5,99 €
Am Ortseingang von Brockport, Illinois, steht auf einem Schild: Ein hübscher Ort zum Leben und zum Sterben.
Für Lawrence Brackett, den Chef einer New Yorker PR-Firma, kommt vor allem letzteres in Frage. In seinem Brief aus Brockport heißt es nämlich: Man wird mich ermorden...
Der Roman Der Tod zieht Bilanz des US-amerikanischen Kriminal-Schriftstellers Winfred Van Atta (* 18. Oktober 1910; † 05. Juni 1990) erschien erstmals im Jahr 1970; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im gleichen Jahr.
Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2022
WINFRED VAN ATTA
Der Tod zieht Bilanz
Roman
Signum-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DER TOD ZIEHT BILANZ
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Am Ortseingang von Brockport, Illinois, steht auf einem Schild: Ein hübscher Ort zum Leben und zum Sterben.
Für Lawrence Brackett, den Chef einer New Yorker PR-Firma, kommt vor allem letzteres in Frage. In seinem Brief aus Brockport heißt es nämlich: Man wird mich ermorden...
Der Roman Der Tod zieht Bilanz des US-amerikanischen Kriminal-Schriftstellers Winfred Van Atta (* 18. Oktober 1910; † 05. Juni 1990) erschien erstmals im Jahr 1970; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im gleichen Jahr.
Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.
Die Thermometer kletterten nun schon den dritten Tag auf fast vierzig Grad, als ich bei Terre Haute den Wabash River überquerte und in den Bundesstaat Illinois hineinfuhr. Der örtliche Radiosprecher ließ sich ausgiebig über das Wetter aus. Er vertrat die Ansicht, die augenblickliche Hitzewelle werde als die heißeste erste Juniwoche in die Geschichte des Wetteramtes eingehen, und sie sei großartig für Mais und Sojabohnen, falls sie in absehbarer Zeit mit einem ordentlichen Regen zu Ende gehe. Dann begann er über Ferkel, Lämmer, Frühling und Winter zu plaudern und erinnerte mit seinem Singsang an einen Tabakauktionator aus der guten alten Zeit, als die Zigaretten noch nicht so lang waren und weniger von Krebs geredet wurde.
»Wovon spricht der Kerl eigentlich?«, fragte ich meinen Fahrgast, einen uniformierten Anhalter, den ich kurz vor der Brücke über den Wabash River mitgenommen hatte.
Der Junge warf mir einen argwöhnischen Blick zu. »Ich schätze, Sie sind nicht von hier, Mister«, sagte er. »Trotz der Autonummer von Indiana. Und Sie reden auch so komisch«, fügte er im gleichen Dialekt wie der Ansager hinzu. Das war seine längste Rede, seit ich ihn hatte einsteigen lassen.
»Sie finden also, ich rede komisch. Dabei haben Sie mir immer noch nicht erklärt, was der Kerl will.«
»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen, Mister?«
»Nein, mein Sohn, aber euer Dialekt klingt in meinen Ohren auch komisch. Ich hab’ nur so aus Neugier gefragt.«
»Das ist der alte Samson aus Tuscola mit seinem Elf-Uhr-Marktbericht. Jeder Farmer weit und breit hört sich die Sendung an. Er redet vom Sommer- und Winterweizen. Ferkel sind junge Schweine mit einem Gewicht von weniger als vierzig Pfund. Jetzt gibt er die neuesten Preise für Rind- und Schweinefleisch durch. Sie haben mir noch nicht gesagt, wie weit Sie fahren, Mister.«
»Sie haben mich auch noch nicht danach gefragt. Wie lange sind Sie schon bei der Armee?«
»Ich hab’ meine Dienstzeit hinter mir, mich aber gerade noch einmal für drei Jahre verpflichtet.« Als er meine Skepsis spürte, fügte er hinzu: »Ich bin älter, als ich aussehe, Mister. Hab’ mich mit knapp achtzehn freiwillig gemeldet.« Er holte seine Zigaretten hervor und bot sie mir an.
»Danke, ich hab’s nach der letzten Warnung vom Gesundheitsministerium aufgegeben. Ziemlich flach die Gegend hier. Was ist das eigentlich für grünes Zeug, das da in gleichmäßigen Reihen gepflanzt wird?«
Er legte die Stirn in tiefe Falten und war ganz Abwehr. »Sie wollen sich wirklich einen Jux mit mir erlauben, Mister, wie? Bei Zivilisten hab’ ich das nicht so gern. Ich bin erst seit drei Wochen aus Vietnam zurück und gestern aus dem Lazarett in Washington entlassen. Ich werde nicht...«
»Bisschen überreizt, was? Aber Sie sollten Ihre Laune nicht an mir auslassen. Ich bin wirklich kein falscher Fünfziger. Ich komme aus Bronx in New York. Heute Morgen um sieben Uhr bin ich vom La Guardia gestartet, hab’ am Flughafen in Indianapolis diesen Wagen gemietet und fahre jetzt nach Brockport in Illinois. Ihnen kommt meine Aussprache bestimmt genauso komisch vor wie mir die des Ansagers. Was halten Sie davon, mein Sohn, wenn wir jetzt aufhören, aufeinander herumzuhacken? Sie sind in Vietnam verwundet worden?«
»Ja. War aber nicht der Rede wert und ist auch schon wieder in Ordnung. Seltsam, dass Sie nach Brockport fahren, dort will ich nämlich auch hin. Wir müssen in Effingham von der Vierzig abbiegen.«
»Was für ein Ort ist dieses Brockport?«
»Na, New York ist es gerade nicht, aber es gibt dort ein wenig Industrie, ein anständiges College und... Was wollen Sie eigentlich in Brockport?«
»Diese Frage stelle ich mir auch immer, wenn mein Chef mich losschickt. Ich soll mich nach einem Mann erkundigen, der an ein Hotel mit einem komischen Namen einen komischen Brief mit einem komischen Absender geschickt hat.« Ich beobachtete ihn dabei genau und betonte das Wort komisch, aber es schien ihm nicht weiter aufzufallen.
