5,99 €
Dale Nelson, ein begabter Schauspieler und Medizinstudent, begibt sich als Patient des Psychiaters Dr. Wolf Sheridan in eine Nervenklinik bei Chicago. Nelson gilt als hemmungsloser Alkoholiker, aber in Wirklichkeit sammelt er Beweismaterial, um einen Mörder zu entlarven...
Der Roman Der Mann mit der Gartenschere des US-amerikanischen Kriminal-Schriftstellers Winfred Van Atta (* 18. Oktober 1910; † 05. Juni 1990) erschien erstmals im Jahr 1961; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1964.
Der Roman wurde bereits 1964 unter dem Titel Der Mörder mit der Gartenschere (Regie: Denis Sanders) verfilmt. In den Hauptrollen: Stuart Whitman, Carol Lynley, Roddy McDowall und Lauren Bacall.
Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Psychothriller-Klassikers.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2022
WINFRED VAN ATTA
Der Mann
mit der Gartenschere
Roman
Signum-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DER MANN MIT DER GARTENSCHERE
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Dale Nelson, ein begabter Schauspieler und Medizinstudent, begibt sich als Patient des Psychiaters Dr. Wolf Sheridan in eine Nervenklinik bei Chicago. Nelson gilt als hemmungsloser Alkoholiker, aber in Wirklichkeit sammelt er Beweismaterial, um einen Mörder zu entlarven...
Der Roman Der Mann mit der Gartenschere des US-amerikanischen Kriminal-Schriftstellers Winfred Van Atta (* 18. Oktober 1910; † 05. Juni 1990) erschien erstmals im Jahr 1961; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1964.
Der Roman wurde bereits 1964 unter dem Titel Der Mörder mit der Gartenschere (Regie: Denis Sanders) verfilmt. In den Hauptrollen: Stuart Whitman, Carol Lynley, Roddy McDowall und Lauren Bacall.
Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Psychothriller-Klassikers.
Die Hilo-Bar ist ein Bumslokal am Rande des Loop in Chicago, ein paar Blocks tiefer in der Wabash Avenue, unterhalb des Kaufhauses Marshall Field & Co. Ich fand mich dort nun schon zum dritten Mal in drei Tagen kurz nach Mittag ein und ging zur Theke. Red, der Barmann, war allein im Lokal. Er legte seine Rennzeitung weg, glitt vom Hocker und kam mir finsteren Blicks entgegen.
»Na, da wären wir ja wieder«, sagte er. »Wie geht es dem unglücklich Liebenden heute?«
»Geben Sie mir einen Whisky und ein Bier.«
Er schenkte den Whisky ein und zapfte ein kleines Bier ab. Als er sich zur Registrierkasse umdrehte, goss ich den Schnaps schnell auf den Boden. Dann nahm ich einen Schluck Bier.
»Noch einen, Red.«
Er fuhr herum und sah mich an.
Ich sagte: »Jaja, ich bin sternhagelvoll. Trotzdem noch einen.«
»Hören Sie, altes Haus, Sie sollten damit Schluss machen. Noch einmal so etwas wie gestern, und Sie können Ihr Testament machen. Wann haben Sie sich zuletzt rasiert? Wahrscheinlich haben Sie die ganze Woche nichts Ordentliches gegessen. Das ist das letzte Glas, das Sie heute von mir bekommen. Das ist sie doch gar nicht wert, Mann! Die Frauen sind alle gleich.«
»Ich bringe sie um, Red«, sagte ich. »Sie ist eine ganz elende...«
»Schon gut! Fangen wir nicht wieder davon an! Gestern hat mir gerade gereicht. Gehen Sie lieber nach Hause und schlafen Sie Ihren Rausch aus!«
Während er Whisky nachschenkte, ging ich in die Telefonzelle am anderen Ende des Raumes und schloss die Tür. Red konnte mich sehen, aber nicht hören. Ich warf eine Münze ein und wählte John Babsons Nummer. Als er sich endlich meldete, sagte ich: »Hier spricht Dale Nelson, Mr. Babson. Es ist soweit.«
»Gut«, entgegnete er. »Denken Sie daran, Sie müssen alles ganz echt darstellen. Geben Sie der Polizei meinen Namen und meine Rufnummer an, nachdem man Sie festgenommen hat. Bestehen Sie darauf, dass man mich anruft; Sind Sie tatsächlich betrunken?«
»Ausreichend.«
»Also dann - alles Gute! Haben Sie alle Ihre Papiere in der Brieftasche?«
»Ja.«
»Alles hängt davon ab, wie Sie es durchführen.«
»Machen Sie sich deshalb keine Sorgen. Wir sehen uns im Bezirkskrankenhaus wieder.«
Ich hängte auf und verließ die Telefonzelle. Leicht taumelnd und vor mich hinmurmelnd kehrte ich zur Theke zurück.
