Der menschliche Kosmos - Immo Sennewald - E-Book

Der menschliche Kosmos E-Book

Immo Sennewald

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Beschreibung

Das Schicksal des Menschen ist der Mensch. Und da die Welt immer enger wird und sich immer rasanter verändert, kann niemand mehr Konflikten zwischen Konzernen, Kulturen und Ethnien, Religionen und sozialen Schichten ausweichen. Im Zeitalter der Globalisierung zeigt sich aber auch, dass Konflikte überall nach ähnlichen Mustern ablaufen - auch die zwischen den Geschlechtern, zwischen Eltern und Kindern, Vorgesetzten und Angestellten. Was tun wir mit Gefühlen, die wegen unvereinbarer Ziele, ungleich verteilter Ressourcen und verletzter Rechte aufbranden? Münden sie unvermeidlich in Exzesse von GEWALT - MACHT - LUST? Ein Wandel des Bildes vom Menschen in seinem Denken und Handeln ist unausweichlich - er hat schon begonnen. Der Physiker, Journalist, Schriftsteller und Medientrainer Immo Sennewald spürt diesem Wandel nach. Er findet in unserem alltäglichen Umgang universelle Wirkprinzipien: den großen Kosmos im kleinen. Mit diesen "Fundsachen" sowie praktischen "Übungsstückchen" hilft er Leserinnen und Lesern, eigene originelle Strategien zu entwickeln - zwischen Kinderzimmer und Weltpolitik.

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Der menschliche Kosmos

Gefühle - Konflikte - Strategien

Immo Sennewald

eBook EPUB: ISBN 978-3-96285-157-6

1. Auflage 2020

Erweiterte und vollständig überarbeitete Neuausgabe.

Copyright © 2020 by Salier Verlag, Leipzig und Immo Sennewald, Baden-Baden

Alle Rechte vorbehalten.

Die Originalausgabe erschien 2006 im Salier Verlag.

Lektorat: Hans-Jürgen Salier/Bastian Salier

Covergestaltung: Christine Friedrich-Leye, Leipzig

Titelbild: Albrecht Altdorfer, Alexanderschlacht (Schlacht bei Issos), 1528/29, Öltempera auf Lindentafel, 158 x 120 cm, © bpk/Bayerische Staatsgemäldesammlungen

Herstellung: Salier Verlag, Bastian Salier, Bosestr. 5, 04109 Leipzig

www.salierverlag.de

Inhalt

Vorwort in eigener Sache - aber nicht nur

Einleitung

1. Die Lust am Quälen und die Widerstandskraft der Banane gegen die Frage „Warum“

2. Die Erschaffung des An-Gestell-ten

Die „Verwertung“ der Persönlichkeit. Alte und neue Existenzängste. Wie Menschen zu Kugelschreibern werden.

Dimensionen und Dynamik der Macht – ein Exkurs

3. Die Entdeckung und Verstellung des Körpers.

Antizipation. Wie durch „Objektivität“ dem Leib die Seele und dem Diskurs der Sinn ausgetrieben wird. Die wortlose Weltsprache und das Elend der Schulen.

4. Mir nützt, was anderen schadet – das egozentrische Weltsystem

5. Sozialstaat und Gestell - ein Exkurs über systematische Fehler

Exkurs: Wie und weshalb Qualität und Quantität komplementär sind. Systematische Fehler und Statistik-Unwesen

6. Die Macht der Rituale und die Rituale der Macht

7. Das Gespenst der Freiheit

8. Auf dem Weg zur Weltkultur: Ein Ausblick auf globale Strategien

Anmerkungen

Über den Autor

Vorwort in eigener Sache - aber nicht nur

Im Jahr 2016 – ich hatte gerade das Rentenalter erreicht – machte ein Freund namens Hein der Frau meines Herzens einen unwiderstehlichen Antrag. Sie wies ihn ab. Er hinterließ ihr als Andenken einen Flug im Rettungshubschrauber, allerlei bunte Komaträume und uns beiden viele, viele Gründe uns zu freuen: Dass Shi Qin wieder selbständig atmete, das Bewusstsein wiedererlangte, allerlei Schläuche loswurde, die sie am Leben gehalten hatten, zum ersten Mal vom Rollstuhl aus die Koi im Teich und die wilden Erdbeeren im Park der Klinik betrachtete. Fünf Monate nach dem Antrag machte sie die ersten Schritte ohne Rollator am Ufer der Oos im schönen Baden-Baden, trat in einen Hundehaufen – was angeblich Glück bringen soll, uns aber sogleich erinnerte, dass selbst dieses Paradies nicht frei von Übeln ist.

Viele wirkliche Glücksmomente kamen seither hinzu, früher Selbstverständliches wurde lustvolles neues Erleben, gar Abenteuer. Wir sind Ärzten, Physiotherapeuten, Logopäden, Pflegekräften, Freunden, zahl- und namenlosen Helfern im Hintergrund von Herzen dankbar, weil es ohne sie dieses Glück nicht gäbe.