»Sie meinen sicher das Snooks-Hotel.«
»Ja, so heißt es. Ist Snooks der Name des Besitzers?«
»Ja, der Familie Snooks gehört halb Brockport.«
»Sie haben mir immer noch nicht gesagt, was das für grüne Stauden sind. Außerdem wollten Sie mir noch mehr über Brockport erzählen und haben es sich dann anders überlegt.«
»Das ist Mais, Mister. Hauptsächlich Mais, dazwischen stehen ein paar Sojabohnen.«
»Aber was in aller Welt machen Sie denn mit so viel Mais? Die Felder nehmen ja gar kein Ende. Man könnte ganz New York zehn Jahre lang mit dem Zeug füttern.«
Der junge Soldat lächelte, lockerte den Schlips und öffnete seinen Hemdkragen. »Ich schätze, Sie kennen sich hier draußen ungefähr genauso gut aus wie ein Farmer in New York. Der Mais wird nicht nur gegessen, Mister, er wird hauptsächlich verfüttert.«
»Sie stammen von einer Farm?«
»Ich hab’ hier in der Nähe auf einer Farm gelebt, bis es zu dem Krach kam. Damals war ich acht.«
Ich ließ ihm ein wenig Zeit, aber er schwieg. Dann fragte ich: »Was war das für ein Krach?«
»Sie fragen viel, Mister.«
»Hören Sie, ich hab’ Ihnen gesagt, was ich in Brockport will. Und Sie?«
»Ich fahre nicht deshalb per Anhalter, weil ich pleite bin. Ich hab’ in Brockport einen kleinen Bruder, er wird diesen Monat achtzehn. Er will mit mir übers Militär reden.«
»Und was werden Sie ihm sagen?«
»Die Wahrheit, so wie es wirklich ist. Und es ist gar nicht einmal so schlecht, Mister. Dann soll er selbst entscheiden.«
Wir schwiegen eine ganze Weile, sahen auf die weiten, grünen Felder hinaus und beobachteten die gelegentlichen Staubwolken, die von landwirtschaftlichen Maschinen aufgewirbelt wurden.
Als wir in Effingham nach Norden abgebogen waren, fragte ich: »Wie weit ist es noch?«
»Ungefähr fünfzig Kilometer. Kaum glaublich, dass Sie vor vier Stunden noch in New York waren. Sie kriegen sicher alle Reisekosten ersetzt?«
»Richtig.«
»Ich nehme an, für einen solchen Job braucht man eine gute Ausbildung?«
Ich lächelte. »Ich war in der High School und hab’ danach ein paar Abendkurse besucht. Mit fünfzehn, als ich noch in der Schule war, fing ich als Laufjunge bei einer Zeitung an.«
»Sie sind jetzt für eine Zeitung hier?«
»Ich war bei einer der besten Zeitungen von ganz Amerika und bin hinausgeflogen. Es war meine eigene Schuld. Seitdem stehe ich auch bei allen anderen Zeitungen auf der schwarzen Liste.«
»Was haben Sie denn angestellt?«
»Einen wichtigen Auftrag verpfuscht, meine Zeitung und ein paar gute Freunde enttäuscht und dafür gesorgt, dass ein Mann erschossen und ein zweiter zum Krüppel wurde.«
Meiner Stimme war wohl anzumerken, wie es in mir aussah. Der Junge wandte peinlich berührt den Kopf ab.
»Ich war damals stockbesoffen. So etwas verzeiht man einem Mann nie.«
»Ja, ich weiß.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Bei meinem Alten war’s genauso.«
Ich wartete wieder eine ganze Weile und fragte dann: »Was war mit Ihrem Vater?«
»Warum soll ich’s Ihnen eigentlich nicht erzählen? Vielleicht können Sie mir sogar einen Rat geben.«
»Abgemacht.«
»Mein Alter war ziemlich jähzornig. Wir haben im Coles County gewohnt und für einen reichen Farmer namens Bielman gearbeitet. Der hatte sechshundert Morgen Maisfelder mit Blade Gumbo bepflanzt, einer prima Sorte, die auf den Morgen hundertdreißig bis hundertvierzig Bushel bringt. Er war ein gemeiner Schweinehund, der meinem Vater immer schwer zugesetzt hat. Als mein Alter dann einmal in der Stadt war, machte er sich über meine Mutter her. Mein kleiner Bruder, der damals erst vier war, hat’s gesehen und dem Alten erzählt. Der hat sich an diesem Abend volllaufen lassen und... Was zum Teufel erzähle ich Ihnen das alles?«
»Ich dachte, Sie wollten mich um einen Rat fragen? Sie denken wahrscheinlich, ich bin ein Fremder, dem Sie ohnehin nie wieder begegnen werden, und manchmal braucht man jemanden, mit dem man reden kann, stimmt’s?«
»Ich hab’ bisher kaum über die Sache gesprochen. Das alles ist so lange her, dass ich es fast vergessen hab’. Ich wollte auch einfach nicht dran denken.«
»Ja, so geht es meistens. Ihr Vater hat sich also betrunken, und dann?«
»Dann hat er meine Mutter erschossen, Bielman eine Ladung Schrot in den Kopf gejagt und anschließend sich selbst die Flinte in den Mund gesteckt und abgedrückt. Keine sehr hübsche Geschichte, wie?«
Mein Magen verkrampfte sich, als ich mir die Szene vorstellte, die der junge Mann so sachlich und nüchtern wiedergab.
