Der Mann ohne Eigenschaften - Robert Musil - E-Book

Der Mann ohne Eigenschaften E-Book

Robert Musil

0,0
0,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In diesem gewaltigen Meisterwerk, das viele auch mit Joyces "Ulysses" oder Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" vergleichen, passiert oberflächlich wenig. Die Protagonisten verlieren sich in ihren Gedanken und Emotionen. "Der Mann ohne Eigenschaften" ist ein ironischer, aber auch ein humanistisch-utopischer Roman. Über 2000 Seiten umfasste Musils letztlich unvollendet gebliebene Geschichte, nachdem sich der Berliner Rowohlt-Verlag weigerte, weitere Bände zu bezahlen. Daher liegen Teile des dritten und vierten Teils nur fragmentarisch vor - sie entstammen dem Nachlass. "Der Mann ohne Eigenschaften" ist eine sperrige Lektüre, die sich dem Leser nur schwer erschließt. Der titelgebende "Held" Ulrich, ein Mann mit allen Möglichkeiten aber ohne Heimat; gebildet, jung, gesund, aber nicht fähig, sich festzulegen, weder beruflich noch menschlich, er bleibt ein Mann ohne Konturen, eben ohne Eigenschaften. Robert Rudolf Matthias Edler von Musil wurde am 6. November 1880 in Klagenfurt, Österreich geboren und starb am 15. April 1942 in Genf. Er war ein österreichischer Schriftsteller und Theaterkritiker. Null Papier Verlag

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 2758

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Robert Musil

Der Mann ohne Eigenschaften

Robert Musil

Der Mann ohne Eigenschaften

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] EV: Rowohlt, Berlin, 1930/33 3. Auflage, ISBN 978-3-954182-89-3

null-papier.de/neu

Inhaltsverzeichnis

Zum Buch

Ers­tes Buch

Ers­ter Teil -- Eine Art Ein­lei­tung

1 -- Woraus be­mer­kens­wer­ter Wei­se nichts her­vor­geht

2 -- Haus und Woh­nung des Man­nes ohne Ei­gen­schaf­ten

3 -- Auch ein Mann ohne Ei­gen­schaf­ten hat einen Va­ter mit Ei­gen­schaf­ten

4 -- Wenn es Wirk­lich­keits­sinn gibt, muß es auch Mög­lich­keits­sinn ge­ben

5 -- Ul­rich

6 -- Leo­na oder eine per­spek­ti­vi­sche Ver­schie­bung

7 -- In ei­nem Zu­stand von Schwä­che zieht sich Ul­rich eine neue Ge­lieb­te zu

8 -- Ka­ka­ni­en

9 -- Ers­ter von drei Ver­su­chen, ein be­deu­ten­der Mann zu wer­den

10 -- Der zwei­te Ver­such. An­sät­ze zu ei­ner Moral des Man­nes ohne Ei­gen­schaf­ten

11 -- Der wich­tigs­te Ver­such

12 -- Die Dame, de­ren Lie­be Ul­rich nach ei­nem Ge­spräch über Sport und Mys­tik ge­won­nen hat

13 -- Ein ge­nia­les Renn­pferd reift die Er­kennt­nis, ein Mann ohne Ei­gen­schaf­ten zu sein

14 -- Ju­gend­freun­de

15 -- Geis­ti­ger Um­sturz

16 -- Eine ge­heim­nis­vol­le Zeit­krank­heit

17 -- Wir­kung ei­nes Man­nes ohne Ei­gen­schaf­ten auf einen Mann mit Ei­gen­schaf­ten

18 -- Moos­brug­ger

19 -- Brief­li­che Er­mah­nung und Ge­le­gen­heit, Ei­gen­schaf­ten zu er­wer­ben. Kon­kur­renz zwei­er Thron­be­stei­gun­gen

Zwei­ter Teil -- Sei­nes­glei­chen ge­schieht

20 -- Berüh­rung der Wirk­lich­keit. Un­ge­ach­tet des Feh­lens von Ei­gen­schaf­ten be­nimmt sich Ul­rich tat­kräf­tig und feu­rig

21 -- Die wah­re Er­fin­dung der Par­al­le­lak­ti­on durch Graf Leins­dorf

22 -- Die Par­al­le­lak­ti­on steht in Ge­stalt ei­ner ein­fluß­rei­chen Dame von un­be­schreib­li­cher geis­ti­ger An­mut be­reit, Ul­rich zu ver­schlin­gen

23 -- Ers­te Ein­mi­schung ei­nes großen Man­nes

24 -- Be­sitz und Bil­dung; Dio­ti­mas Freund­schaft mit Graf Leins­dorf und das Amt, be­rühm­te Gäs­te in Ein­heit mit der See­le zu brin­gen

25 -- Lei­den ei­ner ver­hei­ra­te­ten See­le

26 -- Die Ve­rei­ni­gung von See­le und Wirt­schaft. Der Mann, der das kann, will den Barock­zau­ber al­ter ös­ter­rei­chi­scher Kul­tur ge­nie­ßen. Der Par­al­le­lak­ti­on wird da­durch eine Idee ge­bo­ren

27 -- We­sen und In­halt ei­ner großen Idee

28 -- Ein Ka­pi­tel, das je­der über­schla­gen kann, der von der Be­schäf­ti­gung mit Ge­dan­ken kei­ne be­son­de­re Mei­nung hat

29 -- Er­klä­rung und Un­ter­bre­chun­gen ei­nes nor­ma­len Be­wußt­seins­zu­stan­des

30 -- Ul­rich hört Stim­men

31 -- Wem gibst du recht?

32 -- Die ver­ges­se­ne, über­aus wich­ti­ge Ge­schich­te mit der Gat­tin ei­nes Ma­jors

33 -- Bruch mit Bo­na­dea

34 -- Ein hei­ßer Strahl und er­kal­te­te Wän­de

35 -- Di­rek­tor Leo Fi­schel und das Prin­zip des un­zu­rei­chen­den Grun­des

36 -- Dank des ge­nann­ten Prin­zips be­steht die Par­al­le­lak­ti­on greif­bar, ehe man weiß, was sie ist

37 -- Ein Pub­li­zist be­rei­tet Graf Leins­dorf durch die Er­fin­dung »Ös­ter­rei­chi­sches Jahr« große Unan­nehm­lich­kei­ten; Se. Er­laucht ver­langt hef­tig nach Ul­rich

38 -- Cla­ris­se und ihre Dä­mo­nen

39 -- Ein Mann ohne Ei­gen­schaf­ten be­steht aus Ei­gen­schaf­ten ohne Mann

40 -- Ein Mann mit al­len Ei­gen­schaf­ten, aber sie sind ihm gleich­gül­tig. Ein Fürst des Geis­tes wird ver­haf­tet, und die Par­al­le­lak­ti­on er­hält ih­ren Ehren­se­kre­tär

41 -- Ra­chel und Dio­ti­ma

42 -- Die große Sit­zung

43 -- Ers­te Be­geg­nung Ul­richs mit dem großen Mann. In der Welt­ge­schich­te ge­schieht nichts Un­ver­nünf­ti­ges, aber Dio­ti­ma stellt die Be­haup­tung auf, das wah­re Ös­ter­reich sei die gan­ze Welt

44 -- Fort­gang und Schluß der großen Sit­zung. Ul­rich fin­det an Ra­chel Wohl­ge­fal­len. Ra­chel an So­li­man. Die Par­al­le­lak­ti­on er­hält eine fes­te Or­ga­ni­sa­ti­on

45 -- Schwei­gen­de Be­geg­nung zwei­er Berg­gip­fel

46 -- Idea­le und Moral sind das bes­te Mit­tel, um das große Loch zu fül­len, das man See­le nennt

47 -- Was alle ge­trennt sind, ist Arn­heim in ei­ner Per­son

48 -- Die drei Ur­sa­chen von Arn­heims Berühmt­heit und das Ge­heim­nis des Gan­zen

49 -- Be­gin­nen­de Ge­gen­sät­ze zwi­schen al­ter und neu­er Di­plo­ma­tie

50 -- Wei­te­re Ent­wick­lung. Sek­ti­ons­chef Tuz­zi be­schließt, sich über die Per­son Arn­heims Klar­heit zu ver­schaf­fen

51 -- Das Haus Fi­schel

52 -- Sek­ti­ons­chef Tuz­zi stellt eine Lücke im Be­trieb sei­nes Mi­nis­te­ri­ums fest

53 -- Man führt Moos­brug­ger in ein neu­es Ge­fäng­nis

54 -- Ul­rich zeigt sich im Ge­spräch mit Wal­ter und Cla­ris­se re­ak­tio­när

55 -- So­li­man und Arn­heim

56 -- Leb­haf­te Ar­beit in den Aus­schüs­sen der Par­al­le­lak­ti­on. Cla­ris­se schreibt an Se. Er­laucht und schlägt ein Nietz­sche-Jahr vor

57 -- Gro­ßer Auf­schwung. Dio­ti­ma macht son­der­ba­re Er­fah­run­gen mit dem We­sen großer Ide­en

58 -- Die Par­al­le­lak­ti­on er­regt Be­den­ken. In der Ge­schich­te der Mensch­heit gibt es aber kein frei­wil­li­ges Zu­rück

59 -- Moos­brug­ger denkt nach

60 -- Aus­flug ins lo­gisch-sitt­li­che Reich

61 -- Das Ide­al der drei Ab­hand­lun­gen oder die Uto­pie des ex­ak­ten Le­bens

62 -- Auch die Erde, na­ment­lich aber Ul­rich, hul­digt der Uto­pie des Essayis­mus

63 -- Bo­na­dea hat eine Vi­si­on

64 -- Ge­ne­ral Stumm von Bord­wehr be­sucht Dio­ti­ma

65 -- Aus den Ge­sprä­chen Arn­heims und Dio­ti­mas

66 -- Zwi­schen Ul­rich und Arn­heim ist ei­ni­ges nicht in Ord­nung

67 -- Dio­ti­ma und Ul­rich

68 -- Eine Ab­schwei­fung: Müs­sen Men­schen mit ih­rem Kör­per über­ein­stim­men?

69 -- Dio­ti­ma und Ul­rich. Fort­set­zung

70 -- Cla­ris­se be­sucht Ul­rich, um ihm eine Ge­schich­te zu er­zäh­len

71 -- Der Aus­schuß zur Fas­sung ei­nes lei­ten­den Be­schlus­ses in be­zug auf das Sieb­zig­jäh­ri­ge Re­gie­rungs­ju­bi­lä­um Sr. Ma­je­stät be­ginnt zu ta­gen

72 -- Das In den Bart Lä­cheln der Wis­sen­schaft oder Ers­te aus­führ­li­che Be­geg­nung mit dem Bö­sen

73 -- Leo Fi­schels Toch­ter Ger­da

74 -- Das 4. Jahr­hun­dert v. Chr. ge­gen das Jahr 1797. Ul­rich er­hält aber­mals einen Brief sei­nes Va­ters

75 -- Ge­ne­ral Stumm von Bord­wehr be­trach­tet Be­su­che bei Dio­ti­ma als eine schö­ne Ab­wechs­lung in den dienst­li­chen Ob­lie­gen­hei­ten

76 -- Graf Leins­dorf zeigt sich zu­rück­hal­tend

77 -- Arn­heim als Freund der Jour­na­lis­ten

78 -- Ver­wand­lun­gen Dio­ti­mas

79 -- So­li­man liebt

80 -- Man lernt Ge­ne­ral Stumm ken­nen, der über­ra­schend auf dem Kon­zil er­scheint

81 -- Graf Leins­dorf äu­ßert sich über Re­al­po­li­tik. Ul­rich grün­det Verei­ne

82 -- Cla­ris­se ver­langt ein Ul­rich-Jahr

83 -- Sei­nes­glei­chen ge­schieht oder warum er­fin­det man nicht Ge­schich­te?

