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Gänsehaut-Garantie: Der Thriller Der Menschenmacher von Bestsellerautor Cody Mcfadyen
Evolviere! - David starrt den Brief an, in dem nur dieses eine Wort steht, und schon kehren die grausamen Erinnerungen zurück: wie seine alleinstehende Mutter tödlich verunglückte, als er sechs Jahre alt war. Wie er zusammen mit zwei weiteren Kindern von einem Mann adoptiert wurde, den sie "Vater" nennen sollten. Wie dieser seine Adoptivkinder mit Brutalität und Grausamkeit dazu bewegen wollte, zu "evolvieren." Zwanzig Jahre später hat David sich zum angesehenen Schriftsteller entwickelt, doch die Schatten seiner Vergangenheit scheinen nicht ruhen zu wollen. Damals hatten die Kinder einhellig Vaters Tod beschlossen und sind ein großes Wagnis eingegangen. Hat Vater überlebt? Beginnt der Albtraum für David von Neuem? Cody Mcfadyen beweist mit diesem brutalen, emotionalen Thriller wahre Erzählkunst.
Cody Mcfadyen wurde 1968 im texanischen Fort Worth geboren. Nach einer abgebrochenen Highschool-Ausbildung arbeitete er, unter anderem, im sozialen Dienst und als Drogenberater, ehe er sich in den 1990ern schließlich völlig der Schriftstellerei widmete. Mcfadyen lebt heute mit seiner Tochter in Südkalifornien und gehört zu den erfolgreichsten Krimi-Autoren weltweit.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 828
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Prolog
Erster Teil - GEBURT
Kapitel 1
Zweiter Teil - RISSE UND SPRÜNGE
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Dritter Teil - EVOLUTION
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Vierter Teil - GESCHICHTSSTUNDEN
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Fünfter Teil - DAHEIM IST AUF DER JAGD
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Epilog
Cody Mcfadyen
Thriller
Aus dem Englischenvon Axel Merz
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Dieser Titel ist auch als Hörbuch bei Lübbe Audio lieferbar
Titel der Originalausgabe:»The Innocent Bone«
Für die Originalausgabe:Copyright © 2010 by Cody Mcfadyen
Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2011 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Wolfgang Neuhaus / Jan F. WielpützUmschlaggestaltung: Manuela StädeleUmschlagmotiv: © plainpicture /Albalta
E-Book-Produktion: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-8387-0415-9
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
GegenwartErstes großes Beben
Sie fuhr hoch, als sich eine Hand auf ihr Gesicht legte, die in einem Handschuh steckte, und Mund und Nase bedeckte, sodass sie keine Luft mehr bekam. Sie stieß einen dumpfen Schrei aus. Ihr Körper zuckte so heftig, dass das Bett bebte. Es war ein wilder, instinktiver Reflex, als hätte ein Fremder im Bus ihr die Hand unter den Rock geschoben. Der Geruch nach Leder stieg ihr in die Nase. Ihre Augen rollten in der Dunkelheit wie die eines gestrandeten Fisches. Primitive Gedanken beherrschten ihre Welt.
Was? Wer? … Nein!
Sie war völlig überrumpelt. Einen Moment zuvor hatte sie in tiefem, traumlosem Schlaf gelegen, und nun starrte sie aus verschwommenen Augen in die Dunkelheit, während die Hand ihr Mund und Nase zuhielt und ihr Herz so heftig pochte, als würde es jeden Moment zerreißen.
Sie zitterte. Der Fluchtreflex jagte Adrenalin in ihre Venen. Noch bevor sie zweimal blinzeln konnte, hatte ihre Angst den Dunst in ihrem Hirn weggebrannt wie die Sonne den Nebel über einem See.
Was soll ich tun?
»Wenn ein Typ dir eine Pistole an den Kopf drückt und sagt, du musst ihm sexuell gefügig sein, wie würdest du reagieren?«
Die Frage war vor nicht einmal einer Woche gestellt worden. Sie erinnerte sich noch gut, wie hypothetisch diese Frage ihr erschienen war. Meine Güte, sie hatten darüber gelacht, als eines der Mädchen gesagt hatte: »Ich würde dem Kerl in die Hose greifen und ihm einen von der Palme wedeln«, wobei alle sich verlegen kichernd gefragt hatten, woher sie diese Wendung kannte.
Sie hatten in einem Café gesessen, inmitten von Licht und Menschen. Die Vorstellung, eine solche Bedrohung könne Realität werden, war ihnen (wie sie sich unwillkürlich erinnerte) beinahe lächerlich absurd vorgekommen. Zugegeben, die Angst vor der Wirklichkeit hatte unter der dünnen Oberfläche aus dümmlichen Witzen gelauert, aber darum ging es ja schließlich: der Angst standzuhalten, ihr ins Gesicht zu lachen.
Jetzt ist es nicht mehr so lustig, was? Beruhige dich, krieg dich ein. Du willst überleben? Dann werd jetzt bloß nicht hysterisch.
Dieses innere Zwiegespräch dauerte nicht länger als eine Nanosekunde. Endorphine fluteten in ihre Blutbahn. Dann zog der Mann seine Waffe und drückte ihr den kalten Stahl an die Stirn, presste die Mündung dagegen, bis es wehtat. Alle ermutigenden Gedanken verflogen. Ihre Körpertemperatur schien von einem Moment zum nächsten um dreißig Grad zu fallen. Ihr war eisig kalt, und sie war hellwach.
Bitte lieber Gott bitte ich will nicht sterben ich will nicht sterben ich …
Endlich hatten ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt, und ihr Blick klärte sich. Sie konnte den Mann sehen. Er war direkt über ihr, starrte auf sie hinunter, genau in ihre Augen. Er (wer immer er war) hatte sich einen Strumpf übers Gesicht gezogen, was ihm ein unheimliches, an geschmolzenes Wachs erinnerndes Aussehen verlieh, das sie bisher immer nur in Filmen gesehen hatte.
Aber seine Augen, o Gott, diese Augen …
Sie waren kalt, alt und leer. Sie waren … ja, was? Nicht gefühllos, eher gleichgütig. Unbeteiligt. Es waren die Augen eines Zimmermanns, der auf einen Stapel Bauholz blickt und dann auf die Uhr schaut, wobei er sich fragt, ob er bis nach dem Essen warten soll, bevor er anfängt.
Ein Schatten, eine Bewegung, ein leises schlurfendes Geräusch. Dann erschien ein weiterer Mann, trat neben den ersten, blickte aus dem gleichen wächsernen Strumpfhosengesicht auf sie hinunter. Wieder schrie sie dumpf unter dem Lederhandschuh, was den zweiten Mann zum Grinsen brachte.
Seine Augen waren nicht so unbeteiligt wie die des ersten, zeigten ein wenig Interesse. Allerdings galt dieses Interesse offenbar dem, was er alles mit ihr anstellen konnte und wie sie nackt, weinend und winselnd aussah. Er starrte sie an wie Nahrung, und unter seinem Blick fühlte ihre Blase sich plötzlich zum Platzen voll an.
Lieber Gott, mach, dass die Angst weggeht …
Keine sechs Sekunden waren vergangen, seit sie von der Hand geweckt worden war.
»Du wirst jetzt aufstehen«, sagte der erste Mann, ohne die Waffe von ihrem Kopf zu nehmen. Er starrte ihr unverwandt in die Augen. »Wenn du abzuhauen versuchst, wenn du schreist, wenn du irgendetwas machst, das mir nicht gefällt, tue ich dir weh. Dann tue ich dir so beschissen weh, dass du dich nie mehr davon erholst. Hast du kapiert? Nick, wenn du verstanden hast.«
Sie nickte. Der Ledergeruch war überwältigend in ihrer Nase. Sie musste würgen.
»Gut. Ich nehme jetzt die Hand weg. Und dann wirst du aufstehen. Klar?«
Er zog die Hand weg und trat zurück. Der zweite Mann starrte sie noch einen Augenblick grinsend an – glücklich wie ein Schwein in der Suhle, schoss es ihr absurderweise durch den Kopf. Dann trat auch er zurück.
Sie schwang die zitternden Beine über den Bettrand und erschauerte, als sie den kalten Dielenboden unter den Füßen spürte.
Ob sie mich töten?
Es war ein losgelöster, unerwarteter Gedanke. Er kreiste in ihrem Kopf, gehalten von einer unheimlichen Schwerkraft.
Die beiden Fremden standen da und beobachteten sie geduldig wie Sterne am Firmament.
Möglich, dass sie dich umbringen. Sehr gut möglich. Die meinen es ernst.
Sie bemerkte, wie der zweite Mann ihre Nippel beäugte, die sich unter ihrem T-Shirt abzeichneten. Irrationale Wut stieg in ihr auf. In der elften Klasse hatte sie einen Lehrer gehabt, der mit Vorliebe den Thermostaten im Klassenzimmer heruntergedreht hatte, und dann mussten alle Mädchen mit erwähnenswertem Busen vorne sitzen. Sie war eine der glücklichen Auserwählten gewesen, und Mr. Gold hatte offensichtlich gefallen, was er mit so geilem Blick angestarrt hatte. Es war das erste und einzige Mal gewesen – bis zum heutigen Tag –, dass sie sich schmutzig gefühlt hatte, nur weil ein Mann sie begaffte.
