen. Nur widerwillig hob er ab. "Brenda, was gibt es?" "Was es gibt? Du hast Nerven. Ich liege hier und kann mich

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Der Liebe verfallen – 1–

Erotische Begegnung in Irland

Nora Darcy

Vincent Graham stand in dem großzügigen Büro seines Anwesens am Rande von Cork und ließ bedächtig den Hörer seines Telefons auf die Gabel sinken. Dass nun auch noch Agatha ausfiel, glich einer mittleren Katastrophe. Eben hatte die Haushälterin angerufen und ihm unter Tränen versichert, wie leid ihr das Dilemma tat. Sie war gestern Abend über eine Stufe gestolpert und hatte sich den Arm gebrochen. Ausgerechnet jetzt. In zwei Wochen musste er aus beruflichen Gründen für ein paar Tage nach Waterford. Es war weder möglich, diesen Termin abzusagen, noch konnte er Brenda in der Zeit allein lassen. Vincent rieb sich die Schläfen. Er brauchte eine Lösung – und zwar schnell. Er ließ sich auf den Bürostuhl aus schwarzem Leder fallen, der hinter seinem stattlichen Schreibtisch stand. Wo bekam er so rasch Ersatz für Agatha her? Noch dazu einen Ersatz, der bereit war, nur für einige Wochen einzuspringen, solange die Haushälterin krankgeschrieben war. Vermutlich nirgends. Die meisten Leute suchten eine langfristige Anstellung. Grübelnd ließ er den Blick durch den Raum schweifen, über die wandhohen Bücherregale, in denen dicht an dicht jede Menge Lesestoff stand. Von der holzgetäfelten Zimmerdecke hing ein Kristalllüster, und den dunklen Parkettboden bedeckte ein großer rot-gemusterter Teppich. Die hohen Sprossenfenster blitzten im Licht der Morgensonne. Agatha war eine zuverlässige Kraft. Wieder klingelte sein Telefon. Das Display zeigte an, dass der Ruf aus dem Haus kam. Brenda wünschte ihn zu sehen. Nur widerwillig hob er ab.

„Brenda, was gibt es?“

„Was es gibt? Du hast Nerven. Ich liege hier und kann mich kaum rühren. Wo bleibt Agatha? Ich hab schon zweimal in der Küche angerufen, aber sie hört nicht. Sie soll das Frühstück abräumen.“

„Agatha hat sich eben bei mir gemeldet. Sie fällt die nächste Zeit aus. Sie hat sich den Arm gebrochen“, gab er Auskunft.

„Was? Das kann doch wohl nicht wahr sein.“ Brendas Stimme klang empört und gar nicht nach Anteilnahme. Das war nichts Neues. Schon immer hatte sie wenig Empathie für ihre Mitmenschen gezeigt. Vincent fragte sich, wie er sich jemals in Brenda hatte verlieben können. Er war offenbar blind gewesen für alle Anzeichen, dass sie nicht zusammen passten.

„Dann musst eben du kommen und abräumen. Ich habe keine Lust, den ganzen Vormittag oder noch länger das benutzte Geschirr hier stehen zu haben.“

„Du wirst dich einen Moment gedulden müssen“, erwiderte er, mühsam beherrscht. „Ich komme, aber ich bin nicht dein Angestellter oder dein Laufbursche.“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, legte er auf. In seinem Bauch brodelte es. Was fiel ihr ein, ihn herumzukommandieren wie einen Dienstboten? Aber warum regte er sich auf? Brenda würde sich nie ändern. Eine gewisse Hochnäsigkeit war ihr wohl angeboren, und zudem war sie vor allen Dingen die einzige Tochter eines vermögenden Mannes, der in späten Jahren zum ersten Mal Vater geworden war und sein Kind finanziell verwöhnt, auf Händen getragen und in Watte gepackt hatte. Brenda war sich selbst der Mittelpunkt ihres Daseins. Die Menschen in ihrem Leben waren ihrer Ansicht nach dazu da, ihren Wünschen nachzukommen.