84 -- Be­haup­tung, daß auch das ge­wöhn­li­che Le­ben von uto­pi­scher Na­tur ist

85 -- Ge­ne­ral Stumms Be­mü­hung, Ord­nung in den Zi­vil­ver­stand zu brin­gen

86 -- Der Kö­nigs­kauf­mann und die In­ter­es­sen­fu­si­on See­le-Ge­schäft. Auch: Alle Wege zum Geist ge­hen von der See­le aus, aber kei­ner führt zu­rück

87 -- Moos­brug­ger tanzt

88 -- Die Ver­bin­dung mit großen Din­gen

89 -- Man muß mit sei­ner Zeit gehn

90 -- Die Ent­thro­nung der Ideo­kra­tie

91 -- Spe­ku­la­ti­on in Geist à la bais­se und à la haus­se

92 -- Aus den Le­bens­re­geln rei­cher Leu­te

93 -- Dem Zi­vil­ver­stand ist auch auf dem Weg der Kör­per­kul­tur schwer bei­zu­kom­men

94 -- Dio­ti­mas Näch­te

95 -- Der Groß­schrift­stel­ler, Rück­an­sicht

96 -- Der Groß­schrift­stel­ler, Vor­der­an­sicht

97 -- Cla­ris­sens ge­heim­nis­vol­le Kräf­te und Auf­ga­ben

98 -- Aus ei­nem Staat, der an ei­nem Sprach­feh­ler zu­grun­de­ge­gan­gen ist

99 -- Von der Halb­klug­heit und ih­rer frucht­ba­ren an­de­ren Hälf­te; von der Ähn­lich­keit zwei­er Zeit­al­ter, von dem lie­bens­wer­ten We­sen Tan­te Ja­nes und dem Un­fug, den man neue Zeit nennt

100 -- Ge­ne­ral Stumm dringt in die Staats­bi­blio­thek ein und sam­melt Er­fah­run­gen über Biblio­the­ka­re, Biblio­theks­die­ner und geis­ti­ge Ord­nung

101 -- Die feind­li­chen Ver­wand­ten

102 -- Kampf und Lie­be im Hau­se Fi­schel

103 -- Die Ver­su­chung

104 -- Ra­chel und So­li­man auf dem Kriegs­pfad

105 -- Hohe Lie­ben­de ha­ben nichts zu la­chen

106 -- Glaubt der mo­der­ne Mensch an Gott oder an den Chef der Welt­fir­ma? Arn­heims Un­ent­schlos­sen­heit

107 -- Graf Leins­dorf er­zielt einen un­er­war­te­ten po­li­ti­schen Er­folg

108 -- Die un­er­lös­ten Na­tio­nen und Ge­ne­ral Stamms Ge­dan­ken über die Wort­grup­pe Er­lö­sen

109 -- Bo­na­dea, Ka­ka­ni­en; Sys­te­me des Glücks und Gleich­ge­wichts

110 -- Moos­brug­gers Auf­lö­sung und Auf­be­wah­rung

111 -- Es gibt für Ju­ris­ten kei­ne halb­ver­rück­ten Men­schen

112 -- Arn­heim ver­setzt sei­nen Va­ter Sa­mu­el un­ter die Göt­ter und faßt den Be­schluß, sich Ul­richs zu be­mäch­ti­gen. So­li­man möch­te über sei­nen kö­nig­li­chen Va­ter Nä­he­res er­fah­ren

113 -- Ul­rich un­ter­hält sich mit Hans Sepp und Ger­da in der Misch­spra­che des Grenz­ge­biets zwi­schen Über- und Un­ter­ver­nunft

114 -- Die Ver­hält­nis­se spit­zen sich zu. Arn­heim ist sehr huld­voll zu Ge­ne­ral Stumm. Dio­ti­ma trifft An­stal­ten, sich ins Gren­zen­lo­se zu be­ge­ben. Ul­rich phan­ta­siert von der Mög­lich­keit, so zu le­ben, wie man liest

115 -- Die Spit­ze dei­ner Brust ist wie ein Mohn­blatt

116 -- Die bei­den Bäu­me des Le­bens und die For­de­rung ei­nes Ge­ne­ral­se­kre­ta­ri­ats der Ge­nau­ig­keit und See­le

117 -- Ra­chels schwar­zer Tag

118 -- So töte ihn doch!

119 -- Kon­ter­mi­ne und Ver­füh­rung

120 -- Die Par­al­le­lak­ti­on er­regt Aufruhr

121 -- Die Auss­pra­che

122 -- Heim­weg

123 -- Die Um­keh­rung

Zwei­tes Buch

Drit­ter Teil -- Ins Tau­send­jäh­ri­ge Reich [Die Ver­bre­cher]

1 -- Die ver­ges­se­ne Schwes­ter

2 -- Ver­trau­en

3 -- Mor­gen in ei­nem Trau­er­haus

4 -- Ich hat­t’ einen Ka­me­ra­den

5 -- Sie tun Un­recht

6 -- Der alte Herr be­kommt end­lich Ruhe

7 -- Ein Brief von Cla­ris­se trifft ein

8 -- Fa­mi­lie zu zwei­en

9 -- Aga­the, wenn sie nicht mit Ul­rich spre­chen kann

10 -- Wei­te­rer Ver­lauf des Aus­flugs auf die Schwe­den­schan­ze. Die Moral des nächs­ten Schritts

11 -- Hei­li­ge Ge­sprä­che. Be­ginn

12 -- Hei­li­ge Ge­sprä­che. Wech­sel­vol­ler Fort­gang

13 -- Ul­rich kehrt zu­rück und wird durch den Ge­ne­ral von al­lem un­ter­rich­tet, was er ver­säumt hat

14 -- Neu­es bei Wal­ter und Cla­ris­se. Ein Schau­stel­ler und sei­ne Zuschau­er

15 -- Das Te­sta­ment

16 -- Wie­der­se­hen mit Dio­ti­mas di­plo­ma­ti­schem Gat­ten

17 -- Dio­ti­ma hat ihre Lek­tü­re ge­wech­selt

18 -- Schwie­rig­kei­ten ei­nes Mora­lis­ten beim Schrei­ben ei­nes Briefs

19 -- Vor­wärts zu Moos­brug­ger

20 -- Graf Leins­dorf zwei­felt an Be­sitz und Bil­dung

21 -- Wirf al­les, was du hast, ins Feu­er, bis zu den Schu­hen

22 -- Von der Ko­nia­tow­ski’­schen Kri­tik des Da­ni­el­li’­schen Sat­zes zum Sün­den­fall. Vom Sün­den­fall zum Ge­fühls­rät­sel der Schwes­ter

23 -- Bo­na­dea oder der Rück­fall

24 -- Aga­the ist wirk­lich da

25 -- Die Sia­me­si­schen Zwil­lin­ge

26 -- Früh­ling im Ge­mü­se­gar­ten

27 -- Aga­the wird als­bald durch Ge­ne­ral Stumm für die Ge­sell­schaft ent­deckt

28 -- Zu viel Hei­ter­keit

29 -- Pro­fes­sor Ha­gau­er greift zur Fe­der

30 -- Ul­rich und Aga­the su­chen nach­träg­lich einen Grund

31 -- Aga­the möch­te Selbst­mord be­gehn und macht eine Her­ren­be­kannt­schaft

32 -- Der Ge­ne­ral bringt Ul­rich und Cla­ris­se in­zwi­schen ins Ir­ren­haus

33 -- Die Ir­ren be­grü­ßen Cla­ris­se

34 -- Ein großes Er­eig­nis ist im Ent­ste­hen. Graf Leins­dorf und der Inn

35 -- Ein großes Er­eig­nis ist im Ent­ste­hen. Re­gie­rungs­rat Me­se­rit­scher

36 -- Ein großes Er­eig­nis ist im Ent­ste­hen. Wo­bei man Be­kann­te trifft

37 -- Ein Ver­gleich

38 -- Ein großes Er­eig­nis ist im Ent­ste­hen. Aber man hat es nicht ge­merkt

Schluss des drit­ten Teils und vier­ter Teil

39 -- Nach der Be­geg­nung

40 -- Der Tu­gut

41 -- Die Ge­schwis­ter am nächs­ten Mor­gen

42 -- Auf der Him­mels­lei­ter in eine frem­de Woh­nung

43 -- Der Tu­gut und der Tu­nicht­gut. Aber auch Aga­the

44 -- Eine ge­wal­ti­ge Auss­pra­che

45 -- Be­ginn ei­ner Rei­he wun­der­sa­mer Er­leb­nis­se

46 -- Mond­strah­len bei Tage

47 -- Wan­del un­ter Men­schen

48 -- Eine auf das Be­deu­ten­de ge­rich­te­te Ge­sin­nung und be­gin­nen­des Ge­spräch dar­über

49 -- Ge­ne­ral von Stumm über die Ge­nia­li­tät

50 -- Ge­nia­li­tät als Fra­ge

51 -- Lie­be dei­nen Nächs­ten wie dich selbst

52 -- Ge­sprä­che über Lie­be

53 -- Schwie­rig­kei­ten, wo sie nicht ge­sucht wer­den

54 -- Es ist nicht ein­fach zu lie­ben

55 -- Atem­zü­ge ei­nes Som­mer­tags

56 -- Das Stern­bild der Ge­schwis­ter oder Die Un­ge­trenn­ten und Nicht­ver­ein­ten

57 - 59

60 -- Nach­den­ken

61 -- Früh­spa­zier­gang

62 -- Ge­ne­ral von Stumm und Cla­ris­se

63

64 -- Ein Blatt Pa­pier. Ul­richs Ta­ge­buch

65 -- Eine Ein­tra­gung. Ent­wurf zur Uto­pie des mo­ti­vier­ten Le­bens

66 -- Das Ende der Ein­tra­gung. Le­ben­de Ge­dan­ken

67 -- Ge­ne­ral von Stumm läßt eine Bom­be fal­len Welt­frie­dens­kon­greß

68

69 -- Aga­the fin­det Ul­richs Ta­ge­buch

70 -- Gro­ße Ver­än­de­run­gen

71 -- Aga­the stößt zu ih­rem Miß­ver­gnü­gen auf einen ge­schicht­li­chen Abriß der Ge­fühl­s­psy­cho­lo­gie

72 -- Die Re­fe­ra­te D und L

73 -- Nai­ve Be­schrei­bung, wie sich ein Ge­fühl bil­det

74 -- Füh­len und Ver­hal­ten. Die Un­si­cher­heit des Ge­fühls

75 -- Zu­rück zur Wirk­lich­keit. Oder Der Tu­gut singt

76 -- Die Wirk­lich­keit und die Ek­sta­se

77 -- Ul­rich und die zwei Wel­ten des Ge­fühls

78 - 91

92 -- Moos­brug­ger im Ir­ren­haus. Eine Kar­ten­par­tie

93 -- Cla­ris­se und Frie­den­thal

94 - 98

99 -- Wer­den ei­nes Tat­men­schen

100 -- Wer­den ei­nes Tat­men­schen. Fort­set­zung

101 -- Ul­rich hört Mu­sik

102 -- Ger­da

103 - 106

107 -- Cla­ris­se bei Ra­chel

108 -- Moos­brug­ger und Ra­chel

109 -- Ge­ne­ral­di­rek­tor Fi­schel

110 -- Po­li­tisch un­ver­läß­lich. Was auch mit­be­deu­tend sein soll

111 - 118

119 -- Ge­ne­ral­di­rek­tor Fi­schel. Be­geg­nung im Zug

120 - 128

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

Ihr Jür­gen Schul­ze

99 Welt-Klas­si­ker

Der Tee der drei al­ten Da­men

Arme Leu­te und Der Dop­pel­gän­ger

Der Vam­pir

Der selt­sa­me Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Der Idi­ot

Jane Eyre

Effi Briest

Ma­da­me Bo­va­ry

Ili­as & Odys­see

Ge­schich­te des Gil Blas von San­til­la­na

und wei­te­re …

Zum Buch

In die­sem ge­wal­ti­gen Meis­ter­werk, das vie­le auch mit Joy­ces »Ulys­ses« oder Prousts »Auf der Su­che nach der ver­lo­re­nen Zeit« ver­glei­chen, pas­siert ober­fläch­lich we­nig. Die Pro­tago­nis­ten ver­lie­ren sich in ih­ren Ge­dan­ken und Emo­tio­nen.

»Der Mann ohne Ei­gen­schaf­ten‹ ist ein iro­ni­scher, aber auch ein hu­ma­nis­tisch-uto­pi­scher Ro­man. Über 2000 Sei­ten um­fass­te Mu­sils letzt­lich un­voll­en­det ge­blie­be­ne Ge­schich­te, nach­dem sich der Ber­li­ner Ro­wohlt-Ver­lag wei­ger­te, wei­te­re Bän­de zu be­zah­len. Da­her lie­gen Tei­le des drit­ten und vier­ten Teils nur frag­men­ta­risch vor -- sie ent­stam­men dem Nach­lass.

»Der Mann ohne Ei­gen­schaf­ten‹ ist eine sper­ri­ge Lek­tü­re, die sich dem Le­ser nur schwer er­schließt.

Der ti­tel­ge­ben­de »Held« Ul­rich, ein Mann mit al­len Mög­lich­kei­ten aber ohne Hei­mat; ge­bil­det, jung, ge­sund, aber nicht fä­hig, sich fest­zu­le­gen, we­der be­ruf­lich noch mensch­lich, er bleibt ein Mann ohne Kon­tu­ren, eben ohne Ei­gen­schaf­ten.

