Die Verwirrungen des Zöglings Törless - Robert Musil - E-Book + Hörbuch

Die Verwirrungen des Zöglings Törless E-Book

Robert Musil

4,3

Beschreibung

Österreich während der Kaiserzeit: Auf einem Eliteinternat quälen und missbrauchen drei Jungen einen Mitschüler über längere Zeit – jeder aus seinen eigenen Gründen. Der Roman zeigt auf, wie sich Menschen aus den verschiedensten Motiven zur Macht verführen lassen, wie sie wehrlose Menschen quälen, foltern und erpressen – sei es aus rein sadistischen Motiven oder simpler Habgier. Schlimmer noch fast als die Folter aber wirkt das faszinierte Beobachten des jungen Törless. Verwirrt über seine eigene Sexualität wird er zum stummen und heimlichen "Genießer" der Seelenpein seines gequälten Mitschülers. 1966 verfilmte der Regiedebütant Volker Schlöndorff den Stoff erfolgreich mit Mathieu Carrière in der namensgebenden Hauptrolle. Null Papier Verlag

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Robert Musil

Die Verwirrungen des Zöglings Törless

Robert Musil

Die Verwirrungen des Zöglings Törless

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] 2. Auflage, ISBN 978-3-962816-50-6

null-papier.de/neu

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Ihr Jür­gen Schul­ze

99 Welt-Klas­si­ker

Der Tee der drei al­ten Da­men

Arme Leu­te und Der Dop­pel­gän­ger

Der Vam­pir

Der selt­sa­me Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Der Idi­ot

Jane Eyre

Effi Briest

Ma­da­me Bo­va­ry

Ili­as & Odys­see

Ge­schich­te des Gil Blas von San­til­la­na

und wei­te­re …

Die Verwirrungen des Zöglings Törless

Eine klei­ne Sta­ti­on an der Stre­cke, wel­che nach Russ­land führt.

End­los ge­ra­de lie­fen vier par­al­le­le Ei­sen­strän­ge nach bei­den Sei­ten zwi­schen dem gel­ben Kies des brei­ten Fahr­dam­mes; ne­ben je­dem wie ein schmut­zi­ger Schat­ten der dunkle, von dem Ab­damp­fe in den Bo­den ge­brann­te Strich.

Hin­ter dem nie­de­ren, öl­ge­stri­che­nen Sta­ti­ons­ge­bäu­de führ­te eine brei­te, aus­ge­fah­re­ne Stra­ße zur Bahn­hofs­ram­pe her­auf. Ihre Rän­der ver­lo­ren sich in dem rings­um zer­tre­te­nen Bo­den und wa­ren nur an zwei Rei­hen Aka­zi­en­bäu­men kennt­lich, die trau­rig mit ver­durs­te­ten, von Staub und Ruß er­dros­sel­ten Blät­tern zu bei­den Sei­ten stan­den.

Mach­ten es die­se trau­ri­gen Far­ben, mach­te es das blei­che, kraft­lo­se, durch den Dunst er­mü­de­te Licht der Nach­mit­tags­son­ne: Ge­gen­stän­de und Men­schen hat­ten et­was Gleich­gül­ti­ges, Leb­lo­ses, Mecha­ni­sches an sich, als sei­en sie aus der Sze­ne ei­nes Pup­pen­thea­ters ge­nom­men. Von Zeit zu Zeit, in glei­chen In­ter­val­len, trat der Bahn­hofs­vor­stand aus sei­nem Amts­zim­mer her­aus, sah mit der glei­chen Wen­dung des Kop­fes die wei­te Stre­cke hin­auf nach den Si­gna­len der Wächt­er­häus­chen, die im­mer noch nicht das Na­hen des Eil­zu­ges an­zei­gen woll­ten, der an der Gren­ze große Ver­spä­tung er­lit­ten hat­te; mit ein und der­sel­ben Be­we­gung des Ar­mes zog er so­dann sei­ne Ta­schen­uhr her­vor, schüt­tel­te den Kopf und ver­schwand wie­der; so wie die Fi­gu­ren kom­men und ge­hen, die aus al­ten Turm­uh­ren tre­ten, wenn die Stun­de voll ist.

Auf dem brei­ten, fest­ge­stampf­ten Strei­fen zwi­schen Schie­nen­strang und Ge­bäu­de pro­me­nier­te eine hei­te­re Ge­sell­schaft jun­ger Leu­te, links und rechts ei­nes äl­te­ren Ehe­paa­res schrei­tend, das den Mit­tel­punkt der et­was lau­ten Un­ter­hal­tung bil­de­te. Aber auch die Fröh­lich­keit die­ser Grup­pe war kei­ne rech­te; der Lärm des lus­ti­gen La­chens schi­en schon auf we­ni­ge Schrit­te zu ver­stum­men, gleich­sam an ei­nem zä­hen, un­sicht­ba­ren Wi­der­stan­de zu Bo­den zu sin­ken.

Frau Ho­frat Tör­less, dies war die Dame von viel­leicht vier­zig Jah­ren, ver­barg hin­ter ih­rem dich­ten Schlei­er trau­ri­ge, vom Wei­nen ein we­nig ge­röte­te Au­gen. Es galt Ab­schied zu neh­men. Und es fiel ihr schwer, ihr ein­zi­ges Kind nun wie­der auf so lan­ge Zeit un­ter frem­den Leu­ten las­sen zu müs­sen, ohne Mög­lich­keit, selbst schüt­zend über ih­ren Lieb­ling zu wa­chen.

Denn die klei­ne Stadt lag weit­ab von der Re­si­denz, im Os­ten des Rei­ches, in spär­lich be­sie­del­tem, tro­ckenem Acker­land.

Der Grund, des­sent­we­gen Frau Tör­less es dul­den muss­te, ih­ren Jun­gen in so fer­ner, un­wirt­li­cher Frem­de zu wis­sen, war, dass sich in die­ser Stadt ein be­rühm­tes Kon­vikt be­fand, wel­ches man schon seit dem vo­ri­gen Jahr­hun­der­te, wo es auf dem Bo­den ei­ner from­men Stif­tung er­rich­tet wor­den war, da drau­ßen beließ, wohl um die auf­wach­sen­de Ju­gend vor den ver­derb­li­chen Ein­flüs­sen ei­ner Groß­stadt zu be­wah­ren.

Denn hier er­hiel­ten die Söh­ne der bes­ten Fa­mi­li­en des Lan­des ihre Aus­bil­dung, um nach Ver­las­sen des In­sti­tu­tes die Hoch­schu­le zu be­zie­hen oder in den Mi­li­tär- oder Staats­dienst ein­zu­tre­ten, und in al­len die­sen Fäl­len so­wie für den Ver­kehr in den Krei­sen der gu­ten Ge­sell­schaft galt es als be­son­de­re Emp­feh­lung, im Kon­vik­te zu W. auf­ge­wach­sen zu sein.