Vincent erhob sich von seinem Sessel und warf einen Blick auf die Uhr. Eigentlich hätte er in einer Stunde in der Firma sein müssen. Doch das hieß, Brenda bis zum späten Nachmittag allein zu lassen. Im Grunde ging das überhaupt nicht. Er musste seiner Sekretärin Bescheid sagen. Sie würde sämtliche Termine für ihn für heute absagen müssen. Er verließ sein Büro und schritt durch die geräumige Wohnhalle, die in einen Gang mündete, von dem mehrere Türen abgingen. Er klopfte kurz an die zweite Tür und öffnete sie, ohne eine Aufforderung abzuwarten.

Brenda saß aufrecht in ihrem Bett, vor sich das Tablett mit dem Frühstück, das er ihr eine Stunde zuvor gebracht hatte. Ihre kinnlangen, rot gefärbten Locken standen wirr um ihren Kopf. Der Blick ihrer grünen Augen durchbohrte ihn förmlich, und ihre Sommersprossen stachen von der hellen Haut ab. Es tat ihr nicht gut, ständig im Bett zu liegen und ihr Schicksal zu beklagen.

„Der Tee war zu dünn“, ließ sie ihn wissen, kaum dass er im Zimmer stand. Vincent gab keine Antwort, stattdessen griff er nach dem Tablett.

„Und wie soll das jetzt weitergehen ohne Agatha?“, erkundigte sie sich. Vincent richtete sich auf und sah auf seine Frau hinunter.

„Ich lasse mir etwas einfallen. Heute Vormittag bleibe ich jedenfalls zu Hause“, informierte er sie.

„Und was ist am Nachmittag? Wer kocht? Außerdem wollte ich nach draußen. Die Sonne scheint, meine Wetter-App sagt, es soll heute ein warmer Tag werden.“

„Wie gesagt, ich bin die nächsten Stunden hier. Du musst nicht verhungern, und in den Garten bringe ich dich auch. Am Nachmittag habe ich ein paar Vorstellungstermine für deine neue Gesellschafterin. Dann bin ich also auch hier, wenn auch nicht ständig abkömmlich.“

Brenda riss die Augen auf, in denen es wütend blitzte.

„Vorstellungstermine? Du hast also tatsächlich inseriert?“

„Natürlich. Agatha ist seit Jahr und Tag für den Haushalt zuständig, nicht für Krankenpflege und Unterhaltung. Und ich muss mich um die Firma kümmern. Wir können beide nicht ständig zur Verfügung stehen.“

„Du willst nicht zur Verfügung stehen“, fuhr Brenda ihn an. Vincent trat einen Schritt vom Bett weg und hielt noch immer das Tablett in Bauchhöhe vor sich.

„Du bist gegangen, Brenda“, erinnerte er sie. „Ich helfe dir, so gut ich kann, bis du dein Leben wieder selbst in die Hand nehmen kannst.“

Feine Röte stieg in die Wangen seiner Frau.

„Colin ist ein Idiot. Ich habe es leider zu spät gemerkt.“

„Ich kenne deinen Liebhaber nicht und mag auch nicht über ihn urteilen. Du hast deine Entscheidung getroffen. Ich hoffe sehr, dass es dir bald sehr viel besser geht.“

„Meinen Exliebhaber“, betonte Brenda. Vincent zuckte mit den Schultern. Dass seine Frau ihn betrogen und verlassen hatte, tat nicht mehr weh. Höchstens eine Spur Kränkung spürte er noch.

„Wie dem auch sei. Die Scheidung ist eingereicht, und ich sehe keinen Grund, sie zurückzuziehen.“

Die leichte Röte auf Brendas Wangen war verschwunden. Sie saß aufrecht im Bett und hielt Schultern und Rücken so gerade, wie es ihr möglich war.

„Ich möchte die Frauen sehen, die sich vorstellen“, verlangte sie.