»Das muss für Sie ziemlich schlimm gewesen sein, mein Sohn«, sagte ich. »Wie alt waren Sie damals?«
»Ich war in der zweiten Klasse. Mein Bruder Herby war, wie gesagt, vier.«
»Und was ist aus euch beiden geworden-nach diesem Krach?«
»Unsere Verwandten wollten uns nicht haben, also steckte man uns ins staatliche Waisenhaus in Brockport. Davon wollte ich vorhin sprechen.«
»Hat man Sie gut behandelt?«
»Die waren schon in Ordnung, aber wenn man in einer solchen Anstalt aufwächst, wird man Außenseiter und schließt sich keinem Menschen an außer vielleicht der eigenen Gruppe im Waisenhaus. So bleibt es auch, wenn man mit achtzehn entlassen wird. Man passt nicht mehr so recht in ein normales Leben hinein. Wahrscheinlich werden deshalb so viele von uns Berufssoldaten.«
»Das kann ich mir gut vorstellen. Der Sold ist heutzutage nicht übel, und wenn man so jung anfängt wie Sie, wird man mit Anfang vierzig pensioniert und hat einen Beruf. Wollen Sie das Ihrem Bruder sagen?«
»Ja, wahrscheinlich. Er ist ein netter Kerl und kommt nächste Woche aus der Schule. Während er sich die Sache überlegt, werde ich ihn ausstaffieren. Er braucht unbedingt was zum Anziehen und ein paar andere Dinge mehr. Deshalb bin ich per Anhalter von Washington hierhergefahren, um die fünfzig Dollar zu sparen. Herby kann sie gut gebrauchen.«
Ich machte an einem Rasthaus halt und lud den Jungen zu einem Sandwich und einer Tasse Kaffee ein. Doch er bestand darauf, die Rechnung selbst zu bezahlen. Das glaubte er wohl seinem Stolz schuldig zu sein.
Als wir weiterfuhren, war seine Haltung mir gegenüber irgendwie verändert. Er erzählte von Vietnam, von den Kameraden, die auf ihn warteten, von Japan.
Als wir von der Hauptstraße in Richtung Brockport abbogen, kam er endlich zur Sache.
»Sie wollten mir doch einen Rat geben, Mister.«
»Ich warte nur darauf.«
»Das ist nämlich so, Mister: Herby ist ein heller Junge, und er war auch ein guter Schüler. Sein Lehrer will unbedingt, dass er studiert; er kann ihm ein Stipendium an der Universität von Illinois beschaffen. Ich selbst hab’ zweitausend Dollar gespart und möchte Herby gern helfen. Nur weiß ich nicht genau, ob es für ihn das richtige ist.«
»Was meint Herby dazu?«
»Das ist es ja gerade. Er schiebt mir den Schwarzen Peter zu - ich soll für ihn entscheiden. Als ich in seinem Alter war, hab’ ich es genauso gemacht. Im Waisenhaus wird einem ja nicht beigebracht, wie man sich verhalten muss, um draußen zurechtzukommen. Ich zweifle nicht daran, dass Herby es intelligenzmäßig schaffen wird, aber was alles andere betrifft, bin ich nicht sicher.«
»Ich verstehe nicht, wie Sie das meinen.«
»Ich meine das gesellschaftliche Leben und das übrige Drum und Dran an der Universität. Man ist einfach anders, wenn man im Waisenhaus aufgewachsen ist. Da kann man sich noch so sehr bemühen, man wird es einem immer anmerken. Bis zur sechsten Klasse hatten wir im Waisenhaus Unterricht, später gingen wir in die öffentliche Schule von Brockport. Aber die Kinder aus dem Waisenhaus gehörten nie richtig dazu. Herby ist schüchtern und unsicher. Er möchte wie ich Soldat werden, und ich hab’ keine Lust, ihn zum Studieren zu überreden, wo ich genau weiß, dass er in der Uni eins aufs Dach kriegt. Was halten Sie davon, Mister?«
Ich empfand unwillkürlich Bewunderung für diesen gutaussehenden jungen Mann, der seine Verpflichtung so ernst nahm.