Vor vier Jah­ren hat­te dies das El­tern­paar Tör­less be­wo­gen, dem ehr­gei­zi­gen Drän­gen sei­nes Kna­ben nach­zu­ge­ben und sei­ne Auf­nah­me in das In­sti­tut zu er­wir­ken.

Die­ser Ent­schluss hat­te spä­ter vie­le Trä­nen ge­kos­tet. Denn fast seit dem Au­gen­bli­cke, da sich das Tor des In­sti­tu­tes un­wi­der­ruf­lich hin­ter ihm ge­schlos­sen hat­te, litt der klei­ne Tör­less an fürch­ter­li­chem, lei­den­schaft­li­chem Heim­weh. We­der die Un­ter­richts­stun­den, noch die Spie­le auf den großen üp­pi­gen Wie­sen des Par­kes, noch die an­de­ren Zer­streu­un­gen, die das Kon­vikt sei­nen Zög­lin­gen bot, ver­moch­ten ihn zu fes­seln; er be­tei­lig­te sich kaum an ih­nen. Er sah al­les nur wie durch einen Schlei­er und hat­te selbst un­ter­tags häu­fig Mühe, ein hart­nä­cki­ges Schluch­zen hin­ab­zu­wür­gen; des Abends schlief er aber stets un­ter Trä­nen ein.

Er schrieb Brie­fe nach Hau­se, bei­na­he täg­lich, und er leb­te nur in die­sen Brie­fen; al­les an­de­re, was er tat, schi­en ihm nur ein schat­ten­haf­tes, be­deu­tungs­lo­ses Ge­sche­hen zu sein, gleich­gül­ti­ge Sta­tio­nen wie die Stun­den­zif­fern ei­nes Uhr­blat­tes. Wenn er aber schrieb, fühl­te er et­was Aus­zeich­nen­des, Ex­klu­si­ves in sich; wie eine In­sel voll wun­der­ba­rer Son­nen und Far­ben hob sich et­was in ihm aus dem Mee­re grau­er Emp­fin­dun­gen her­aus, das ihn Tag um Tag kalt und gleich­gül­tig um­dräng­te. Und wenn er un­ter­tags, bei den Spie­len oder im Un­ter­rich­te, dar­an dach­te, dass er abends sei­nen Brief schrei­ben wer­de, so war ihm, als trü­ge er an un­sicht­ba­rer Ket­te einen gol­de­nen Schlüs­sel ver­bor­gen, mit dem er, wenn es nie­mand sieht, das Tor von wun­der­ba­ren Gär­ten öff­nen wer­de.

Das Merk­wür­di­ge dar­an war, dass die­se jähe, ver­zeh­ren­de Hin­nei­gung zu sei­nen El­tern für ihn selbst et­was Neu­es und Be­frem­den­des hat­te. Er hat­te sie vor­her nicht ge­ahnt, er war gern und frei­wil­lig ins In­sti­tut ge­gan­gen, ja er hat­te ge­lacht, als sich sei­ne Mut­ter beim ers­ten Ab­schied vor Trä­nen nicht fas­sen konn­te, und dann erst, nach­dem er schon ei­ni­ge Tage al­lein ge­we­sen war und sich ver­hält­nis­mä­ßig wohl be­fun­den hat­te, brach es plötz­lich und ele­men­tar in ihm em­por.

Er hielt es für Heim­weh, für Ver­lan­gen nach sei­nen El­tern. In Wirk­lich­keit war es aber et­was viel Un­be­stimm­te­res und Zu­sam­men­ge­setz­te­res. Denn der »Ge­gen­stand die­ser Sehn­sucht«, das Bild sei­ner El­tern, war dar­in ei­gent­lich gar nicht mehr ent­hal­ten. Ich mei­ne die­se ge­wis­se plas­ti­sche, nicht bloß ge­dächt­nis­mä­ßi­ge, son­dern kör­per­li­che Erin­ne­rung an eine ge­lieb­te Per­son, die zu al­len Sin­nen spricht und in al­len Sin­nen be­wahrt wird, so­dass man nichts tun kann, ohne schwei­gend und un­sicht­bar den an­de­ren zur Sei­te zu füh­len. Die­se ver­klang bald wie eine Re­so­nanz, die nur noch eine Wei­le fort­ge­zit­tert hat­te. Tör­less konn­te sich da­mals bei­spiels­wei­se nicht mehr das Bild sei­ner »lie­ben, lie­ben El­tern« – der­ma­ßen sprach er es meist vor sich hin – vor Au­gen zau­bern. Ver­such­te er es, so kam an des­sen Stel­le der gren­zen­lo­se Schmerz in ihm em­por, des­sen Sehn­sucht ihn züch­tig­te und ihn doch ei­gen­wil­lig fest­hielt, weil ihre hei­ßen Flam­men ihn zu­gleich schmerz­ten und ent­zück­ten. Der Ge­dan­ke an sei­ne El­tern wur­de ihm hie­bei mehr und mehr zu ei­ner blo­ßen Ge­le­gen­heits­ur­sa­che, die­ses egois­ti­sche Lei­den in sich zu er­zeu­gen, das ihn in sei­nen wol­lüs­ti­gen Stolz ein­schloss wie in die Ab­ge­schie­den­heit ei­ner Ka­pel­le, in der von hun­dert flam­men­den Ker­zen und von hun­dert Au­gen hei­li­ger Bil­der Weih­rauch zwi­schen die Schmer­zen der sich selbst Gei­ßeln­den ge­streut wird. – – –

Als dann sein »Heim­weh« we­ni­ger hef­tig wur­de und sich all­ge­mach ver­lor, zeig­te sich die­se sei­ne Art auch ziem­lich deut­lich. Sein Ver­schwin­den führ­te nicht eine end­lich er­war­te­te Zufrie­den­heit nach sich, son­dern ließ in der See­le des jun­gen Tör­less eine Lee­re zu­rück. Und an die­sem Nichts, an die­sem Un­aus­ge­füll­ten in sich er­kann­te er, dass es nicht eine blo­ße Sehn­sucht ge­we­sen war, die ihm ab­han­den kam, son­dern et­was Po­si­ti­ves, eine see­li­sche Kraft, et­was, das sich in ihm un­ter dem Vor­wand des Schmer­zes aus­ge­blüht hat­te.

Nun aber war es vor­bei, und die­se Quel­le ei­ner ers­ten hö­he­ren Se­lig­keit hat­te sich ihm erst durch ihr Ver­sie­gen fühl­bar ge­macht.

Zu die­ser Zeit ver­lo­ren sich die lei­den­schaft­li­chen Spu­ren der im Er­wa­chen ge­we­se­nen See­le wie­der aus sei­nen Brie­fen, und an ihre Stel­le tra­ten aus­führ­li­che Be­schrei­bun­gen des Le­bens im In­sti­tu­te und der neu­ge­won­ne­nen Freun­de.

Er selbst fühl­te sich da­bei ver­armt und kahl, wie ein Bäum­chen, das nach der noch frucht­lo­sen Blü­te den ers­ten Win­ter er­lebt.