»Hat sie schon wieder nicht mit Ihnen reden wollen?«, fragte Red. »Gescheites Mädchen. Steigt tagtäglich in meiner Achtung.« Ich hob das Schnapsglas an die Lippen und leerte es mit einem Schluck. »Noch einen.«
Red nahm die Flasche und stellte sie ins hintere Regal.
»Jetzt ist Schluss. Mehr gibt’s nicht. Wenn Sie sich volllaufen lassen wollen, von mir aus, aber nicht hier drin. Trinken Sie Ihr Bier aus und verschwinden Sie!«
»Geben Sie mir ein Streichholzheftchen.«
Er warf es mir hin. Ich steckte es in die Tasche. Dann legte ich einen Dollarschein auf die Theke. »Nur noch einen, Red.«
»Hinaus jetzt!«
»Da liegt mein Geld! Wenn ich bestelle, müssen Sie mich bedienen.«
Seine Augen funkelten vor Wut, und sein dicker Hals blähte sich wie bei einer Brillenschlange. Er kam wie ein Boxer mit kurzen, tänzelnden Schritten hinter dem Schanktisch vor, packte mich am Kragen und am Arm und drängte mich zur Tür.
»Und kommen Sie ja nicht wieder!« empfahl er mir und stieß mich auf die Straße.
Ich starrte ihn blöde an, schwankte vor und zurück, ließ eine wenig schmeichelhafte Bemerkung über seine Vorfahren fallen, dann drehte ich mich um und torkelte auf das Kaufhaus Marshall Field & Co. zu. Der letzte Whisky hatte mich geschafft.
Kaum hatte ich das Kaufhaus betreten, wurde ein Hausdetektiv auf mich aufmerksam. Er folgte mir dicht auf den Fersen, als ich durch das Geschäft zur Schmuckabteilung wanderte. Ich zögerte, wandte mich der Nische zu und spähte in jeden Schaukasten. Schließlich machte ich beim Stand mit den Verlobungs- und den Trauringen halt.
Ein Verkäufer näherte sich.
»Womit kann ich dienen, Sir?«
Ich begann hin und her zu wanken, rollte mit den Augen, stieß einen schrillen Schrei aus und trat mit dem Fuß die Verglasung des Schaukastens ein.
Eins muss man Fields lassen. Das Aufsichtspersonal dort ist erstklassig. Ich wurde von zwei Seiten angegriffen und lag plötzlich mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. Mein rechter Arm war auf dem Rücken gegen das Schulterblatt hin verdreht.
»Ich hab’ ihn«, sagte einer der Hausdetektive. »Der muss verrückt sein! Mir ist er gleich aufgefallen, als er hereinkam. Ruft die Polizei!«
Der Verkäufer kam hinter dem Ladentisch hervor, um mich halten zu helfen.
»Bestimmt ist er verrückt«, meinte er. »Haben Sie den Schrei gehört?«
»Und ob. Mike soll sich beeilen. Wir schaffen ihn am besten in den Warenaufzug, bevor das ganze Haus davon erfährt.«
Der andere Detektiv kam zurück. Gemeinsam trugen sie mich zum Lastenaufzug und ließen ihn ins Erdgeschoss hinab, wo er sich auf eine Laderampe in einer Seitengasse öffnete. Ein Streifenwagen und zwei Polizeibeamte erwarteten mich bereits.
Sie fragten die Detektive aus. Dann führten sie mich zu ihrem Wagen, wo ich zwischen ihnen auf dem Vordersitz Platz nehmen musste. Ich sank vornüber, bis mein Kopf die Knie berührte.
»Riecht wie ein Schnapsbruder«, sagte einer der Beamten. »Der muss ja wirklich übergeschnappt sein, wenn er solche Sachen macht. Ein armer Teufel ist er auch nicht. Sieh dir mal seinen Anzug an!«
Ich tat, als hätte ich das Bewusstsein verloren, während sie mich ins Polizeirevier fuhren.
Der diensthabende Sergeant unternahm einen Versuch, mich zu verhören, aber ich spielte nicht mit. Ich wiederholte ständig in singendem Tonfall: »Ich will meinen Anwalt. Er heißt John Babson. Rufen Sie John Babson, Whitehall 9-2000. Holen Sie meinen Anwalt...«
Er trug mich in sein Register unter dem Namen Carl Anderson ein, gemäß den Dokumenten in meiner Brieftasche. Als er mit dem Schreiben fertig war, wandte er sich an einen Officer: »Rufen Sie Doktor Kiley.«
Der Arzt traf zwanzig Minuten später ein. Er untersuchte mich.