»Ich möchte, dass du langsam aufstehst«, sagte der Fremde Nummer eins. »Wenn du Ärger machst, schneide ich dir eine Brustwarze ab und steck sie dir in den Mund.«
Er schien sich nicht sonderlich für das Ergebnis dieses Multiple-Choice-Horrors zu interessieren. Steh freiwillig auf oder nicht, das ist mir egal. Aber entscheide dich klug, Süße, denn du wirst stehen, ob mit oder ohne Nippel.
Sie stand auf.
»Danke sehr. Und jetzt ab in die Kiste dort.« Er deutete mit seiner Waffe auf das Ding hinter ihm.
Sie starrte darauf. Es war eine rechteckige Kiste aus hellem Holz, vielleicht zwei Meter lang. Das Innere war gepolstert, und es gab einen Deckel mit Scharnieren und einer Schließe.
Es sah aus wie ein Sarg.
Ihre Zähne klapperten. Sie beobachtete sich selbst, wie sie dieses Phänomen beobachtete, und staunte dabei über die Kaskade aus zusammenhanglosen Gedanken, die ihr durch den Kopf rauschten. Sarg bedeutet Tod, und seien wir doch mal ehrlich: Tod ist gar nicht gut! Oder der Favorit der gegenwärtigen Nanosekunde: Vertraue niemals einem Mann mit einem Gesicht wie geschmolzenes Wachs.
»Bitte …«, wimmerte sie und hasste den bettelnden Klang ihrer Stimme, doch die scheußliche Wahrheit dahinter hasste sie noch viel mehr: Sie würde noch lauter und länger betteln, wenn sie nur weiterleben durfte. Sie würde Gott weiß was tun, wenn sie nur …
Patsch. Er schlug mit voller Wucht zu. Sie stolperte, und glühender Schmerz schoss durch ihr Gesicht. Blut spritzte aus ihrer Nase, und vor ihren Augen tanzten weiße Sterne. Der Mann wedelte erneut mit dem Lauf der Waffe.
»Nicht reden. In die Kiste, los. Wenn du in der Kiste bist, nehmen wir dich mit. Ein Wort, ein Laut, bevor ich dich wieder rauslasse, und du wirst winseln vor Schmerz. Klar?«
Sie fing lautlos zu weinen an. Am liebsten wäre sie vor Scham und Wut und Angst gestorben, aber so schnell starb es sich nicht. Diese Männer waren in ihrem Schlafzimmer aufgetaucht, einfach so, mit Strumpfhosenmasken vor den Gesichtern und Pistolen in den Händen, und befahlen ihr, in diesen abscheulichen Sarg zu steigen. Sie hatte keine Zeit, sich an die Situation zu gewöhnen, keine Zeit für irgendetwas, außer darüber nachzudenken, dass sie etwas tun sollte. Aber sie tat gar nichts, sie fror und war voller Angst, und die Männer hatten sie in ihrem Großmutterhöschen überrascht, und nun wollten die beiden, dass sie in einen selbst gezimmerten Sarg kletterte, und irgendetwas sagte ihr, dass das wahrscheinlich nicht die beste Idee war.
Unter diesen Umständen waren Tränen mehr oder weniger unvermeidlich.
Ihr Blick fiel auf den digitalen Wecker auf dem Nachttisch.
Drei Uhr morgens. Ob ich mir das merken soll? Ob es später wichtig ist? Aber wird es ein Später geben?
Der Fremde Nummer eins meldete sich zu Wort und erinnerte sie an das, was wichtig war. »Wenn du nicht in zehn Sekunden in der Kiste liegst, schneide ich dir eine Titte ab und stopf sie dir ins Maul.«
Es war die Ruhe, mit der er diese Worte sagte, die völlige Gelassenheit, die sie schaudern ließ. Als machte es ihm nichts aus, sie bei lebendigem Leib zu grillen – er würde es trotzdem rechtzeitig in die Kirche schaffen. Die Tränen versiegten. Sie ließ den Kopf hängen, und ihre Schultern sanken herab.
»Schon gut«, flüsterte sie kaum hörbar.
Bevor der Deckel sich über ihr schloss, stellte sie die wichtigste Frage.
»Warum?«
Der Fremde Nummer eins hielt den Deckel fest, während er aus seinen kalten, gefühllosen Augen auf das zitternde Bündel in der Kiste starrte. Als er antwortete, blieb seine Stimme so gelassen und kühl wie zuvor.
»Es ist eine Lektion in Geschichte.«
Die Leute denken in Metaphern über ihr Gewissen. Disney hatte Grillen. Ich habe einen Unschuldsknochen. Beinknochen, Armknochen, Unschuldsknochen, klar? Manche Leute haben ihn, andere nicht. Die meisten von uns brechen ihn sich irgendwann, und dann wird er falsch gerichtet, sodass er an kalten Tagen schmerzt und ganz allgemein mehr ein Ärgernis ist, als dass er irgendetwas nützt.
- David Rhodes
K A P I T E L 1 Texas, Dezember 1974
Liebe ist eine Art Musik. Man kann sie singen, man kann sie spielen, man kann dazu tanzen. Sie füllt Räume und Konzertsäle, Herzen und Köpfe, und sie ist überall. Es gibt so viele Musikrichtungen, wie es Menschen gibt.
Manche mögen es orchestral. Schweißtropfen vom Gesicht eines Dirigenten, während die Liebenden sich küssen. Die Bewegungen seiner Hände, beschwörend, wild. Weibliche Saiteninstrumente, süß und dunkel, streiten sich mit den nach Aufmerksamkeit heischenden Schlägen der Perkussion, und aus dem Widerstreit wird Harmonie.
Andere ziehen das intime Gleiten einer mit Stahlsaiten bespannten Gitarre vor. Draußen regnet es. Die Liebenden sind jung, die Wohnung billig, der Rotwein wird aus der Flasche getrunken. Die Zukunft ist endlos, und sie wird geteilt, was denn sonst.
Viele haben in der leidenschaftlichen Hingabe an den guten altmodischen Rock ’n’ Roll die Liebe gefunden.
Liegt alles im Ohr des Hörers.
David Rhodes’ Liebe für seine Mutter war wie ein A-cappella-Sopran, gesungen mit der glockenhellen Süße eines sechsjährigen Knaben. David verehrte Mommy mit Ingrimm, Bewunderung und völliger Hingabe. Sie war zugleich die kürzeste und längste Beziehung seines Lebens. Er hatte seine Mutter nur kurze Zeit, aber diese Zeit veränderte ihn für immer.
So ist die Zeit nun mal. Sie kann sich dehnen wie Toffee oder träge tropfen wie Honig oder bis in alle Ewigkeit an einem Punkt verharren, Amen. Zeit kann weinen, Zeit kann lügen.
Die Zeit, für den Moment, war damals, und Mommy war noch am Leben.
Ich liebe Mommys Haare.
Mommy (sie starb, bevor er alt genug war, um es zu »Mom« abzukürzen) hatte glattes braunes Haar, das ihr bis zur Taille reichte und glänzte, wenn das Licht im richtigen Winkel darauf fiel. Es rahmte das junge Gesicht einer Frau aus dem Mittelwesten ein, eins von den Gesichtern mit makelloser, sonnengebräunter Haut, ganz Pfirsich und Sonnenblumen und heißer Apfelkuchen. Kein Bedarf für Make-up – was gut war, weil Mommy sich nicht viel leisten konnte. Sie hatte große braune Augen, die ein bisschen zu alt aussahen, wenn man den Rest von ihr damit verglich.
Linda (so hieß sie für alle außer für David) hatte ein Lächeln, das auch den düstersten Tag erhellen konnte. Sie rauchte (Rauchen war damals noch nicht schädlich), und sie war jung und unsterblich, und ihre Zähne waren weiß und ebenmäßig, wenn sie lächelte. Sie konnte dieses Lächeln aus dem Nichts herbeizaubern, wie ein weißes Kaninchen aus einem schwarzen Zylinder, egal ob es ihr gut ging oder ob sie hungrig oder müde war. Sie konnte dieses Lächeln selbst dann zeigen, wenn sie sich wegen des Monsters sorgte, des gefürchteten Kein-Geld mit seinen spitzen Fängen.
Davids Vorstellung von Kein-Geld war eher verschwommen und anthropomorph (er war schließlich erst sechs), doch er wusste bereits, dass es etwas Schlimmes war. Er wusste, dass es der Grund dafür war, dass Mommy nachts manchmal weinte. Und Kein-Geld war auch der Grund dafür (wie er sich inzwischen zusammengereimt hatte), dass er kein normales Bett besaß.
Sein Bett bestand aus vier »Hähnchenkisten« – wachsüberzogene, doppelt verstärkte Pappkartons, in denen der Piggly-Wiggly-Supermarkt seine gefrorenen Hähnchen geliefert bekam. (Er erinnerte sich noch deutlich an jenen Tag, als er zu seinem Entsetzen herausgefunden hatte, dass Hähnchen in Wirklichkeit tote Vögel waren. Er hatte sich die Augen ausgeweint und seither keine Brathähnchen mehr angerührt. Tote Vögel! Igitt. Bäh.) Wie dem auch sei, Mommy hatte die Kisten hinter dem Supermarkt gefunden. Sie hatte sie mit nach Hause genommen, sorgfältig gereinigt, umgedreht und eine Navajo-Decke darüber gelegt. David schlief auf den Kisten. Mommy nannte es rustikal. Er wusste nicht, was rustikal bedeutete, doch es klang irgendwie nach Abenteuer und reizte die Phantasie des Sechsjährigen.