Sei­ne El­tern aber wa­ren es zu­frie­den. Sie lieb­ten ihn mit ei­ner star­ken, ge­dan­ken­lo­sen, tie­ri­schen Zärt­lich­keit. Je­des Mal, wenn er vom Kon­vik­te Fe­ri­en be­kom­men hat­te, er­schi­en der Ho­frä­tin nach­her ihr Haus von Neu­em leer und aus­ge­stor­ben, und noch ei­ni­ge Tage nach je­dem sol­chen Be­su­che ging sie mit Trä­nen in den Au­gen durch die Zim­mer, da und dort einen Ge­gen­stand lieb­ko­send be­rüh­rend, auf dem das Auge des Kna­ben ge­ruht oder den sei­ne Fin­ger ge­hal­ten hat­ten. Und bei­de hät­ten sie sich für ihn in Stücke rei­ßen las­sen.

Die un­be­hol­fe­ne Rüh­rung und lei­den­schaft­li­che, trot­zi­ge Trau­er sei­ner Brie­fe be­schäf­tig­te sie schmerz­lich und ver­setz­te sie in einen Zu­stand hoch­ge­spann­ter Emp­find­sam­keit; der hei­te­re, zu­frie­de­ne Leicht­sinn, der dar­auf folg­te, mach­te auch sie wie­der froh, und in dem Ge­füh­le, dass da­durch eine Kri­se über­wun­den wor­den sei, un­ter­stütz­ten sie ihn nach Kräf­ten.

We­der in dem einen noch in dem an­de­ren er­kann­ten sie das Sym­ptom ei­ner be­stimm­ten see­li­schen Ent­wick­lung, viel­mehr hat­ten sie Schmerz und Be­ru­hi­gung glei­cher­ma­ßen als eine na­tür­li­che Fol­ge der ge­ge­be­nen Ver­hält­nis­se hin­ge­nom­men. Dass es der ers­te, miss­glück­te Ver­such des jun­gen, auf sich selbst ge­stell­ten Men­schen ge­we­sen war, die Kräf­te des In­ne­ren zu ent­fal­ten, ent­ging ih­nen.

*

Tör­less fühl­te sich nun sehr un­zu­frie­den und tas­te­te da und dort ver­geb­lich nach et­was Neu­em, das ihm als Stüt­ze hät­te die­nen kön­nen.

*

Eine Epi­so­de die­ser Zeit war für das cha­rak­te­ris­tisch, was sich da­mals in Tör­less zu spä­te­rer Ent­wick­lung vor­be­rei­te­te.

Ei­nes Ta­ges war näm­lich der jun­ge Fürst H. ins In­sti­tut ein­ge­tre­ten, der aus ei­nem der ein­fluss­reichs­ten, äl­tes­ten und kon­ser­va­tivs­ten Adels­ge­schlech­ter des Rei­ches stamm­te.

Alle an­de­ren fan­den sei­ne sanf­ten Au­gen fad und af­fek­tiert; die Art und Wei­se, wie er im Ste­hen die eine Hüf­te her­aus­drück­te und beim Spre­chen lang­sam mit den Fin­gern spiel­te, ver­lach­ten sie als wei­bisch. Be­son­ders aber spot­te­ten sie dar­über, dass er nicht von sei­nen El­tern ins Kon­vikt ge­bracht wor­den war, son­dern von sei­nem bis­he­ri­gen Er­zie­her, ei­nem doc­tor theo­lo­giae und Or­dens­geist­li­chen.

Tör­less aber hat­te vom ers­ten Au­gen­bli­cke an einen star­ken Ein­druck emp­fan­gen. Vi­el­leicht wirk­te da­bei der Um­stand mit, dass es ein hof­fä­hi­ger Prinz war, je­den­falls war es aber auch eine an­de­re Art Mensch, die er da ken­nen lern­te.

Das Schwei­gen ei­nes al­ten Lan­de­del­schlos­ses und from­mer Übun­gen schi­en ir­gend­wie noch an ihm zu haf­ten. Wenn er ging, so ge­sch­ah es mit wei­chen, ge­schmei­di­gen Be­we­gun­gen, mit die­sem et­was schüch­ter­nen Sich­zu­sam­men­zie­hen und Schmal­ma­chen, das der Ge­wohn­heit ei­gen ist, auf­recht durch die Flucht lee­rer Säle zu schrei­ten, wo ein an­de­rer an hun­dert un­sicht­ba­ren Ecken des lee­ren Rau­mes schwer an­zu­ren­nen scheint.

Der Um­gang mit dem Prin­zen wur­de so zur Quel­le ei­nes fei­nen psy­cho­lo­gi­schen Ge­nus­ses für Tör­less. Er bahn­te in ihm jene Art Men­schen­kennt­nis an, die es lehrt, einen an­de­ren nach dem Fall der Stim­me, nach der Art, wie er et­was in die Hand nimmt, ja selbst nach dem Tim­bre sei­nes Schwei­gens und dem Aus­druck der kör­per­li­chen Hal­tung, mit der er sich in einen Raum fügt, kurz nach die­ser be­weg­li­chen, kaum greif­ba­ren und doch erst ei­gent­li­chen, vol­len Art, et­was See­lisch-Men­sch­li­ches zu sein, die um den Kern, das Greif- und Be­sprech­ba­re, wie um ein blo­ßes Ske­lett her­um­ge­la­gert ist, so zu er­ken­nen und zu ge­nie­ßen, dass man die geis­ti­ge Per­sön­lich­keit da­bei vor­weg­nimmt.

Tör­less leb­te wäh­rend die­ser kur­z­en Zeit wie in ei­ner Idyl­le. Er stieß sich nicht an der Re­li­gio­si­tät sei­nes neu­en Freun­des, die ihm, der aus ei­nem bür­ger­lich-frei­den­ken­den Hau­se stamm­te, ei­gent­lich et­was ganz Frem­des war. Er nahm sie viel­mehr ohne al­les Be­den­ken hin, ja sie bil­de­te in sei­nen Au­gen so­gar einen be­son­de­ren Vor­zug des Prin­zen, denn sie stei­ger­te das We­sen die­ses Men­schen, das er dem sei­nen völ­lig un­ähn­lich, aber auch ganz un­ver­gleich­lich fühl­te.

In der Ge­sell­schaft die­ses Prin­zen fühl­te er sich etwa wie in ei­ner ab­seits des We­ges lie­gen­den Ka­pel­le, so­dass der Ge­dan­ke, dass er ei­gent­lich nicht dort­hin ge­hö­re, ganz ge­gen den Ge­nuss ver­schwand, das Ta­ges­licht ein­mal durch Kir­chen­fens­ter an­zu­se­hen und das Auge so lan­ge über den nutz­lo­sen, ver­gol­de­ten Zie­rat glei­ten zu las­sen, der in der See­le die­ses Men­schen auf­ge­häuft war, bis er von die­ser selbst ein un­deut­li­ches Bild emp­fing, so, als ob er, ohne sich Ge­dan­ken dar­über ma­chen zu kön­nen, mit dem Fin­ger eine schö­ne, aber nach selt­sa­men Ge­set­zen ver­schlun­ge­ne Ara­bes­ke nach­zö­ge.