Gut möglich, dass es auch die Neufassung dieses Buches nicht gäbe, denn zum einen halfen Kenntnisse und Erfahrungen, die schon die Erstauflage enthielt, bei der Rehabilitation; zum anderen wurde die Strategie des Froschs im Sahnetopf bestätigt: Wenn du dich nicht aufgibst, sondern strampelst, wird aus der Sahne Butter, dann kommst du aus dem fetten Elend heraus: froh und munter, sogar um einiges stärker und klüger.

Und da die Beweggründe nicht entfielen, aus denen ich „Der menschliche Kosmos“ geschrieben habe, weder die Sorgen, Konflikte und Ärgernisse noch die ermutigenden, bewährten Methoden des Perspektiv- und Strategiewechsels, dürfen meine Frau und ich uns aufs Erscheinen von „Kosmos 2.0“ freuen.

Auch dabei hatten wir sachkundige Hilfe und danken unseren Freunden und Verlegern: Hans-Jürgen Salier nahm schon 2004 mein Manuskript in seinem Hilburghäuser Verlag Frankenschwelle an, sein Sohn Bastian publizierte es als eines der ersten im 2006 neugegründeten Salier Verlag in Leipzig – der Anfang einer wunderbaren Zusammenarbeit.

Bald werde ich 70. Der Blick aufs Weltgeschehen bietet nur hartgesottenen Ignoranten rosige Aussichten, und nur Frösche, die gern in fetter Sahne ersticken wollen, können die Füße ruhig halten. Keine Ahnung, wie lange Zeit und Kräfte für anhaltend munteres Strampeln ausreichen. Keine Ahnung, wie groß der Topf ist, wieviele andere am rettenden Boden unter den Füßen mitarbeiten. Immerhin gibt es sie. Vielleicht gehören Sie, geneigte Leser, dazu: Es wäre uns eine große Freude. Freund Hein, alias „der Gevatter“ darf im Buch nochmal auftreten – er hat aber auch hier nicht das letzte Wort.

Albrecht Altdorfer, Alexanderschlacht (Schlacht bei Issos), 1528/29, Öltempera auf Lindentafel, 158 x 120 cm, © bpk/Bayerische Staatsgemäldesammlungen

Einleitung

Das Schicksal des Menschen ist der Mensch. Das gilt für den Einzelnen, der kaum längere Zeit ungesellig leben kann, wenn er essen, trinken, sich warm halten und soziale Grundbedürfnisse befriedigen will. Das gilt für die Gattung in einer immer enger werdenden Welt mit knappen Ressourcen und begrenzten Räumen. Zwar werden natürliche Katastrophen unsere Spezies immer gefährden – niemals werden sich Erdbeben, Überflutungen, Brände, Seuchen, Einschläge von Asteroiden oder kosmische Strahlung gänzlich beherrschen lassen - aber wir stehen heute mehr denn je vor der Frage, ob nicht menschliches Handeln, ob nicht seine Formen sozialer Interaktion das eigentliche Problem sind.

Müssen Konflikte zwischen konkurrierenden Gruppen – Nationen, Kulturen, Ethnien, Religionen, Konzernen, Banken, Regierungen, Parteien oder sonstiger (an Stämme der Steinzeit erinnernder) Organisationsformen – immer wieder in Gewalt münden? Führen aggressive Strebungen, Dominanzwünsche und Gewalt als elementare Strategien des Überlebens unvermeidlich zur Destruktion?

Gewalt als Schlägereien, Revolten, Kriege und Terrorattacken hat es immer gegeben, sie dauern fort und finden neue Formen im Cyberspace. Die naturwüchsige Strategie des Zusammenschlusses zu Herden, Schwärmen, Sippen, Horden, Banden, zu Staaten, Unternehmen und Verbänden oder auch zur spontanen Meute, zum Mob verbessert die Chancen des Einzelnen, alle profitieren vom Schutz, von Geborgenheit in der Gemeinschaft. Das Schicksal des Verlierers trifft immer den Einzelnen. Er hat wenig mehr als den Zufall auf seiner Seite, wenn es ums Überleben geht.

Mit der Entwicklung moderner Staaten und Firmen samt Heeren von Arbeitern und Angestellten wird das Phänomen struktureller Gewalt interessant: Es gibt Organisationen, die nach außen und innen rücksichtslos ihre Interessen zur Selbsterhaltung durchsetzen – gegen Leib und Leben des Einzelnen, gegen die Konkurrenz, das Gemeinwesen und gegen die Natur. Sie trachten danach, sich mit besonderen Rechten auszustatten – auf nationaler, zunehmend supranationaler Ebene – so dass weder sie selbst noch irgend eines ihrer Mitglieder für jede Art Fehlleistung in Haftung zu nehmen wären. Solche Organisationen versuchen mit legalen oder kriminellen Mitteln, die Grundlage allgemeinen Rechts zu usurpieren: das „Gewaltmonopol des Staates“. Dass Konflikte eskalieren, dass sie in vollkommene Zerstörung münden, nehmen sie schlimmstenfalls in Kauf. Sie stellen die ihnen zugehörigen Menschen von Verantwortung frei und machen sie zu willfährigen Handlangern.