Erstes Buch

Erster Teil -- Eine Art Einleitung

1 -- Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht

Über dem At­lan­tik be­fand sich ein ba­ro­me­tri­sches Mi­ni­mum; es wan­der­te ost­wärts, ei­nem über Ruß­land la­gern­den Ma­xi­mum zu, und ver­riet noch nicht die Nei­gung, die­sem nörd­lich aus­zu­wei­chen. Die Iso­ther­men und Iso­the­ren1 ta­ten ihre Schul­dig­keit. Die Luft­tem­pe­ra­tur stand in ei­nem ord­nungs­ge­mä­ßen Ver­hält­nis zur mitt­le­ren Jah­res­tem­pe­ra­tur, zur Tem­pe­ra­tur des käl­tes­ten wie des wärms­ten Mo­nats und zur ape­ri­odi­schen mo­nat­li­chen Tem­pe­ra­tur­schwan­kung. Der Auf- und Un­ter­gang der Son­ne, des Mon­des, der Licht­wech­sel des Mon­des, der Ve­nus, des Sa­turn­rin­ges und vie­le an­de­re be­deut­sa­me Er­schei­nun­gen ent­spra­chen ih­rer Voraus­sa­ge in den astro­no­mi­schen Jahr­bü­chern. Der Was­ser­dampf in der Luft hat­te sei­ne höchs­te Spann­kraft, und die Feuch­tig­keit der Luft war ge­ring. Mit ei­nem Wort, das das Tat­säch­li­che recht gut be­zeich­net, wenn es auch et­was alt­mo­disch ist: Es war ein schö­ner Au­gust­tag des Jah­res 1913.

Au­tos schos­sen aus schma­len, tie­fen Stra­ßen in die Seich­tig­keit hel­ler Plät­ze. Fuß­gän­ger­dun­kel­heit bil­de­te wol­ki­ge Schnü­re. Wo kräf­ti­ge­re Stri­che der Ge­schwin­dig­keit quer durch ihre lo­cke­re Eile fuh­ren, ver­dick­ten sie sich, rie­sel­ten nach­her ra­scher und hat­ten nach we­ni­gen Schwin­gun­gen wie­der ih­ren gleich­mä­ßi­gen Puls. Hun­der­te Töne wa­ren zu ei­nem drah­ti­gen Geräusch in­ein­an­der ver­wun­den, aus dem ein­zel­ne Spit­zen vor­stan­den, längs des­sen schnei­di­ge Kan­ten lie­fen und sich wie­der ein­eb­ne­ten, von dem kla­re Töne ab­split­ter­ten und ver­flo­gen. An die­sem Geräusch, ohne daß sich sei­ne Be­son­der­heit be­schrei­ben lie­ße, wür­de ein Mensch nach jah­re­lan­ger Ab­we­sen­heit mit ge­schlos­se­nen Au­gen er­kannt ha­ben, daß er sich in der Reichs­haupt- und Re­si­denz­stadt Wien be­fin­de. Städ­te las­sen sich an ih­rem Gang er­ken­nen wie Men­schen. Die Au­gen öff­nend, wür­de er das glei­che an der Art be­mer­ken, wie die Be­we­gung in den Stra­ßen schwingt, bei wei­tem frü­her als er es durch ir­gend­ei­ne be­zeich­nen­de Ein­zel­heit her­aus­fän­de. Und wenn er sich, das zu kön­nen, nur ein­bil­den soll­te, scha­det es auch nichts. Die Über­schät­zung der Fra­ge, wo man sich be­fin­de, stammt aus der Hor­den­zeit, wo man sich die Fut­ter­plät­ze mer­ken muß­te. Es wäre wich­tig, zu wis­sen, warum man sich bei ei­ner ro­ten Nase ganz un­ge­nau da­mit be­gnügt, sie sei rot, und nie da­nach fragt, wel­ches be­son­de­re Rot sie habe, ob­gleich sich das durch die Wel­len­län­ge auf Mi­kro­mil­li­me­ter ge­nau aus­drücken lie­ße; wo­ge­gen man bei et­was so viel Ver­wi­ckel­te­rem, wie es eine Stadt ist, in der man sich auf­hält, im­mer durch­aus ge­nau wis­sen möch­te, wel­che be­son­de­re Stadt das sei. Es lenkt von Wich­ti­ge­rem ab.

Es soll also auf den Na­men der Stadt kein be­son­de­rer Wert ge­legt wer­den. Wie alle großen Städ­te be­stand sie aus Un­re­gel­mä­ßig­keit, Wech­sel, Vorglei­ten, Nicht­schrit­t­hal­ten, Zu­sam­men­stö­ßen von Din­gen und An­ge­le­gen­hei­ten, bo­den­lo­sen Punk­ten der Stil­le da­zwi­schen, aus Bah­nen und Un­ge­bahn­tem, aus ei­nem großen rhyth­mi­schen Schlag und der ewi­gen Ver­stim­mung und Ver­schie­bung al­ler Rhyth­men ge­gen­ein­an­der, und glich im gan­zen ei­ner ko­chen­den Bla­se, die in ei­nem Ge­fäß ruht, das aus dem dau­er­haf­ten Stoff von Häu­sern, Ge­set­zen, Ver­ord­nun­gen und ge­schicht­li­chen Über­lie­fe­run­gen be­steht. Die bei­den Men­schen, die dar­in eine brei­te, be­leb­te Stra­ße hin­auf­gin­gen, hat­ten na­tür­lich gar nicht die­sen Ein­druck. Sie ge­hör­ten er­sicht­lich ei­ner be­vor­zug­ten Ge­sell­schafts­schicht an, wa­ren vor­nehm in Klei­dung, Hal­tung und in der Art, wie sie mit­ein­an­der spra­chen, tru­gen die An­fangs­buch­sta­ben ih­rer Na­men be­deut­sam auf ihre Wä­sche ge­stickt, und eben­so, das heißt nicht nach au­ßen ge­kehrt, wohl aber in der fei­nen Un­ter­wä­sche ih­res Be­wußt­seins, wuß­ten sie, wer sie sei­en und daß sie sich in ei­ner Haupt- und Re­si­denz­stadt auf ih­rem Plat­ze be­fan­den. An­ge­nom­men, sie wür­den Arn­heim und Er­me­lin­da Tuz­zi hei­ßen, was aber nicht stimmt, denn Frau Tuz­zi be­fand sich im Au­gust in Beglei­tung ih­res Gat­ten in Bad Aus­see und Dr. Arn­heim noch in Kon­stan­ti­no­pel, so steht man vor dem Rät­sel, wer sie sei­en. Leb­haf­te Men­schen emp­fin­den sol­che Rät­sel sehr oft in den Stra­ßen. Sie lö­sen sich in be­mer­kens­wer­ter Wei­se da­durch auf, daß man sie ver­gißt, falls man sich nicht wäh­rend der nächs­ten fünf­zig Schrit­te er­in­nern kann, wo man die bei­den schon ge­se­hen hat. Die­se bei­den hiel­ten nun plötz­lich ih­ren Schritt an, weil sie vor sich einen Auf­lauf be­merk­ten. Schon einen Au­gen­blick vor­her war et­was aus der Rei­he ge­sprun­gen, eine quer schla­gen­de Be­we­gung; et­was hat­te sich ge­dreht, war seit­wärts ge­rutscht, ein schwe­rer, jäh ge­brems­ter Last­wa­gen war es, wie sich jetzt zeig­te, wo er, mit ei­nem Rad auf der Bord­schwel­le, ge­stran­det da­stand. Wie die Bie­nen um das Flug­loch hat­ten sich im Nu Men­schen um einen klei­nen Fleck an­ge­setzt, den sie in ih­rer Mit­te freilie­ßen. Von sei­nem Wa­gen her­ab­ge­kom­men, stand der Len­ker dar­in, grau wie Pack­pa­pier, und er­klär­te mit gro­ben Ge­bär­den den Un­glücks­fall. Die Bli­cke der Hin­zu­kom­men­den rich­te­ten sich auf ihn und san­ken dann vor­sich­tig in die Tie­fe des Lochs, wo man einen Mann, der wie tot dalag, an die Schwel­le des Geh­steigs ge­bet­tet hat­te. Er war durch sei­ne ei­ge­ne Unacht­sam­keit zu Scha­den ge­kom­men, wie all­ge­mein zu­ge­ge­ben wur­de. Ab­wech­selnd knie­ten Leu­te bei ihm nie­der, um et­was mit ihm an­zu­fan­gen; man öff­ne­te sei­nen Rock und schloß ihn wie­der, man ver­such­te ihn auf­zu­rich­ten oder im Ge­gen­teil, ihn wie­der hin­zu­le­gen; ei­gent­lich woll­te nie­mand et­was an­de­res da­mit, als die Zeit aus­fül­len, bis mit der Ret­tungs­ge­sell­schaft sach­kun­di­ge und be­fug­te Hil­fe käme.

Auch die Dame und ihr Beglei­ter wa­ren her­an­ge­tre­ten und hat­ten, über Köp­fe und ge­beug­te Rücken hin­weg, den Da­lie­gen­den be­trach­tet. Dann tra­ten sie zu­rück und zö­ger­ten. Die Dame fühl­te et­was Un­an­ge­neh­mes in der Herz-Ma­gen­gru­be, das sie be­rech­tigt war für Mit­leid zu hal­ten; es war ein un­ent­schlos­se­nes, läh­men­des Ge­fühl. Der Herr sag­te nach ei­ni­gem Schwei­gen zu ihr: »Die­se schwe­ren Kraft­wa­gen, wie sie hier ver­wen­det wer­den, ha­ben einen zu lan­gen Brems­weg.« Die Dame fühl­te sich da­durch er­leich­tert und dank­te mit ei­nem auf­merk­sa­men Blick. Sie hat­te die­ses Wort wohl schon manch­mal ge­hört, aber sie wuß­te nicht, was ein Brems­weg sei, und woll­te es auch nicht wis­sen; es ge­nüg­te ihr, daß da­mit die­ser gräß­li­che Vor­fall in ir­gend eine Ord­nung zu brin­gen war und zu ei­nem tech­ni­schen Pro­blem wur­de, das sie nicht mehr un­mit­tel­bar an­ging. Man hör­te jetzt auch schon die Pfei­fe ei­nes Ret­tungs­wa­gens schril­len, und die Schnel­lig­keit sei­nes Ein­tref­fens er­füll­te alle War­ten­den mit Ge­nug­tu­ung. Be­wun­derns­wert sind die­se so­zia­len Ein­rich­tun­gen. Man hob den Ve­r­un­glück­ten auf eine Trag­bah­re und schob ihn mit die­ser in den Wa­gen. Män­ner in ei­ner Art Uni­form wa­ren um ihn be­müht, und das In­ne­re des Fuhr­werks, das der Blick er­hasch­te, sah so sau­ber und re­gel­mä­ßig wie ein Kran­ken­saal aus. Man ging fast mit dem be­rech­tig­ten Ein­druck da­von, daß sich ein ge­setz­li­ches und ord­nungs­mä­ßi­ges Er­eig­nis voll­zo­gen habe. »Nach den ame­ri­ka­ni­schen Sta­tis­ti­ken«, so be­merk­te der Herr, »wer­den dort jähr­lich durch Au­tos 190.000 Per­so­nen ge­tö­tet und 450.000 ver­letzt.«

»Mei­nen Sie, daß er tot ist?« frag­te sei­ne Beglei­te­rin und hat­te noch im­mer das un­be­rech­tig­te Ge­fühl, et­was Be­son­de­res er­lebt zu ha­ben.