Kein-Geld bedeutete auch, dass Mommy, wenn David sie nach einem Schokoriegel fragte, »Heute nicht, Liebling« antwortete, »vielleicht nächste Woche«. Nur dass nächste Woche nie kam. Was gelindes Bedauern hervorrief, mehr aber auch nicht; es war keine große Sache. Mommy machte das Leben auch so süß und spannend genug.
»Geld kommt an zweiter Stelle, an erster kommt der Verstand.« Sie tippte ihn gegen die Stirn und dann gegen die Brust. »Die besten Dinge passieren hier, und hier. Verkauf sie nicht, weil du sie nicht zurückkaufen kannst.«
Sie hatten zwar kein Bett, aber sie hatten einen alten, ramponierten Plattenspieler. Mommy sagte, der Plattenspieler wäre total out, was David für sich als »magisch« übersetzte.
»Das Herz nimmt Musik in sich auf wie Zuckerbäckerei, Liebling. Und manchmal brauchen wir Zuckerbäckerei mehr als die Luft zum Atmen.«
Es waren Klischees, zugegeben, doch in Davids Erinnerung blieben sie weise, zum einen, weil Mommy diese Worte gesagt hatte, zum größten Teil jedoch, weil sie der Wahrheit entsprachen.
Mommy fütterte ihre Herzen regelmäßig mit Musik (vor allem, wenn sie nicht genug Geld hatte, um ihre Mägen zu füttern). Sie legte ein Album von den Beatles auf, und sie tanzten barfuß miteinander, oder sie legte ein Album von einem Mann namens Bob Dylan auf, und David ruhte in Mommys Armen, während sie die Lieder leise mitsang.
»Der hat aber keine schöne Stimme«, sagte David eines Tages.
»Muss er auch nicht haben, Liebling. Er ist Dylan.«
Er verstand zwar nicht, was sie meinte, aber Dylan konnte Mommy zum Lächeln bringen. Deswegen war Dylan für David ganz okay.
Mommys Lieblingsplatte war ein Album von Dylan. Es hieß The Freewheelin’ Bob Dylan. David dehnte das Freee Wheeelin’ immer. Es gefiel ihm, wie es auf der Zunge rollte. Das Albumcover zeigte ein Foto von Dylan Arm in Arm mit einer Frau auf einer verschneiten Straße. Beide lächelten. Das Bild wurde von einem Kaffeering verunziert. Manchmal fuhr Mommy mit dem Finger diesen Ring nach und lächelte verträumt.
»Warum macht dich das so fröhlich?«, hatte David sie einmal gefragt.
Sie hatte ihn kurz angeschaut, und dann hatte sie ihm ihr strahlendes Lächeln geschenkt. (Später, als Erwachsener, war ihm klar geworden, dass seine Mutter gewusst hatte, welche Ausstrahlung ihr Lächeln besaß, und dass sie es manchmal gezielt eingesetzt hatte, um sich auf diese Weise Vorteile zu verschaffen.) »Weil ich daran denken muss, wie der Fleck auf die Hülle gekommen ist, Baby. Ich war voll und ganz damit beschäftigt, dich zu machen, und ich hatte vergessen, dass mein Kaffeebecher noch auf der Plattenhülle stand.«
David begriff nicht, was sie mit »dich zu machen« meinte, und er fragte auch nie nach – er hatte so eine Ahnung, dass die Frage, ins helle Licht gerückt, eine ähnliche Wirkung hervorrufen könnte wie einen Singvogel einzufangen: Man hatte ihn zwar, aber er sang nie wieder.
Seine Lieblingsmusik war Janis Joplin. (Janis wurde übrigens immer beim Vornamen genannt, Dylan nur beim Nachnamen. David begriff den Grund dafür zwar nicht, akzeptierte aber die Unabänderlichkeit dieser Tatsache.)
Er fuhr total auf Janis ab, wie Mommy es auszudrücken pflegte. Janis war Davids Heldin. Mommy sang ihm Texte von Janis vor, damit er besser einschlafen konnte oder wenn er traurig war oder sich wehgetan hatte oder weinte. Little Piece of My Heart, leise, langsam und wunderschön (wundaschööön, hatte David gesagt, als er vier gewesen war, und dabei Mommys Gesicht mit seinen Fingern berührt).
Er hatte Janis sogar noch lieber als Yellow Submarine oder Jeremiah Was A Bullfrog (das er gerne sang, so laut er konnte, weil es Mommy aus irgendeinem Grund zum Kichern brachte, und abgesehen davon – was war überhaupt ein Bullfrog?).
Manchmal, in den kalten Monaten (wie diesem), legte Mommy Janis auf, und dann wickelten sie sich gemeinsam in Decken und saßen auf dem möbellosen Fußboden und lauschten den Songs. Mommy rauchte dabei und summte und schaukelte ihn, bis er in ihren Armen eingeschlafen war.
Als David älter war, hatte er häufig eine Vision von sich im Damals, schlafend, der Kopf in Mommys Armen nach hinten gefallen, umhüllt vom Gefühl vollkommener Sicherheit. Er sehnte sich nach jenem vergangenen Augenblick – wegen dieser Sicherheit. Alles bei Mommy bedeutete Sicherheit.
Der Boden in der Küche bestand aus gesprungenem Linoleum, im Wohnzimmer aus ramponierten Dielen. Beides hielt zwar die Kälte nicht ab, aber David schlief immer warm. Dafür sorgte Mommy. Manchmal aßen sie zum Frühstück, zu Mittag und zu Abend bloß Lyoner und Käse, aber sie versäumten nie eine Mahlzeit, dafür sorgte Mommy.
Irgendwie hatte er das alles Kein-Geld zu verdanken; deshalb war David nicht allzu böse auf Kein-Geld. Sie hatten Janis, sie hatten die Beatles, sie hatten Dylan, sie hatten zu essen und sie hatten einander. Er lachte viel. Er schlief tief und gut und war nie müde. Es fehlte ihm an nichts.
Inzwischen war wieder Weihnachtszeit, und Mommy hatte diesen Ausdruck im Gesicht. Sie machte sich Sorgen. Wahrscheinlich wieder wegen Kein-Geld. Sie trank ihren Kaffee und rauchte eine Zigarette, während David einen heißen Kakao hinunterstürzte. Es war kalt im Haus; sie konnten sehen, wie ihr Atem kondensierte. Unter dem Tisch summte ein Heizlüfter und wärmte Füße, die in zwei Paar Socken steckten. Mommys Blick schweifte in weite Fernen. Es gefiel David nicht, wenn sie so ruhig war.
»Was ist, Mommy?«
Sie zuckte zusammen. Ihre braunen Augen klärten sich. Der erste Blick, der David traf, war ein bisschen vorwurfsvoll, aber das war wegen dem Erschrecken. Bald wurde ihr Blick wieder weich, und sie setzte das Lächeln auf.
»Nichts, Süßer, gar nichts. Ich wünschte nur, wir hätten ein bisschen mehr Geld für Weihnachten. Ich würde dir gerne ein paar Geschenke kaufen.«
Er suchte nach Worten, um sie zu trösten.
»Vielleicht bringt mir der Weihnachtsmann eins?«
Sie lächelte und stellte ihre Tasse auf den Tisch. Der Tisch war klapprig und wacklig und aus dunklem Pinienholz und zerkratzt bis zum Gehtnichtmehr. Aber das war okay so. Der Tisch trug das Essen, und das war schließlich alles, was er tun sollte.
»Vielleicht, Honey. Hast du Lust, den Schmuck für den Baum zu basteln?«
»Au ja!«
Es war in Wirklichkeit gar kein richtiger Baum. Es war ein Zweig von einem Baum, den ein mitfühlender Nachbar Mommy gegeben hatte. Er war geformt wie ein Strichmännchen ohne Beine, die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt und den Kopf in der Mitte. Er sah aus, als würde er zu einer Umarmung auffordern. Jede Spitze war besetzt mit Büscheln von Tannennadeln. Mommy hatte einen Milchkarton gefunden, hatte ihn mit Steinen gefüllt und den Zweig mit dem unteren Ende hineingesteckt, sodass er aufrecht blieb. Er stand auf dem zerschrammten Boden gleich neben der Wohnungstür.
Mr. Muncie, der Vermieter, hatte den Weihnachtsbaum gesehen und spöttisch das Gesicht verzogen. »Raffinierter weißer Abschaum«, hatte er mit seiner vom Whisky rauen Stimme geschnaubt und dabei mit seinem vom Whisky geröteten Gesicht dreingeschaut wie der Beelzebub für ungezogene Kinder, als Mommy ihm das Geld für die Miete in die Hand gezählt hatte. David hatte ihr angesehen, dass sie böse war. Mr. Muncie war ein A-Loch. David wusste das, weil er es Mommy mal hatte sagen hören. Er war nicht sicher, was ein A-Loch war, doch irgendwie erschien es ihm klüger, nicht danach zu fragen.
»Was wollen wir hören?«, fragte Mommy jetzt.
»Abbey Road!«
»Gute Wahl.«
Sie suchte die Platte und legte sie auf. David hörte das Knistern und Knacken und das leise Pop, als die Nadel die Rille fand. Einen Moment später ertönte Abbey Road aus dem kleinen Lautsprecher. Janis war zwar seine Lieblingssängerin, aber Come Together war sein absolutes Lieblingslied. Feet down below his knees. Diese erhabene Feststellung des Offensichtlichen ließ ihn jedes Mal aufs Neue albern kichern. In seinen Augen war es schlichtweg genial.