Der Vorgang wird an den totalitären Systemen des Kommunismus und Nationalsozialismus deutlich. Religiöse oder andere ideologische Verklärungen von Gewalt gab es seit je – hier nahmen sie im Deckmantel von Heilsversprechen an ihre Gefolgschaft die Dimension von Genoziden und Weltkriegen an. Angesichts globaler Auswirkungen, wie sie seit dem 20. Jahrhundert sowohl mit Kriegen unmittelbar, als auch mit Angriffen auf Energie- oder Finanzwirtschaft, Informations- und Versorgungssysteme einhergehen, ist zu fragen, ob Konflikte zwischen Menschen auch künftig so unvermeidlich und unbeherrschbar destruktiv bleiben müssen wie Naturereignisse.

Lässt sich das Verhalten von Milliarden Menschen nicht auf ein friedliches, ausbalanciertes Zusammenleben hin beeinflussen, auf kooperative Strategien der Individuen und ihrer Organisationen, zum Nutzen der Gattung mit ihrer Kultur (Technik) und der sie umgebenden Natur? Derzeit erscheint das – mit dem Blick auf politische Realitäten – als Wunschtraum.

Zweierlei zumindest ist sicher:

Konflikte sind unvermeidlich; sie erzeugen die Dynamik zwischen Gruppen von Menschen ebenso wie zwischen Individuen und dem gesamten Umfeld, mit dem alle interagieren: mit der Realität.Konflikte werden in Zukunft häufig alle betreffen. Die globale Wirtschaft wird es unvermeidlich geben, und damit wechselseitige Abhängigkeiten aller von (fast) allen. Das betrifft die natürlichen Ressourcen ebenso wie den Informationsaustausch.

Angesichts dieser mit dem abgedroschenen Begriff „Komplexität“ unzulänglich beschriebenen Lage ist nichts verdächtiger als Heilslehren.

Die Frage nach dem Überleben der Menschheit ist – spätestens seit dem nuklearen Gleichgewicht des Schreckens – die Frage nach einem Umgang mit Konflikten, der Gewalt begrenzt. Wie soll das gehen?

Natürlich lässt sich eine Elementarstrategie, wie die Gewalt es ist, nicht einfach abschaffen. Sie hat zum Überleben der Gattung beigetragen wie die Paarung zur Fortpflanzung. Menschen erleben andauernd, welches Glücksgefühl entsteht, wenn ein „Befreiungsschlag“ gelingt, wenn Fesseln gesprengt werden, wenn das Übermächtige und Bedrohliche zu Boden stürzt und zerschmettert werden kann – wie Hitlers Führerbunker und der Stacheldraht um die Arbeitslager Stalins, wie die Berliner Mauer, wie der israelische Panzer oder der Taliban- Bunker, der in die Luft fliegt, wie der Kinderschänder, der einer rächenden Meute in die Hände fällt. Gewalt macht Lust, wenn sie „das Böse“ austilgt, und dieser Lust überlassen sich tagtäglich, zu jeder Stunde und Minute, in jedem Augenblick Millionen Menschen im Fernsehen, im Kino, im Theater, im Stadion oder im Panzer, mit der Steinschleuder in der Hand, im Düsenjäger, mit dem Messer oder der Maschinenpistole – oder im Bordell bei einer Minderjährigen. Oder auch mit dem Federhalter überm Papier, dem Mikrofon vor der Nase, der Kamera auf der Schulter, dem Text- und Bildverarbeitungsprogramm oder dem 3-dimensional animierten Killerspiel auf dem Monitor. GEWALT MACHT LUST.

„Das Böse“ sind immer die anderen.

„Gewalt Macht Lust“ – das ist ein Dreigestirn von fast ebenso metaphysischer Dimension wie „Glaube Liebe Hoffnung“. Aber mit der Moral und Metaphysik von Gut und Böse ist ihm ebenso wenig beizukommen, wie mit dem Schraubenzieher des mechanischen Zeitalters, das den Menschen als vernunftbegabtes Tier und den Kosmos als Räderwerk aufeinander folgender Ursachen und Wirkungen ansieht.

Gewalt ist weder gut noch böse, dazu macht sie nur und ausschließlich menschliche Wahrnehmung. Ebenso wenig ist sie „gerecht“ oder „ungerecht“ – dazu macht sie ausschließlich die Wahrnehmung und Interpretation ihrer Opfer oder Nutznießer.

Eines aber ist Gewalt ganz sicher: sie ist immer an ein Ziel gebunden, sie ist eine Elementarstrategie zum Erlangen eines Ziels. Das Ziel kann sein, zu vermeiden, dass ein anderer sein Ziel erreicht.

Wer dem Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt entkommen will, muss vor allem aufhören, zwischen „böser“ und „guter“, „gerechter“ und „ungerechter“ Gewalt zu unterscheiden. Er muss aufhören, nach vermeintlich rechtfertigenden Ursachen zu fragen und stattdessen die ZIELE der Handelnden erkunden.

Der Einzelne – wie das als Subjekt handelnde Kollektiv – wird seine Wahrnehmung mittels wechselnder Perspektiven ertüchtigen müssen.