Dann kam es plötz­lich zum Bru­che zwi­schen bei­den.

We­gen ei­ner Dumm­heit, wie sich Tör­less selbst hin­ter­her sa­gen muss­te.

Sie wa­ren näm­lich doch ein­mal ins Strei­ten über re­li­gi­öse Din­ge ge­kom­men. Und in die­sem Au­gen­bli­cke war es ei­gent­lich schon um al­les ge­sche­hen. Denn wie von Tör­less un­ab­hän­gig, schlug nun der Ver­stand in ihm un­auf­halt­sam auf den zar­ten Prin­zen los. Er über­schüt­te­te ihn mit dem Spot­te des Ver­nünf­ti­gen, zer­stör­te bar­ba­risch das fi­li­gra­ne Ge­bäu­de, in dem des­sen See­le hei­misch war, und sie gin­gen im Zor­ne aus­ein­an­der.

Seit der Zeit hat­ten sie auch kein Wort wie­der zu­ein­an­der ge­spro­chen. Tör­less war sich wohl dun­kel be­wusst, dass er et­was Sinn­lo­ses ge­tan hat­te, und eine un­kla­re, ge­fühls­mä­ßi­ge Ein­sicht sag­te ihm, dass da die­ser höl­zer­ne Zoll­stab des Ver­stan­des zu ganz un­rech­ter Zeit et­was Fei­nes und Ge­nuss­rei­ches zer­schla­gen habe. Aber dies war et­was, das ganz au­ßer sei­ner Macht lag. Eine Art Sehn­sucht nach dem Frü­he­ren war wohl für im­mer in ihn zu­rück­ge­blie­ben, aber er schi­en in einen an­de­ren Strom ge­ra­ten zu sein, der ihn im­mer wei­ter da­von ent­fern­te.

Nach ei­ni­ger Zeit trat dann auch der Prinz, der sich im Kon­vik­te nicht wohl be­fun­den hat­te, wie­der aus.

*

Nun wur­de es ganz leer und lang­wei­lig um Tör­less. Aber er war einst­wei­len äl­ter ge­wor­den, und die be­gin­nen­de Ge­schlechts­rei­fe fing an, sich dun­kel und all­mäh­lich in ihm em­por­zu­he­ben. In die­sem Ab­schnitt sei­ner Ent­wick­lung schloss er ei­ni­ge neue, dement­spre­chen­de Freund­schaf­ten, die für ihn spä­ter von größ­ter Wich­tig­keit wur­den. So mit Bei­ne­berg und Rei­ting, mit Moté und Hof­mei­er, eben je­nen jun­gen Leu­ten, in de­ren Ge­sell­schaft er heu­te sei­ne El­tern zur Bahn be­glei­te­te.

Merk­wür­di­ger­wei­se wa­ren dies ge­ra­de die übels­ten sei­nes Jahr­gan­ges, zwar ta­len­tiert und selbst­ver­ständ­lich auch von gu­ter Her­kunft, aber bis­wei­len bis zur Ro­heit wild und un­ge­bär­dig. Und dass ge­ra­de ihre Ge­sell­schaft Tör­less nun fes­sel­te, lag wohl an sei­ner ei­ge­nen Un­selbst­stän­dig­keit, die, seit­dem es ihn von dem Prin­zen wie­der fort­ge­trie­ben hat­te, sehr arg war. Es lag so­gar in der ge­rad­li­ni­gen Ver­län­ge­rung die­ses Ab­schwen­kens, denn es be­deu­te­te wie die­ses eine Angst vor all­zu sub­ti­len Emp­fin­de­lei­en, ge­gen die das We­sen der an­de­ren Ka­me­ra­den ge­sund, ker­nig und le­bens­ge­recht ab­stach.

Tör­less über­ließ sich gänz­lich ih­rem Ein­flus­se, denn sei­ne geis­ti­ge Si­tua­ti­on war nun un­ge­fähr die­se: In sei­nem Al­ter hat man am Gym­na­si­um Goe­the, Schil­ler, Sha­ke­s­pea­re, viel­leicht so­gar schon die Mo­der­nen ge­le­sen. Das schreibt sich dann halb­ver­daut aus den Fin­ger­spit­zen wie­der her­aus. Rö­mer­tra­gö­di­en ent­ste­hen oder sen­si­tivs­te Ly­rik, die im Ge­wan­de sei­ten­lan­ger In­ter­punk­tio­nen wie in der Zart­heit durch­bro­che­ner Spit­zen­ar­beit ein­her­schrei­tet: Din­ge, die an und für sich lä­cher­lich sind, für die Si­cher­heit der Ent­wick­lung aber einen un­schätz­ba­ren Wert be­deu­ten. Denn die­se von au­ßen kom­men­den As­so­zia­tio­nen und er­borg­ten Ge­füh­le tra­gen die jun­gen Leu­te über den ge­fähr­lich wei­chen see­li­schen Bo­den die­ser Jah­re hin­weg, wo man sich selbst et­was be­deu­ten muss und doch noch zu un­fer­tig ist, um wirk­lich et­was zu be­deu­ten. Ob für spä­ter bei dem einen et­was da­von zu­rück­bleibt oder bei dem an­de­ren nichts, ist gleich­gül­tig; dann fin­det sich schon je­der mit sich ab, und die Ge­fahr be­steht nur in dem Al­ter des Über­gan­ges. Wenn man da solch ei­nem jun­gen Men­schen das Lä­cher­li­che sei­ner Per­son zur Ein­sicht brin­gen könn­te, so wür­de der Bo­den un­ter ihm ein­bre­chen, oder er wür­de wie ein er­wach­ter Nacht­wand­ler her­ab­stür­zen, der plötz­lich nichts als Lee­re sieht.

Die­se Il­lu­si­on, die­ser Trick zu­guns­ten der Ent­wick­lung fehl­te im In­sti­tu­te. Denn dort wa­ren in der Biblio­thek wohl die Klas­si­ker ent­hal­ten, aber die­se gal­ten als lang­wei­lig, und sonst fan­den sich nur sen­ti­men­ta­le No­vel­len­bän­de und witz­lo­se Mi­li­tär­hu­mo­res­ken.

Der klei­ne Tör­less hat­te sie wohl alle förm­lich in ei­ner Gier nach Bü­chern durch­ge­le­sen, ir­gend­ei­ne ba­nal zärt­li­che Vor­stel­lung aus ein oder der an­de­ren No­vel­le wirk­te manch­mal auch noch eine Wei­le nach, al­lein einen Ein­fluss, einen wirk­li­chen Ein­fluss, nahm dies auf sei­nen Cha­rak­ter nicht.

Es schi­en da­mals, dass er über­haupt kei­nen Cha­rak­ter habe.