»Blau wie ein Veilchen«, stellte er fest. »Befindet sich möglicherweise am Rande des Deliriums tremens. Wir schicken ihn vorsichtshalber ins Bezirkskrankenhaus. Was ist über ihn bekannt?«
»Er wohnt am North Shore Drive - gute Adresse. Hat ein Streichholzheftchen aus der Hilo-Bar in der Wabash Avenue bei sich. Ich schicke jemanden hin. Er verlangt dauernd nach einem Anwalt.«
»Tun das nicht alle?«, seufzte der Arzt. »Hier ist die Einweisung ins Krankenhaus. Meinen Bericht schicke ich direkt dorthin an Doktor Buchanan.«
»Wollen Sie ihm denn nichts verabreichen, Doktor?«, fragte der Sergeant.
Der Arzt lachte.
»Warum fürchtet ihr tapferen Polizisten euch so vor Psychopaten? Die meisten sind völlig harmlos. Dieser hier könnte kaum noch ein zusätzliches Beruhigungsmittel vertragen. Bringt ihn lieber rasch fort, bevor ihr Eimer und Waschlappen holen müsst.«
Ich stöhnte und drehte mich auf der Bank herum. Zwei Polizeibeamte packten mich und schleppten mich zu einem Funkstreifenwagen hinaus.
Ich stellte mich schlafend, als sie über den Loop fuhren. An den Kreuzungen ließen sie die Sirenen aufheulen.
»Diese Kerle machen mir angst und bange«, sagte einer der Beamten. »Man weiß nie, wie man mit ihnen dran ist. Wo bringen wir ihn hin?«
»Der Eingang für Neuzugänge ist um die Ecke. Schnell - ich glaube, ihm wird schlecht!«
Sie hielten in der Einfahrt, halfen mir beim Aussteigen und zwangen mich, aufrecht zu stehen. Ein Wärter in weißem Kittel schob eine Bahre auf Rädern heran. Sie legten mich darauf, ließen sich meine Einlieferung quittieren und eilten zu ihrem Wagen zurück.
»Nur keine Aufregung«, beruhigte mich der Wärter, während er die Bahre in den Fahrstuhl rollte. »Ihnen fehlt jetzt ein schöner, langer Schlaf.«
Man nahm meine Kleidungsstücke in Empfang, stellte mich unter die Brause, zog mir ein Hemd über den Kopf, führte mich anschließend auf die Alkoholiker-Station und steckte mich in ein Bett neben dem eines alten Mannes, der kreischte und sich angstgepeinigt in seine Kissen drückte, während seine Augen etwas Grässliches und Furchteinflößendes verfolgten, das sich an der Zimmerdecke hin und her zu bewegen schien.
Ein Assistenzarzt und ein kräftiger Wärter kamen hereingelaufen und gaben ihm eine Injektion in sein mageres Hinterteil.
Als sie mit dem alten Mann fertig waren, wandte sich der Assistenzarzt mir zu.
»Der da sieht mir auch nicht ganz geheuer aus«, meinte er. »Da wir schon hier sind, flößen wir ihm gleich Paraldehyd ein. Gott, was für ein Tag! Heute nehmen die Einlieferungen kein Ende. Sie werden ihn halten müssen. Er wird uns Schwierigkeiten machen.«
Die Schnabeltasse verletzte mir das Zahnfleisch, als der Assistenzarzt sie mir zwischen die Zähne zwängte. Flüssiges Feuer versengte mir die Kehle, und ich rang nach Luft, aber der Wärter hielt mir die Nase zu, bis alles unten war. Nach ein paar Minuten erfüllten mich Ruhe und Wohlbehagen. Die angstvollen Rufe aus den mich umgebenden Betten verwandelten sich in einen Engelschor, als ich auf einer flaumigen Wolke entschwebte. Kurz bevor ich in völliges Vergessen versank, dachte ich: Höchst ungewöhnlicher Anfang zur Wiederaufnahme des Medizinstudiums!
Allmählich wachte ich auf. Ich spürte den Alkohol, der sich im Verlaufe von mehreren Tagen gleichmäßigen Trinkens in meinem Blut angesammelt hatte. Es war mir gelungen, eine Menge davon abzugeben, aber ich hatte auch eine Menge davon zu mir genommen. Zehntausend Teufelchen, deren jedes seinen winzigen Dreizack in eine empfindliche Stelle stieß, hielten in meinem Kopf einen Wettbewerb im Stabhochsprung ab. Das Paraldehyd hatte in meinem Mund einen widerlichen Geschmack hinterlassen. Mir war, als würde mit Schmirgelpapier über mein Gesicht gerieben.