»Hören Sie, mein Junge«, sagte ich, »Sie wissen wahrscheinlich besser als jeder andere, was für Ihren Bruder gut ist, weil Sie es selbst durchgemacht haben. Was ist denn nach Ihrer ehrlichen Überzeugung das Beste für ihn?«
»Nun, ich fürchte, dass man ihm in der Universität den Schneid abkaufen wird. Beim Militär wird es zwar auch nicht leicht für ihn sein, aber da ist doch manches ähnlich wie im Waisenhaus. Den Berufssoldaten geht’s nicht schlecht.«
»Ich glaube, damit haben Sie Ihre Frage selbst beantwortet. Wo werden Sie in Brockport wohnen?«
»Ich denke, bei Herby. In seinem Schlafsaal ist ein Bett frei. Eigentlich wollte ich das Waisenhaus nie wieder betreten, aber ich tue Herby wahrscheinlich einen Gefallen, wenn ich dort wohne. Wir kommen an dem Haus vorbei. Ich - ich bedanke mich fürs Mitnehmen, Mister, und dafür, dass Sie mir zugehört haben. Wie ist das eigentlich passiert, dass der eine Mann erschossen und der andere verletzt wurde?«
»Das ist eine lange Geschichte, an die ich nicht gern zurück
denke. Außerdem ist die Zeit zu kurz. Ist das da vorn nicht schon das Waisenhaus?«
»Ja.«
»Wie heißen Sie?«, fragte ich und reichte ihm meine Karte, die bestätigte, dass der Public-Relations-Berater James Ferguson bei der Firma Foster, Thomas & Hunter Associates in New York City tätig war.
»Joe Hogarth. Sollte man mich jemals in die Gegend von New York verfrachten, werde ich Sie besuchen. Was machen Sie auf dem Gebiet Public Relations, Mr. Ferguson?«
»Ich bin so eine Art Firmenschnüffler bei Foster, Thomas and Hunter Associates. Ich überprüfe Herkunft und Werdegang der leitenden Angestellten, die meine Firma für ihre Klienten sucht. Den Job habe ich wegen meiner Erfahrungen bei der Presse bekommen.«
»Wie lange wollen Sie in Brockport bleiben, Mr. Ferguson?«
»Ich hoffe, nur drei oder vier Stunden. Dann fahre ich weiter nach Kankakee und gebe nach einer kurzen Besprechung den Wagen auf dem Flugplatz O’Hare in Chicago wieder ab. Da ich zuerst nach Indianapolis flog, konnte ich etwas Zeit sparen.«
»Klingt sehr interessant. Da vorn ist das Westtor, lassen Sie mich dort aussteigen.«
Ich hielt an. Er drückte mir grinsend die Hand, wandte sich dann ab und verschwand durch den mächtigen Torbogen, der nur zu einem öffentlichen Gebäude gehören konnte. Ich winkte ihm nach und fuhr dann langsam weiter in die Stadt. Während der Fahrt überlegte ich mir, warum es für mich immer noch schmerzlich war, über das Ende von Jim Fergusons Karriere in dem einzigen Beruf, den er jemals liebte, zu sprechen. Ich musste an meine Frau Madge denken und an meine Tochter Barbara, die jetzt fast acht war, dann an meine Mutter, die sich um uns kümmerte, als wir dazu selbst nicht mehr in der Lage waren. Meinem Vater hatte mein Misserfolg das Herz gebrochen.
Er war damals Maschinensetzer in der Druckerei und besorgte mir den Job als Laufjunge, als ich noch in der Schule war. Gleich nach dem Schulabschluss wurde ich festangestellter Reporter und besuchte ein paar Abendkurse an der Columbia-Universität. Ich liebte meine Arbeit, gab mir viel Mühe und war mit einundzwanzig Polizeireporter mit guten Verbindungen zu praktisch jedem Polizeirevier in Manhattan. Madge war die ideale Frau für einen Mann wie mich - sie beklagte sich nie, wenn ich ein Essen ausfallen ließ oder erst spät nach Hause kam. Wir hatten alles ganz genau geplant: drei Kinder, eine Wohnung in Manhattan und ein Wochenendhaus auf Fire Island, sobald ich es bis zum Redakteur gebracht hatte.
Es verlief auch alles ganz planmäßig: das erste Kind, ein Bankkonto, ein guter Ruf, immer mehr Erfolg. Dann war plötzlich alles zu Ende. Ich hatte keine Ahnung, dass Madge krank war, bis sie eines Tages vom Arzt nach Hause kam und mir sagte, sie müsse einen Eingriff machen lassen. Zehn Monate später war sie tot.
Dad lebte noch zwei Jahre länger. Er und Mutter hatten Barbara zu sich genommen; ich behielt meine Wohnung und suchte Trost im Schnaps. Ich versäumte Termine, verpfuschte wichtige Aufträge, lief den Frauen nach und arbeitete kaum noch. Zuerst zeigten sich alle sehr verständnisvoll, dann wurde ich verwarnt und bekam schließlich eine letzte Bewährungsfrist. In dieser Zeit geschah das, was für einen Reporter eine unverzeihliche Sünde ist.