Das Bild des Menschen von sich und seiner Umwelt wandelt sich fortwährend, selten freiwillig. Sigmund Freud und manche gegenwärtigen Autoren sehen etwa in der „Kopernikanischen Wende“, in Darwins Evolutionslehre, in Freuds Psychoanalyse „Kränkungen der Menschheit“. Neue Kränkung sei von der Künstlichen Intelligenz zu erwarten. Kränkung oder nicht: Seit je offenbaren Vorstellungen vom Menschen vor allem erstaunliche, bisweilen erschreckende Redundanz, selten dagegen neue Farben und Konturen. Beachtliche Beiträge lieferten etwa der amerikanische Philosoph Alva Noë mit seinem Buch „Du bist nicht Dein Gehirn“1 – zu einer „radikalen Philosophie des Bewusstseins“ und Rüdiger Safranski mit „Das Böse oder Das Drama der Freiheit“2.

Die Physik erweiterte ihr Weltbild seit Beginn des 20. Jahrhunderts um Relativitäts- und Quantentheorie. Sie revolutionierte das wissenschaftliche Denken, Forschung und Technik, auch die Philosophie, vor allem aber die Informationstechnologie. Mit dem Boom der digitalen Kommunikation, der globalen Netzwerke und deren Allgegenwart verschoben sich Konkurrenzen um die Macht zwischen deren materieller und informeller Dimension. Wirtschaft und Politik, natürlich auch die ihnen hörigen Medien, folgen aber gewohnheitsmäßig den Mustern mechanischer Dominanz. Sie zeigen das Universum als ununterbrochene zeitliche Abfolge von Vorgängen, durch Ursache und Wirkung verknüpft. Der Mensch ist herausgehobenen Beobachter, der seine Sicht mittels immer besserer Instrumente zu einem „objektiven“ Bild, zur „objektiven Wahrheit“ vervollkommnet. Um die vermeintliche Wahrheit wird erbittert konkurriert – es ist nicht mehr und nicht weniger als der Kampf um informelle Macht. In deren Besitz wähnte sich der Marxismus-Leninismus und beanspruchte die Weltherrschaft mit dem Versprechen, das Wohl der Menschheit mittels Planwirtschaft durchzusetzen. Leicht abgewandelt ersetzen heutige kollektivistische Bewegungen den „Godmode“ objektiver Erkenntnis durch die „Weisheit der Vielen“, „Schwarmintelligenz“ oder – so kurz wie kindisch – durch das simple „Wir sind mehr“.

Dieses Vorgehen hat sich in der Wechselwirkung zwischen Sinnen, Umgebung und Gehirn durchaus bewährt. Es hat der Menschheit und ihrem Instrumentarium enorme Erfolge ermöglicht – es hat sie allerdings auch an den Rand der Selbstvernichtung geführt. Die Frage „Warum“ ermöglichte, Krankheitserreger und „Schädlinge“ auszurotten, Schuldige zu identifizieren, zu bestrafen in der Hoffnung, andere Missetäter abzuschrecken. Die Masse folgte dem Erfolg fast jederzeit, ohne sich über die Theorie dahinter und die möglichen Folgen Gedanken zu machen. So ließen Ausrottungsfeldzüge – etwa mit Antibiotika – immer gefährlichere Krankheitskeime heranwachsen, manche „Schädlingsbekämpfung“ vergiftete die Umwelt bis zur Unbewohnbarkeit. Kriminalität ließ sich durch grausamste Verfolgung nie beherrschen, stattdessen zerstörten Denunziation, Folter, Lagerhaft Vertrauensgrundlagen der Gesellschaft. Der Zugriff auf die „Ursachen“ löste immer nur Teile eines Problems und erschuf neue. Die Frage „Warum“ führt zu Antworten von sehr begrenztem Wert.

Wie wäre es, stattdessen öfter zu fragen „WOZU“? Genau das versucht dieses Buch.

In den vergangenen Jahrzehnten hat das Denken neue Bereiche eröffnet, es sind Begriffe wie „systemisch“, „vernetzt“, „ganzheitlich“ oder „komplex“ aufgekommen, ohne dass sie das Alltagsverhalten wirklich verändert hätten; oft sind sie nur Worthülsen, hinter denen sich tief eingewöhnte Denk- und Umgangsformen verbergen. Denn nach wie vor wird für fast jedes Problem nach einer „Ursache“ gesucht und für jeden Schaden nach einem Schuldigen – und ebenso oft geht es um die Macht: die informelle und materielle.

Wie ließe sich das Herangehen an komplexe Systeme verbessern? Ein paar Einsichten können helfen:

Auf die „wirkliche Vergangenheit“ haben wir keinen Zugriff, denn es gibt keine Zeitmaschine, die ihn uns verschaffen könnte. „Vergangenheit“ – also jedes Ereignis in zurückliegender Zeit – lässt sich nur in Hervorbringungen unseres Gehirns „behandeln“, als Konstrukt, als Modell. Das Modell kann umfänglich sein und viele Details enthalten, wenn viele Gehirne an seinem Zustandekommen beteiligt sind – es bleibt ein Modell. Die vermeintlichen „Ursachen“ sind also ebenfalls Konstrukte. Das aber bedeutet, dass jede „Vergangenheit“ – jede Modellbildung überhaupt – unlösbar mit den Zielen desjenigen verbunden ist, der sie modelliert, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht. Es gibt keine von Zielen menschlichen Lebens abgekoppelte „Objektivität“ – weder im Denken noch im Handeln.Nirgendwo in unserer Umgebung gibt es irgendein System – und das gilt vor allem für lebende Organismen –, das existieren könnte, ohne in Bewegung zu sein. Das gilt für die „innere“ Bewegung, mit der das System seine charakteristische Form aufrechterhält und für die „äußere“ Bewegung, in der das System mit seiner Umgebung wechselwirkt. Es ist diese Bewegung, die wir als „Zeit“ wahrnehmen.„Innere“ und „äußere“ Bewegungen sind verkoppelt und konkurrieren miteinander. Jedes einzelne System hat das Ziel, sich in Form und Funktion zu erhalten, das heißt, die für seine innere Bewegung nötige Energie zu erlangen und äußere Störungen zu vermeiden. Eine der wesentlichen Strategien ist, dass sich viele Individuen – oder einzelne Zellen – zusammenschließen zu Schwärmen – bzw. neuen Organismen. Deren Form und Funktion ist nicht mehr durch einfache Ursache-Wirkungs-Schemata von der einzelnen Zelle – vom Individuum – abzuleiten. Anschauliche Beispiele sind Schwärme von Fischen und Vögeln oder Schleimpilze, Vielzeller, die sich schneckenhaft fortbewegen. Darin haben einzelne, zuvor amöbenhaft lebende Zellen einer bestimmten Art von Schleimpilzen die selbständige Existenz aufgegeben, wurden ununterscheidbare Teile eines „Metasystems“ mit qualitativ völlig anderen Erhaltungsstrategien und Bewegungsmustern als die Teilorganismen. Menschenmassen können „Schwarmqualität“ erreichen. Physisch ist das bisweilen in Zeitrafferaufnahmen sicht-, im Stadiongeräusch hörbar. Die Kommunikationskanäle, deren es dazu bedarf, sind ein Hauptthema, dieses Buches.Es gibt kein System, das von Wechselwirkungen unabhängig existiert, und diese Wechselwirkungen lassen sich von den Erlangungs- und Vermeidungsstrategien aus – also den Zielen der wechselwirkenden Systeme – statt von deren „Vergangenheit“ („Ursachen“) aus betrachten.

Diese veränderte Art, Menschen und ihre Umwelt anzuschauen, erscheint zunächst mindestens irritierend, wenn nicht unlogisch. Das liegt aber einfach daran, dass fast jeder mit Begriffen wie „Vergangenheit“ und „Ursache“ verwachsen ist – genauso selbstverständlich, wie sein Gehirn „kopfstehende“ Bilder von der Netzhaut umdreht. Es ist ein winziger Teil einer ungeheuren, andauernden, unzertrennlichen und komplexen Zusammenarbeit zwischen Körper, Gehirn und Welt.

Die Irritation beim Wechsel von der Frage "WARUM?" zur Frage „WOZU?“ ist von derselben Art, wie sie ein Rechtshänder empfindet, der wegen einer Verletzung lernen muss, mit der linken Hand zu schreiben.

Ebenso gut kann einer trainieren, bei der Einschätzung seines Umgangs mit Menschen und Umwelt eben nicht nur die – bewährte, aber begrenzte – Methode der Konstruktion von Ursachen und Vergangenheiten zu nutzen. Er wird Muster anders erkennen, wenn er fragt: „Was wollen die am Geschehenen Beteiligten erlangen, was vermeiden?“, wenn er auf den Verlauf innerer und äußerer Energieflüsse, die Bewegungen dynamischer Systeme und Metasysteme blickt, und den Einfluss eigener Impulse zum Erlangen und Vermeiden mit erfasst.

Dieser Wechsel der Perspektive ist nicht neu. Wieso ihn nicht nur für den Bau von Lasern, Quantencomputern oder einzelne klinische Anwendungen der Psychologie vollziehen, sondern allgemein nutzbar machen? Nicht nur das naturwissenschaftliche Denken, sondern auch Psychologie und Philosophie profitieren davon. Seit einiger Zeit ist der Begriff der „Propriozeption“ im Gebrauch. Er bezeichnet die Eigenwahrnehmung des sich bewegenden Körpers, also die Wahrnehmung fortwährend und meist unbewusst ablaufender Impulse. Sie umfasst nicht nur motorische Bewegungen wie Laufen, Schwimmen, Springen, sondern auch die Lage unserer Organe im Raum und die Motorik der nonverbalen Kommunikation – also etwa das Lächeln, Hochziehen der Brauen, Redegesten, den Tränenfluss, Schreien und Lachen. Darauf werde ich im Kapitel 3 ausgiebig zurückkommen. Impulse haben stets ein Ziel. Folgerichtig wäre, dieses Geschehen für einen wesentlichen Komplex menschlicher Existenz anzuwenden: Impulsverläufe in Konflikten.