Ich schlug plötzlich die Augen auf. Eine junge Schwesternschülerin lächelte auf mich herab. Sie besaß die blauesten Augen, die ich je gesehen hatte, und sie hielt einen Waschlappen in der Hand.
»Gehen Sie weg«, sagte ich. »Was ich jetzt am allerwenigsten brauche, ist...«
»Hübsch artig sein, damit ich Sie waschen kann«, unterbrach sie.
Doch als sie den Waschlappen wieder meinem Gesicht näherte, hustete ich plötzlich und hob mich hoch. Mit der Schulter stieß ich an den Krankentisch, die Waschschüssel kippte um und landete mit Getöse auf dem Fußboden.
Eine kräftige, grobschlächtige Krankenschwester, deren Gesicht in dieser Schreckenskammer keineswegs fehl am Platze wirkte, war augenblicklich zur Stelle. Es konnte kein Zweifel darüber aufkommen, wer die Station befehligte.
»Na, Miss Brennan, was ist denn jetzt schon wieder passiert?«, erkundigte sie sich. »Hat der Patient Sie zu stürmisch angehaucht?«
Das hübsche Gesicht des Mädchens rötete sich, ihre Lippen pressten sich trotzig aufeinander, doch sie beherrschte sich.
»Es war nur eine Ungeschicklichkeit, Miss Hardcastle. Müssen wir eine Affäre daraus machen?«
Der Mund der Oberschwester wurde noch grimmiger, und ihre Augen versprühten eine Gereiztheit und eine Abneigung, die ein Leben lang zu solcher Vollendung gebraucht hatten.
»Bei Gott, Brennan, wenn Sie weiterhin so frech zu mir sind, dann... Warten Sie nur, bis Sie nach Hanover kommen! Dort werden Sie erst richtig merken, was es heißt, Geisteskranke zu pflegen!«
Miss Brennan bückte sich, um Waschbecken und Seife aufzuheben. Ihre Beine waren schlank, herrlich geformt und gehörten zu einem Körper, dem selbst die steife Tracht und die Schürze nichts anhaben konnten. Sie stellte die Schüssel wieder auf den Tisch und heftete, noch immer trotzig lächelnd, den Blick auf die Oberschwester. Die Ältere wandte die Augen zuerst ab und suchte nach einem neuen Objekt, an dem sie ihre Wut auslassen konnte. Sie wandte sich an mich.
»Hören Sie mal gut zu, Freundchen«, sagte sie. »Wenn Sie das Mädchen auch nur einmal belästigen, wenn Sie noch ein einziges Mal Scherereien machen, bekommen Sie drei Tage lang nasse Wickel!« Sie drehte sich zu Miss Brennan um. »Waschen Sie den Patienten, geben Sie ihm das Frühstück, und dann melden Sie sich in meinem Büro. Mir scheint, wir müssen uns wieder einmal miteinander unterhalten.«
Miss Brennan brachte frisches Wasser. Sie schritt leichtfüßig auf ihren flachen Schwesternschuhen dahin.
»Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Ich wollte Sie nicht in Ungelegenheiten bringen.«
Das Mädchen lächelte plötzlich, und sein ganzes Gesicht erhellte sich dabei und zeigte Grübchen. Gute Laune strahlte aus den dunkelblauen Augen. Das ebenholzschwarze, kurzgeschnittene Haar ringelte sich gefällig um den Rand der Schwesternschülerinnenhaube. Die gleichmäßigen Zähne, weiß und makellos, stellten eine völlige Rechtfertigung der Zahnklammern dar, die sie als Kind zweifellos getragen hatte.
»Miss Hardcastle hat eine anstrengende Nacht hinter sich«, erklärte sie. »Und sie ist nicht so schlimm, wie sie tut. Sie hat es diese Woche eben mal auf mich abgesehen.«
»Das ist nicht schwer zu verstehen«, meinte ich. »Bei dem Gesicht muss sie, wenn sie Sie anschaut und sich dann im Spiegel sieht, Depressionen bekommen. - Sagen Sie, was hat das zu bedeuten: Warten Sie, bis Sie nach Hanover kommen?«
»Ach, das ist eine Nervenheilanstalt. In 14 Tagen fahre ich mit meiner Klasse für ein halbes Jahr Sonderschulung dorthin. Danach ist unsere Ausbildung beendet.«
Ich hätte gern gesagt: Das ist ja prachtvoll, Miss Brennan. Stattdessen sagte ich: Setzen Sie den Waschlappen wieder in Betrieb. Hier kommt der feuerspeiende Drache!«
Sie fuhr mir noch ein paarmal übers Gesicht, nahm dann das Becken und ging wortlos hinaus. Die Oberschwester schaute ihr nach und schickte sich an, ihr zu folgen.