»Du schneidest die Zeitungen, Honey, und ich schneide die Eierbecher aus den Eierkartons.«
»Okay, Mommy.«
Linda hatte während der letzten Tage einen kleinen Stapel Zeitungen gesammelt. David griff sich das Papier und eine Schere und setzte sich neben dem Plattenspieler auf den Boden.
»Ist dir kalt?«, fragte Mommy.
»Nein, alles prima.«
Er bot ein Bild der Konzentration, als er mit herausgestreckter Zunge die Zeitung in kurze, schmale Streifen zerschnitt, was ungefähr zehn Minuten in Anspruch nahm. Maxwell’s Silver Hammer endete und Oh, Darling fing bereits an, als er den Packen Papierstreifen nahm und zu seiner Mutter an den Tisch brachte.
»Gute Arbeit, Honey«, sagte Mommy und schenkte ihm ihr Lächeln. Er strahlte. »Und jetzt machen wir kleine Kringel daraus.«
Wollte man die Zeitungsstreifen zu Kringeln formen, musste man einen Stift nehmen und sie fest darumwickeln. Nach dem Abrollen blieben die Kringel. Linda und David verbrachten weitere zehn Minuten damit. Als sie fertig waren, war She’s So Heavy fast zu Ende.
»Jetzt stechen wir die Büroklammern durch ein Ende und hängen sie daran auf«, sagte Linda.
Sie hatte die Eierbecher aus dem Boden eines Eierkartons ausgeschnitten, sodass jeder einzelne zu einer Glocke aus Pappmaché wurde, wenn man ihn umdrehte – insgesamt zwölf, doch sie würden nur sieben davon benutzen. Linda nahm eine Handvoll Büroklammern und machte sich daran, den Draht gerade zu biegen, sodass am Ende kleine Haken blieben.
»Dreh die Platte um, Baby«, murmelte sie, als der letzte Song geendet hatte.
David legte die B-Seite auf und wartete, bis er die ersten Klänge von Here Comes The Sun hörte.
Linda war unterdessen fertig mit dem Biegen der Büroklammern. Nun begann sie, die Enden durch die Glocken aus Eierkarton zu stechen. Wenn eine Glocke fertig war, legte sie diese vor David auf den Tisch, und der Junge befestigte die gekringelten Papierstreifen am Haken im Innern der Glocke. Das Ergebnis war ein handgefertigter Christbaumschmuck, der mit der Glockenöffnung und den Papierstreifen darin nach unten am Baum befestigt wurde.
Als Linda mit dem Durchstechen der Kartons fertig war, half sie ihrem Sohn mit den Streifen. Sie redeten nicht viel, konzentrierten sich stattdessen auf ihre Arbeit. Polythene Pam ging über in She Came Through The Bathroom Window, gefolgt von Golden Slumbers.
Sie wurden fertig, als The End ausklang.
»Gutes Timing, Baby«, sagte Linda. »Und gute Arbeit.«
»Darf ich sie in den Baum hängen?«
»Na klar. Aber leg zuerst eine neue Platte auf, okay? Was sagst du zu Janis?«
David beobachtete, wie Mommy sich eine neue Zigarette anzündete, und für einen Moment schien die Zeit in ihrer kalten Wohnung stehen zu bleiben. In späteren Jahren würde er immer wieder versuchen, sich diese Sekunde zu erklären. Es war eine Kombination verschiedener Dinge, die in einem einzigen Augenblick aufrichtiger, ehrlicher, überwältigender Emotion zusammenkamen. David war nie so recht glücklich mit seinen Bemühungen, diesen Augenblick zu definieren. Letzten Endes gab er sich damit zufrieden, ihn folgendermaßen zu beschreiben:
Ich war überwältigt. Das ist das einzige und beste Wort dafür. Überwältigt von meiner Liebe zu ihr. Sie füllte mein Herz bis zum Überlaufen, und dann ergoss sie sich in meine Seele und noch weiter, ich weiß nicht, wohin. Ich erinnere mich undeutlich und bruchstückhaft, wie ich dachte, dass sie die schönste Frau auf Erden sei, und unglaublich klug, vor allem aber wusste ich mit absoluter und alles überstrahlender Gewissheit, dass meine Mutter mich über alles liebte.
»Leg Dylan auf, Mommy.«
Sie legte den Kopf schief und sah ihn an. »Ich dachte, du magst ihn nicht besonders?«
Er antwortete nicht. Stattdessen legte er Freewheelin’ auf den Plattenteller, senkte den Tonarm und wartete, bis die ersten Klänge von Blowin in the Wind einsetzten. Er spitzte die Ohren, und beinahe, beinahe hätte er es ebenfalls gespürt in jenem Augenblick – die Schönheit von Nur-Bob und seiner unschönen Stimme und seiner Gitarre und Sonst-Nichts. Es hatte etwas radikal Ehrliches.
David drehte sich zu Mommy und lächelte. »Ich hab dich lieb, Mommy. Frohe Weihnachten.«
David hatte ein Lächeln, das bis aufs Haar so gewinnend und überwältigend sein konnte wie das seiner Mutter. Nur wusste er das nicht; deshalb war er verwundert und ein bisschen bestürzt, als er den Schimmer in ihren Augen sah. Linda wusste sehr genau, wie ihre Tränen David bekümmerten, also überdeckte sie ihre Rührung mit einem Zug an ihrer Filterlosen und einem Schluck von ihrem heißen schwarzen Kaffee. Beides ließ ihre Augen wieder trocknen.
»Frohe Weihnachten, David.«
Er hängte den selbstgemachten Weihnachtsschmuck an den falschen Baum und war glücklich.
***
Als er mit dem Schmücken fertig war, hatte Dylan aufgehört zu singen. Linda nahm zwei Gläser vom Ablauf neben dem Spülbecken und einen kleinen Karton Eierlikör aus dem Kühlschrank. Sie hatte eine Decke vor dem Heizlüfter ausgebreitet, und nun setzte sie sich mit untergeschlagenen Beinen darauf.
»Ist jetzt die Zeit für Eierlikör, Mommy?«, fragte David.
Mommy antwortete nicht sogleich. Stattdessen liebkoste sie ihn mit Blicken, und ihr Herz schaukelte sanft. David lächelte sie an, und Linda kam nicht zum ersten Mal der Gedanke, dass ein solches Lächeln das unwiderstehlichste Argument zu leben war, das sie finden konnte. David nutzte jede Faser seines Körpers, um dieses Lächeln zu befeuern. Es war eine Batterie aus reiner Freude.
»Jepp. Dreh das Licht runter, Honey. Wir wollen so tun, als wäre der Heizlüfter unser Lagerfeuer.«
»Oh, ja, klasse«, sagte David.
Linda sah ihm hinterher, als er auf seinen weißen Socken durch den Raum schlurfte, und spürte einmal mehr, wie ihr das Herz aufging. Er war so klein und zerbrechlich und diese Welt so rau … und er war zugleich das wundervollste Wesen ebendieser Welt. Jedes Mal, wenn sie ihn ansah, fühlte sie sich in wenigstens zehn verschiedene emotionale Richtungen gleichzeitig gezogen, erfüllt von Liebe, Kraft, Angst, Wildheit.
Du bist die größte Herausforderung in meinem Leben, dachte sie, während sie beobachtete, wie David sich auf die Zehenspitzen stellte, um an den Schalter heranzukommen. Das ist meine Angst, Honey – ich mag bei allen möglichen Dingen versagen, aber ich kann nicht als deine Mutter versagen und mir hinterher noch in die Augen sehen.
David legte den Schalter um, und im Zimmer wurde es dunkel. Er kam zurück, und auf seinem Gesicht stand jener Ausdruck, der Linda verriet, dass er ein bisschen zu ernsthaft nachdachte für einen Jungen in seinem Alter. Nicht dass er unglücklich gewesen wäre oder introvertiert – es war eher so, wie es mal einer ihrer früheren Kollegen auf der Arbeit ausgedrückt hatte. Der Junge kann gehen und Kaugummi kauen zur gleichen Zeit. David dachte manchmal einfach nur deshalb über die Dinge nach, weil er schlau genug dafür war und die Gelegenheit dazu hatte.
Er wird intelligenter als du, sagte die Stimme der Wahrheit in ihr. Sie war weder zu laut noch zu leise, diese Stimme, weder billigend noch tadelnd. Die Stimme der Wahrheit richtete nicht über Gut oder Böse, richtig oder falsch, sondern schilderte die ungeschönte Realität. Die Fähigkeit zu akzeptieren, was die Stimme ihr sagte, war Lindas größte Stärke.
Diese spezielle Wahrheit (und sie war unbestreitbar, das sah Linda so klar und deutlich wie den bevorstehenden Tag) war eine Ermahnung, die sie mit wildem, brennendem Stolz erfüllte. Es war ein Gefühl, dass sie am liebsten durch die Stadt gerannt wäre und allen entgegengeschrien hätte: Er ist mein Sohn, und er ist etwas Besonderes! Habt ihr gehört? Er ist etwas ganz Besonderes!
Genau das hatte sie einmal getan – in einem Traum. Ihre Rufe und ihr Laufen hatten sie schließlich zu einer gesichtslosen weiblichen Figur aus Luft und Glas geführt. Linda hatte vor ihr gestanden, hatte geblinzelt, hatte nach irgendeinem Merkmal gesucht, um der Gestalt eine unverwechselbare Identität zu geben, hatte aber nichts finden können.