Einer meiner Freunde von der Mordkommission gab mir einen Hinweis: Ein steckbrieflich gesuchter Polizistenmörder hatte sich in einer Wohnung an der 31. Straße verschanzt und sollte durch eine Blitzrazzia ausgehoben werden. Ich war rechtzeitig dort, parkte meinen Wagen auf der anderen Straßenseite und redete so viel, dass der Polizistenmörder gewarnt wurde. Wild um sich schießend kam er aus dem Haus. Der Kriminalbeamte Jack Donovan kam ums Leben, sein Kollege Pete Mullins wurde so schwer verletzt, dass er heute noch hinkt.
Die Polizei kam rasch dahinter, wer ihre Pläne durchkreuzt hatte. Von da an stand ich in jedem Revier auf der schwarzen Liste und taugte als Polizeireporter nichts mehr.
Für einen guten Reporter war es bei unserer Zeitung das Schlimmste, die Lauferei für den Wirtschaftsredakteur und Kolumnisten Harry Stoddard tun zu müssen - genau diesen Posten bekam ich zusammen mit einer allerletzten Verwarnung. Vier Monate konnte ich mich noch halten und war die meiste Zeit betrunken. Als ich dann eines Tages mein letztes Gehalt und meine Abfindung bekam, gab ich Stoddard die Schuld. Ich lauerte ihm auf, schlug ihn zusammen und brach ihm dabei den Kieferknochen.
Am nächsten Morgen griffen mich ein paar Reporter auf und führten mich zum alten Sullivan, dem Verleger der Zeitung, der mit meinem Vater befreundet gewesen war. Er erklärte mir, warum man mich hinausgeworfen hatte und dass er es schon viel eher getan hätte, wenn nicht mein Vater und der Tod meiner Frau gewesen wären. Besonders elend kam ich mir vor, als er mir erzählte, ausgerechnet Stoddard hätte ihn persönlich darum gebeten, mir noch eine letzte Chance zu gewähren.
Ich machte einen Entschuldigungsbesuch bei Harry Stoddard, aber er winkte nur ab und riet mir, mich am Riemen zu reißen und mir in einer anderen Branche einen Job zu suchen.
Über ein Jahr lang wanderte ich dann als Barmixer von einer Kneipe zur anderen. Zuletzt musste ich meine Wohnung aufgeben und landete in einem verwanzten Zimmer in der Tenth Avenue; ich arbeitete nur noch ein bis zwei Tage in der Woche und verdiente gerade genug Geld für Essen und Trinken. Bis man mich schließlich mit Delirium tremens ins Bellevue-Hospital einlieferte. Von nun an kümmerten sich meine Angehörigen und die Anonymen Alkoholiker, die Hilfsorganisation für notorische Säufer, um mich.
Nach der Entlassung aus dem Hospital zog ich in die Wohnung meiner Mutter in Bronx. Ich bekam für mehrere Monate eine Stellung in Nedicks Restaurant. Ein Freund von der Anonymen Alkoholiker besorgte mir einen Job als Texter bei einer kleinen Werbeagentur in der Madison Avenue. Es kamen noch mehrere Ausrutscher vor, aber meine Freunde von der Hilfsorganisation waren immer rechtzeitig zur Stelle, wenn ich mich nach Dienstschluss nicht pünktlich zu Hause einfand. Nach einiger Zeit hatte ich das Gefühl, die Sauferei überwunden zu haben, vor allen Dingen deshalb, weil mir meine kleine Tochter über Nacht plötzlich sehr ans Herz gewachsen war. Außerdem fühlte ich mich für meine Mutter verantwortlich, die mit ihrer kleinen Rente kaum Miete und Lebensmittel bezahlen konnte.
Da meine Tätigkeit bei der Agentur nur in langweiliger Routinearbeit bestand, begann ich mich anderweitig umzusehen. Einen Mann mit meiner Vergangenheit wollte keine Zeitung haben. Ich ging zum alten Sullivan und bat ihn, mir noch einmal eine Chance zu geben. Er erklärte mir in aller Freundschaft, bei seinem Blatt sei für mich nichts mehr drin. Allerdings habe ein gewisser Scott Foster ihn angerufen und gebeten, ihm einen Mann zu empfehlen, der in der Lage sei, Ermittlungen durchzuführen und intelligente Berichte zu verfassen. Er rief Foster, ein Mitglied seines Clubs, persönlich an, empfahl mich und klärte ihn in aller Offenheit über meine Vergangenheit auf. Allerdings fügte er hinzu, dass ich nach seiner Überzeugung jetzt wieder absolut zuverlässig und vertrauenswürdig sei.
Ich wurde von Foster selbst und mehreren Mitgliedern der Geschäftsleitung empfangen und zu Dr. Marks geschickt, einem Psychologen und Spezialisten für Eignungsuntersuchungen. Sein Bericht muss wohl günstig ausgefallen sein, denn kurz darauf wurde ich eingestellt.
So hatte ich mich schließlich wieder mit dem Leben arrangiert, diente einem führenden Wirtschaftsberatungsinstitut als Bluthund und Schnüffler und verdiente wesentlich mehr Geld als je zuvor. Ich kam meinen Verpflichtungen gegenüber der Familie nach, auch wenn ich in meinem Job wenig Freude oder Befriedigung fand. Nach drei Jahren dieser Tätigkeit schien ich nun vor einer Aufgabe zu stehen, die mein ganzes Können als Detektiv und Berichterstatter erforderte.