Er schrieb zum Bei­spiel un­ter dem Ein­flus­se die­ser Lek­tü­re selbst hie und da eine klei­ne Er­zäh­lung oder be­gann ein ro­man­ti­sches Epos zu dich­ten. In der Er­re­gung über die Lie­bes­lei­den sei­ner Hel­den rö­te­ten sich dann sei­ne Wan­gen, sei­ne Pul­se be­schleu­nig­ten sich und sei­ne Au­gen glänz­ten.

Wie er aber die Fe­der aus der Hand leg­te, war al­les vor­bei; ge­wis­ser­ma­ßen nur in der Be­we­gung leb­te sein Geist. Da­her war es ihm auch mög­lich, ein Ge­dicht oder eine Er­zäh­lung wann im­mer, auf jede Auf­for­de­rung hin, nie­der­zu­schrei­ben. Er reg­te sich da­bei auf, aber trotz­dem nahm er es nie ganz ernst, und die Tä­tig­keit er­schi­en ihm nicht wich­tig. Es ging von ihr nichts auf sei­ne Per­son über, und sie ging nicht von sei­ner Per­son aus. Er hat­te nur un­ter ir­gend­ei­nem äu­ße­ren Zwang Emp­fin­dun­gen, die über das Gleich­gül­ti­ge hin­aus­gin­gen, wie ein Schau­spie­ler dazu des Zwan­ges ei­ner Rol­le be­darf.

Es wa­ren Re­ak­tio­nen des Ge­hirns. Das aber, was man als Cha­rak­ter oder See­le, Li­nie oder Klang­far­be ei­nes Men­schen fühlt, je­den­falls das­je­ni­ge, wo­ge­gen die Ge­dan­ken, Ent­schlüs­se und Hand­lun­gen we­nig be­zeich­nend, zu­fäl­lig und aus­wech­sel­bar er­schei­nen, das­je­ni­ge, was bei­spiels­wei­se Tör­less an den Prin­zen jen­seits al­les ver­stand­li­chen Be­ur­tei­lens ge­knüpft hat­te, die­ser letz­te, un­be­weg­li­che Hin­ter­grund, war zu je­ner Zeit in Tör­less gänz­lich ver­lo­ren ge­gan­gen.

In sei­nen Ka­me­ra­den war es die Freu­de am Sport, das Ani­ma­li­sche, wel­ches sie ei­nes sol­chen gar nicht be­dür­fen ließ, so wie am Gym­na­si­um das Spiel mit der Li­te­ra­tur da­für sorgt.

Tör­less war aber für das eine zu geis­tig an­ge­legt und dem an­de­ren brach­te er jene schar­fe Fein­füh­lig­keit für das Lä­cher­li­che sol­cher er­borg­ter Sen­ti­ments ent­ge­gen, die das Le­ben im In­sti­tu­te durch sei­ne Nö­ti­gung ste­ter Be­reit­schaft zu Strei­tig­kei­ten und Faust­kämp­fen er­zeugt. So er­hielt sein We­sen et­was Un­be­stimm­tes, eine in­ne­re Hilf­lo­sig­keit, die ihn nicht zu sich selbst fin­den ließ.

Er schloss sich sei­nen neu­en Freun­den an, weil ihm ihre Wild­heit im­po­nier­te. Da er ehr­gei­zig war, ver­such­te er hie und da, es ih­nen dar­in so­gar zu­vor­zu­tun. Aber je­des Mal blieb er wie­der auf hal­b­em Wege ste­hen und hat­te nicht we­nig Spott des­we­gen zu er­lei­den. Dies ver­schüch­ter­te ihn dann wie­der. Sein gan­zes Le­ben be­stand in die­ser kri­ti­schen Pe­ri­ode ei­gent­lich nur in die­sem im­mer er­neu­ten Be­mü­hen, sei­nen rau­en, männ­li­che­ren Freun­den nach­zu­ei­fern, und in ei­ner tief in­ner­li­chen Gleich­gül­tig­keit ge­gen die­ses Be­stre­ben.

Be­such­ten ihn jetzt sei­ne El­tern, so war er, so­lan­ge sie al­lein wa­ren, still und scheu. Den zärt­li­chen Berüh­run­gen sei­ner Mut­ter ent­zog er sich je­des Mal un­ter ei­nem an­de­ren Vor­wan­de. In Wahr­heit hät­te er ih­nen gern nach­ge­ge­ben, aber er schäm­te sich, als sei­en die Au­gen sei­ner Ka­me­ra­den auf ihn ge­rich­tet.

Sei­ne El­tern nah­men es als die Un­ge­len­kig­keit der Ent­wick­lungs­jah­re hin.

Nach­mit­tags kam dann die gan­ze lau­te Schar. Man spiel­te Kar­ten, aß, trank, er­zähl­te An­ek­do­ten über die Leh­rer und rauch­te die Zi­ga­ret­ten, die der Ho­frat aus der Re­si­denz mit­ge­bracht hat­te.

Die­se Hei­ter­keit er­freu­te und be­ru­hig­te das Ehe­paar.

Dass für Tör­less mit­un­ter auch an­de­re Stun­den ka­men, wuss­ten sie nicht. Und in der letz­ten Zeit im­mer zahl­rei­che­re. Er hat­te Au­gen­bli­cke, wo ihm das Le­ben im In­sti­tu­te völ­lig gleich­gül­tig wur­de. Der Kitt sei­ner täg­li­chen Sor­gen lös­te sich da, und die Stun­den sei­nes Le­bens fie­len ohne in­ner­li­chen Zu­sam­men­hang aus­ein­an­der.

Er saß oft lan­ge – in fins­te­rem Nach­den­ken – gleich­sam über sich selbst ge­beugt.

Zwei Be­suchs­ta­ge wa­ren es auch dies­mal ge­we­sen. Man hat­te ge­speist, ge­raucht, eine Spa­zier­fahrt un­ter­nom­men, und nun soll­te der Eil­zug das Ehe­paar wie­der in die Re­si­denz zu­rück­füh­ren.

Ein lei­ses Rol­len in den Schie­nen kün­dig­te sein Na­hen an, und die Si­gna­le der Glo­cke am Da­che des Sta­ti­ons­ge­bäu­des klan­gen der Ho­frä­tin un­er­bitt­lich ins Ohr.

»Also nicht wahr, lie­ber Bei­ne­berg, Sie ge­ben mir auf mei­nen Bu­ben acht?« wand­te sich Ho­frat Tör­less an den jun­gen Baron Bei­ne­berg, einen lan­gen, kno­chi­gen Bur­schen mit mäch­tig ab­ste­hen­den Ohren, aber aus­drucks­vol­len, ge­schei­ten Au­gen.

Der klei­ne Tör­less schnitt ob die­ser Be­vor­mun­dung ein miss­mu­ti­ges Ge­sicht, und Bei­ne­berg grins­te ge­schmei­chelt und ein we­nig scha­den­froh.