„Nein“, entgegnete Vincent. „Du wirst sie nur alle vergraulen. Du wirst diejenige, für die ich mich entschieden habe, danach kennenlernen.“

*

Laura Hamilton warf einen Blick auf ihr Navigationsgerät, das sie zu der eingegebenen Adresse in der Grafschaft Cork leiten sollte. Längst hatte sie die bunten Häuser der Ortschaft hinter sich gelassen, doch noch immer lagen etwa fünf Minuten Fahrzeit vor ihr, sagte das Gerät. Wo, um Himmels willen, wohnte dieser Vincent Graham? Völlig abgelegen in der Einöde? Oder hatte sie die Adresse falsch eingegeben? Inzwischen waren es nur noch vier Minuten laut Navi. Nun war sie schon über anderthalb Stunden unterwegs, jetzt würde sie auch noch bis zum angeblichen Ziel fahren. Umkehren konnte sie immer noch, sie war früh dran für das Vorstellungsgespräch. Wenn sie etwas im Augenblick reichlich hatte, dann Zeit. Alle Zeit der Welt sozusagen. Niemand wartete mehr auf sie. Ein schwerer Druck legte sich auf ihr Gemüt. Ihr Freund hatte es vorgezogen, wieder als Single zu leben. Angeblich fühlte er sich in der Enge einer Beziehung, so seine Worte, nicht wohl. Die gemeinsame Wohnung hatte laut Vertrag nur er angemietet, und ihre Stelle war Laura auch los. Letzteres allerdings auf eigenen Wunsch, denn sie hätte es nicht ertragen, Adrian weiterhin jeden Tag zu sehen. Sie sah rasch auf die Uhr. Nun gut. Endlos Zeit hatte sie dennoch nicht, sie wollte ja pünktlich zu ihrem Termin. Sie lenkte den Wagen die endlose Küstenstraße entlang. Links glitzerte die Sonne auf dem Atlantik, rechts erstreckten sich sattgrüne hügelige Wiesen, auf denen gemütlich Schafe weideten. In dicken Büscheln blühten lila und weiße Blumen am Straßenrand. Laura schnürte es die Kehle zu. Früher hatten Adrian und sie solche Tage für Ausflüge genutzt. Zu Fuß oder mit dem Fahrrad und oft mit einem Picknick dabei. Bestimmt hatte er eine andere Frau kennengelernt und hatte es ihr nur nicht sagen wollen. In ihr schien es düster zu werden, trotz des herrlichen Tags. Noch eine Minute, sagte das Navi. Die Straße machte eine Biegung nach rechts, und in weniger als einer halben Meile erhob sich ein stattliches Anwesen, das Laura an ein Herrenhaus vergangener Tage erinnerte. Sie drosselte die Geschwindigkeit, fuhr an den Straßenrand und hielt an. Das Gebäude war zwei Stockwerke hoch und aus üppigen grauen Steinen gemauert. Schmale hohe Fenster mit weißen Sprossen waren in die Fassade eingelassen, und über weite Teile der Außenmauer wuchs dichter Efeu. Im Garten, der anscheinend weitläufig um das Haus angelegt war, wuchsen Rosensträucher, deren Knospen am Aufbrechen waren. Schmale kiesbestreute Wege durchzogen das Grundstück, das von einer mannshohen Mauer eingefasst war. Die Zufahrt zum Haus wurde von einem schmiedeeisernen zweiflügeligen Tor gesichert, das im Augenblick jedoch offenstand. Seitlich davor parkte ein roter Kleinwagen. Die Haustür ging auf, und eine sehr schlanke Frau mit kurzen schwarzen Haaren eilte die wenigen Stufen hinunter, die sich unter dem von Säulen gestützten Vordach des Gebäudes befanden. Zügig kam sie den Kiesweg entlang, schritt durch das Tor und stieg in das rote Auto. Sekunden darauf glitt das kleine Fahrzeug an Laura vorüber. Sie hatte einen schnellen Blick auf die Fahrerin erhaschen können. Vielleicht eine Konkurrentin, die sich um die ausgeschriebene Stelle als Pflegerin beworben hatte. Laura seufzte leise und ließ den Motor ihres Autos wieder an. Wenn sie nicht zu spät kommen wollte, musste sie jetzt vorstellig werden. Sie fuhr bis zum Tor und parkte ihren Wagen an der Stelle, an der zuvor das rote Auto gestanden hatte. Der Kies knirschte unter ihren bequemen Schnürschuhen, und für einen Moment sah sie die Frau vor sich, die eben das Haus verlassen hatte. Blaues Kleid, korrekt und hochgeschlossen, mit langen Ärmeln. Eine kleine schwarze Handtasche aus Lackleder, farblich passende Pumps. Und sie kam nun in Jeans und T-Shirt. Wenn sie sich das Anwesen ansah, war sie viel zu salopp gekleidet für eine Anstellung in diesem Haus bei diesem Vincent Graham. Irgendetwas sagte ihr der Name, je länger sie nachdachte. Als sie sich um die Stelle beworben hatte, hatte sie allerdings recht wenig nachgedacht. Lediglich die Notwendigkeit, so rasch als möglich wieder Geld zu verdienen, hatte sie vorwärtsgetrieben. Zudem waren Unterkunft und Verpflegung zusätzlich zum Gehalt mit angeboten worden. Bekam sie den Posten, war wenigstens ein Teil ihrer Probleme fürs Erste gelöst. Gab es nicht eine Fabrik in Cork, die sich Graham-Clothes nannte? Ihr Mund wurde trocken. Am Ende hatte dieser Mister Graham mit dem Betrieb etwas zu tun? Die Größe seines Hauses ließ jedenfalls darauf schließen, dass er gut verdiente. Zögerlich stieg sie die Stufen zur Eingangstür hinauf und drückte auf die messingfarbene Glocke, die ins Mauerwerk eingelassen war. Fast sofort wurde geöffnet. Vor ihr stand ein attraktiver großer Mann mit braunen lockigen Haaren, die ihm widerspenstig in die Stirn fielen. Seine Haut war zart gebräunt, und er trug ein weißes Polo-Shirt zu einer Jeans.