Dort, wo sich am Stadtrand die Hauptstraße in zwei Einbahnstraßen teilte, stand auf dem grünen Rasendreieck ein buntbemaltes Schild mit der Aufschrift:
Willkommen in Brockport –
hier arbeitet und lebt man gut –
12.650 Einwohner!
Drumherum waren die Embleme hiesiger Vereine und Clubs abgebildet.
Brockport war eine saubere, farbenfrohe kleine Stadt mit ordentlichen Häuschen, grünen Vorgärten, Blumenbeeten und sauber getrimmten Hecken. Das Geschäftsviertel erstreckte sich rings um den Platz vor dem Gerichtsgebäude, auf dem auch Kriegerdenkmal und alte Kanone nicht fehlten. An der Südwestecke des Platzes lag das Snooks-Hotel, ein gedrungenes, dreistöckiges Backsteingebäude. Der Name stand in altmodischen Goldbuchstaben im Halbkreis auf dem blitzsauberen Glas der Tür, darunter in kleineren Buchstaben: Inh. WM. E. Snooks.
Ich betrat das Gebäude und ging zu dem Empfangstisch, der in jeden Fernsehwestern gepasst hätte. Eine hagere Frau mit graumeliertem Haar, einer goldgefassten Brille und einem schmalen Mund legte die Strickerei beiseite und begrüßte mich.
»Kann ich Ihnen helfen, Sir?«
»Ich hätte gern Mr. Snooks gesprochen.«
Ihre Miene blieb unverändert. »Mr. Snooks ist seit zwanzig Jahren tot. Ich bin Mrs. Snooks, die Inhaberin des Hotels.«
Ich nahm einen Brief aus meiner Aktentasche und reichte ihn ihr. Während sie ihn betrachtete, fragte ich: »Haben Sie den Brief schon einmal gesehen, Mrs. Snooks?«
»Ja, das habe ich. Ich habe ihn zwanzig Tage lang aufbewahrt, genau wie es hier vorn steht: Zurück an Absender, falls nicht innerhalb von zwanzig Tagen abgeholt. Am letzten Donnerstag brachte ich ihn zur Post und ließ ihn zurückgehen.«
»Er ist an einen Mr. Lawrence Brackett adressiert. Ist Ihnen dieser Name bekannt, Mrs. Snooks? Hat der Mann schon einmal in Ihrem Hotel gewohnt?«
»Nein, ganz bestimmt nicht.«
»Wollen Sie damit sagen, dass Sie sich an jeden einzelnen Ihrer Gäste erinnern?«
»Das habe ich nicht behauptet. Ich habe in den Gästebüchern nachgesehen. So viele Briefe dieser Art erhalten wir nicht. Manchmal kommt einer mit dem Hinweis: Bis zum Eintreffen festhalten, aber ich kann mich nicht erinnern, dass wir schon einmal Post nach zwanzig Tagen zurückschicken mussten.«
Ich zog ein achtzehn mal vierundzwanzig Zentimeter großes Foto von Brackett aus der Tasche und zeigte es ihr. »Haben Sie diesen Mann schon einmal gesehen, Mrs. Snooks?«
»Nein, Sir, ganz bestimmt nicht. Ein gutaussehender junger Mann, ich würde mich sicher an ihn erinnern. Kommen Sie von der Polizei oder vom FBI oder...«
»Nein, Mrs. Snooks. Gibt es in Brockport eine Tageszeitung?«
»Die Brockport Press ist eine der ältesten Zeitungen im ganzen mittleren Illinois. Schon Abraham Lincoln hat sie gelesen, als er unsere Gegend bereiste. Der Urgroßvater meines Mannes gründete sie, und heute erscheint sie als Tageszeitung sechsmal in der Woche.«
»Wo finde ich die Büros der Brockport Press?«
»Genau gegenüber in der Ecke neben der Ford-Vertretung. Hat Mr. Brackett etwas angestellt?«
»Nicht, dass ich wüsste. Warum fragen Sie?«
»Weil sich ein Mann nach ihm erkundigte, kurz bevor ich den Brief wieder zurückschickte. Er wollte wissen, ob Mr. Brackett während der letzten Wochen hier gewohnt hat. Ich hab’ ihm nichts gesagt.«
»Wie sah er denn aus, Mrs. Snooks?«
»Es war ein junger Mann mit langem Haar und Vollbart; er trug enge Hosen und sehr spitze Schuhe. Aber er wirkte sauberer als die meisten von dieser Sorte.«
»Also ein Hippie?«
»Die gibt’s in unserer Gegend kaum, aber ich hab’ welche von seiner Sorte in Illustrierten gesehen.«
»Was hat er denn genau gesagt? Das ist sehr wichtig.«
Ihre Lippen wurden noch schmaler. »Ich denke, Sie sollten sich doch lieber erst vorstellen, Sir.«
»Natürlich.« Ich reichte ihr meine Karte. Dabei erklärte ich: »Foster, Thomas and Hunter Associates ist das größte und angesehenste Wirtschaftsberatungsinstitut der Vereinigten Staaten. Mr. Brackett ist einer der Vizepräsidenten. Er ist verschwunden, und ich soll ihn suchen. Darf ich einmal Ihr Telefonbuch benutzen?«
»Das wird Ihnen nicht weiterhelfen«, sagte sie. »Ich hab’ schon nachgesehen. In den letzten zehn Jahren hat es hier keinen Brackett gegeben. Und im alten Zeitungsarchiv werden Sie auch nichts finden.«
»Woher wissen Sie das, Mrs. Snooks?«
»Mein Neffe ist Herausgeber und Chefredakteur der Brockport Press. Ich habe ihm von dem Brief erzählt, und er hat die alten Ausgaben durchgesehen, aber nichts über einen gewissen Brackett gefunden. Vielleicht ist es ein Verwandter von jemandem, der hier wohnt, aber einen anderen Namen trägt. Er muss sich in Brockport ein wenig auskennen, sonst hätte er seinen Brief nicht so genau ans Hotel adressiert. Da wird man eben neugierig.«
»Natürlich, Mrs. Snooks. Was hielten Sie eigentlich von dem Brief, als Sie ihn lasen?«
Sie wurde zuerst blass und dann dunkelrot. Mit meiner Frage hatte ich sie völlig überrumpelt. »Ich... Sie haben kein Recht, mir so etwas vorzuwerfen.«
»Verzeihen Sie, Mrs. Snooks, und besten Dank für Ihre Auskünfte. Wir sind ebenfalls der Meinung, dass es sich hier um einen sehr seltsamen Brief handelt.«
Sie hielt schon den Telefonhörer in der Hand, bevor ich die Tür hinter mir geschlossen hatte.