Ich habe einen Sohn, Mutter, hatte sie in ihrem Traum gedacht, an die Gestalt gewandt (weil sie nie ihre eigene Stimme zu ihrer Mutter hatte sprechen hören und keine Vorstellung hatte, wie so eine Stimme klang). Ich habe einen Sohn, und er ist etwas Besonderes, hörst du? Ich selbst mag nichts Besonderes sein, aber er ist es.
Ich weiß nicht, ob es für dich eine gute Nachricht ist, weil du mich geliebt hast, oder eine schlechte, weil du mich gehasst hast, aber es ist die Wahrheit, und ich dachte, du solltest es erfahren.
Die gläserne Gestalt hatte geschwiegen und sich nicht gerührt, bis Linda aufgewacht war.
Doch in den Stolz auf ihren Sohn mischte sich Furcht. Werde ich ihn eines Tages langweilen? Weil ich zu dumm bin und er so klug? Werde ich vielleicht sogar peinlich für ihn sein? Wird meine Herkunft zu deutlich durchschimmern, und werden seine Anrufe und seine Besuche zu Hause seltener und seltener?
Oder jener geheimste, beschämendste Gedanke von allen: Wird er mich bemitleiden?
»Eierlikör, Mommy.«
David kletterte in seinen »Mommy-Raum«, wie Linda ihn bei sich nannte: Hintern am Boden, Hacken angezogen, Steißbein an jenem Ort, dem er entschlüpft war, Hinterkopf an ihren Brüsten und die Rundung seines Rückens an jener Kurve, die Mutter Natur und die Liebe aus der Weichheit ihres Leibes für ihn geschaffen hatten.
Erschauernd spürte sie, wie jenes unglaubliche, unbeschreibliche Gefühl sie durchströmte, das Zentrum des Universums ihres Kindes zu sein, und sie ließ zu, dass es ihre Ängste davonspülte. Bald schon würde er seinem Mommy-Raum entwachsen sein, in mehr als einer Hinsicht – doch bald war nicht heute. Heute und jetzt wollte er Eierlikör.
Oh. Wow. Mann. Das war echt harter Zen-Stoff, okay, dachte Linda. Dann kicherte sie und klang – selbst in ihren Ohren – wieder wie das Mädchen, das noch immer den größten Teil von ihr ausmachte.
Das war eine weitere der Wahrheiten, die ihre innere Stimme nicht müde wurde zu betonen. In Wirklichkeit bist du noch gar nicht erwachsen.
Es war nie mehr als ein leiser, geflüsterter Gedanke, der sie zögern ließ, und sie musste sich jedes Mal zusammenreißen, um nicht mit einem schuldbewussten Ausdruck um sich zu blicken.
Das siehst du doch selbst, oder? Du hast diesen lebendigen kleinen Kerl, der nur dich als Stütze hat und glaubt, du hättest die ganze Welt erschaffen, eine Welt, die vollkommen sicher ist, und dass du die Antworten auf schlichtweg alles weißt. Dabei bist du selbst noch keine richtige Erwachsene. Du bist bloß ein Waisenkind, das es irgendwie geschafft hat, schwanger und Witwe zugleich zu werden. Ich an deiner Stelle würde mir vor Angst in die Hose scheißen.
Mission erfüllt, dachte sie zur Antwort und kicherte leise.
»Warum kicherst du, Mommy?«, fragte David.
»Nichts. Komm, Honey, ich geb dir einen Schluck Eierlikör.«
Linda hatte den Heizlüfter mitten ins Zimmer gestellt, und er brummte und glomm und wärmte sie beide, während sie aus den Bechern tranken. Linda hatte Davids Sparschwein geplündert, um den Eierlikör zu kaufen; beim Hineinschieben des neuen Schuldscheins war ihr aufgefallen, dass der Schein vom vergangenen Weihnachtsfest noch im Sparschwein lag. Aus irgendeinem Grund hatte sie das zum Lächeln gebracht, anstatt sie traurig zu stimmen. Manche Dinge waren verzeihlich in dem rauen, chaotischen Getümmel, das sich Leben nannte.
Linda war schon seit so langer Zeit entwurzelt, dass sie sich an dieses Gefühl gewöhnt hatte wie an eine zweite Haut. Wenn man keine Familie hatte, gab es auch keine Familientraditionen. Man lernte den Augenblick so zu genießen, wie er war, und zu essen, was einem vorgesetzt wurde. Doch am ersten Weihnachtsfest nach Davids Geburt war ihr ein zaghaft erhebender Gedanke gekommen: Du bist jetzt die Wurzel von jemand anderem.
Er hatte sie beinahe überwältigt. Sie hatte David in den Armen gehalten, hatte ihn sanft gewiegt, während sie aus dem Fenster geschaut und beobachtet hatte, wie der Tag verging und die Nacht heraufzog. Es war kalt gewesen, doch sie hatten nicht gefroren. Sie hatte den Atem ihres Babys kaum wahrnehmbar am Hals gespürt: Er ging im Takt eines unregelmäßigen Metronoms, das nur einem anderen lebenden Wesen gehören konnte. Diesmal war der Gedanke zurückgekehrt, ausgesprochen von ihrer inneren Stimme.
Ich habe einen Stammbaum begründet. In hundert Jahren von heute an können meine Urenkel zurückblicken und mich als den Punkt ausmachen, an dem alles begann.
Linda erinnerte sich, dass sie errötet war angesichts der Kühnheit dieses Gedankens und wie ihre Wangen gebrannt hatten. Doch das Erröten hatte weniger Macht über jene, die schon einmal ein Kind geboren hatten. Und der Gedanke verlor nichts von seiner Kraft; er blieb beharrlich. Sie schaute auf David hinunter, den Mund offen vor Staunen. Es war, als hätte sie in diesem Moment erkannt, dass die Schlüssel zum Paradies, die sie immer begehrt hatte, hier vor ihr lagen, in ihrer Küchenschublade.
Von diesem Augenblick an war dies der alles beherrschende Sinn ihres Lebens geworden, die treibende Kraft ihrer Existenz. Linda würde ihre Familie gründen. Sie und Thomas würden die Wurzeln eines neuen Stammbaums sein, und es würde keine Rolle mehr spielen, dass sie beide Waisenkinder gewesen waren und ungebildet und nicht allzu viel wert. Es würde keine Rolle spielen, dass Thomas losgezogen und in einem Krieg gestorben war, der seinen Tod so gesichtslos machte wie sein Leben. Es zählte nur, dass sie beide mutig genug gewesen waren, einen Versuch zu wagen, und dass aus dem Schmutz ihrer eigenen Existenz ein besseres Leben erwuchs.
Linda war nicht imstande gewesen, das alles in Worte zu fassen, nicht einmal in Gedanken. Sie wusste, dass es mit Würde und Selbstachtung zu tun hatte und mit einer Chance, ein bisschen Stolz aus einem Leben zu gewinnen, das sonst so bedeutungslos geblieben wäre wie ein Stein. Das genügte ihr. Es war mehr als genug. Ein unmöglicher Traum, der Wirklichkeit geworden war.
Eierlikör war die erste Tradition, die Linda für ihre neue Familie erschaffen hatte, und sie ließ sie niemals aus, kein einziges Mal. Nicht einmal, wenn sie dafür Davids Sparschwein plündern musste, und auch dann nicht, wenn sie ihm das Geld niemals zurückzahlen konnte.
Linda zog ihren Sohn fest an sich, während Janis Summertime kreischte. Sie liebkoste seinen Hinterkopf mit den Lippen.
»Du hast gesagt, am Lagerfeuer muss man Geschichten erzählen«, sagte David, wobei er den Hals verrenkte, um sie anzuschauen. »Stimmt’s, Mommy?«
»Nun ja, es ist eine Tradition, Liebling. Und was sagen wir über Traditionen?«
»Sie machen uns ein… einig…«
»Einzigartig, Baby.« Linda lächelte. »Es bedeutet, dass man ohnegleichen ist.«
David runzelte die Stirn. »Ich denke, wir sind auch so ohnegleichen, Mommy.«
Er ist klüger als du, intonierte die innere Stimme. Linda seufzte in behaglicher Resignation.
»Welche Geschichte möchtest du gerne hören, Liebling?«, fragte sie.
David entspannte sich und ließ den Kopf wieder gegen ihre Brust sinken. »Erzähl mir die Geschichte über meinen Daddy.«
Sie schloss die Augen und lächelte. »Das ist auch eine von meinen Lieblingsgeschichten.«
David hatte sie bereits unzählige Male gehört, aber irgendwie wurde er sie niemals müde. Vielleicht, weil die Erinnerungen seiner Mutter alles waren, was er von seinem Vater hatte. Die Erinnerungen und ein kleines Foto von einem achtzehnjährigen Jungen, zu blond und babygesichtig, um als ernsthafter Kandidat für das Prädikat »Mann« zu gelten.