»Über­haupt« – wand­te sich der Ho­frat an die üb­ri­gen – »möch­te ich Sie alle ge­be­ten ha­ben, falls mei­nem Soh­ne ir­gen­det­was sein soll­te, mich gleich da­von zu ver­stän­di­gen.«

Dies ent­lock­te nun doch dem jun­gen Tör­less ein un­end­lich ge­lang­weil­tes: »Aber Papa, was soll mir denn pas­sie­ren?!« ob­wohl er schon dar­an ge­wöhnt war, bei je­dem Ab­schie­de die­se all­zu große Sorg­sam­keit über sich er­ge­hen las­sen zu müs­sen.

Die an­de­ren schlu­gen in­des­sen die Ha­cken zu­sam­men, wo­bei sie die zier­li­chen De­gen straff an die Sei­te zo­gen, und der Ho­frat füg­te noch hin­zu: »Man kann nie wis­sen, was vor­kommt, und der Ge­dan­ke, so­fort von al­lem ver­stän­digt zu wer­den, be­rei­tet mir eine große Be­ru­hi­gung; schließ­lich könn­test du doch auch am Schrei­ben be­hin­dert sein.«

Dann fuhr der Zug ein. Ho­frat Tör­less um­arm­te sei­nen Sohn, Frau von Tör­less drück­te den Schlei­er fes­ter ans Ge­sicht, um ihre Trä­nen zu ver­ber­gen, die Freun­de be­dank­ten sich der Rei­he nach, dann schloss der Schaff­ner die Wagen­tür.

Noch ein­mal sah das Ehe­paar die hohe, kah­le Rück­front des In­sti­tuts­ge­bäu­des, – die mäch­ti­ge, lang­ge­streck­te Mau­er, wel­che den Park um­schloss, dann ka­men rechts und links nur mehr grau­brau­ne Fel­der und ver­ein­zel­te Obst­bäu­me.

Die jun­gen Leu­te hat­ten un­ter­des­sen den Bahn­hof ver­las­sen und gin­gen in zwei Rei­hen hin­ter­ein­an­der auf den bei­den Rän­dern der Stra­ße – so we­nigs­tens dem dicks­ten und zä­he­s­ten Stau­be aus­wei­chend – der Stadt zu, ohne viel mit­ein­an­der zu re­den.

Es war fünf Uhr vor­bei, und über die Fel­der kam es ernst und kalt, wie ein Vor­bo­te des Abends.

Tör­less wur­de sehr trau­rig.

Vi­el­leicht war dar­an die Abrei­se sei­ner El­tern schuld, viel­leicht war es je­doch nur die ab­wei­sen­de, stump­fe Me­lan­cho­lie, die jetzt auf der gan­zen Na­tur rings­um­her las­te­te und schon auf we­ni­ge Schrit­te die For­men der Ge­gen­stän­de mit schwe­ren glanz­lo­sen Far­ben ver­wisch­te.

Die­sel­be furcht­ba­re Gleich­gül­tig­keit, die schon den gan­zen Nach­mit­tag über al­ler­orts ge­le­gen war, kroch nun über die Ebe­ne her­an, und hin­ter ihr her wie eine schlei­mi­ge Fähr­te der Ne­bel, der über den Sturzä­ckern und blei­grau­en Rü­ben­fel­dern kleb­te.

Tör­less sah nicht rechts noch links, aber er fühl­te es. Schritt für Schritt trat er in die Spu­ren, die so­eben erst vom Fuße des Vor­der­manns in dem Stau­be auf­klaff­ten, – und so fühl­te er es: als ob es so sein müss­te: als einen stei­ner­nen Zwang, der sein gan­zes Le­ben in die­se Be­we­gung – Schritt für Schritt – auf die­ser einen Li­nie, auf die­sem einen schma­len Strei­fen, der sich durch den Staub zog, ein­fing und zu­sam­men­press­te.

Als sie an ei­ner Kreu­zung ste­hen blie­ben, wo ein zwei­ter Weg mit dem ih­ren in einen run­den, aus­ge­tre­te­nen Fleck zu­sam­men­floss, und als dort ein morsch­ge­wor­de­ner Weg­wei­ser schief in die Luft hin­ein­rag­te, wirk­te die­se, zu ih­rer Um­ge­bung in Wi­der­spruch ste­hen­de, Li­nie wie ein ver­zwei­fel­ter Schrei auf Tör­less.

Wie­der gin­gen sie wei­ter. Tör­less dach­te an sei­ne El­tern, an Be­kann­te, an das Le­ben. Um die­se Stun­de klei­det man sich für eine Ge­sell­schaft an oder be­schließt ins Thea­ter zu fah­ren. Und nach­her geht man ins Re­stau­rant, hört eine Ka­pel­le, be­sucht das Kaf­fee­haus. Man macht eine in­ter­essan­te Be­kannt­schaft. Ein ga­lan­tes Aben­teu­er hält bis zum Mor­gen in Er­war­tung. Das Le­ben rollt wie ein wun­der­ba­res Rad im­mer Neu­es, Uner­war­te­tes aus sich her­aus …

Tör­less seufz­te un­ter die­sen Ge­dan­ken, und bei je­dem Schrit­te, der ihn der Enge des In­sti­tu­tes nä­her­trug, schnür­te sich et­was im­mer fes­ter in ihm zu­sam­men.

Jetzt schon klang ihm das Glo­cken­zei­chen in den Ohren. Nichts fürch­te­te er näm­lich so sehr wie die­ses Glo­cken­zei­chen, das un­wi­der­ruf­lich das Ende des Ta­ges be­stimm­te – wie ein bru­ta­ler Mes­ser­schnitt.

Er er­leb­te ja nichts, und sein Le­ben däm­mer­te in ste­ter Gleich­gül­tig­keit da­hin, aber die­ses Glo­cken­zei­chen füg­te dem auch noch den Hohn hin­zu und ließ ihn in ohn­mäch­ti­ger Wut über sich selbst, über sein Schick­sal, über den be­gra­be­nen Tag er­zit­tern.

Nun kannst du gar nichts mehr er­le­ben, wäh­rend zwölf Stun­den kannst du nichts mehr er­le­ben, für zwölf Stun­den bist du tot …: das war der Sinn die­ses Glo­cken­zei­chens.

Als die Ge­sell­schaft jun­ger Leu­te zwi­schen die ers­ten nied­ri­gen, hüt­ten­ar­ti­gen Häu­ser kam, wich die­ses dump­fe Brü­ten von Tör­less. Wie von ei­nem plötz­li­chen In­ter­es­se er­fasst, hob er den Kopf und blick­te an­ge­strengt in das duns­ti­ge In­ne­re der klei­nen, schmut­zi­gen Ge­bäu­de, an de­nen sie vor­über­gin­gen.

Vor den Tü­ren der meis­ten stan­den die Wei­ber, in Kit­teln und gro­ben Hem­den, mit brei­ten, be­schmutz­ten Fü­ßen und nack­ten, brau­nen Ar­men.