„Mister Graham?“, erkundigte Laura sich und umfasste den Riemen ihres braunen Lederbeutels, den sie als Handtasche nutzte, fester. Der Angesprochene nickte, und die Andeutung eines Lächelns zog seine Mundwinkel auseinander. Er hielt ihr die Hand hin.

„Miss Hamilton, nehme ich an?“

„Ja.“ Sie erwiderte seinen Händedruck.

„Kommen Sie herein. Wir gehen in mein Büro.“

Laura folgte ihm und sah sich so unauffällig wie möglich in dem großen Eingangsbereich des Hauses um. Auf hellem Marmorboden lag ein rot gemusterter Teppich, von der stuckverzierten Decke hing ein stattlicher Leuchter herab. In sämtlichen Ecken der Wohnhalle standen bunte kleine Sessel und dazwischen viele Grünpflanzen. Eine breite Treppe führte nach oben. Vincent Graham öffnete eine der dunklen Holztüren, die vom Eingangsbereich abgingen.

„Bitte sehr“, sagte er und ließ sie vortreten. Der Raum wurde von deckenhohen randvollen Bücherregalen sowie einem stattlichen Schreibtisch beherrscht.

„Setzen Sie sich“, fuhr Vincent Graham fort und zeigte auf einen hölzernen Stuhl mit gedrechselten Beinen und Armlehnen. Der mit dunkelrotem Leder bezogene Sitz machte einen verschlissenen Eindruck. Laura zwang sich, sich nicht mehr umzusehen, als sie es ohnehin schon getan hatte. Hier sprach alles von Vermögen und vornehmer Herkunft. Sicher war das Haus schon lange in Familienbesitz. Beklommen nahm sie Platz. Mister Graham setzte sich hinter seinen Schreibtisch und musterte sie.

„Schön, dass Sie pünktlich sind“, eröffnete er das Gespräch und zog ein paar Papiere aus einer Schublade. Laura erkannte ihr Bewerbungsschreiben.

„Das ist doch selbstverständlich“, antwortete sie. Mister Graham lächelte kurz.

„Zwei der Damen vor Ihnen haben das nicht so genau genommen.“

Er überflog die Papiere, die er in der Hand hielt.

„Sie haben bisher in einem Fotogeschäft gearbeitet? Haben Sie Erfahrung in der Krankenpflege? Ich finde hier gar keinen Hinweis.“ Er runzelte die Stirn. Laura durchlief es unangenehm warm.