»Ich hof­fe, er lebt« er­wi­der­te der Herr. »Als man ihn in den Wa­gen hob, sah es ganz so aus.«

Li­ni­en glei­cher som­mer­li­cher Ma­xi­mal­tem­pe­ra­tur  <<<

2 -- Haus und Wohnung des Mannes ohne Eigenschaften

Die Stra­ße, in der sich die­ser klei­ne Un­glücks­fall er­eig­net hat­te, war ei­ner je­ner lan­gen, ge­wun­de­nen Ver­kehrs­flüs­se, die strah­len­för­mig am Kern der Stadt ent­sprin­gen, die äu­ße­ren Be­zir­ke durch­ziehn und in die Vor­städ­te mün­den. Soll­te ihm das ele­gan­te Paar noch eine Wei­le wei­ter ge­folgt sein, so wür­de es et­was ge­se­hen ha­ben, das ihm ge­wiß ge­fal­len hät­te. Das war ein teil­wei­se noch er­hal­ten ge­blie­be­ner Gar­ten aus dem acht­zehn­ten oder gar aus dem sieb­zehn­ten Jahr­hun­dert, und wenn man an sei­nem schmie­de­ei­ser­nen Git­ter vor­bei­kam, so er­blick­te man zwi­schen Bäu­men, auf sorg­fäl­tig ge­scho­re­nem Ra­sen et­was wie ein kurz­flü­ge­li­ges Schlöß­chen, ein Jagd- oder Lie­bes­schlöß­chen ver­gan­ge­ner Zei­ten. Genau ge­sagt, sei­ne Trag­ge­wöl­be wa­ren aus dem sieb­zehn­ten Jahr­hun­dert, der Park und der Ober­stock tru­gen das An­se­hen des acht­zehn­ten Jahr­hun­derts, die Fassa­de war im neun­zehn­ten Jahr­hun­dert er­neu­ert und et­was ver­dor­ben wor­den, das Gan­ze hat­te also einen et­was ver­wa­ckel­ten Sinn, so wie über­ein­an­der pho­to­gra­phier­te Bil­der; aber es war so, daß man un­fehl­bar ste­hen blieb und »Ah!« sag­te. Und wenn das Wei­ße, Nied­li­che, Schö­ne sei­ne Fens­ter ge­öff­net hat­te, blick­te man in die vor­neh­me Stil­le der Bü­cher­wän­de ei­ner Ge­lehr­ten­woh­nung.

Die­se Woh­nung und die­ses Haus ge­hör­ten dem Mann ohne Ei­gen­schaf­ten.

Er stand hin­ter ei­nem der Fens­ter, sah durch den zart­grü­nen Fil­ter der Gar­ten­luft auf die bräun­li­che Stra­ße und zähl­te mit der Uhr seit zehn Mi­nu­ten die Au­tos, die Wa­gen, die Tram­bah­nen und die von der Ent­fer­nung aus­ge­wa­sche­nen Ge­sich­ter der Fuß­gän­ger, die das Netz des Blicks mit quir­len­der Eile füll­ten; er schätz­te die Ge­schwin­dig­kei­ten, die Win­kel, die le­ben­di­gen Kräf­te vor­über­be­weg­ter Mas­sen, die das Auge blitz­schnell nach sich zie­hen, fest­hal­ten, los­las­sen, die wäh­rend ei­ner Zeit, für die es kein Maß gibt, die Auf­merk­sam­keit zwin­gen, sich ge­gen sie zu stem­men, ab­zu­rei­ßen, zum nächs­ten zu sprin­gen und sich die­sem nach­zu­wer­fen; kurz, er steck­te, nach­dem er eine Wei­le im Kopf ge­rech­net hat­te, la­chend die Uhr in die Ta­sche und stell­te fest, daß er Un­sinn ge­trie­ben habe. -- Könn­te man die Sprün­ge der Auf­merk­sam­keit mes­sen, die Leis­tun­gen der Au­gen­mus­keln, die Pen­del­be­we­gun­gen der See­le und alle die An­stren­gun­gen, die ein Mensch voll­brin­gen muß, um sich im Fluß ei­ner Stra­ße auf­recht zu hal­ten, es käme ver­mut­lich -- so hat­te er ge­dacht und spie­lend das Un­mög­li­che zu be­rech­nen ver­sucht -- eine Grö­ße her­aus, mit der ver­gli­chen die Kraft, die At­las braucht, um die Welt zu stem­men, ge­ring ist, und man könn­te er­mes­sen, wel­che un­ge­heu­re Leis­tung heu­te schon ein Mensch voll­bringt, der gar nichts tut.

Denn der Mann ohne Ei­gen­schaf­ten war au­gen­blick­lich ein sol­cher Mensch.

Und ei­ner der tut?

»Man kann zwei Schlüs­se dar­aus zie­hen« sag­te er sich.

Die Mus­kel­leis­tung ei­nes Bür­gers, der ru­hig einen Tag lang sei­nes We­ges geht, ist be­deu­tend grö­ßer als die ei­nes Ath­le­ten, der ein­mal im Tag ein un­ge­heu­res Ge­wicht stemmt; das ist phy­sio­lo­gisch nach­ge­wie­sen wor­den, und also set­zen wohl auch die klei­nen All­tags­leis­tun­gen in ih­rer ge­sell­schaft­li­chen Sum­me und durch ihre Eig­nung für die­se Sum­mie­rung viel mehr Ener­gie in die Welt als die he­ro­i­schen Ta­ten; ja die he­ro­i­sche Leis­tung er­scheint ge­ra­de­zu win­zig, wie ein Sand­korn, das mit un­ge­heu­rer Il­lu­si­on auf einen Berg ge­legt wird. Die­ser Ge­dan­ke ge­fiel ihm.

Aber es muß hin­zu­ge­fügt wer­den, daß er ihm nicht etwa des­halb ge­fiel, weil er das bür­ger­li­che Le­ben lieb­te; im Ge­gen­teil, es be­lieb­te ihm bloß, sei­nen Nei­gun­gen, die einst­mals an­ders ge­we­sen wa­ren, Schwie­rig­kei­ten zu be­rei­ten. Vi­el­leicht ist es ge­ra­de der Spieß­bür­ger, der den Be­ginn ei­nes un­ge­heu­ren neu­en, kol­lek­ti­ven, amei­sen­haf­ten Hel­den­tums vor­au­sahnt? Man wird es ra­tio­na­li­sier­tes Hel­den­tum nen­nen und sehr schön fin­den. Wer kann das heu­te schon wis­sen? Sol­cher un­be­ant­wor­te­ter Fra­gen von größ­ter Wich­tig­keit gab es aber da­mals hun­der­te. Sie la­gen in der Luft, sie brann­ten un­ter den Fü­ßen. Die Zeit be­weg­te sich. Leu­te, die da­mals noch nicht ge­lebt ha­ben, wer­den es nicht glau­ben wol­len, aber schon da­mals be­weg­te sich die Zeit so schnell wie ein Reit­ka­mel; und nicht erst heu­te. Man wuß­te bloß nicht, wo­hin. Man konn­te auch nicht recht un­ter­schei­den, was oben und un­ten war, was vor und zu­rück ging. »Man kann tun, was man will;« sag­te sich der Mann ohne Ei­gen­schaf­ten ach­zel­zu­ckend »es kommt in die­sem Ge­filz von Kräf­ten nicht im ge­rings­ten dar­auf an!« Er wand­te sich ab wie ein Mensch, der ver­zich­ten ge­lernt hat, ja fast wie ein kran­ker Mensch, der jede star­ke Berüh­rung scheut, und als er, sein an­gren­zen­des An­klei­de­zim­mer durch­schrei­tend, an ei­nem Box­ball, der dort hing, vor­bei­kam, gab er die­sem einen so schnel­len und hef­ti­gen Schlag, wie es in Stim­mun­gen der Er­ge­ben­heit oder Zu­stän­den der Schwä­che nicht ge­ra­de üb­lich ist.

3 -- Auch ein Mann ohne Eigenschaften hat einen Vater mit Eigenschaften

Der Mann ohne Ei­gen­schaf­ten hat­te, als er vor ei­ni­ger Zeit aus dem Aus­land zu­rück­kehr­te, ei­gent­lich nur aus Über­mut und weil er die ge­wöhn­li­chen Woh­nun­gen ver­ab­scheu­te, die­ses Schlöß­chen ge­mie­tet, das einst ein vor den To­ren lie­gen­der Som­mer­sitz ge­we­sen war, der sei­ne Be­stim­mung ver­lor, als die Groß­stadt über ihn weg­wuchs, und zu­letzt nicht mehr als ein brach­lie­gen­des, auf das Stei­gen der Bo­den­prei­se war­ten­des Grund­stück dar­stell­te, das von nie­mand be­wohnt wur­de. Der Pacht­zins war dement­spre­chend ge­ring, aber un­er­war­tet viel Geld hat­te das Wei­te­re ge­kos­tet, al­les wie­der in Stand set­zen zu las­sen und mit den An­sprü­chen der Ge­gen­wart zu ver­bin­den; das war ein Aben­teu­er ge­wor­den, des­sen Aus­gang ihn zwang, sich an die Hil­fe sei­nes Va­ters zu wen­den, was ihm kei­nes­wegs an­ge­nehm war, denn er lieb­te sei­ne Un­ab­hän­gig­keit. Er war zwei­und­drei­ßig Jah­re alt, und sein Va­ter neun­und­sech­zig.

Der alte Herr war ent­setzt. Nicht ei­gent­lich we­gen des Über­falls, wenn­gleich auch des­we­gen, denn er ver­ab­scheu­te die Un­über­legt­heit; noch we­gen der Kon­tri­bu­ti­on, die er leis­ten muß­te, denn im Grun­de bil­lig­te er es, daß sein Sohn ein Be­dürf­nis nach Häus­lich­keit und ei­ge­ner Ord­nung kund­ge­ge­ben hat­te. Aber die An­eig­nung ei­nes Ge­bäu­des, das man, und sei es auch nur im Di­mi­nu­tiv, nicht um­hin konn­te als ein Schloß zu be­zeich­nen, ver­letz­te sein Ge­fühl und ängs­tig­te es als eine un­heil­ver­hei­ßen­de An­ma­ßung.

Er selbst hat­te als Haus­leh­rer in hoch­gräf­li­chen Häu­sern be­gon­nen; als Stu­dent und fort­fah­rend noch als jun­ger Rechts­an­walts­ge­hil­fe und ei­gent­lich ohne Not, denn schon sein Va­ter war ein wohl­ha­ben­der Mann ge­we­sen. -- Als er spä­ter Uni­ver­si­täts­do­zent und Pro­fes­sor wur­de, fühl­te er sich aber da­für be­lohnt, denn die sorg­fäl­ti­ge Pfle­ge die­ser Be­zie­hun­gen brach­te es nun mit sich, daß er all­mäh­lich zum Rechts­kon­su­len­ten fast des ge­sam­ten Feu­dala­dels sei­ner Hei­mat auf­rück­te, ob­gleich er ei­nes Ne­ben­be­rufs nun erst recht nicht mehr be­durf­te. Ja, lan­ge nach­dem das Ver­mö­gen, wel­ches er da­mit er­warb, schon den Ver­gleich mit der Mor­gen­ga­be ei­ner rhei­ni­schen In­dus­tri­el­len­fa­mi­lie aus­hielt, die sei­nes Soh­nes früh­ver­stor­be­ne Mut­ter in die Ehe ge­bracht hat­te, schlie­fen die­se in der Ju­gend er­wor­be­nen und im Man­nes­al­ter be­fes­tig­ten Be­zie­hun­gen nicht ein. Ob­gleich sich der zu Ehren ge­kom­me­ne Ge­lehr­te nun vom ei­gent­li­chen Rechts­ge­schäft zu­rück­zog und nur ge­le­gent­lich noch eine hoch­be­zahl­te Gut­ach­ter­tä­tig­keit aus­üb­te, wur­den doch noch alle Er­eig­nis­se, die den Kreis sei­ner ehe­ma­li­gen Gön­ner an­gin­gen, in ei­ge­nen Auf­zeich­nun­gen sorg­fäl­tig ge­bucht, mit großer Ge­nau­ig­keit von den Vä­tern auf die Söh­ne und En­kel über­tra­gen, und es ging kei­ne Aus­zeich­nung, kei­ne Hoch­zeit, kein Ge­burts- oder Na­mens­tag ohne ein Schrei­ben vor­über, das den Emp­fän­ger in ei­ner zar­ten Mi­schung von Ehr­er­bie­tung und ge­mein­sa­men Erin­ne­run­gen be­glück­wünsch­te. Eben­so pünkt­lich lie­fen dar­auf auch je­des­mal kur­ze Ant­wort­schrei­ben ein, die dem lie­ben Freund und ge­schätz­ten Ge­lehr­ten dank­ten. So kann­te sein Sohn die­ses ari­sto­kra­ti­sche Ta­lent ei­nes fast un­be­wußt, aber si­cher wä­gen­den Hoch­muts von Ju­gend auf, wel­ches das Maß ei­ner Freund­lich­keit ge­ra­de rich­tig be­mißt, und die Un­ter­wür­fig­keit ei­nes im­mer­hin zum geis­ti­gen Adel ge­hö­ren­den Men­schen vor den Be­sit­zern von Pfer­den, Äckern und Tra­di­tio­nen hat­te ihn im­mer ge­reizt. Es war aber nicht Be­rech­nung, was sei­nen Va­ter da­ge­gen un­emp­find­lich mach­te; ganz aus Na­tur­trieb leg­te er auf sol­che Wei­se eine große Lauf­bahn hin­ter sich, er wur­de nicht nur Pro­fes­sor, Mit­glied von Aka­de­mi­en und vie­len wis­sen­schaft­li­chen und staat­li­chen Aus­schüs­sen, son­dern auch Rit­ter, Kom­tur, ja so­gar Groß­kreuz ho­her Or­den, Se. Ma­je­stät er­hob ihn schließ­lich in den erb­li­chen Adels­stand und hat­te ihn schon vor­her zum Mit­glied des Her­ren­hau­ses er­nannt. Dort hat­te sich der Aus­ge­zeich­ne­te dem frei­sin­ni­gen bür­ger­li­chen Flü­gel an­ge­schlos­sen, der zu dem hoch­ade­li­gen manch­mal im Ge­gen­satz stand, aber be­zeich­nen­der­wei­se nahm es ihm kei­ner von sei­nen ade­li­gen Gön­nern übel oder wun­der­te sich auch nur dar­über; man hat­te nie­mals et­was an­de­res als den Geist des auf­stre­ben­den Bür­ger­tums in ihm ge­sehn. Der alte Herr nahm eif­rig an den Fach­ar­bei­ten der Ge­setz­ge­bung teil, und selbst wenn ihn eine Kampf­ab­stim­mung auf der bür­ger­li­chen Sei­te sah, emp­fand man auf der an­de­ren Sei­te kei­nen Groll dar­über, son­dern hat­te eher das Ge­fühl, daß er nicht ein­ge­la­den wor­den sei. Er tat in der Po­li­tik nichts an­de­res, als was schon sei­ner­zeit sein Amt ge­we­sen war, ein über­le­ge­nes und zu­wei­len sanft ver­bes­sern­des Wis­sen mit dem Ein­druck zu ver­ei­nen, daß man sich auf sei­ne per­sön­li­che Er­ge­ben­heit trotz­dem ver­las­sen kön­ne, und hat­te es, wie sein Sohn be­haup­te­te, ohne we­sent­li­che Ver­än­de­rung vom Haus­leh­rer zum Her­ren­haus­leh­rer ge­bracht.