Damit sind wir wieder beim Phänomen der Gewalt. Das Ziel von Gewalt ist Destruktion. Sie erstrebt einen chaotischen – regellosen – Zustand, von dem aus eigene Interessen durchgesetzt, fremde Interessen ausgeschaltet oder stark abgeschwächt werden können. Sie nimmt schwere Störungen, ja sogar die Vernichtung des eigenen Systems in Kauf. Gewalt ist nur eine von vielen elementaren Strategien gegen innere oder äußere Störungen des dynamischen inneren bzw. äußeren Gleichgewichts. Auf menschliche Konflikte bezogen: ein Ziel wird erreicht oder ein Schaden vermieden durch destruktives Verhalten; das Risiko, dabei schwerere Verluste zu erleiden, gar zu sterben, wird ignoriert. Das kann spontan geschehen oder bewusst, und es wird umso wahrscheinlicher geschehen, je öfter sich die gewaltsame Strategie mit der Erfahrung eines Erfolges verbindet – egal ob es sich um einen vermeintlichen oder wirklichen Erfolg handelt. Was Sieg, was Niederlage ist – darüber entscheidet die subjektive Wahrnehmung. Strategiewechsel infolge von Niederlagen sind selten. Ich wage zu behaupten: sie sind niemals durchgreifend. Nachzuweisen, dass jemals irgendeine Strategie zwischen den Anfängen der Evolution und dem Anthropozän, zwischen Steinzeit und „Postmoderne“ ausgestorben wäre, bedürfte einer aufwendigen, höchst wahrscheinlich erfolglosen Suche. Sicher ist nur eines: Im „Ernst-“Fall, wenn der "Tunnelblick" die Selbstwahrnehmung einschränkt, werden alle anderen möglichen Strategien ausgeblendet bis zum Amoklauf: der „Totale Krieg“ zerstört andere und sich selbst.

„Aufarbeitung“ ist ein ebenso häufig wie fahrlässig gebrauchtes, bis zum Überdruss verschlissenes Wort. Sie folgt Katastrophen so sicher wie das Amen in der Kirche: Sie ist auch meist nichts als Ritual. Jeder, der seine Haltung, Ziele, Handlungsmotive vorteilhaft darstellen will, distanziert sich rituell von den an Katastrophen „Schuldigen“. Die Deutungshoheit über die Frage „Warum“ wird zur Monstranz, unangreifbar, die eigene Position geheiligt.

So geschah es mit der „antifaschistischen Aufarbeitung“ des Nationalsozialismus durch marxistisch-leninistische Staatsideologie. „Antifaschismus“ wurde gegen den Aufstand der Arbeiter in der DDR am 17. Juni 1953 – man nannte ihn „faschistische Konterrevolution“ – ebenso ins Feld geführt wie für den Ausbau der tödlichen Grenzsicherung gegen Flüchtlinge, den „Antifaschistischen Schutzwall“. Das Abzeichen „Antifa“ heften sich heute gern Extremisten ans Revers und leiten daraus ihr Recht auf Anschläge, Plünderungen, Drohungen und physische Gewalt gegen jeden ab, der sich ihrer Deutungshoheit nicht unterwirft.

Tatsächlich verirrt sich die Frage nach dem „Warum“ zwischen Ratlosigkeit, unbrauchbaren Spekulationen, Schuldzuweisungen im Nebel der Unverantwortlichkeit, wenn es um Gewaltherrschaft zum Beispiel von Nationalsozialisten oder Kommunisten, um Amokläufe in Schulen oder Familien, um Terrorakte und katastrophale Schlampereien in Kernkraftwerken oder Chemiefabriken geht. Das ist kein Zufall. „Ursachen“ sind Konstrukte menschlicher Denk- und Kommunikationsprozesse. Die Frage nach den Zielen derjenigen, die da „aufarbeiten”, muss vorab gestellt werden. Dann kann über die Ziele derjenigen nachgedacht werden, die „in der Vergangenheit” handelten, darüber wie sie ihre Ziele, wie sie Umstände ihres Handelns wahrnahmen, wie sie zu Entscheidungen kamen. Dieses Nachdenken offenbart eine Dynamik sich häufig wiederholender Muster. Wer rechtzeitig und vorbehaltlos nach den eigenen, dann nach den Zielen anderer fragt und beides in ein Verhältnis bringt, wer das fragt, solange Schlamperei, Feindseligkeit, Gewalt noch „latent“ sind, kann dank erkannter Muster künftige Konfliktverläufe abschätzen, womöglich sogar manche Katastrophe abwenden. Auf unabwendbare wird er sich einrichten müssen. Konflikte sind letztlich so wenig vorhersehbar wie Menschen einheitlichen Handlungsmustern folgen, so wenig sich „Tugenden” und „Laster” säuberlich scheiden lassen.

Hierzu sei beispielsweise auf Nietzsches interessante aphoristische Gedanken in „Menschliches, Allzumenschliches“3 und auf Elias Canettis "Masse und Macht"4 verwiesen. Beide bereichern die Diskussion um den „Freien Willen“ in hohem Maß.