Ich fuhr um den Platz herum und parkte drüben vor dem neuen, gelbverputzten Gebäude mit der Aufschrift Brockport Press auf dem großen Glasfenster. In einer Ecke stand in kleineren Buchstaben zu lesen: Gegr. 1847 - J. S. Snooks, Herausgeber und Chefredakteur. Durch das Fenster betrachtete ich die Angestellten, zumeist jüngere Leute. Ein Mädchen zog gerade ein Blatt Papier aus dem Fernschreiber.
Ich ging hinein und trat an die Theke. Von einem Schreibtisch im Hintergrund erhob sich ein hochgewachsener Mann mit etwas lässiger Haltung. Er begrüßte mich lächelnd. »Ich bin Jerry Snooks, Mr. Ferguson. Tante Laura hat gerade angerufen und gesagt, dass Sie mich besuchen wollten. Ich habe Sie beobachtet, wie Sie vor dem Hotel vorfuhren. Wie ich sehe, haben Sie eine Autonummer von Indiana. Aber Tante Laura sagte, Sie wären aus New York.«
»Das stimmt, es ist ein Leihwagen. Ich habe ihn heute Morgen auf dem Flugplatz in Indianapolis gemietet und werde ihn abends auf dem Flugplatz O’Hare zurückgeben.«
»Ich wollte nicht neugierig sein, Mr. Ferguson. Kommen Sie mit in mein Büro, dort können wir uns in Ruhe unterhalten.«
Er führte mich durch die Druckerei, wo er eine neue Offsetrotations-Maschine, eine altmodische Flachpresse und verschiedene Setzpulte stehen hatte. An den Setzer-Tischen in der Mettage und an den beiden Linotype-Maschinen herrschte Hochbetrieb. Ich sah mir die Schrifttypen aus der Nähe an und griff nach einer Letter.
»Ach, die neue Caslon«, sagte ich.
»Nanu, die kennen Sie, Ferguson? Wir setzen daraus die Überschriften.«
»Ich war früher auch im Zeitungsgeschäft.«
»Suchen Sie einen Job? Ich könnte einen guten Mann gebrauchen. Nach Möglichkeit einen, der alles kann.«
»Besten Dank, aber so weit von New York entfernt wäre ich wohl nicht mehr in meinem Element.«
»Also ein New Yorker, für den die Welt in Hoboken aufhört. New York muss doch wohl das größte Provinznest von ganz Amerika sein.«
»Mr. Snooks«, sagte ich, »man darf sich unter Umständen erlauben, die Ehefrau, die Kinder oder die Geliebte eines Mannes schlechtzumachen, aber beleidigen Sie nie seine Heimatstadt.«
»So, wirklich?«, fragte er, als wir sein Büro betraten. »Hierher ziehe ich mich zurück, wenn ich allein sein will. Nehmen Sie Platz. Ich hab’ nicht oft Gelegenheit, mit einem Kollegen aus New York zu plaudern. Bei welcher Zeitung waren Sie?«
Ich nannte ihm den Namen.