Wa­ren sie jung und drall, so flog ih­nen man­ches der­be sla­wi­sche Scherz­wort zu. Sie stie­ßen sich an und ki­cher­ten über die »jun­gen Her­ren«; manch­mal schrie eine auch auf, wenn im Vor­über­ge­hen all­zu hart ihre Brüs­te ge­streift wur­den, oder er­wi­der­te mit ei­nem la­chen­den Schimpf­wort einen Schlag auf die Schen­kel. Man­che sah auch bloß mit zor­ni­gem Erns­te hin­ter den Ei­len­den drein; und der Bau­er lä­chel­te ver­le­gen, – halb un­si­cher, halb gut­mü­tig, – wenn er zu­fäl­lig hin­zu­ge­kom­men war.

Tör­less be­tei­lig­te sich nicht an die­ser über­mü­ti­gen, früh­rei­fen Männ­lich­keit sei­ner Freun­de.

Der Grund hie­zu lag wohl teil­wei­se in ei­ner ge­wis­sen Schüch­tern­heit in ge­schlecht­li­chen Sa­chen, wie sie fast al­len ein­zi­gen Kin­dern ei­gen­tüm­lich ist, zum grö­ße­ren Tei­le je­doch in der ihm be­son­de­ren Art der sinn­li­chen Ver­an­la­gung, wel­che ver­bor­ge­ner, mäch­ti­ger und dunk­ler ge­färbt war als die sei­ner Freun­de und sich schwe­rer äu­ßer­te.

Wäh­rend die an­de­ren mit den Wei­bern scham­los – ta­ten, bei­na­he mehr um »fesch« zu sein, als aus Be­gier­de, war die See­le des schweig­sa­men, klei­nen Tör­less auf­ge­wühlt und von wirk­li­cher Scham­lo­sig­keit ge­peitscht.

Er blick­te mit so bren­nen­den Au­gen durch die klei­nen Fens­ter und wink­li­gen, schma­len Tor­we­ge in das In­ne­re der Häu­ser, dass es ihm be­stän­dig wie ein fei­nes Netz vor den Au­gen tanz­te.

Fast nack­te Kin­der wälz­ten sich in dem Kot der Höfe, da und dort gab der Rock ei­nes ar­bei­ten­den Wei­bes die Knie­keh­len frei oder drück­te sich eine schwe­re Brust straff in die Fal­ten der Lein­wand. Und als ob all dies so­gar un­ter ei­ner ganz an­de­ren, tie­ri­schen, drücken­den At­mo­sphä­re sich ab­spiel­te, floss aus dem Flur der Häu­ser eine trä­ge, schwe­re Luft, die Tör­less be­gie­rig ein­at­me­te.

Er dach­te an alte Ma­le­rei­en, die er in Mu­seen ge­se­hen hat­te, ohne sie recht zu ver­ste­hen. Er war­te­te auf ir­gen­det­was, so wie er vor die­sen Bil­dern im­mer auf et­was ge­war­tet hat­te, das sich nie er­eig­ne­te. Worauf …? … Auf et­was Über­ra­schen­des, noch nie Ge­se­he­nes; auf einen un­ge­heu­er­li­chen An­blick, von dem er sich nicht die ge­rings­te Vor­stel­lung ma­chen konn­te; auf ir­gen­det­was von fürch­ter­li­cher, tie­ri­scher Sinn­lich­keit; das ihn wie mit Kral­len pa­cke und von den Au­gen aus zer­rei­ße; auf ein Er­leb­nis, das in ir­gend­ei­ner noch ganz un­kla­ren Wei­se mit den schmut­zi­gen Kit­teln der Wei­ber, mit ih­ren rau­en Hän­den, mit der Nied­rig­keit ih­rer Stu­ben, mit … mit ei­ner Be­schmut­zung an dem Kot der Höfe … zu­sam­men­hän­gen müs­se … Nein, nein; … er fühl­te jetzt nur mehr das feu­ri­ge Netz vor den Au­gen; die Wor­te sag­ten es nicht; so arg, wie es die Wor­te ma­chen, ist es gar nicht; es ist et­was ganz Stum­mes, – ein Wür­gen in der Keh­le, ein kaum merk­ba­rer Ge­dan­ke, und nur dann, wenn man es durch­aus mit Wor­ten sa­gen woll­te, käme es so her­aus; aber dann ist es auch nur mehr ent­fernt ähn­lich, wie in ei­ner rie­si­gen Ver­grö­ße­rung, wo man nicht nur al­les deut­li­cher sieht, son­dern auch Din­ge, die gar nicht da sind … Den­noch war es zum Schä­men.

»Hat das Bubi Heim­weh?« frag­te ihn plötz­lich spöt­tisch der lan­ge und um zwei Jah­re äl­te­re v. Rei­ting, wel­chem Tör­less’ Schweig­sam­keit und die ver­dun­kel­ten Au­gen auf­ge­fal­len wa­ren. Tör­less lä­chel­te ge­macht und ver­le­gen, und ihm war, als hät­te der bos­haf­te Rei­ting die Vor­gän­ge in sei­nem In­nern be­lauscht.

Er gab kei­ne Ant­wort. Aber sie wa­ren mitt­ler­wei­le auf den Kirch­platz des Städt­chens ge­langt, der die Form ei­nes Qua­dra­tes hat­te und mit Kat­zen­köp­fen ge­pflas­tert war, und trenn­ten sich nun von­ein­an­der.

Tör­less und Bei­ne­berg woll­ten noch nicht ins In­sti­tut zu­rück, wäh­rend die an­de­ren kei­ne Er­laub­nis zu län­ge­rem Aus­blei­ben hat­ten und nach Hau­se gin­gen.

*

Die bei­den wa­ren in der Kon­di­to­rei ein­ge­kehrt.

Dort sa­ßen sie an ei­nem klei­nen Ti­sche mit runder Plat­te, ne­ben ei­nem Fens­ter, das auf den Gar­ten hin­aus­ging, un­ter ei­ner Gas­kro­ne, de­ren Lich­ter hin­ter den mil­chi­gen Glas­ku­geln lei­se summ­ten.

Sie hat­ten es sich be­quem ge­macht, lie­ßen sich die Gläs­chen mit wech­seln­den Schnäp­sen fül­len, rauch­ten Zi­ga­ret­ten, aßen da­zwi­schen et­was Bä­cke­rei und ge­nos­sen das Be­ha­gen, die ein­zi­gen Gäs­te zu sein. Denn höchs­tens in den hin­te­ren Räu­men saß noch ein ver­ein­zel­ter Be­su­cher vor sei­nem Gla­se Wein; vor­ne war es still, und selbst die feis­te, an­ge­jähr­te Kon­di­to­rin schi­en hin­ter ih­rem La­den­ti­sche zu schla­fen.

Tör­less sah – nur so ganz un­be­stimmt – durch das Fens­ter – in den lee­ren Gar­ten hin­aus, der all­ge­mach ver­dun­kel­te.