Sind die Ketten der Kausalität, des Denkens in Abfolgen von Ursachen und Wirkungen, gesprengt, können die Konflikte des Individuums und der Metasysteme von Familien, Nationen, Völkern und ihren Kulturen besser verstanden werden. Quantenphysik, Relativitätstheorie und Informatik haben längst offenbart, wie brüchig diese Ketten sind. Wer sich nicht befreit, wird die Krisen und Katastrophen der sich global organisierenden Menschheit nicht verstehen, geschweige verhindern. „Wer die Ursachen beherrscht, gebietet über die Folgen” – auf dieser Einstellung fußen Strategien der mechanischen Dominanz. Wir erleben aber am Beispiel des weltweiten Terrorismus gerade, dass auch das gewaltigste Übergewicht mechanischer (militärischer) Instrumentarien systemische Prozesse nicht steuern kann.

Der Perspektivenwechsel wird sich durchsetzen, weil er keiner ideologischen Rechtfertigung bedarf. Genau deshalb ist allerdings das Zeitalter universeller Gesellschaftsentwürfe vorbei. Sie waren immer die gedanklichen Rechtfertigungen für mechanische Dominanz, ihr systematischer Fehler ist, dass sie eine „Objektivität“ oder göttliche Herkunft von Modellvorstellungen, von „Vergangenheit“ und „Gegenwart“ erforderten, mit der „Zukunft“ zu prognostizieren ist – bis hin zur sogenannten „Weltformel“ oder zum „Weltgericht“. Aber eine solche Formel kann und wird es niemals geben. Die Revolution unserer Zeit ist der revolutionierte Zeitbegriff: Der Mensch erschafft Raum und Zeit unseres Universums mit, während er denkt, Denken ist schon Handeln, und die Dynamik dieser unauflösbaren Wechselwirkung kann nicht formelhaft „fixiert“ werden, weil eine Fixierung das Ende der Dynamik selbst bedeuten würde. Die neue Perspektive widerlegt indessen keineswegs den Sinn der Forschung, sie zeigt nur deutlicher die eigenen Grenzen; mechanische Vorstellungen versagen darin.

Reden wir vom Ziel dieses Buches: Es will keine neuen Weisheiten verkünden, sondern ein Training anbieten: Leser können versuchen, öfter statt nach dem „Warum“ nach Zielen und Strategien zu fragen, sie können versuchen, ihren eigenen Alltag anders zu erleben und zu gestalten – egal ob sie es in der internationalen Politik, im Management oder in den eigenen vier Wänden tun. In diesem Sinne ist es ganz und gar unvollkommen, weil es darauf vertraut, dass es nur Anregungen für alle diejenigen gibt, die – mit neuer Sicht auf die Welt und sich selbst – handelnd Erfahrungen machen und neue, wichtigere Kapitel schreiben werden. Es lebt von der Subjektivität der Wahrnehmung, und gibt die Subjektivität des Autors immer wieder preis. Es soll Lust darauf machen, einige der vielen alltäglichen „Algorithmen“, Rituale und Strategien kennenzulernen, mit denen unser Gehirn, unser Körper und die umgebende Welt – der „menschliche Kosmos“ – aufeinander wirken. Das wenigste davon ist uns bewusst, eben weil unser Bewusstsein um Größenordnungen von der Dimension des Kosmos entfernt ist. Aber Entdeckungsreisen sind möglich. Im Himmel und auf Erden.

Kapitel 1

Die Lust am Quälen und die Widerstandskraft der Banane gegen die Frage „Warum“

Beginnen wir die Entdeckungsreise in den 90er Jahren. Damals wohnte ich mit meiner Frau zur Miete in einem Haus mit Garten an der „Köttelbecke“, also einem der offenen Abwasserkanäle des Emschersystems im Ruhrgebiet. Die kleinen Gärten hinterm Reihenhaus waren in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts so typisch wie die im Sommer oft übel riechenden Betonrinnen für Abwässer quer durch die Siedlung; sie konnten wegen der vom Bergbau verursachten Erdbewegungen nicht unterirdisch verlegt werden. Bei schönem Wetter saß ich gern auf der Wiese und rauchte Pfeife.

Unsere Nachbarn am anderen Ufer, ein Ehepaar von etwa sechzig Jahren, waren fast immer in ihrem Gärtchen. Sie hatten sich sogar einen kleinen runden Pavillon mit grünen Fensterscheiben gebaut, obwohl es vom Liegestuhl nur ein paar Schritte ins Haus waren. Wir wunderten uns anfangs, wieso jemand sich in einem Gartenhaus grüne Gardinen vor die Fenster hängt, bis wir bemerkten, dass es weiße Stores hinter grünen Scheiben waren, die uns befremdeten, vermutlich ein Sonderangebot. Ebenso befremdlich erschien uns, dass im Pavillon, den aufzubauen einiges Geld und gute zwei Wochenenden handwerklicher Arbeit gekostet hatte, offensichtlich nur Gartenmöbel untergestellt wurden. Auch dieses Rätsel löste sich: der Pavillon beherbergte etwas viel Kostbareres. Dort stand – in Reichweite, nicht etwa in der eine Gehminute entfernten Küche – der Kühlschrank, und im Kühlschrank war das Bier.