Als er die Ge­schich­te mit dem Schloß er­fuhr, er­schi­en sie ihm als die Ver­let­zung ei­ner ge­setz­lich nicht um­schrie­be­nen, aber de­sto acht­sa­mer zu re­spek­tie­ren­den Gren­ze, und er mach­te sei­nem Soh­ne Vor­wür­fe, die noch bit­te­rer wa­ren als die vie­len Vor­wür­fe, die er ihm im Lauf der Zei­ten schon ge­macht hat­te, ja ge­ra­de­zu wie die Pro­phe­zei­ung ei­nes bö­sen En­des klan­gen, das nun be­gon­nen habe. Das Grund­ge­fühl sei­nes Le­bens war be­lei­digt. Wie bei vie­len Män­nern, die et­was Be­deu­ten­des er­rei­chen, be­stand es, fern von Ei­gen­nutz, aus ei­ner tie­fen Lie­be für das so­zu­sa­gen all­ge­mein und über­per­sön­lich Nütz­li­che, mit an­de­ren Wor­ten aus ei­ner ehr­li­chen Ver­eh­rung für das, wor­auf man sei­nen Vor­teil baut, nicht weil man ihn baut, son­dern in Har­mo­nie und gleich­zei­tig da­mit und aus all­ge­mei­nen Grün­den. Das ist von großer Wich­tig­keit; schon ein ed­ler Hund sucht sei­nen Platz un­ter dem Eß­tisch, un­be­irrt von Fuß­stö­ßen, nicht etwa aus hün­di­scher Nied­rig­keit, son­dern aus An­häng­lich­keit und Treue, und gar die kalt be­rech­nen­den Men­schen ha­ben im Le­ben nicht halb so­viel Er­folg wie die rich­tig ge­misch­ten Ge­mü­ter, die für Men­schen und Ver­hält­nis­se, die ih­nen Vor­teil brin­gen, wirk­lich tief zu emp­fin­den ver­mö­gen.

4 -- Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben

Wenn man gut durch ge­öff­ne­te Tü­ren kom­men will, muß man die Tat­sa­che ach­ten, daß sie einen fes­ten Rah­men ha­ben: die­ser Grund­satz, nach dem der alte Pro­fes­sor im­mer ge­lebt hat­te, ist ein­fach eine For­de­rung des Wirk­lich­keits­sinns. Wenn es aber Wirk­lich­keits­sinn gibt, und nie­mand wird be­zwei­feln, daß er sei­ne Da­seins­be­rech­ti­gung hat, dann muß es auch et­was ge­ben, das man Mög­lich­keits­sinn nen­nen kann.

Wer ihn be­sitzt, sagt bei­spiels­wei­se nicht: Hier ist dies oder das ge­sche­hen, wird ge­sche­hen, muß ge­sche­hen; son­dern er er­fin­det: Hier könn­te, soll­te oder müß­te ge­schehn; und wenn man ihm von ir­gend et­was er­klärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könn­te wahr­schein­lich auch an­ders sein. So lie­ße sich der Mög­lich­keits­sinn ge­ra­de­zu als die Fä­hig­keit de­fi­nie­ren, al­les, was eben­so­gut sein könn­te, zu den­ken und das, was ist, nicht wich­ti­ger zu neh­men als das, was nicht ist. Man sieht, daß die Fol­gen sol­cher schöp­fe­ri­schen An­la­ge be­mer­kens­wert sein kön­nen, und be­dau­er­li­cher­wei­se las­sen sie nicht sel­ten das, was die Men­schen be­wun­dern, falsch er­schei­nen und das, was sie ver­bie­ten, als er­laubt oder wohl auch bei­des als gleich­gül­tig. Sol­che Mög­lich­keits­men­schen le­ben, wie man sagt, in ei­nem fei­ne­ren Ge­spinst, in ei­nem Ge­spinst von Dunst, Ein­bil­dung, Träu­me­rei und Kon­junk­ti­ven; Kin­dern, die die­sen Hang ha­ben, treibt man ihn nach­drück­lich aus und nennt sol­che Men­schen vor ih­nen Phan­tas­ten, Träu­mer, Schwäch­lin­ge und Bes­ser­wis­ser oder Kritt­ler.

Wenn man sie lo­ben will, nennt man die­se Nar­ren auch Idea­lis­ten, aber of­fen­bar ist mit al­le­dem nur ihre schwa­che Spiel­art er­faßt, wel­che die Wirk­lich­keit nicht be­grei­fen kann oder ihr weh­lei­dig aus­weicht, wo also das Feh­len des Wirk­lich­keits­sinns wirk­lich einen Man­gel be­deu­tet. Das Mög­li­che um­faßt je­doch nicht nur die Träu­me ner­ven­schwa­cher Per­so­nen, son­dern auch die noch nicht er­wach­ten Ab­sich­ten Got­tes. Ein mög­li­ches Er­leb­nis oder eine mög­li­che Wahr­heit sind nicht gleich wirk­li­chem Er­leb­nis und wirk­li­cher Wahr­heit we­ni­ger dem Wer­te des Wirk­lich­seins, son­dern sie ha­ben, we­nigs­tens nach An­sicht ih­rer An­hän­ger, et­was sehr Gött­li­ches in sich, ein Feu­er, einen Flug, einen Bau­wil­len und be­wuß­ten Uto­pis­mus, der die Wirk­lich­keit nicht scheut, wohl aber als Auf­ga­be und Er­fin­dung be­han­delt. Schließ­lich ist die Erde gar nicht alt und war schein­bar noch nie so recht in ge­seg­ne­ten Um­stän­den. Wenn man nun in be­que­mer Wei­se die Men­schen des Wirk­lich­keits- und des Mög­lich­keits­sinns von­ein­an­der un­ter­schei­den will, so braucht man bloß an einen be­stimm­ten Geld­be­trag zu den­ken. Al­les, was zum Bei­spiel tau­send Mark an Mög­lich­kei­ten über­haupt ent­hal­ten, ent­hal­ten sie doch ohne Zwei­fel, ob man sie be­sitzt oder nicht; die Tat­sa­che, daß Herr Ich oder Herr Du sie be­sit­zen, fügt ih­nen so we­nig et­was hin­zu wie ei­ner Rose oder ei­ner Frau. Aber ein Narr steckt sie in den Strumpf, sa­gen die Wirk­lich­keits­men­schen, und ein Tüch­ti­ger schafft et­was mit ih­nen; so­gar der Schön­heit ei­ner Frau wird un­leug­bar von dem, der sie be­sitzt, et­was hin­zu­ge­fügt oder ge­nom­men. Es ist die Wirk­lich­keit, wel­che die Mög­lich­kei­ten weckt, und nichts wäre so ver­kehrt, wie das zu leug­nen. Trotz­dem wer­den es in der Sum­me oder im Durch­schnitt im­mer die glei­chen Mög­lich­kei­ten blei­ben, die sich wie­der­ho­len, so lan­ge bis ein Mensch kommt, dem eine wirk­li­che Sa­che nicht mehr be­deu­tet als eine ge­dach­te. Er ist es, der den neu­en Mög­lich­kei­ten erst ih­ren Sinn und ihre Be­stim­mung gibt, und er er­weckt sie.

Ein sol­cher Mann ist aber kei­nes­wegs eine sehr ein­deu­ti­ge An­ge­le­gen­heit. Da sei­ne Ide­en, so­weit sie nicht mü­ßi­ge Hirn­ge­spins­te be­deu­ten, nichts als noch nicht ge­bo­re­ne Wirk­lich­kei­ten sind, hat na­tür­lich auch er Wirk­lich­keits­sinn; aber es ist ein Sinn für die mög­li­che Wirk­lich­keit und kommt viel lang­sa­mer ans Ziel als der den meis­ten Men­schen eig­nen­de Sinn für ihre wirk­li­chen Mög­lich­kei­ten. Er will gleich­sam den Wald, und der an­de­re die Bäu­me; und Wald, das ist et­was schwer Aus­drück­ba­res, wo­ge­gen Bäu­me so­und­so­viel Fest­me­ter be­stimm­ter Qua­li­tät be­deu­ten. Oder viel­leicht sagt man es an­ders bes­ser, und der Mann mit ge­wöhn­li­chem Wirk­lich­keits­sinn gleicht ei­nem Fisch, der nach der An­gel schnappt und die Schnur nicht sieht, wäh­rend der Mann mit je­nem Wirk­lich­keits­sinn, den man auch Mög­lich­keits­sinn nen­nen kann, eine Schnur durchs Was­ser zieht und kei­ne Ah­nung hat, ob ein Kö­der dar­an sitzt. Ei­ner au­ßer­or­dent­li­chen Gleich­gül­tig­keit für das auf den Kö­der bei­ßen­de Le­ben steht bei ihm die Ge­fahr ge­gen­über, völ­lig splee­ni­ge Din­ge zu trei­ben. Ein un­prak­ti­scher Mann -- und so er­scheint er nicht nur, son­dern ist er auch -- bleibt un­zu­ver­läs­sig und un­be­re­chen­bar im Ver­kehr mit Men­schen. Er wird Hand­lun­gen be­ge­hen, die ihm et­was an­de­res be­deu­ten als an­de­ren, aber be­ru­higt sich über al­les, so­bald es sich in ei­ner au­ßer­or­dent­li­chen Idee zu­sam­men­fas­sen läßt. Und zu­dem ist er heu­te von Fol­ge­rich­tig­keit noch weit ent­fernt. Es ist etwa sehr leicht mög­lich, daß ihm ein Ver­bre­chen, bei dem ein an­de­rer zu Scha­den kommt, bloß als eine so­zia­le Fehl­leis­tung er­scheint, an der nicht der Ver­bre­cher die Schuld trägt, son­dern die Ein­rich­tung der Ge­sell­schaft. Frag­lich ist es da­ge­gen, ob ihm eine Ohr­fei­ge, die er selbst emp­fängt, als eine Schmach der Ge­sell­schaft oder we­nigs­tens so un­per­sön­lich wie der Biß ei­nes Hun­des vor­kom­men wer­de; wahr­schein­lich wird er da zu­erst die Ohr­fei­ge er­wi­dern und da­nach die Auf­fas­sung ha­ben, daß er das nicht hät­te tun sol­len. Und vollends, wenn man ihm eine Ge­lieb­te fort­nimmt, wird er heu­te noch nicht ganz von der Wirk­lich­keit die­ses Vor­gan­ges ab­se­hen und sich mit ei­nem über­ra­schen­den, neu­en Ge­fühl ent­schä­di­gen kön­nen. Die­se Ent­wick­lung ist zur­zeit noch im Fluß und be­deu­tet für den ein­zel­nen Men­schen so­wohl eine Schwä­che wie eine Kraft.