»Dein Daddy und ich, wir haben uns im Waisenhaus kennengelernt, erinnerst du dich?«
»Ja.«
»Wir waren sechzehn, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Ich war seit einem Jahr dort, als dein Daddy auftauchte. Er war ein dünner Hering, so wie du, mit blondem Haar, klein, aber wow – er hatte eine umwerfende Ausstrahlung.«
»Er hatte eine Narbe an der Schulter.«
»Du hast ein gutes Gedächtnis. Ja. Er hatte eine Narbe an der Schulter.« Linda lächelte in der Erinnerung. »Es war 1966, aber dein Daddy hatte mit den Hippies nichts am Hut. Er rieb sich das Haar mit Pomade ein und kämmte es zurück, und er trug ein weißes T-Shirt mit einem Päckchen Lucky Strikes im Ärmel. Das T-Shirt steckte in einer Jeans, und dazu trug er abgewetzte Cowboystiefel, mindestens zwei Nummern zu groß für ihn und total ausgelatscht. Aber sie stammten von deinem Großvater, deswegen wollte dein Daddy keine anderen Schuhe haben.«
»Und das Kreuz. Stimmt’s, Mommy?«
»Stimmt. Ein wunderschönes silbernes Kreuz, das seiner Mommy gehört hatte. Er trug es um den Hals. Am ersten Tag im Waisenhaus versuchten zwei der größeren Jungs, ihm das Kreuz wegzunehmen. Sie schlugen ihn windelweich, aber er wehrte sich aus Leibeskräften, und sie bekamen es nicht. Sie hätten ihn umbringen müssen, um das Kreuz zu bekommen.«
Sie berührte das Kreuz, das die Army ihr geschickt hatte, zusammen mit seinen restlichen Habseligkeiten. Die Stiefel waren verschwunden. Die Hundemarke hatte sie in einer von Wut befeuerten Nacht in den Müll geworfen. Das Kreuz aber hatte sie behalten. Zu manchen Zeiten hätte sie das wenige Geld gut gebrauchen können, das sie beim Pfandleiher dafür bekommen hätte, doch sie würde eher ihren eigenen Körper verkaufen als dieses Kreuz. Das Kreuz, das Foto, die mit einem Kaffeekranz verzierte Plattenhülle von Freewheelin’ und ihr Sohn waren alles, was Linda von ihrem Mann geblieben war. Es waren seine Spuren auf dem Antlitz der Erde.
»Dein Daddy und ich waren so gegensätzlich, wie man nur sein kann, Honey, aber manchmal – meistens sogar – ziehen Gegensätze sich an. Ich war traurig, er war wütend, und wir fanden einander.«
Sie erzählte die Geschichte in einfachen Begriffen. Es war besser, in breiten Pinselstrichen zu malen, wenn man mit einem Sechsjährigen redete. Die Wahrheit war einfach, aber sie schlummerte unter Schichten voller Erinnerungen, die übereinander lagen und sich vermischten wie die Blätter im Herbst, die auf die Erde des Sommers fielen und noch an die Wärme der Sonne erinnerten, während der Boden sich bereit machte, unter einer Decke aus Schnee zu schlafen.
Thomas Rhodes, Davids Vater, war ein halsstarriger Kerl von unnachgiebiger Härte gewesen, doch wenn er Linda berührt hatte, dann immer sanft wie der Wind. Sie hatte ihn niemals weinen sehen, doch er liebte das Lachen, und er konnte sich in aller Ausführlichkeit artikulieren. Er hatte die klarsten blauen Augen, die Linda je gesehen hatte, und was sie betraf, war es Liebe auf den ersten Blick gewesen.
»Daddy hat Elvis gemocht, stimmt’s, Mommy?«
Sie lächelte. Da war sie, eine weitere dieser dünnen Schichten. »Daddy mochte Elvis, Mommy mochte Dylan, und wir liebten einander genug, um unsere Musik zu teilen. Dein Daddy konnte gut mit Worten umgehen, und ihm gefiel Dylans Poesie. Deine Mommy tanzt gerne, und deswegen fand ich Elvis gar nicht schlecht, weißt du? Wir tanzten zu Elvis und küssten uns zu Dylan. Es funktionierte prächtig.«
Noch mehr unausgesprochene Worte. Tanzten zu Elvis und küssten uns zu Dylan – die Wahrheit, aber nicht die ganze Wahrheit. Thomas hatte ihr den Plattenspieler, auf dem sie jetzt mit ihrem Sohn Musik hörte, zum Geburtstag geschenkt. Mit siebzehn waren sie beide aus dem Waisenhaus abgehauen. Man hatte nicht allzu angestrengt nach ihnen gesucht – schließlich waren beide fast volljährig gewesen, und Jungen wie Thomas wurden fast täglich nach Vietnam verschifft, und deshalb …
Er war mit dem Plattenspieler und einer einzigen Platte aufgetaucht: The Freewheelin’ Bob Dylan.
»Ich konnte dir keinen Kuchen besorgen«, hatte er gesagt. »Aber das hier sollte wohl reichen, stimmt’s?«
Es war eine unglaubliche Untertreibung gewesen. Sie hatte gekreischt wie ein junges Mädchen (das sie damals war), hatte ihn umarmt und geküsst, und er hatte zufrieden gelacht und ihr einen Schmatz auf die Stirn gedrückt. Das war noch so eine Sache, die sie an Thomas geliebt hatte – seine Lippen. Wow. Sie konnten so sanft küssen, konnten stumm »Ich liebe dich« sagen, konnten sie heiß machen, wenn sie nackt war und dabei immer noch »Ich liebe dich« sagen, wenn auch auf eine andere, rauere Art. Seine Lippen konnten ihr eine Gänsehaut einjagen.
Der billige Plattenspieler wurde zu einem Zentrum der Glückseligkeit in ihrem Leben. Die Sommer in Texas waren glühend heiß, und einer der seltenen kalten Winter konnte Schnee und Eis bringen. Sie beide waren so arm, wie nur junge Leute es sein konnten, aber sie hatten die Musik, und sie hatten einander.
In den kalten Monaten liebten sie sich in Pullovern, unter der Decke, begleitet von Dylan. Im Sommer tanzten sie nackt zu Elvis. Sie liebten sich auf den Laken in diesen schwülen Nächten, verschwitzt, noch bevor sie angefangen hatten. Aus irgendeinem Grund waren diese sommerlichen Liebesnächte begleitet von Lachen. Und hinterher schlief Linda regelmäßig ein, während sie dem Gesang der Grillen lauschte.
»Erzähl mir, wie ihr mich gemacht habt, Mommy.«
Sie lächelte und küsste ihn auf den Kopf. Der Heizlüfter summte.
»Es war im Sommer. Es war ein furchtbar heißer Tag. Dein Daddy und ich wären vor Hitze fast gestorben. Wir hatten überlegt, nach Barton Springs zum Schwimmen zu fahren, aber es war einfach zu heiß, verstehst du?«
David verstand sehr gut. An manchen Tagen war es besser, sich nicht zu bewegen.
»Ich zog trotzdem meinen Badeanzug über. Dein Daddy hatte nur drei Dinge an. Das Kreuz um den Hals, eine Unterhose und …«
»… diese verdammten Cowboystiefel!«, krähte David voller Entzücken, wobei er den Satz für sie beendete.
»Genau. Ich sagte ihm, er wäre verrückt und dass seine Füße ohne die Stiefel viel kühler wären. Er erwiderte, es wäre so heiß, dass wir vielleicht sterben müssten, und er wollte in seinen Stiefeln sterben, so wie ein Cowboy.«
»Aber ihr habt Glück gehabt, Mommy, nicht? Es fing an zu regnen.«
»Genau.«
Es hatte nicht einfach angefangen zu regnen. Der Himmel war förmlich explodiert vor Wasser. Gott hatte mächtig Druck auf der Blase gehabt, wie sie als Kinder zu sagen pflegten. Unwetter in Texas eben. Im einen Moment war der Himmel noch wolkenlos, und es war heißer als im Arsch des Teufels, und kaum hatte man zweimal geblinzelt, schüttete es in donnernden Strömen, manchmal so schlimm, dass man keinen Meter weit sehen konnte. Autos hielten am Straßenrand, weil das Wasser so hoch stand, dass man unmöglich fahren konnte.
Linda und Thomas hatten auf der Matratze gelegen. Die Haustür hatte offen gestanden, die Fliegentür war geschlossen gewesen, damit ein bisschen Wind durch die Wohnung gehen konnte. Es war heiß gewesen, schwül und still. Selbst den Grillen schien es zu heiß gewesen zu sein.
Thomas hatte seine enge weiße Unterhose getragen und diese infernalischen Cowboystiefel. Linda hatte ihren grünen Bikini angehabt, den mit den hässlichen Blumen darauf. Sie hatten an die Decke gestarrt, nicht ganz unglücklich, und versucht, sich nicht zu rühren, um die unheilige Hitze irgendwie zu überstehen.
Das war der Moment gewesen, als es gekracht hatte. Ein gewaltiger Donnerschlag, und beide waren zusammengezuckt. Dann war Wind aufgekommen. Alles war ein bisschen dunkler geworden, als die Wolken heranzogen, und Augenblicke später hatte der Regen eingesetzt.
»Gott sei Dank!«, hatte Thomas gejauchzt, war aufgesprungen und zur Tür geschlurft, um einen Blick nach draußen zu werfen.
Linda hatte sich auf den Bauch gedreht, um ihm hinterher zu schauen – und in diesem Moment stockte ihr der Atem. Es war einer jener Augenblicke gewesen, die man nie vergisst, ein Geschenk Gottes vielleicht, der wahrscheinlich gewusst hatte, dass er ihr Thomas schon bald wieder nehmen würde. Vielleicht hatte Gott ihr etwas geben wollen, an das sie sich immer erinnern konnte. Ein Bild, zu einzigartig, um jemand anderem zu gehören.