»Einen Augenblick, Schwester«, bat ich.
Sie kam zurück.
»Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, wie hübsch Sie sind, Miss Hardcastle?«, fragte ich. »Ihre Augen, Ihr Haar...«
Sie funkelte mich an, froh, einen neuen Sündenbock gefunden zu haben. »Hören Sie auf mit dem dummen Gequassel!« wies sie mich zurecht. »Ich habe die Anpöbelungen satt! Ich sehe wie eine Hexe aus, ich fühle mich wie eine Hexe, und ich bin auch eine, wie Sie bald merken werden, wenn Sie mich weiterhin ärgern! Essen Sie Ihr Frühstück, wenn sie es bringt, und machen Sie sich präsentabel. Doktor Buchanan und Ihr Anwalt sind in einer halben Stunde da.«
John Babson und der Arzt erschienen, kurz nachdem ich festgestellt hatte, dass es mir unmöglich war, das Frühstück zu genießen, das mir Miss Brennan auf einem Tablett gebracht hatte.
»Guten Morgen, Carl«, grüßte Babson. »Ich möchte Sie mit Doktor Buchanan bekannt machen. Er ist Sachverständiger beim Bezirksgericht. Ich - ich hoffe, es geht Ihnen besser, und dass - dass Ihnen dieses unglückselige Vorkommnis eine Lehre war.« Einen Moment lang hatte ich vergessen, dass ich für die nächsten Wochen Carl Anderson heißen sollte.
»Das war es, Sir«, entgegnete ich. »Ganz bestimmt. Ich habe mich einfach kindisch benommen.«
Babson wandte sich an den Arzt.
»Sehen Sie, es ist genauso, wie ich es Ihnen erklärt habe. Der junge war geistig in schlechter Verfassung, seit seine Braut die Verlobung gelöst hat. Von nun an wird er sich zusammennehmen. Es war ihm eine Lehre.«
Der Arzt sah mich unverwandt an.
»Dieser - dieser Junge mag ja gegenwärtig ganz normal wirken«, sagte er. »Aber wie wird er sein, sobald er wieder eine Flasche Whisky in die Hand bekommt? Vergessen Sie nicht, Mr. Babson, der Barmann in der Wabash Avenue hat ausgesagt, dass er während der vergangenen drei Tage gedroht hat, seine Verlobte umzubringen. Ich glaube, dass er gefährlich sein könnte, dass er Behandlung braucht, bis er wieder ins Lot kommt.«
John Babsons Blauäuglein funkelten triumphierend, als sie meinem Blick begegneten. Ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass dieser harmlose alte Mann sich noch nie so amüsiert hatte, dass er dieses Räuber-und-Gendarm-Spiel in vollen Zügen genoss. Na, drückte sein Blick aus, alles klappt ja wie am Schnürchen.
Dr. Buchanan schaute weiterhin unter zusammengezogenen Brauen auf mich herab und ignorierte den Juristen.
»Wie alt sind Sie, Anderson?«, fragte er.
»Fast 26, Sir«, antwortete ich.