Und da der Be­sitz von Ei­gen­schaf­ten eine ge­wis­se Freu­de an ih­rer Wirk­lich­keit vor­aus­setzt, er­laubt das den Aus­blick dar­auf, wie es je­mand, der auch sich selbst ge­gen­über kei­nen Wirk­lich­keits­sinn auf­bringt, un­ver­se­hens wi­der­fah­ren kann, daß er sich ei­nes Ta­ges als ein Mann ohne Ei­gen­schaf­ten vor­kommt.

5 -- Ulrich

Seit­her wa­ren sech­zehn oder sieb­zehn Jah­re ver­gan­gen, wie die Wol­ken am Him­mel trei­ben. Ul­rich be­reu­te sie we­der, noch war er auf sie stolz, er sah ih­nen in sei­nem zwei­und­drei­ßigs­ten Le­bens­jahr ein­fach er­staunt nach. Er war in­zwi­schen da und dort ge­we­sen, manch­mal auch kur­ze Zeit in der Hei­mat, und hat­te über­all Wert­vol­les und Nutz­lo­ses ge­trie­ben. Es ist schon an­ge­deu­tet wor­den, daß er Ma­the­ma­ti­ker war, und mehr braucht da­von noch nicht ge­sagt zu wer­den, denn in je­dem Be­ruf, wenn man ihn nicht für Geld, son­dern um der Lie­be wil­len aus­übt, kommt ein Au­gen­blick, wo die an­stei­gen­den Jah­re ins Nichts zu füh­ren schei­nen. Nach­dem die­ser Au­gen­blick län­ge­re Zeit an­ge­dau­ert hat­te, er­in­ner­te sich Ul­rich, daß man der Hei­mat die ge­heim­nis­vol­le Fä­hig­keit zu­schrei­be, das Sin­nen wur­zel­stän­dig und bo­den­echt zu ma­chen, und er ließ sich in ihr mit dem Ge­fühl ei­nes Wan­de­rers nie­der, der sich für die Ewig­keit auf eine Bank setzt, ob­gleich er ahnt, daß er so­fort wie­der auf­ste­hen wird.

Als er da­bei sein Haus be­stell­te, wie es die Bi­bel nennt, mach­te er eine Er­fah­rung, auf die er ei­gent­lich nur ge­war­tet hat­te. Er hat­te sich in die an­ge­neh­me Lage ver­setzt, sein ver­wahr­los­tes klei­nes Be­sitz­tum nach Be­lie­ben vom Ei an neu her­rich­ten zu müs­sen. Von der stil­rei­nen Re­kon­struk­ti­on bis zur voll­kom­me­nen Rück­sichts­lo­sig­keit stan­den ihm da­für alle Grund­sät­ze zur Ver­fü­gung, und eben­so bo­ten sich sei­nem Geist alle Sti­le, von den As­sy­rern bis zum Ku­bis­mus an. Was soll­te er wäh­len? Der mo­der­ne Mensch wird in der Kli­nik ge­bo­ren und stirbt in der Kli­nik: also soll er auch wie in ei­ner Kli­nik woh­nen! -- Die­se For­de­rung hat­te so­eben ein füh­ren­der Bau­künst­ler auf­ge­stellt, und ein an­de­rer Re­for­mer der In­nen­ein­rich­tung ver­lang­te ver­schieb­ba­re Wän­de der Woh­nun­gen, mit der Be­grün­dung, daß der Mensch dem Men­schen zu­sam­men­le­bend ver­trau­en ler­nen müs­se und nicht sich se­pa­ra­tis­tisch ab­schlie­ßen dür­fe. Es hat­te da­mals ge­ra­de eine neue Zeit be­gon­nen (denn das tut sie in je­dem Au­gen­blick), und eine neue Zeit braucht einen neu­en Stil. Zu Ul­richs Glück be­saß das Schloß­häus­chen, so wie er es vor­fand, be­reits drei Sti­le über­ein­an­der, so daß man wirk­lich nicht al­les da­mit vor­neh­men konn­te, was ver­langt wur­de; den­noch fühl­te er sich von der Verant­wor­tung, sich ein Haus ein­rich­ten zu dür­fen, ge­wal­tig auf­ge­rüt­telt, und die Dro­hung »Sage mir, wie du wohnst, und ich sage dir, wer du bist«, die er wie­der­holt in Kunst­zeit­schrif­ten ge­le­sen hat­te, schweb­te über sei­nem Haupt. Nach ein­ge­hen­der Be­schäf­ti­gung mit die­sen Zeit­schrif­ten kam er zu der Ent­schei­dung, daß er den Aus­bau sei­ner Per­sön­lich­keit doch lie­ber selbst in die Hand neh­men wol­le, und be­gann sei­ne zu­künf­ti­gen Mö­bel ei­gen­hän­dig zu ent­wer­fen. Aber wenn er sich so­eben eine wuch­ti­ge Ein­drucks­form aus­ge­dacht hat­te, fiel ihm ein, daß man an ihre Stel­le doch eben­so­gut eine tech­nisch-schmal­kräf­ti­ge Zweck­form set­zen könn­te, und wenn er eine von Kraft aus­ge­zehr­te Ei­sen­be­ton­form ent­warf, er­in­ner­te er sich an die märz­haft ma­ge­ren For­men ei­nes drei­zehn­jäh­ri­gen Mäd­chens und be­gann zu träu­men, statt sich zu ent­schlie­ßen.

Es war das -- in ei­ner An­ge­le­gen­heit, die ihm im Ernst nicht be­son­ders nahe ging -- die be­kann­te Zu­sam­men­hang­lo­sig­keit der Ein­fäl­le und ihre Aus­brei­tung ohne Mit­tel­punkt, die für die Ge­gen­wart kenn­zeich­nend ist und de­ren merk­wür­di­ge Arith­me­tik aus­macht, die vom Hun­derts­ten ins Tau­sends­te kommt, ohne eine Ein­heit zu ha­ben. Schließ­lich dach­te er sich über­haupt nur noch un­aus­führ­ba­re Zim­mer aus, Dreh­zim­mer, ka­lei­do­sko­pi­sche Ein­rich­tun­gen, Um­stell­vor­rich­tun­gen für die See­le, und sei­ne Ein­fäl­le wur­den im­mer in­halts­lo­ser. Da war er end­lich auf dem Punkt, zu dem es ihn hin­zog. Sein Va­ter wür­de es un­ge­fähr so aus­ge­drückt ha­ben: Wen man tun lie­ße, was er wol­le, der könn­te sich bald vor Ver­wir­rung den Kopf ein­ren­nen. Oder auch so: Wer sich er­fül­len kann, was er mag, weiß bald nicht mehr, was er wün­schen soll. Ul­rich wie­der­hol­te sich das mit großem Ge­nuß. Die­se Alt­vor­dern­weis­heit kam ihm als ein au­ßer­or­dent­lich neu­er Ge­dan­ke vor. Es muß der Mensch in sei­nen Mög­lich­kei­ten, Plä­nen und Ge­füh­len zu­erst durch Vor­ur­tei­le, Über­lie­fe­run­gen, Schwie­rig­kei­ten und Be­schrän­kun­gen je­der Art ein­ge­engt wer­den wie ein Narr in sei­ner Zwangs­ja­cke, und erst dann hat, was er her­vor­zu­brin­gen ver­mag, viel­leicht Wert, Ge­wach­sen­heit und Be­stand; -- es ist in der Tat kaum ab­zu­se­hen, was die­ser Ge­dan­ke be­deu­tet! Nun, der Mann ohne Ei­gen­schaf­ten, der in sei­ne Hei­mat zu­rück­ge­kehrt war, tat auch den zwei­ten Schritt, um sich von au­ßen, durch die Le­ben­sum­stän­de bil­den zu las­sen, er über­ließ an die­sem Punkt sei­ner Über­le­gun­gen die Ein­rich­tung sei­nes Hau­ses ein­fach dem Ge­nie sei­ner Lie­fe­ran­ten, in der si­che­ren Über­zeu­gung, daß sie für Über­lie­fe­rung, Vor­ur­tei­le und Be­schränkt­heit schon sor­gen wür­den. Er selbst frisch­te nur die al­ten Li­ni­en auf, die von frü­her da wa­ren, die dunklen Hirsch­ge­wei­he un­ter den wei­ßen Wöl­bun­gen der klei­nen Hal­le oder die stei­fe De­cke des Sa­lons, und tat im üb­ri­gen al­les hin­zu, was ihm zweck­haft und be­quem vor­kam.

Als al­les fer­tig war, durf­te er den Kopf schüt­teln und sich fra­gen: dies ist also das Le­ben, das mei­nes wer­den soll? -- Es war ein ent­zücken­des klei­nes Palais, was er da be­saß; fast muß­te man es so nen­nen, denn es war ganz so, wie man sich sei­nes­glei­chen denkt, eine ge­schmack­vol­le Re­si­denz für einen Re­si­den­ten, wie ihn sich Mö­bel-, Tep­pich- und In­stal­la­ti­ons­fir­men vor­ge­stellt hat­ten, die auf ih­rem Ge­bie­te füh­ren. Es fehl­te nur, daß die­ses rei­zen­de Uhr­werk nicht auf­ge­zo­gen war; denn dann wä­ren Equi­pa­gen mit ho­hen Wür­den­trä­gern und vor­neh­men Da­men die Auf­fahrt em­por­ge­rollt, La­kai­en wä­ren von den Tritt­bret­tern ge­sprun­gen und hät­ten Ul­rich miß­trau­isch ge­fragt: »Gu­ter Mann, wo ist Euer Herr?«

Er war vom Mond zu­rück­ge­kehrt und hat­te sich so­fort wie­der wie am Mond ein­ge­rich­tet.

6 -- Leona oder eine perspektivische Verschiebung

Wenn man sein Haus be­stellt hat, soll man auch ein Weib frei­en. Ul­richs Freun­din in je­nen Ta­gen hieß Leon­ti­ne und war Lie­der­sän­ge­rin in ei­nem klei­nen Va­rieté; sie war groß, schlank und voll, auf­rei­zend leb­los, und er nann­te sie Leo­na.

Sie war ihm auf­ge­fal­len durch das feuch­te Dun­kel ih­rer Au­gen, durch einen schmerz­lich lei­den­schaft­li­chen Aus­druck ih­res re­gel­mä­ßi­gen, schö­nen, lan­gen Ge­sichts und durch die ge­fühl­vol­len Lie­der, die sie an Stel­le von un­züch­ti­gen sang. Alle die­se alt­mo­di­schen klei­nen Ge­sän­ge hat­ten Lie­be, Leid, Treue, Ver­las­sen­heit, Wal­des­rau­schen und Fo­rel­len­blin­ken zum In­halt. Leo­na stand groß und bis in die Kno­chen ver­las­sen auf der klei­nen Büh­ne und sang sie mit der Stim­me ei­ner Haus­frau ge­dul­dig ins Pub­li­kum, und wenn da­zwi­schen doch klei­ne sitt­li­che Ge­wagt­hei­ten un­ter­lie­fen, so wirk­ten sie um so ge­spens­ti­scher, als die­ses Mäd­chen die tra­gi­schen wie die necki­schen Ge­füh­le des Her­zens mit den glei­chen müh­sam buch­sta­bier­ten Ge­bär­den un­ter­stütz­te. Ul­rich fühl­te sich so­fort an alte Pho­to­gra­phien oder an schö­ne Frau­en in ver­schol­le­nen Jahr­gän­gen deut­scher Fa­mi­li­en­blät­ter er­in­nert, und wäh­rend er sich in das Ge­sicht die­ser Frau hin­ein­dach­te, be­merk­te er dar­in eine gan­ze Men­ge klei­ner Züge, die gar nicht wirk­lich sein konn­ten und doch die­ses Ge­sicht aus­mach­ten. Es gibt na­tür­lich zu al­len Zei­ten alle Ar­ten von Ant­lit­zen; aber je eine wird vom Zeit­ge­schmack em­por­ge­ho­ben und zu Glück und Schön­heit ge­macht, wäh­rend alle an­de­ren Ge­sich­ter sich dann die­sem an­zu­glei­chen su­chen; und selbst häß­li­chen ge­lingt das un­ge­fähr, mit Hil­fe von Fri­sur und Mode, und nur je­nen zu selt­sa­men Er­fol­gen ge­bo­re­nen Ge­sich­tern ge­lingt es nie­mals, in de­nen sich das kö­nig­li­che und ver­trie­be­ne Schön­heits­ide­al ei­ner frü­he­ren Zeit ohne Zu­ge­ständ­nis­se aus­spricht. Sol­che Ge­sich­ter wan­dern wie Lei­chen frü­he­rer Ge­lüs­te in der großen We­sen­lo­sig­keit des Lie­bes­be­triebs, und den Män­nern, die in die wei­te Lang­wei­le von Leon­ti­nens Ge­sang gaff­ten und nicht wuß­ten, was ih­nen ge­sch­ah, be­weg­ten ganz and­re Ge­füh­le die Na­sen­flü­gel als vor den klei­nen fre­chen Chan­teu­sen mit den Tango­fri­su­ren. Da be­schloß Ul­rich, sie Leo­na zu nen­nen, und ihr Be­sitz er­schi­en ihm be­geh­rens­wert wie der ei­nes vom Kür­sch­ner aus­ge­stopf­ten großen Lö­wen­fells.