„Ja, das stimmt. Ich dachte nur… Nun, ich habe eine Zeitlang meinen Großvater gepflegt.“ Fast wäre sie rot geworden. Liebe Güte. Die sogenannte Pflege hatte sich auf knapp drei Wochen Unterstützung im Alltag belaufen, ehe der alte Herr mit 88 Jahren ganz sanft entschlafen war. Bis dahin hatte ihr Großvater, rüstig und bei bester Gesundheit, keine Hilfe gebraucht, ehe er wegen plötzlicher Gelenkprobleme zunehmend mit Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt hatte.

„So, so“, erwiderte Vincent Graham. Er legte die Papiere vor sich und die Fingerspitzen aneinander.

„Laut Ihrer Unterlagen haben Sie bei ‚Lamonts Photos‘ selbst gekündigt. Darf ich fragen, warum?“

Nun wurde sie tatsächlich rot.

„Es gab Differenzen.“

„Aha“, machte Mister Graham. Ein paar Sekunden war es quälend still im Raum.

„Darf ich fragen, welcher Art diese Differenzen waren?“

Nun schoss ihr doch die Hitze ins Gesicht. Sie räusperte sich.

„Mister Lamont und ich… Wir, nun… Wir hatten eine Beziehung“, stieß sie hervor und verknotete die Finger.

„Gut. Ich verstehe.“

„Bitte, Mister Graham. Ich brauche die Stelle. Ich werde mir alle Mühe geben.“ Sie hätte sich ohrfeigen mögen. Sie hatte um den Posten nicht betteln wollen.

Vincent Graham nickte.

„Nun, Miss Hamilton“, fuhr er fort. „Im Grunde suche ich auch gar nicht unbedingt eine Pflegerin für meine Frau. Gesellschafterin trifft es wohl eher. Von daher dürften Ihre fehlenden Referenzen nicht allzu sehr ins Gewicht fallen.“

Laura gab keine Antwort. Ihr Herz klopfte heftig. Hauptsächlich lag dies wohl an ihrer Furcht, die Stelle nicht zu bekommen und damit quasi auf der Straße zu sitzen. Für ein oder zwei Wochen konnte sie sich in eine günstige Pension einmieten, um überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben. Doch dann waren ihre wenigen Ersparnisse aufgebraucht. Zum anderen verwirrte sie ihr attraktives Gegenüber. Unter seinem Polo-Shirt erkannte sie kräftige Muskeln, und beim Anblick seiner zart gebräunten, festen Oberarme überlegte sie, wie es sich anfühlen mochte, von diesem Mann umarmt zu werden.

„Miss Hamilton?“

„Ja?“ Erschrocken wandte sie dem Gespräch wieder ihre Aufmerksamkeit zu.

„Ich sagte eben, meine Frau ist vor ein paar Monaten vom Pferd gestürzt. Seit einigen Wochen ist sie… zu Hause, jedoch weitgehend ans Bett gefesselt. Sie kann es nur mit Hilfe und mit einem Rollstuhl für ein bis zwei Stunden am Tag verlassen. Es bestehen durchaus Chancen, dass sie wieder gesund wird, doch es dauert seine Zeit.“

Laura nickte.

„Was hätte ich für Aufgaben?“, erkundigte sie sich, nur, um auch etwas zu sagen.

„Ein wenig Hilfe beim Ankleiden, wenn meine Frau es möchte. Das meiste schafft sie allein. Sie hat gern Gesellschaft beim Fernsehen, um sich über die Sendungen unterhalten zu können. Gemeinsam Handarbeiten, Essen bringen und so weiter.“

Wieder nickte sie. Graham musterte sie. Nun gut. Er schien nicht überzeugt zu sein, dass sie die Richtige für die Stelle war. Im Grunde war sie auch nicht überzeugt. Doch als sie das Stellenangebot in der Zeitung gelesen hatte, hatte sie nicht lange überlegt.

„Hören Sie, Miss Hamilton. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ich bin sozusagen in einer Notlage. Ich bin beruflich sehr eingespannt und viel unterwegs. Brenda kann nicht allein bleiben. Bisher hat Agatha, meine Haushälterin, viel nach meiner Frau gesehen. Doch heute Morgen hat sie mich angerufen. Sie fällt für einige Wochen aus, weil sie sich den Arm gebrochen hat. Können Sie sich vorstellen, sowohl im Haushalt das Nötigste zu tun, als auch Brenda etwas Unterhaltung zu verschaffen?“

Heiß durchlief es sie, und sie spürte sogar einen winzigen Funken freudige Erleichterung. Nach dem Kummer der letzten Wochen wunderte sie sich, zu derartigen Empfindungen überhaupt noch fähig zu sein.