»Wie lange haben Sie getrunken?«
»Das weiß ich nicht genau, Sir. Mehrere Tage, nehme ich an.«
»War die Drohung, Ihre Verlobte umzubringen, ernst gemeint?«
»Ich - ich kann mich nicht entsinnen, derartige Drohungen ausgestoßen zu haben, Sir. Ich will sie nicht töten. Warum sollte ich?«
»Das ist eine sehr gute Frage. Eine Frage, auf die wir eine Antwort finden müssen.«
»Er ist bereit, für den in dem Kaufhaus angerichteten Schaden zu zahlen«, warf Babson ein. »Ich möchte ihm - in seinem Alter - gern eine Gefängnisstrafe ersparen. Ich übernehme persönlich für ihn die Verantwortung, falls...«
»Ich will es Ihnen ganz offen sagen, Anderson«, nahm der Arzt wieder auf. »Die kleine Eskapade, die Sie sich bei Marshall Field & Co. geleistet haben, könnte Ihnen bis zu sechs Monaten Gefängnis einbringen. Und das möchten Sie doch sicherlich nicht.«
»Nein, Sir.«
»Falls das Kaufhaus sich mit dem Schadensersatz zufriedengibt und die Anzeige gegen Sie zurückzieht - wären Sie dann gewillt, bei Gericht die freiwillige Unterbringung in einer Staatlichen Heilanstalt zu beantragen?«
»Tun Sie mit mir, was Sie für richtig befinden, Doktor. Würden Sie mir bitte erklären, was Sie unter freiwilliger Unterbringung« verstehen?«
»Sie werden einfach ein Gast des Staates. Sie verlieren keine bürgerlichen Rechte. Nach einem Aufenthalt von mindestens dreißig Tagen können Sie nach voraufgegangener schriftlicher Kündigung mit dreitägiger Frist, an den Anstaltsleiter gerichtet, Ihre Entlassung erlangen. Meiner Ansicht nach brauchen Sie Behandlung. - Nun, Anderson?«
»Wohin wollen Sie mich schicken?«
»Als freiwilliger Patient könnten Sie zwischen vier in der Nähe von Chicago gelegenen Anstalten wählen: Dunning, Elgin, Kankakee oder Hanover.«
»Hanover genießt als Heilanstalt einen vorzüglichen Ruf, Carl«, betonte John Babson bedeutungsvoll. »Ich empfehle Ihnen dringend, sich dorthin zu begeben, da Ihnen schon die Wahl freisteht.«
Ich sah den Arzt fest an.
»Also gut, ich möchte nach Hanover. Wie gehe ich da am besten vor?«
Der Arzt lächelte zum ersten Mal.
»Sie sind vernünftig«, lobte er. »So etwas kommt vor. Ich werde eine Vernehmung durch Richter Jarowski veranlassen. Eine bloße Formalität. Er handelt nach meinen Empfehlungen. In Anbetracht Ihres Alters würde ich Ihnen raten, zu erklären, dass Sie keinen Alkohol vertragen. Machen Sie es den Ärzten in Hanover nicht schwer. Im Grunde spricht nichts dagegen, dass Sie mit dem regulären Freitagbus hinfahren.«
»Darf - darf ich mich rasieren? Und erhalte ich Erlaubnis, in meine Wohnung zu gehen, um ein paar Sachen zu packen?«
Er lächelte abermals. »Ich werde die Schwester beauftragen, Ihnen einen elektrischen Rasierapparat zu leihen. Und selbstverständlich hindert Sie nichts daran, aufzustehen, sobald Ihre frische Garderobe hier ist. Mr. Babson ist gewiss so freundlich, sie Ihnen hierher zu senden.« Dabei wandte er sich an den Anwalt.
»Natürlich, Doktor. Ich werde mich unverzüglich darum kümmern. Und ich werde auch die Schadenersatzansprüche des Kaufhauses, die sich auf 800 Dollar belaufen, regeln. Sie teilen das blue dem Richter mit.«
»Selbstverständlich. - Und jetzt müssen Sie mich entschuldigen. Sie können unbesorgt ein paar Minuten mit Ihrem Klienten sprechen, wenn Sie möchten, Mr. Babson.«
»Vielen Dank, Doktor.«
Nachdem der Arzt sich ans andere Ende der Station begeben hatte, wo er einer Pflegerin Anordnungen erteilte, beugte sich John Babson über mein Bett und ergriff meine Hand.