Was Linda sah, war dies: Thomas, der im Eingang stand. Er lehnte mit dem erhobenen linken Unterarm am Türrahmen. Sein Körper war entspannt, auf eine Weise, die feminin und maskulin zugleich wirkte. Sein rechter Arm hing locker herab, und sein Rücken war noch nass vor Schweiß. Die Cowboystiefel saßen viel zu weit an seinen dünnen, haarigen Unterschenkeln. Seine Brust war nahezu haarlos, und er hatte ein Gesicht wie ein Baby, doch von der Taille an abwärts war er ein Bär. Draußen vor der Fliegentür prasselte der Regen herunter, als wäre das Ende der Welt gekommen. Und dann kam der Wind, den Linda so herbeigesehnt hatte. Sie spürte, wie sich auf ihren Armen eine Gänsehaut bildete.
Und Thomas stand da, gerade mal achtzehn Jahre alt, und sein Anblick hatte ihr den Atem verschlagen. An diesem Tag sah sie zum ersten Mal den Mann, der aus ihm werden würde. Nicht der größte, aber auch nicht der kleinste. Nicht ausgesprochen muskulös, eher drahtig, aber kräftig. Kein attraktives Gesicht, aber nett oder besser: niedlich. Unvollkommen vollkommen, und er gehörte ihr, und er würde aufrichtig sein und ehrlich und sie lieben bis ans Ende seiner Tage.
»Komm her, Dummerchen«, hatte sie gesagt. »Bevor du die Nachbarn erschreckst.«
Er hatte den Kopf nach ihr umgedreht und sie angelächelt. Dann war er zu ihr gekommen, mit schlurfenden Stiefeln, und das Bild des Mannes war verflogen, vertrieben vom Albernen, Lächerlichen. Linda hatte kichern müssen. Thomas war stehen geblieben und hatte in gespielter Empörung die Stirn gerunzelt, während er sich breitbeinig, die Fäuste in die Hüften gestemmt, vor ihr aufgebaut hatte.
»Worüber lachst du jetzt schon wieder?«
Natürlich hatte er genau gewusst, was so lustig war, und aus irgendeinem Grund brachte seine Bemerkung Linda dazu, noch alberner zu kichern. Er schüttelte drohend den Finger.
»Wag es ja nicht, Missy, niemals, unter gar keinen Umständen, über die Stiefel eines Mannes zu lachen. Ist das klar? Weißt du das denn nicht?«
Ein Donnerschlag rollte durch die Straße – Gott als Stichwortgeber, vermutlich –, und Linda verlor völlig die Kontrolle über sich und japste nach Luft, während ihr Ehemann befremdet auf sie hinunterstarrte.
»Aufhören!«, bettelte sie und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Hör auf, sonst mach ich mir in die Hose!«
Er hatte sich grinsend neben ihr auf die Matratze fallen lassen.
»Wir sollten jetzt das Gras rauchen«, hatte er vorgeschlagen. »Der Regen vertreibt den Geruch schnell wieder. Was meinst du?«
Sie hatte gegrinst. »Hört sich gut an. Aber zuerst brauche ich einen Kaffee.«
Sie liebte Kaffee zum Marihuana. Warum, wusste sie nicht.
Thomas hatte den Kaffee gekocht und ihr einen Becher gebracht. Sie trank vorsichtig, während er den Joint drehte. Es war kein besonders guter Shit gewesen (sie konnten sich nichts Besseres leisten), doch es hatte zum Tag gepasst. Es war ein Samstag, und die höllische Hitze war reinigendem Regen und angenehmer Kühle gewichen. Wenn es so stark regnete, entstand eine Atmosphäre der Abgeschiedenheit und Intimität, und so hatten sie beide das Gefühl gehabt, die einzigen Menschen auf der Welt zu sein.
Thomas hatte den Joint angesteckt, tief inhaliert und dann an Linda weitergereicht, und auch sie hatte einen tiefen Zug genommen. Von dem beißenden Rauch hatte sie husten müssen. Thomas zog ihr den Joint aus den Fingern, während sie um Luft rang.
»Vorsichtig, Miss Leichtgewicht«, hatte er sie geneckt.
Linda hatte ihm hustend auf den Arm geboxt. Dann war eine angenehme Leichtigkeit über sie gekommen.
Gras machte sie immer scharf. Sie hatte ihm einen erwartungsvollen, leicht hungrigen Blick zugeworfen, der ihm völlig entgangen war. Sie hatte gewusst, was unter den engen weißen Unterhosen lockte, und sie hatte es gewollt. Sofort. Sie war aufgesprungen und hatte den Bikini mit zwei raschen Bewegungen abgestreift. »Tadaaah!«, hatte sie gerufen und dann wieder gekichert. Und Thomas hatte ihr hinterher gegafft, als sie zum Plattenspieler getanzt war, um Freewheelin’ aufzulegen.
Sie hatte sich zu ihm umgewandt, noch nicht ganz Frau in den Augen der Welt, doch mehr als genug Frau für Thomas. In gewisser Hinsicht fast schon zu viel.
»Zieh deine Stiefel aus, Cowboy«, hatte sie gegurrt. »Entweder sie oder ich.«
Er hatte die Stiefel in einer schnellen Bewegung in eine Ecke getreten. Dann hatte er da gesessen, stiefellos, und sie mit einer Mischung aus Lust und Liebe angestarrt, die ihr Herz schneller schlagen ließ, noch während das Marihuana mehr und mehr ihren Verstand benebelte.
»Verdammich«, hatte er heiser geflüstert. »Weißt du eigentlich, wie schön du bist, Linda?«
Von einer Sekunde zur anderen war sie wieder schüchtern gewesen, war von Kopf bis Fuß errötet. Sie hatte die Plattenhülle noch in der Hand gehalten und benutzte sie nun, um ihre Blöße zu bedecken, als sie zum Bett zurückhuschte.
»Nein, setz dich noch nicht«, hatte er gesagt. »Ich möchte dich noch länger angucken.«
»Thomas …«
»Bitte, Honey. Ich möchte dich so in Erinnerung behalten.«
Sie war so unsicher und nervös gewesen wie noch nie im Leben, doch nach einem Blick in seine Augen war alles verflogen. Es waren wieder die Augen eines Mannes, und sie versprachen Sicherheit. Sicherheit bis ans Ende seiner Tage.
Linda hatte das Album fallen lassen und sich hingestellt, wie er es gewollt hatte. Sie war immer noch schüchtern, doch sie hatte keine Angst mehr. Er streckte die Hand aus und streichelte ihre linke Hüfte. Ja, sie erinnerte sich ganz deutlich daran. Manchmal, in den einsamsten Nächten, konnte sie die Berührung beinahe spüren.
»Komm her«, hatte er geflüstert.
Linda konnte sich später nicht erinnern, wie der Kaffeebecher auf dem Album gelandet war. Sie hatten sich bei offener Tür geliebt, nur geschützt durch den Regen. Sie hatte das Marihuana in seinem Atem gerochen, ein schwacher Duft wie von einem exotischen Parfum. Draußen heulte der Wind, während drinnen Dylan von einem Traum gesungen hatte, von einer Zugfahrt nach Westen und von Tagen, die nie wiederkehren würden. Das Einzige, woran Linda sich sonst noch deutlich erinnerte, war die Gemüsesuppe, die sie an jenem Abend gegessen hatten.
Ziemlich genau neun Monate später war David zur Welt gekommen, und drei Monate nach Davids Geburt war Thomas in Vietnam gefallen.
Das alles erzählte sie David natürlich nicht. Stattdessen bekam er die kurze, freundliche Version zu hören: »Der Regen kam, Honey, und hat dich mitgebracht.« Sie küsste ihn auf den Kopf. »So. Und jetzt lass uns schlafen gehen. Morgen gibt’s Geschenke und Pfannkuchen und einen Film.«
David antwortete nicht. Er kuschelte sich noch enger an sie und beobachtete die in der Dunkelheit rot glühenden Metallfäden des Heizlüfters.
Die Welt war sicher, und er wurde geliebt, und das war alles, was er sich wünschte.
***
Der Weihnachtsmorgen im Internationalen Pfannkuchenhaus war wie immer seinen himmlischen Versprechungen gerecht geworden. Sie waren gleich nach dem Auspacken der Geschenke hingegangen (David hatte eine Pistole und eine Rolle Zündplättchen bekommen, was er mit großen Augen und einem jauchzenden »Wie cool ist das denn!« quittierte) und hatten magenerweiternde Mengen von Waffeln mit unterschiedlich aromatisiertem Sirup und Schlagsahne vertilgt. Es war eine Weihnachtstradition und eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen Kein-Geld ein verbotenes Wort war.
»Mund auf, kauen, schlucken. Achtung, Magen …«
»Hier kommt die Ladung!«, hatte David voller Begeisterung den Satz beendet.
Sie waren zu Fuß gegangen (das Restaurant war nur zehn Minuten von ihrem Zuhause entfernt). Die Temperaturen bewegten sich knapp über dem Gefrierpunkt, doch es ging kein Wind; deshalb war es einigermaßen erträglich. In der Nacht hatte es gefroren, und die Bürgersteige waren glatt, auch wenn das in Central Texas nicht lange so blieb: Dies war das Land der Hitze und der unerträglichen Schwüle. Der Winter kam nur, weil er eine Jahreszeit war, aber er konnte sich selten festsetzen, schon gar nicht hier in Austin.