»Donnerwetter, das ist ja beinahe die größte. Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen erzähle, dass ich auch einmal bei einer New Yorker Zeitung war?«
»Ich würde es Ihnen glauben. Bei welcher?«
»Bei der alten Herald Tribune. Aber das war lange vor Ihrer Zeit. Ich kam frisch von der Universität von Illinois und wollte mir die Hörner abstoßen. Es hat meinem alten Herrn das Herz gebrochen, als ich mich nach New York absetzte.«
»Und dann sind Sie wieder hierher zurückgekehrt, in eine...?«
Er lächelte über meine Verlegenheit. »Ich habe weder eine Ehefrau noch Kinder noch eine Geliebte, Mr. Ferguson, aber Brockport ist zufällig meine Heimatstadt.«
»Das geschieht mir recht. Ich wollte eigentlich nichts Schlechtes gegen Brockport sagen, sondern nur ganz allgemein gegen diese Kleinstädte.«
»Ich weiß, aber nachdem Dad gestorben war, blieb mir gar nichts anderes übrig. Die Brockport Press befindet sich seit vier Generationen im Familienbesitz. Wir kommen ganz gut zurecht. Eine Menge Akzidenz, außerdem drucke ich im Lohn zwei Wochenzeitschriften für benachbarte Countys. Seit die Brockport Press täglich erscheint, müssen wir uns natürlich anstrengen. Dafür gibt’s hier manches, was New York oder Chicago nicht aufzuweisen haben: eine gute Jagd zum Beispiel, Wachteln, Fasane, Kaninchen, und im Herbst fahre ich immer zur Hochwildjagd in den Westen. Was kann ich Ihnen anbieten, Ferguson?«
»Danke, ich trinke nicht mehr.«
»Das habe ich gleich gesehen, wie Sie hereinkamen. Sie sind auch bei den Anonymen Alkoholiker, nicht wahr?«
»Wieso wissen Sie das?«
»Trinker - insbesondere ehemalige Trinker - haben etwas an sich, was man sofort erkennt.«
»Und seit wann sind Sie dabei?«
Er klatschte sich auf den Schenkel. »Großer Gott, Ferguson, jetzt habe ich mich verraten, wie? Ich bin seit über zehn Jahren aktiv für die Anonymen Alkoholiker tätig. Als New Yorker werden Sie wahrscheinlich nicht verstehen können, dass der Alkohol auch hier ein großes Problem ist. Wir haben eine recht umfangreiche Gruppe, darunter auch Angehörige aus den besten Familien der Stadt. Hier in der Gegend gibt’s ja kaum eine andere Abwechslung als Trinken, Spielen oder anderer Leute Frauen nachstellen. Das dürfte wohl überall ziemlich gleich sein, nur muss man es in Städten wie Brockport heimlich tun, und das ist noch schlimmer als in einer Großstadt, wo sich die anderen einen Dreck um den einzelnen kümmern - solange man ihnen nicht in die Quere kommt. Mir macht die Sache Spaß. Das klingt zwar seltsam, aber es ist so.«
»Welche Sache?«
»Ich unterstütze eine kleine Baseballmannschaft, arbeite aktiv in der Loge und beim Rotary-Club mit, und vor zwei Jahren hab’ ich etwas angefangen, worauf ich wirklich stolz bin - aber ich werd’ Ihnen Kaffee besorgen. Mir ist noch nie jemand von den Anonymen Alkoholiker begegnet, der nicht auf einen Schlag eine Gallone schwarzen Kaffee trinken kann. In der Druckerei haben wir Tag und Nacht einen Topf heißen Kaffee stehen. Entschuldigen Sie mich.«
Ich sah ihm lächelnd nach. Er war ebenso klug wie anständig und unternahm keinen Versuch, seine Nase in meine Angelegenheiten zu stecken, solange ich selbst nicht bereit war, darüber zu sprechen.
Er kam mit zwei großen Tassen schwarzem Kaffee zurück und reichte mir eine. Er stieß mit mir an und sagte dann: »Wir rühren keinen Alkohol an und werden es auch in Zukunft nicht tun, aber ganz unter uns, Ferguson: Jetzt hätten wir doch lieber einen schönen doppelten Whisky, wie?«
»Da haben Sie recht. Sie sagten vorhin, Sie hätten vor zwei Jahren etwas angefangen, worauf Sie stolz sind.«
»Ach ja, richtig. Wahrscheinlich ist das nichts Besonderes, aber es verschafft mir mehr Befriedigung als alles, was ich bisher getan habe. Wir haben hier ein großes staatliches Waisenhaus. Vielleicht sind Sie daran vorbeigefahren...«
»Ja, ich hab’ dort einen jungen Mann abgesetzt, einen Soldaten, den ich am Wabash mitgenommen habe.«
»Hat er seinen Namen genannt?«
»Ja, lassen Sie mich mal überlegen. Er hat einen jüngeren Bruder hier. Joe... Joe Hogarth, sein Bruder heißt Herby.«
»Mein Gott, Ferguson, was bin ich froh, dass Sie mir das sagen! Das ist für mich eine tolle Story. Ich war sicher, dass er seinen Bruder besuchen würde. Ich will nur schnell nach vorn gehen und jemanden hinschicken. Wollte ihn schon vorige Woche im Walter Reed Hospital sprechen, aber man hat mich nicht verbunden.«
»Was ist denn mit ihm, Mr. Snooks?«
»Er hat eine hohe Auszeichnung verliehen bekommen. Der Präsident hat sie ihm im Krankenhaus persönlich überreicht. Die einzige, die je ein Soldat in der Geschichte dieses County verliehen bekam.«
»Was Sie nicht sagen! Davon hat er nichts erzählt. Das ist wirklich eine gute Story.«
»Wir haben schon letzte Woche darüber berichtet, aber ein gutes Interview ist immer besser als eine förmliche Mitteilung des Presseamts. Er musste mit ein paar Mann den Rückzug seines Bataillons decken. Er ist als einziger lebend aus der Sache herausgekommen.«