»Fabelhaft, Nelson«, sagte er. »Das haben Sie bis jetzt einfach fabelhaft gemacht. Ich habe zuverlässig erfahren, dass Sie in den Pinel-Pavillon eingewiesen werden, sobald Sie in Hanover sind. Alle freiwilligen Alkoholiker kommen dorthin. Es handelt sich um eine offene Station. Und sie untersteht Dr. Sheridan. Sie werden sich auf dem Gelände der Heilanstalt frei bewegen dürfen. Sie müssen danach trachten, Keeler sobald wie möglich zu Gesicht zu bekommen. Er ist im Wilson-Pavillon untergebracht. Ich werde Sie in ungefähr einer Woche dort besuchen. Ihr Koffer ist doch schon gepackt, nicht?«
»Doch, seit gestern früh. Falls ich Sie brauchen sollte - wie nehme ich von dort mit Ihnen Verfeindung auf?«
»Das dürfte kaum nötig sein, aber falls doch - nun, als freiwilliger Patient werden Sie wahrscheinlich in der Lage sein, das Gelände zu verlassen und einen öffentlichen Fernsprecher aufzusuchen. Haben Sie Geld?«
»Etwa hundert Dollar. Werde ich sie behalten dürfen?«
»Gewiss doch. Sie sind ein Gast des Staates, nicht ein eingewiesener Patient. Sollten Sie mich zu Hause zu erreichen versuchen, und ich bin gerade abwesend, hinterlassen Sie eine Nachricht bei der Haustelefonistin. Ich kann Ihnen ja jederzeit in die Anstalt schreiben, falls ich neue Informationen erhalte, die Sie brauchen könnten. Ich wünsche Ihnen viel Glück. Phillip wird sich freuen, dass alles so glatt gegangen ist. Phillip hat Sie richtiggehend ins Herz geschlossen, Nelson. Wussten Sie das?«
»Mr. Wycoff ist ein nobler alter Herr und sehr großzügig. Richten Sie ihm aus, dass ich mich bemühen werde, soviel wie möglich über Keeler und Dr. Sheridan herauszubringen.«
»Das weiß ich. Doch seien Sie diskret. Die beiden dürfen nicht Verdacht schöpfen, dass Sie hinter ihnen her sind. Und noch etwas. Eine Sozialfürsorgerin wird Sie aufsuchen, um Ihren Lebenslauf aufzunehmen. Erzählen Sie die Wahrheit, lediglich Ihren wahren Namen verschweigen Sie, damit Sie sich später, wenn Sie verhört werden sollten, nicht verhaspeln. Unter keinen Umständen erwähnen Sie jedoch meinen Namen. Sheridan würde ihn in Ihren Papieren finden und stutzig werden. Ich bin überzeugt, er weiß, dass ich mich all die Jahre brieflich nach Keeler erkundigt habe. Ich komme Sie bald besuchen...«
Der Krankenbus, der Chicago jeden Freitagmorgen verlässt, fährt über die neue Congress-Street-Stadtautobahn zur Laramie Avenue und biegt dann an der Ecke Oak Park in die Bundesstraße 20 ein.
An dem Morgen, als ich nach Hanover fuhr, befanden sich 38 Patienten im Bus, von denen die meisten unruhig waren und phantasierten. Ein Assistenzarzt, eine Pflegerin und zwei Wärter begleiteten uns.
Ich fühlte mich einsam und niedergeschlagen, als ich durch das Busfenster auf die finstere, schmutzige Westseite von Chicago hinausstarrte. Das eintönige Stimmengemurmel schlug an mein Ohr. Mir schien es unglaublich, dass ich technisch unter der Vormundschaft des Staates Illinois stand und in eine Anstalt für Geisteskranke gebracht wurde.
Plötzlich musste ich an Mary Brennan denken, an die Art, wie ihre schönen Augen vor Zorn funkeln konnten, an ihre umsichtige Tüchtigkeit, an die Sanftheit und Frische, die ihr innewohnte.
Wir waren während meines Aufenthalts im Bezirkskrankenhaus gute Freunde geworden. Ich hatte ihr genug von mir erzählt, um die Geschichten einigermaßen auszugleichen, die über mein Benehmen im Kaufhaus Marshall Field & Co. in den Lokalzeitungen erschienen waren.
Sie wusste, dass ich in einer guten Gegend an der Gold Coast wohnte, dass ich früher Medizin studiert hatte und mich mit dem Gedanken trug, das Studium wieder aufzunehmen. Sie wusste auch, dass ich unverheiratet war und ohne einen einzigen Verwandten dastand. Sie glaubte, ich empfände wegen meiner Trunksucht nicht genug Reue, und befürchtete, ich würde wieder dem Alkohol verfallen, sobald ich mein eigener Herr sei. Das hatte sie bedrückt.
»Ich habe die Zeitungsartikel über Sie gelesen«, hatte sie gesagt. »Sie haben das Mädchen wohl sehr geliebt, aber Sie haben es bestimmt nicht ernst gemeint, als Sie drohten, sie umzubringen.«
»Warum nicht?«, fragte ich. »Ich war völlig betrunken, und ein Betrunkener kann sehr wohl seine Drohungen wahrmachen.«
»Unsinn! Ich bin auf der Westseite von Chicago unter lauter Irren aufgewachsen. Erzählen Sie mir nichts von Trinkern. Sie jedenfalls gehören nicht zu denen, die gewalttätig werden. Haben Sie das Mädchen geliebt?«
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, Mary, wenn dem so wäre?«
Plötzlich wurde sie wütend und sah mich fest an.