„Natürlich kann ich mir das vorstellen“, erwiderte sie eilig.

„Sie müssten allerdings sofort anfangen“, teilte Mister Graham ihr mit.

„Das ist kein Problem“, versicherte Laura. „Ich habe alles, was ich brauche, im Auto.“ Viel war es ja nicht, was ihr gehörte. Das meiste, was sie und Adrian in den vergangenen Jahren angeschafft hatte, war sein Besitz.

Vincent Graham beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch.

„Ich möchte ehrlich zu Ihnen sein, Miss Hamilton. Brenda ist nicht ganz einfach. Zudem müssten Sie wirklich rund um die Uhr verfügbar sein. Sie können ein Zimmer direkt neben ihrem beziehen. Dazu gehört auch ein kleines Bad. Dann wären Sie auch nachts ansprechbar. Wenn Sie aus irgendwelchen Gründen das Haus verlassen wollen, müssen wir das vorher absprechen, dann werde ich hier sein. Wenn Sie in den Garten möchten, müssen Sie Ihr Handy dabei haben, damit Brenda Sie erreichen kann. Sie haben doch ein Handy?“

„Klar“, erwiderte sie und erschrak. Sie hatte sich nicht so salopp ausdrücken wollen.

„Gut. Was es sonst noch zu besprechen gibt, klären wir am besten heute Abend. Vielleicht möchten Sie mit mir essen? So gegen sieben Uhr?“

„Gern.“ Sie spürte ein Prickeln durch ihren Körper laufen. Schade, dass dieses gemeinsame Essen nur ihrer Einweisung in ihre neue Tätigkeit diente.

„Schön.“ Vincent Graham stand auf. „Kommen Sie. Ich stelle Sie jetzt meiner Frau vor, und dann zeige ich Ihnen das Haus sowie alles, was Sie wissen müssen.“

*

„Brenda? Ich möchte dir Laura Hamilton vorstellen. Sie hilft uns, die Zeit zu überbrücken, bis Agatha wiederkommt, und sie wird auch für dich da sein.“

Laura lächelte der Frau zu, die von mehreren Kissen gestützt in einem überbreiten Bett saß. Der Raum, den sie betreten hatten, war hell und freundlich. An den Wänden klebte eine weiße Tapete mit geprägtem Blumenmuster. Vor den Fenstern hingen zarte hellblaue Vorhänge, und auf dem cremefarbenen Parkett lag ein dünner Teppich, ebenfalls in Blautönen gehalten. Auf einem weißen Schminktisch mit ovalem Spiegel stand ein üppiger Strauß blauer und weißer Hyazinthen in einem dickbauchigen Krug. Ihr Duft erfüllte den ganzen Raum. Brenda Graham hatte rote Locken, kinnlang, trug eine auffällige Brille mit grünem Kunststoff-Gestell und hielt ein Buch in der Hand, das sie bei ihrem Eintreten hatte sinken lassen. Die Frau taxierte sie ohne jede Freundlichkeit. Laura beschloss, sich davon nicht beeindrucken zu lassen. Sie trat an das Bett von Misses Graham und hielt ihr die Hand hin.

„Guten Tag, Misses Graham“, sagte sie und lächelte weiter. Brenda ignorierte ihr Bestreben, sie zu begrüßen, komplett. Laura ließ die Hand sinken. Wut kroch in ihr hoch. Welch eine Unverschämtheit. 

„Ich nehme an, du hast bereits eine Zusage gemacht, ohne dich mit mir abzusprechen“, sagte die Frau stattdessen und sah dabei ihren Mann an.

„Darüber haben wir doch schon gesprochen“, antwortete dieser geduldig.

„Das sehe ich anders. Aber gut, ich habe offenbar kein Mitspracherecht. Wo haben Sie bisher gearbeitet, Miss…?“ Sie verzog keine Miene, während sie sprach.