Nach­dem aber ihre Be­kannt­schaft be­gon­nen hat­te, ent­wi­ckel­te Leo­na noch eine un­zeit­ge­mä­ße Ei­gen­schaft, sie war in un­ge­heu­rem Maße ge­frä­ßig, und das ist ein Las­ter, des­sen große Aus­bil­dung längst aus der Mode ge­kom­men ist. Es war sei­nem Ent­ste­hen nach die end­lich be­frei­te Sehn­sucht, die sie als ar­mes Kind nach kost­ba­ren Lecker­bis­sen ge­lit­ten hat­te; nun be­saß es die Kraft ei­nes Ideals, das end­lich sei­nen Kä­fig zer­bro­chen und die Herr­schaft an sich ge­ris­sen hat. Ihr Va­ter schi­en ein ehr­ba­rer klei­ner Bür­ger ge­we­sen zu sein, der sie je­des­mal schlug, wenn sie mit Ver­eh­rern ging; sie aber tat es aus kei­nem an­de­ren Grund, als weil sie für ihr Le­ben gern in dem Vor­gar­ten ei­ner klei­nen Kon­di­to­rei saß und vor­nehm auf die Vor­über­ge­hen­den bli­ckend in ih­rem Eis löf­fel­te. Denn daß sie un­sinn­lich ge­we­sen sei, hät­te man zwar nicht be­haup­ten kön­nen, aber so­fern es er­laubt ist, wäre zu sa­gen, daß sie wie in al­lem so auch dar­in ge­ra­de­zu faul und ar­beits­scheu war. In ih­rem aus­ge­dehn­ten Kör­per brauch­te je­der Reiz wun­der­bar lan­ge, bis er das Ge­hirn er­reich­te, und es ge­sch­ah, daß mit­ten am Tag ihre Au­gen ohne Grund zu zer­ge­hen be­gan­nen, wäh­rend sie in der Nacht un­be­weg­lich auf einen Punkt der Zim­mer­de­cke ge­rich­tet wa­ren, als ob sie dort eine Flie­ge be­ob­ach­te­ten. Eben­so konn­te sie manch­mal mit­ten in vol­ler Stil­le über einen Scherz zu la­chen be­gin­nen, der ihr da erst auf­ging, wäh­rend sie ihn ei­ni­ge Tage zu­vor ru­hig an­ge­hört hat­te, ohne ihn zu ver­ste­hen. Wenn sie kei­nen be­son­de­ren Grund zum Ge­gen­teil hat­te, war sie dar­um auch durch­aus an­stän­dig. Auf wel­che Wei­se sie über­haupt zu ih­rem Be­ruf ge­kom­men war, war nie­mals aus ihr her­aus­zu­brin­gen. An­schei­nend wuß­te sie es selbst nicht mehr ge­nau. Es zeig­te sich bloß, daß sie die Tä­tig­keit ei­ner Lie­der­sän­ge­rin für einen not­wen­di­gen Teil des Le­bens hielt und al­les Gro­ße, was sie von Kunst und Künst­lern je ge­hört hat­te, da­mit ver­band, so daß es ihr durch­aus rich­tig, er­zie­he­risch und vor­nehm vor­kam, all­abend­lich auf eine klei­ne, von Zi­gar­ren­dunst um­wölk­te Büh­ne hin­aus­zu­tre­ten und Lie­der vor­zu­tra­gen, de­ren er­grei­fen­de Gel­tung eine fest­ste­hen­de Sa­che war. Na­tür­lich scheu­te sie da­bei, wie es sein muß, um das An­stän­di­ge zu be­le­ben, auch kei­nes­wegs vor ei­ner ge­le­gent­lich ein­ge­streu­ten Un­an­stän­dig­keit zu­rück, aber sie war fest über­zeugt, daß die ers­te Sän­ge­rin der kai­ser­li­chen Oper ge­nau das glei­che tue wie sie.

Frei­lich, wenn man es durch­aus Pro­sti­tu­ti­on nen­nen will, wenn ein Mensch nicht, wie es üb­lich ist, sei­ne gan­ze Per­son für Geld her­gibt, son­dern nur sei­nen Kör­per, so be­trieb Leo­na ge­le­gent­lich Pro­sti­tu­ti­on. Aber wenn man durch neun Jah­re, wie sie seit ih­rem sech­zehn­ten Jahr, die Klein­heit der Tag­gel­der kennt, die in den un­ters­ten Sing­höl­len ge­zahlt wer­den, die Prei­se der Toi­let­ten und der Wä­sche im Kopf hat, die Ab­zü­ge, den Geiz und die Will­kür der Be­sit­zer, die Per­zen­te von Speis und Trank auf­ge­mun­ter­ter Gäs­te und von der Zim­mer­rech­nung des be­nach­bar­ten Ho­tels, täg­lich da­mit zu tun hat, Zank dar­über hat und kauf­män­nisch ab­rech­net, so wird das, was den Lai­en als Aus­schwei­fung er­freut, zu ei­nem Be­ruf, der voll Lo­gik, Sach­lich­keit und Stan­des­ge­set­zen ist. Gera­de Pro­sti­tu­ti­on ist ja eine An­ge­le­gen­heit, bei der es einen großen Un­ter­schied macht, ob man sie von oben sieht oder von un­ten be­trach­tet.

Aber wenn Leo­na auch eine voll­kom­men sach­li­che Auf­fas­sung der se­xu­el­len Fra­ge be­saß, so hat­te sie doch auch ihre Ro­man­tik. Nur hat­te sich bei ihr al­les Über­schweng­li­che, Eit­le, Ver­schwen­de­ri­sche, hat­ten sich die Ge­füh­le des Stol­zes, des Nei­des, der Wol­lust, des Ehr­gei­zes, der Hin­ga­be, kurz die Trieb­kräf­te der Per­sön­lich­keit und des ge­sell­schaft­li­chen Auf­stiegs durch ein Na­tur­spiel nicht mit dem so­ge­nann­ten Her­zen ver­bun­den, son­dern mit dem trac­tus ab­do­mi­na­lis, den Eß­vor­gän­gen, mit de­nen sie üb­ri­gens in frü­he­ren Zei­ten re­gel­mä­ßig in Ver­bin­dung ge­stan­den sind, was man noch heu­te an Pri­mi­ti­ven oder an breit pras­sen­den Bau­ern be­ob­ach­ten kann, die Vor­nehm­heit und al­ler­hand an­de­res, was den Men­schen aus­zeich­net, durch ein Fest­mahl aus­zu­drücken ver­mö­gen, bei dem man sich fei­er­lich und mit al­len Begleiter­schei­nun­gen über­ißt. An den Ti­schen ih­res Tin­gel­tan­gels tat Leo­na ihre Pf­licht; aber wo­von sie träum­te, war ein Ka­va­lier, der sie durch ein Ver­hält­nis auf En­ga­ge­ments­dau­er des­sen ent­hob und ihr ge­stat­te­te, in vor­neh­mer Hal­tung vor ei­ner vor­neh­men Spei­se­kar­te in ei­nem vor­neh­men Re­stau­rant zu sit­zen. Sie hät­te dann am liebs­ten von al­len vor­han­de­nen Spei­sen auf ein­mal ge­ges­sen, und es be­rei­te­te ihr eine schmerz­haft wi­der­spruchs­vol­le Ge­nug­tu­ung, gleich­zei­tig zei­gen zu dür­fen, daß sie wis­se, wie man aus­wäh­len müs­se und ein aus­er­le­se­nes Menü zu­sam­men­stellt. Erst bei den klei­nen Nach­ge­rich­ten konn­te sie ihre Phan­ta­sie ge­hen las­sen, und ge­wöhn­lich wur­de in um­ge­kehr­ter Rei­hen­fol­ge ein aus­ge­brei­te­tes zwei­tes Abend­brot dar­aus. Leo­na stell­te durch schwar­zen Kaf­fee und an­re­gen­de Men­gen von Ge­trän­ken ihre Auf­nah­me­fä­hig­keit wie­der her und reiz­te sich durch Über­ra­schun­gen, bis ihre Lei­den­schaft ge­stillt war. Dann war ihr Leib so voll vor­neh­mer Sa­chen, daß er kaum noch zu­sam­men­hielt. Sie blick­te träg strah­lend um sich, und ob­gleich sie nie­mals sehr ge­sprä­chig war, schloß sie in die­sem Zu­stand ger­ne rück­schau­en­de Be­trach­tun­gen an die Kost­bar­kei­ten an, die sie ver­speist hat­te. Wenn sie Pol­mo­ne à la Tor­lo­gna oder Äp­fel à la Mel­ville sag­te, streu­te sie es hin, wie ein an­de­rer ge­sucht bei­läu­fig er­wähnt, daß er mit dem Fürs­ten oder dem Lord glei­chen Na­mens ge­spro­chen habe.

Weil das öf­fent­li­che Auf­tre­ten mit Leo­na nicht ge­ra­de nach Ul­richs Ge­schmack war, ver­leg­te er ihre Füt­te­rung ge­wöhn­lich in sein Haus, wo sie den Hirsch­ge­wei­hen und Stil­mö­beln zu­spei­sen moch­te. Sie aber sah sich da­durch um die ge­sell­schaft­li­che Ge­nug­tu­ung ge­bracht, und wenn der Mann ohne Ei­gen­schaf­ten durch die un­er­hör­tes­ten Ge­rich­te, die ein Gar­koch lie­fern kann, sie zu ein­sa­mer Un­mä­ßig­keit reiz­te, emp­fand sie sich ge­nau so miß­braucht wie eine Frau, die be­merkt, daß sie nicht um ih­rer See­le wil­len ge­liebt wird. Sie war schön und eine Sän­ge­rin, sie brauch­te sich nicht zu ver­ste­cken, und je­den Abend hin­gen an ihr die Be­gier­den ei­ni­ger Dut­zend Män­ner, die ihr recht ge­ge­ben hät­ten. Die­ser Mensch aber, ob­gleich er mit ihr al­lein sein woll­te, brach­te es nicht ein­mal fer­tig, ihr zu sa­gen: Je­sus Ma­ria, Leo­na, dein A… macht mich se­lig! und sich den Schnurr­bart vor Ap­pe­tit zu le­cken, wenn er sie bloß an­sah, wie sie es von ih­ren Ka­va­lie­ren ge­wohnt war. Leo­na ver­ach­te­te ihn ein biß­chen, ob­gleich sie na­tür­lich treu an ihm fest­hielt, und Ul­rich wuß­te das. Er wuß­te üb­ri­gens wohl, was sich in Leo­nas Ge­sell­schaft ge­hör­te, aber die Zeit, wo er so et­was noch über die Lip­pen ge­bracht hät­te und sei­ne Lip­pen noch einen Schnurr­bart tru­gen, lag zu weit zu­rück. Und wenn man et­was nicht mehr zu­we­ge bringt, das man frü­her ge­konnt hat, es mag noch so dumm ge­we­sen sein, so ist das doch ge­nau so, wie wenn der Schlag­fluß in die Hand und in das Bein ge­fah­ren ist. Die Au­gäp­fel schlot­ter­ten ihm, wenn er sei­ne Freun­din an­sah, der Spei­se und Trank zu Kopf ge­stie­gen wa­ren. Man konn­te ihre Schön­heit vor­sich­tig von ihr ab­he­ben. Es war die Schön­heit der Her­zo­gin, die Schef­fels Ek­ke­hard über die Schwel­le des Klos­ters ge­tra­gen hat, die Schön­heit der Rit­te­rin mit dem Fal­ken am Hand­schuh, die Schön­heit der sa­gen­um­wo­be­nen Kai­se­rin Eli­sa­beth mit dem schwe­ren Kranz von Haar, ein Ent­zücken für Leu­te, die alle schon tot wa­ren. Und um es ge­nau zu sa­gen, sie er­in­ner­te auch an die gött­li­che Juno, aber nicht an die ewi­ge und un­ver­gäng­li­che, son­dern an das, was eine ver­gan­ge­ne oder ver­ge­hen­de Zeit ju­no­nisch nann­te. So war der Traum des Seins nur lose über die Ma­te­rie ge­stülpt. Leo­na aber wuß­te, daß man für eine vor­neh­me Ein­la­dung auch dann et­was schul­dig ist, wenn sich der Gast­ge­ber nichts wünscht, und daß man sich nicht bloß anglot­zen las­sen dür­fe; so stand sie denn, so­bald sie des­sen wie­der fä­hig war, auf und be­gann ge­las­sen, aber mit lau­tem Vor­trag zu sin­gen. Ihrem Freund ka­men sol­che Aben­de vor wie ein her­aus­ge­ris­se­nes Blatt, be­lebt von al­ler­hand Ein­fäl­len und Ge­dan­ken, aber mu­mi­fi­ziert, wie es al­les aus dem Zu­sam­men­hang Ge­ris­se­ne wird, und voll von je­ner Ty­ran­nis des nun ewig so Ste­hen­blei­ben­den, die den un­heim­li­chen Reiz le­ben­der Bil­der aus­macht, als hät­te das Le­ben plötz­lich ein Schlaf­mit­tel er­hal­ten, und nun steht es da, steif, voll Ver­bin­dung in sich, scharf be­grenzt und doch un­ge­heu­er sinn­los im Gan­zen.