Hinterher waren sie zum Kino gegangen. Sie wollten sich Blazing Saddles – Der wilde Wilde Westen ansehen, von dem Mommy gesagt hatte, es wäre eine Mischung aus Western und Comedy. David konnte sich nichts darunter vorstellen, war aber fasziniert.
»Wie geht es dir, Baby? Fühlst du dich gut?«
»Ganz toll, Mommy.«
»Waren die Waffeln okay?«
»Super!«
»Bereit für den Film?«
Er wollte gerade antworten und hatte den Mund bereits geöffnet, doch plötzlich, ganz plötzlich hielt Mommys Hand die seine nicht mehr. Er spürte einen Windstoß und hörte ein schreckliches (schreckliches) fleischiges Geräusch zusammen mit einem hohen Quietschen. Es war die Art von Quietschen, wie ein Luftballon sie erzeugt, wenn man die Luft aus dem zusammengepressten Mundstück entweichen lässt. Etwas Nasses landete spritzend auf seiner Wange. Er hörte das Knirschen von berstendem Glas und einen dumpfen Schlag. Dann war nur noch Stille.
Der Augenblick der Stille dehnte sich, bis er sämtliche stillen winterlichen Augenblicke der letzten hundert Jahre umfasste. Die Sonne schien unverändert weiter, doch ihr Licht war sinnlos und vergeudet, weil alles schlief.
Sie waren auf dem Bürgersteig gegangen, in der gleichen Richtung, in die der Verkehr strömte. Mommy ging immer auf der rechten Seite und hielt Davids rechte Hand in ihrer linken, sodass sie näher am Bordstein war als er. David tastete nach Mommys Hand und berührte Metall. Verwirrt drehte er den Kopf und sah, dass er den rechten vorderen Kotflügel eines grünen 72er Cadillac DeVille Coupé berührte. Der Scheinwerfer war gesprungen, der Kotflügel verbeult (aber nicht allzu sehr). Auf der Stoßstange war Blut. Es tropfte auf den Bürgersteig. Die Vorderreifen standen ebenfalls auf dem Gehsteig, und da stand nun auch der Wagen mit rumpelndem, heißem Motor.
David hatte den Augenblick Millionen Male durchlebt. Er hatte ihn analysiert wie jemand, der einen Filmstreifen kontrolliert, Bild für Bild. Irgendwann wurde ihm klar, dass er es irgendwie gewusst hatte, gleich in dem Moment, als der Wagen seine Mutter gerammt hatte. Jeder benommene Augenblick, der danach kam, war ein vergeblicher Versuch, es ungeschehen zu machen, es nicht zu wissen. Sie nicht sterben zu lassen.
David starrte auf seine Hand am Kotflügel. Sie war seine ganze Welt. So sehr, dass er nicht eine Sekunde daran dachte, einen Blick auf den Fahrer zu werfen. Dann heulte der Motor auf, und der Wagen schoss ein Stück zurück. Er stoppte (schaukelte, rumpelte dabei, wie David sich deutlich erinnerte), beschleunigte mit kreischenden Reifen und war verschwunden. David sah ihm hinterher, bis er in der Ferne verschwand, die Hand immer noch in der Luft, genau an der Stelle, wo er den Kotflügel berührt hatte.
Die Stille kehrte zurück, der Moment dehnte sich.
David drehte sich um.
»Mommy?«, fragte er zaghaft.
Das Blut auf dem Bürgersteig, jene purpurne Flüssigkeit, die von der Stoßstange getropft war, fiel ihm ins Auge. Es sah aus wie der nach Kirschen schmeckende süße Sirup, in dem er seine Waffeln vor nicht einmal einer halben Stunde ertränkt hatte. Kirsch war immer sein Lieblingssirup gewesen, doch nach diesem Tag nie wieder.
Dann endlich sah er sie, und der lautlose Moment dauerte noch eine Sekunde länger – wie ein Wassertropfen, der sich anschickt, von einem Hahn zu fallen. Sie lag fast drei Meter weiter, auf dem Rücken. Die Schuhe waren ihr von den Füßen gerissen worden. Ihr rechter Arm lag unter ihr, grotesk verdreht. Ihr linker Arm war am Ellbogen in rechtem Winkel weggebogen. Sie hatte eine Jeans getragen; der Aufprall hatte die Hosenbeine unterhalb der Knie zerfetzt. Ihr Kopf war zur Seite gedreht, sodass die Wange auf dem kalten, nassen Pflaster lag. Ihre Augen waren geöffnet, so viel konnte David sehen. Sie atmete noch, doch es war ein unregelmäßiges, rasselndes Geräusch, das nicht mehr von selbst kam, sondern mühsam und von Willenskraft gesteuert.
Der Moment endete, und die Stille mit ihm.
»Mommy!«, kreischte er.
Er rannte zu ihr, so schnell, dass er das Gleichgewicht verlor, der Länge nach hinschlug und sich die Hände aufschrammte, doch er sprang sofort wieder auf und lief weiter. Er wusste nicht, dass er sie nicht bewegen, nicht einmal berühren sollte, er wusste nur, dass er sie irgendwie in die Arme nehmen musste, sonst wäre alles verloren, alles, alles.
»Mommy!«, kreischte er noch einmal.
Er wand sie in seine Arme (winden war das richtige Wort, das einzig passende Wort – in seinen späteren Jahren, als er Schriftsteller geworden war, hatte er diese Wahrheit längst verinnerlicht, eine Art Naturgesetz – dass es manchmal tatsächlich nur ein einziges Wort für etwas gab, egal was es war). Der grausig verdrehte Arm lag noch immer unter ihrem Rücken, doch jetzt ruhte ihr Kopf in seinem Schoß. Sie weinte. Keine dünnen, schnellen Tränen, sondern fette, langsame, die die Kehle füllten und Rotz in die Nase brachten. Die Tränen vermischten sich mit dem Blut, das schäumend aus ihrem Mund troff, während sie diese furchtbaren, schnaufenden Atemzüge tat. Doch vor allem anderen, klar und deutlich, würde er sich immer an den fehlenden Schneidezahn erinnern. Irgendwie hatte sie bei dem Aufprall einen Schneidezahn verloren. Wo der Zahn hätte sein sollen, war nur noch ein Loch.
»B-b-baby«, schnaufte sie. Es klang, als würde Luft aus einem Reifen entweichen.
Sie sah ganz komisch aus. Ihre Hüften waren zu flach, und eine Seite ihrer Brust war eingesunken. Und überall war Blut, so viel Blut …
»Mommy?«
Es war zu einer Frage geworden, jetzt schon. Irgendetwas in ihm wusste.
»Honey …« Einatmen, ausatmen. »Estutmirsoleid …« Einatmen, schnaufend, rasselnd, ausatmen. »Nicht nicht nicht …« Einatmen, mühsamer jetzt, ausatmen. »Soleidsoleid … ich wollte nicht …«
Einatmen.
Lindas letzter Gedanke: Wer wird sich jetzt um meinen wundervollen Stammbaum kümmern?
Danach: nichts mehr außer dem grauen Winterhimmel in ihren Augen. David sah das Grau kommen, sah, wie sie ging. Spürte, wie er selbst davonflog.
Mommy starb an jenem Tag, würde er später schreiben. Sie starb, und sie nahm die Sechzigerjahre und meine Unschuld mit. Ich habe seit damals nie wieder Dylan gehört. Scheiß auf ihn und seine hoffnungsvolle Poesie. So ist die Welt nicht, Bob. Du solltest dich schämen, dass du versuchst, uns etwas anderes weiszumachen.
Aber das war es nicht, was er damals dachte. Weil das Leben so nicht funktioniert. Im wirklichen Leben finden dich die schlechten Nachrichten (die wirklich schlechten) auf der Toilette, mit heruntergelassenen Hosen, oder mitten in einem Lacher über einen guten Witz. Sie kommen wie ein Vorschlaghammer, und sie hinterlassen Zusammenhanglosigkeit. Wenn sich ein Gedanke formt, ist er ein großer, gestrandeter schwarzer Wal aus Schmerz und Kummer, und solche Gedanken sind wie dazu geschaffen, zu Geistern zu werden, die einen heimsuchen.
Der Gedanke, der in David aufstieg, nahm ihm alle Sicherheit.
Nie wieder werde ich so sehr zu jemand gehören wie zu Mommy gestern Nacht vor dem Heizlüfter.
Als sie schließlich kamen, um ihn von ihr wegzuziehen, wand er sich und kreischte und zappelte und biss einen der Sanitäter in die Hand. Sie gingen trotzdem sanft mit ihm um. Er schrie, tobte und verdrehte die Augen in den Höhlen wie jemand, der den Verstand verloren hatte. Sie ließen ihn toben, ohne böse zu werden, und redeten beruhigend auf ihn ein, während sie seinen Schlägen und Tritten auswichen. Mancher Wahnsinn ist universal. Jeder Mensch weiß tief im Innern, dass es einen Kummer gibt, der zu groß ist, zu überwältigend, um ihn ertragen zu können.
Irgendwann erlahmten seine Kräfte. Er richtete den Blick zum grauen Himmel und schrie wie besessen »Mommy! Mommy! Mommy!«, wieder und immer wieder, mit weißen Augen, bis er heiser war. Er hielt inne, um Luft zu schöpfen, und sein Blick fiel erneut auf ihre leeren Augen. Alle Kraft und aller Zorn wichen aus ihm, und er sank in die Knie.