Bei­ne­berg er­zähl­te. Von In­di­en. Wie ge­wöhn­lich. Denn sein Va­ter, der Ge­ne­ral war, war dort als jun­ger Of­fi­zier in eng­li­schen Diens­ten ge­stan­den. Und nicht nur hat­te er wie sons­ti­ge Eu­ro­pä­er Schnit­ze­rei­en, Ge­we­be und klei­ne In­dus­trie­göt­zen mit her­über­ge­bracht, son­dern auch et­was von dem ge­heim­nis­vol­len, bi­zar­ren Däm­mern des eso­te­ri­schen Bud­dhis­mus ge­fühlt und sich be­wahrt. Auf sei­nen Sohn hat­te er das, was er von da her wuss­te und spä­ter noch hin­zu­las, schon von des­sen Kind­heit an über­tra­gen.

Mit dem Le­sen war es üb­ri­gens bei ihm ganz ei­gen. Er war Rei­ter­of­fi­zier und lieb­te durch­aus nicht die Bü­cher im All­ge­mei­nen. Ro­ma­ne und Phi­lo­so­phie ver­ach­te­te er glei­cher­ma­ßen. Wenn er las, woll­te er nicht über Mei­nun­gen und Streit­fra­gen nach­den­ken, son­dern schon beim Auf­schla­gen der Bü­cher wie durch eine heim­li­che Pfor­te in die Mit­te aus­er­le­se­ner Er­kennt­nis­se tre­ten. Es muss­ten Bü­cher sein, de­ren Be­sitz al­lein schon wie ein ge­hei­mes Or­dens­zei­chen war und wie eine Ge­währ­leis­tung über­ir­di­scher Of­fen­ba­run­gen. Und sol­ches fand er nur in den Bü­chern der in­di­schen Phi­lo­so­phie, die für ihn eben nicht bloß Bü­cher zu sein schie­nen, son­dern Of­fen­ba­run­gen, Wirk­li­ches, – Schlüs­sel­wer­ke wie die al­chi­mis­ti­schen und Zau­ber­bü­cher des Mit­tel­al­ters.

Mit ih­nen schloss sich die­ser ge­sun­de, tat­kräf­ti­ge Mann, der stren­ge sei­nen Dienst ver­sah und über­dies sei­ne drei Pfer­de fast täg­lich sel­ber ritt, meist ge­gen Abend ein.

Dann griff er aufs Ge­ra­te­wohl eine Stel­le her­aus und sann, ob sich ihr ge­heims­ter Sinn ihm nicht heu­te er­schlös­se. Und nie war er ent­täuscht, so oft er auch ein­se­hen muss­te, dass er noch nicht wei­ter als bis zum Vor­hof des ge­hei­lig­ten Tem­pels ge­langt sei.

So schweb­te um die­sen ner­vi­gen, ge­bräun­ten Frei­luft­men­schen et­was wie ein wei­he­vol­les Ge­heim­nis. Sei­ne Über­zeu­gung, täg­lich am Vora­bend ei­ner nie­der­schmet­ternd großen Ent­hül­lung zu ste­hen, gab ihm eine ver­schlos­se­ne Über­le­gen­heit. Sei­ne Au­gen wa­ren nicht träu­me­risch, son­dern ru­hig und hart. Die Ge­wohn­heit, in Bü­chern zu le­sen, in de­nen kein Wort von sei­nem Plat­ze ge­rückt wer­den durf­te, ohne den ge­hei­men Sinn zu stö­ren, das vor­sich­ti­ge, ach­tungs­vol­le Ab­wä­gen ei­nes je­den Sat­zes nach Sinn und Dop­pel­sinn, hat­te ih­ren Aus­druck ge­formt.

Nur mit­un­ter ver­lo­ren sich sei­ne Ge­dan­ken in ein Däm­mern von woh­li­ger Me­lan­cho­lie. Das ge­sch­ah, wenn er an den ge­hei­men Kult dach­te, der sich an die Ori­gi­na­le der vor ihm lie­gen­den Schrif­ten knüpf­te, an die Wun­der, die von ih­nen aus­ge­gan­gen wa­ren und Tau­sen­de er­grif­fen hat­ten, Tau­sen­de von Men­schen, die ihm we­gen der großen Ent­fer­nung, die ihn von ih­nen trenn­te, nun wie Brü­der er­schie­nen, wäh­rend er doch die Men­schen sei­ner Um­ge­bung, die er mit al­len ih­ren De­tails sah, ver­ach­te­te. In die­sen Stun­den wur­de er miss­mu­tig. Der Ge­dan­ke, dass sein Le­ben ver­ur­teilt sei, fer­ne von den Quel­len der hei­li­gen Kräf­te zu ver­lau­fen, sei­ne An­stren­gun­gen ver­ur­teilt, an der Un­gunst der Ver­hält­nis­se viel­leicht doch zu er­lah­men, drück­te ihn nie­der. Wenn er aber dann eine Wei­le be­trübt vor sei­nen Bü­chern ge­ses­sen war, wur­de ihm ei­gen­tüm­lich zu­mu­te. Sei­ne Me­lan­cho­lie ver­lor zwar nichts von ih­rer Schwe­re, im Ge­gen­teil, ihre Trau­rig­keit stei­ger­te sich noch, aber sie drück­te ihn nicht mehr. Er fühl­te sich mehr denn je ver­las­sen und auf ver­lo­re­nem Pos­ten, aber in die­ser Weh­mut lag ein fei­nes Ver­gnü­gen, ein Stolz, et­was Frem­des zu tun, ei­ner un­ver­stan­de­nen Gott­heit zu die­nen. Und dann konn­te wohl auch vor­über­ge­hend in sei­nen Au­gen et­was auf­leuch­ten, das an den Aber­witz re­li­gi­öser Ek­sta­se ge­mahn­te.

Bei­ne­berg hat­te sich müde ge­spro­chen. In ihm leb­te das Bild sei­nes wun­der­li­chen Va­ters in ei­ner Art ver­zer­ren­der Ver­grö­ße­rung wei­ter. Je­der Zug war zwar be­wahrt; aber das, was bei je­nem ur­sprüng­lich viel­leicht nur eine Lau­ne ge­we­sen war, die ih­rer Ex­klu­si­vi­tät hal­ber kon­ser­viert und ge­stei­gert wur­de, hat­te sich in ihm zu ei­ner fan­tas­ti­schen Hoff­nung aus­ge­wach­sen. Jene Ei­gen­heit sei­nes Va­ters, die für die­sen im Grun­de ge­nom­men viel­leicht doch nur den ge­wis­sen letz­ten Schlupf­win­kel der In­di­vi­dua­li­tät be­deu­te­te, den sich je­der Mensch – und sei es auch nur durch die Wahl sei­ner Klei­der – schaf­fen muss, um et­was zu ha­ben, das ihn vor an­de­ren aus­zeich­ne, war in ihm zu dem fes­ten Glau­ben ge­wor­den, sich mit­tels un­ge­wöhn­li­cher see­li­scher Kräf­te eine Herr­schaft si­chern zu kön­nen.

Tör­less kann­te die­se Ge­sprä­che zur Ge­nü­ge. Sie gin­gen an ihm vor­bei und be­rühr­ten ihn kaum.