7 -- In einem Zustand von Schwäche zieht sich Ulrich eine neue Geliebte zu

Ei­nes Mor­gens kam Ul­rich nach­haus und war übel zu­ge­rich­tet. Sei­ne Klei­der hin­gen zer­ris­sen von ihm, er muß­te feuch­te Bau­schen auf den zer­schun­de­nen Kopf le­gen, sei­ne Uhr und sei­ne Brief­ta­sche fehl­ten. Er wuß­te nicht, ob die drei Män­ner, mit de­nen er in Streit ge­ra­ten war, sie ge­raubt hat­ten oder ob sie ihm wäh­rend der kur­z­en Zeit, wo er be­wußt­los auf dem Pflas­ter lag, von ei­nem stil­len Men­schen­freund ge­stoh­len wor­den wa­ren. Er leg­te sich zu Bett, und in­des die mat­ten Glie­der sich wie­der be­hut­sam ge­tra­gen und um­hüllt fühl­ten, über­leg­te er noch ein­mal die­ses Aben­teu­er.

Die drei Köp­fe wa­ren plötz­lich vor ihm ge­stan­den; er moch­te in der spät-ein­sa­men Stra­ße einen der Män­ner ge­streift ha­ben, denn sei­ne Ge­dan­ken wa­ren zer­streut und mit et­was an­de­rem be­schäf­tigt ge­we­sen, aber die­se Ge­sich­ter wa­ren schon vor­be­rei­tet auf Zorn und tra­ten ver­zerrt in den Kreis der La­ter­ne. Da hat­te er einen Feh­ler be­gan­gen. Er hät­te so­fort zu­rück­pral­len müs­sen, als fürch­te er sich, und da­bei fest mit dem Rücken ge­gen den Kerl sto­ßen, der hin­ter ihn ge­tre­ten war, oder mit dem El­len­bo­gen ge­gen sei­nen Ma­gen, und noch im sel­ben Au­gen­blick trach­ten müs­sen, zu ent­wi­schen, denn ge­gen drei star­ke Män­ner gibt es kein Kämp­fen. Statt des­sen hat­te er einen Au­gen­blick ge­zö­gert. Das mach­te das Al­ter; sei­ne zwei­und­drei­ßig Jah­re; Feind­se­lig­keit und Lie­be brau­chen da schon et­was mehr Zeit. Er woll­te nicht glau­ben, daß die drei Ant­lit­ze, die ihn mit ei­nem­mal in der Nacht mit Zorn und Ver­ach­tung an­blick­ten, es nur auf sein Geld ab­ge­se­hen hat­ten, son­dern gab sich dem Ge­fühl hin, daß da Haß ge­gen ihn zu­sam­men­ge­strömt und zu Ge­stal­ten ge­wor­den war; und wäh­rend die Strol­che ihn schon mit ge­mei­nen Wor­ten be­schimpf­ten, freu­te ihn der Ge­dan­ke, daß es viel­leicht gar kei­ne Strol­che sei­en, son­dern Bür­ger wie er, bloß et­was an­ge­trun­ken und von Hem­mun­gen be­freit, die an sei­ner vor­über­glei­ten­den Er­schei­nung hän­gen­ge­blie­ben wa­ren und einen Haß auf ihn ent­lu­den, der für ihn und für je­den frem­den Men­schen stets vor­be­rei­tet ist wie das Ge­wit­ter in der At­mo­sphä­re. Denn et­was Ähn­li­ches fühl­te auch er mit­un­ter. Un­ge­mein vie­le Men­schen füh­len sich heu­te in be­dau­er­li­chem Ge­gen­satz ste­hen zu un­ge­mein viel an­de­ren Men­schen. Es ist ein Grund­zug der Kul­tur, daß der Mensch dem au­ßer­halb sei­nes ei­ge­nen Krei­ses le­ben­den Men­schen aufs tiefs­te miß­traut, also daß nicht nur ein Ger­ma­ne einen Ju­den, son­dern auch ein Fuß­ball­spie­ler einen Kla­vier­spie­ler für ein un­be­greif­li­ches und min­der­wer­ti­ges We­sen hält. Schließ­lich be­steht ja das Ding nur durch sei­ne Gren­zen und da­mit durch einen ge­wis­ser­ma­ßen feind­se­li­gen Akt ge­gen sei­ne Um­ge­bung; ohne den Papst hät­te es kei­nen Luther ge­ge­ben und ohne die Hei­den kei­nen Papst, dar­um ist es nicht von der Hand zu wei­sen, daß die tiefs­te An­leh­nung des Men­schen an sei­nen Mit­menschen in des­sen Ab­leh­nung be­steht. Das dach­te er na­tür­lich nicht so aus­führ­lich; aber er kann­te die­sen Zu­stand ei­ner un­ge­wis­sen, at­mo­sphä­ri­schen Feind­se­lig­keit, von dem in un­se­rem Men­schen­al­ter die Luft voll ist, und wenn sich das ein­mal plötz­lich in drei un­be­kann­ten, nach­her wie­der auf ewig ver­schwin­den­den Män­nern zu­sam­men­zieht, um wie Don­ner und Blitz aus­zu­schla­gen, so ist das fast eine Er­leich­te­rung.

Im­mer­hin schi­en er doch an­ge­sichts drei­er Strol­che et­was zu viel ge­dacht zu ha­ben. Denn als ihn nun der ers­te an­sprang, flog er zwar zu­rück, da ihm Ul­rich mit ei­nem Schlag aufs Kinn zu­vor­ge­kom­men war, aber der zwei­te, der blitz­schnell da­nach hät­te er­le­digt wer­den müs­sen, wur­de von der Faust nur noch ge­streift, denn in­zwi­schen hat­te ein Hieb von hin­ten mit ei­nem schwe­ren Ge­gen­stand Ul­richs Kopf bei­na­he zer­sprengt. Er brach ins Knie, wur­de an­ge­faßt, kam mit je­nem fast un­na­tür­li­chen Klar­wer­den des Kör­pers, das ge­wöhn­lich dem ers­ten Zu­sam­men­bruch folgt, noch ein­mal hoch, schlug in die Wirr­nis frem­der Kör­per und wur­de von im­mer grö­ßer wer­den­den Fäus­ten nie­der­ge­häm­mert.

Da nun der Feh­ler fest­ge­stellt war, den er be­gan­gen hat­te, und nur auf sport­li­chem Ge­biet lag, eben so, wie es vor­kommt, daß man ein­mal zu kurz springt, schlief Ul­rich, der noch im­mer vor­züg­li­che Ner­ven be­saß, ru­hig ein, ge­nau mit dem glei­chen Ent­zücken an den ent­schwe­ben­den Spi­ra­len des Be­wußt­seins­ver­falls, das er im Hin­ter­grun­de schon wäh­rend sei­ner Nie­der­la­ge emp­fun­den hat­te.

Als er wie­der er­wach­te, über­zeug­te er sich, daß sei­ne Ver­let­zun­gen nicht be­deu­tend wa­ren, und dach­te noch ein­mal über sein Er­leb­nis nach. Eine Schlä­ge­rei hin­ter­läßt im­mer einen un­an­ge­neh­men Nach­ge­schmack, so­zu­sa­gen von vor­ei­li­ger Ver­trau­lich­keit, und un­ab­hän­gig da­von, daß er der An­ge­grif­fe­ne war, hat­te Ul­rich das Ge­fühl, sich un­pas­send be­tra­gen zu ha­ben. Aber un­pas­send wozu?! Dicht ne­ben den Stra­ßen, wo alle drei­hun­dert Schrit­te ein Schutz­mann den ge­rings­ten Ver­stoß ge­gen die Ord­nung ahn­det, lie­gen an­de­re, die die glei­che Kraft und Ge­sin­nung for­dern wie ein Ur­wald. Die Mensch­heit er­zeugt Bi­beln und Ge­weh­re, Tu­ber­ku­lo­se und Tu­ber­ku­lin. Sie ist de­mo­kra­tisch mit Kö­ni­gen und Adel; baut Kir­chen und ge­gen die Kir­chen wie­der Uni­ver­si­tä­ten; macht Klös­ter zu Ka­ser­nen, aber teilt den Ka­ser­nen Feld­geist­li­che zu. Na­tür­lich lie­fert sie auch den Strol­chen mit Blei ge­füll­te Gum­mischläu­che in die Hand, um den Leib ei­nes Mit­menschen da­mit krank­zu­schla­gen, und stellt für den ein­sa­men und miß­han­del­ten Leib hin­ter­drein Dau­nen­bet­ten be­reit, wie es ei­nes war, das in die­sem Au­gen­blick Ul­rich um­gab, als wäre es mit lau­ter Hochach­tung und Rück­sicht ge­füllt. Es ist das die be­kann­te Sa­che mit den Wi­der­sprü­chen, der In­kon­se­quenz und Un­voll­kom­men­heit des Le­bens. Man lä­chelt oder seufzt dazu. Aber so war nun Ul­rich ge­ra­de nicht. Er haß­te die­se Mi­schung aus Ver­zicht und Af­fen­lie­be im Ver­hal­ten zum Le­ben, die sich des­sen Wi­der­sprü­che und Halb­hei­ten ge­fal­len läßt wie eine ein­ge­jung­fer­te Tan­te die Fle­ge­lei­en ei­nes jun­gen Nef­fen. Nur sprang er auch nicht gleich aus sei­nem Bett, wenn es sich zeig­te, daß das Ver­wei­len dar­in aus der Un­ord­nung der Mensch­heits­an­ge­le­gen­hei­ten Vor­teil zog, denn in man­cher­lei Sinn ist es ein vor­ei­li­ger Aus­gleich mit dem Ge­wis­sen auf Kos­ten der Sa­che, ein Kurz­schluß, ein Aus­wei­chen ins Pri­va­te, wenn man für sei­ne Per­son das Schlech­te mei­det und das Gute tut, statt sich um die Ord­nung des Gan­zen zu be­mü­hen. Ja es kam Ul­rich nach sei­ner un­frei­wil­li­gen Er­fah­rung so­gar vor, daß es ver­zwei­felt we­nig Wert habe, wenn da die Ge­weh­re, dort die Kö­ni­ge ab­ge­schafft wer­den und ir­gend­ein klei­ner oder großer Fort­schritt die Dumm­heit und Schlech­tig­keit ver­min­dert; denn das Maß der Wi­der­wär­tig­kei­ten und Schlech­tig­kei­ten wird au­gen­blick­lich wie­der durch neue auf­ge­füllt, als glit­te das eine Bein der Welt im­mer zu­rück, wenn sich das an­de­re vor­schiebt. Da­von müß­te man die Ur­sa­che und den Ge­heim­me­cha­nis­mus er­ken­nen! Das wäre na­tür­lich un­gleich wich­ti­ger, als nach ver­al­ten­den Grund­sät­zen ein gu­ter Mensch zu sein, und so zog es Ul­rich in der Moral mehr zum Ge­ne­ral­stabs­dienst als zum all­täg­li­chen Hel­den­tum des Gut­tuns.