»Ich wäre keine Krankenpflegerin geworden, wenn mir nichts an den Menschen läge. Ich interessiere mich für jeden Patienten, den ich zu versorgen habe. Wenn ich an Leute wie Sie denke, dann...«
»Was dann, Mary?«
»Sie sind jung, intelligent, das ganze Leben liegt vor Ihnen, Sie könnten etwas daraus machen, aber Sie verderben sich alles mit Whisky, mit Gleichgültigkeit und Selbstzerstörungssucht. Ich kann es dem Mädchen nicht verübeln, dass es die Verlobung gelöst hat. War sie hübsch?«
»Ach ja«, sagte ich ärgerlich, »sehr. Sie glauben wohl nicht, dass ich wieder auf die Universität gehen und mein Medizinstudium beenden will?«
»Warum sollte ich auch? Ich bin jetzt seit drei Monaten auf dieser Station. Wir bekommen immer wieder dieselben Leute herein. Alle haben die besten Absichten, geben großartige Versprechen ab, ehe sie nach Hause entlassen werden, aber das Trinken ist ihre Krankheit. Sie kommen mir anders vor, aber vielleicht täusche ich mich. Sie haben sich während Ihres Aufenthalts hier benommen, als sei das Ganze ein einziger Spaß. Es ist aber kein Spaß, hierher oder nach Hanover eingewiesen zu werden. Auch ich wollte auf die Universität gehen
»Warum haben Sie’s nicht getan?«, fragte ich. »Chicago besitzt einige der besten...«
Ihre Augen blitzten zornig.
»Sehen Sie, das ist es, Anderson! Sie wissen anscheinend nicht viel von der Wirklichkeit. Ich will Ihnen sagen, warum ich nicht auf die Universität gegangen bin. Ich bin das älteste von sechs Kindern. Mein Vater ist Polizeibeamter und verdient keine siebentausend Dollar im Jahr. Es war kein Geld für Gebühren, Kleider und all die anderen Dinge da, die Sie offenbar als selbstverständlich erachten. Die Ausbildung zur Krankenpflegerin kostet hier nichts. Ich bekomme sogar ein kleines monatliches Taschengeld. Ich bin zufrieden. Ich habe vor, eine gute Pflegerin zu werden, und ich habe zwei kleine Brüder, die aufs College kommen. Dafür werde ich schon sorgen, selbst wenn ich darüber eine alte Jungfer werden sollte.«
»Haben Sie einen Freund?«
»Das geht Sie nichts an«, versetzte sie. Dann wechselte sie das Thema. »An Ihre Eltern denken Sie wohl nicht, wenn Sie an einem Ort wie diesem landen?«
»Meine Eltern starben, als ich zwei Jahre alt war«, sagte ich. »Meine Tante Mary hat mich aufgezogen. Sie starb, als ich beim Militär war. Ich brauche mich also um niemanden als um mich selbst zu kümmern.«
Irgendetwas in meiner Stimme hatte sie anscheinend tief gerührt, denn ihr Unmut verging rasch, und sie wandte sich ab, damit ich ihr Gesicht nicht sehen sollte.
»Entschuldigen Sie«, bat sie. »Ich weiß nicht, was ich ohne meine Familie täte. Wir hängen alle so sehr aneinander.«
»Erzählen Sie mir von ihnen.«
Ihre Augen wurden hell, als sie über ihre Eltern, über Onkel, Tanten, Vettern und Cousinen sprach. Ich hörte zu und fühlte mich betrogen und einsam, wie sich nur eine Waise fühlen kann.
Als sie geendet hatte, sagte ich: »Ihr Vater muss ein guter Vater und ein guter Polizeibeamter sein. Es wäre bestimmt nicht recht, wenn ein Süffler wie ich mit seiner Tochter ausgehen wollte - ich meine, sobald ich aus der Anstalt komme, in einem Monat oder so.«
»Mein Vater ist Kriminalbeamter und tut seit fünf Jahren Dienst beim Morddezernat. Er ist ein recht guter Menschenkenner, Anderson. Ich glaube, er hätte nicht viel dagegen, wenn er sich darauf verlassen könnte, dass Sie künftig das Trinken aufgeben.«
»Und Sie? Was würden Sie dazu sagen, wenn ich Sie nach Ablauf meiner Kur in Hanover um ein Rendezvous bäte?«
»Wenn ich wüsste, dass es Ihnen mit der Wiederaufnahme des Studiums ernst ist, dass Sie aus Ihrem Aufenthalt hier und in Hanover eine Lehre ziehen - dann ließe sich über das Angebot reden. Und was ist mit dem Mädchen, das Sie umbringen wollten?«
Plötzlich schien es mir sehr wichtig, dass Mary Brennan die Wahrheit über mich erfuhr: dass ich nicht der kranke, verwirrte and verantwortungslose Mensch war, für den sie mich hielt.