Für unsere Nachbarn war wichtig, das Bier in der Nähe zu haben, weil sie sich fast immer stritten. Sie redeten ausdauernd aufeinander ein, und die wellenförmig aufbrandenden Gespräche gipfelten in Beleidigungen. Ein solcher Zyklus der Aufregung lief aber nicht synchron mit dem Leeren einer Bierflasche ab. Wir konnten zunächst nicht herausfinden, wer von beiden mehr und schneller trank, aber einerlei: es wäre anscheinend einem Koitus Interruptus gleichgekommen, hätten sie eine besonders heftige Attacke wegen einer leeren Flasche, eines dann also erforderlichen Ganges in die Küche unterbrechen müssen. Tatsächlich war der Kühlschrank im Pavillon mit den grünen Fensterscheiben Teil eines ebenso detailliert wie unbewusst inszenierten und mit nicht nachlassender Energie aufgeführten Dramas.

Die beiden quälten einander mit Hingabe, sie genossen im Gleichmaß Bier und Beschimpfungen (die Texte variierten so wenig wie die Biermarke), sie büßten an Schwung und Emotionalität nie ein. Es wäre sinnlos, Gründe für das Gezänk finden zu wollen, nicht einmal Anlässe ließen sich erkennen – außer dass die Sonne schien und Bier im Kühlschrank war.

Soweit wir den zu uns über den Zaun herüber wehenden Sprachfetzen vertrauen konnten, währte die Beziehung trotz periodischer Konflikte an der Grenze zur Gewalttätigkeit schon dreißig Jahre. Wir begannen zu verstehen, dass Mann und Frau nicht um Gründe von Ärgernissen stritten, die auszuräumen waren. Sie stritten schon gar nicht um Veränderungen ihrer Umgangsformen miteinander. Bei all der wiederkehrenden Aufregung, all dem Reden und Gestikulieren, während sie sich gegenseitig aufreizten und ankeiften, ging es im Gegenteil darum, dass sich nichts verändern sollte, sondern dass jeder immer wieder aufs Neue seine Rolle, seine Wahrnehmung von sich selbst gegen den anderen verteidigte. Es handelte sich um eine Dynamik, deren Ziel das Gleichgewicht war. Und genau deshalb, um dieser zum Ritual gewordenen Dynamik willen, unterschieden sich die Konflikte unserer Nachbarn nicht von vielen Konflikten zwischen Parteien, Völkerstämmen, Nationen, religiösen Gemeinschaften. Dort allerdings kann ein Gewaltausbruch Schlimmeres bewirken als ein blaues Auge und ein paar zerschlagene Bierflaschen.

Dieses Buch will sich – wie im Vorwort angekündigt – mit der Dynamik menschlicher Wechselwirkungen befassen und dabei die vertraute Perspektive des Denkens verlassen. Wir sind gewohnt, das Handeln der Menschen auf seine Gründe hin zu untersuchen. Aber diese Suche führt nur zu ebenso begrenzten Einsichten, wie die Vorstellung, dass die Sonne im Osten auf- und im Westen untergeht. Wer nach Gründen fragt, entwirft eindimensionale Modelle von zurückliegenden Ereignissen. Im Falle unseres Ehepaares hieße das etwa, dass die Frau ihren Mann einen Schlappschwanz nannte, weil er seinen ehelichen Aufgaben unzureichend nachgekommen war. Natürlich könnte jeder daraufhin den Mann als den am Konflikt Schuldigen ausmachen. Als unbeteiligter (und von den Streitenden nicht bemerkter) Beobachter könnte er sich mit dieser Einsicht zufrieden geben und sein Urteil über die Verhaltensmuster der nachbarlichen Ehe fällen.

Dadurch wird er mit großer Wahrscheinlichkeit völlig falsch urteilen. Wie falsch, wird ihm spätestens klar, wenn er von dem Ursache-Wirkungs-Schema auf andere eheliche Konflikte schließt, womöglich auf seine eigenen. Er ist nämlich nie „objektiv“ urteilender Beobachter, schon deshalb, weil der Streit im Garten statt in der Wohnung geführt wird und die Nachbarn sehr wohl mit Zuhörern rechnen. Der Beobachter ist als unsichtbarer Richter an den Wechselwirkungen beteiligt, wird von den Streithähnen mit allen möglichen Gefühlen und Trieben bombardiert, als wollte jeder der beiden ihn auf seine Seite ziehen. Der Zuschauer soll nicht ihre Behauptungen prüfen, er soll Partei werden. Der „Schlappschwanz“ hat mit der erotischen Leistungsfähigkeit des Mannes weniger zu tun, als mit der Absicht der Frau, ihn öffentlich zu demütigen. Als Beobachter sind Sie nicht „unbeteiligt“, sie sind sich nur des emotionalen Widerhalls der Streitereien kaum bewusst.

Der Streithahn reagierte auf den „Schlappschwanz“ stets mit routinierter Abwehr, und seine Reaktion fiel für die Frau so wenig überraschend aus, wie er selbst von den Versuchen überrascht wurde, ihn zu demütigen. Das Drama an der Köttelbecke führte nicht zur Auflösung der Ehe, es erhielt sie am Leben.

Edward Albee hat Ähnliches in sein brillantes Theaterstück „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“1 hineingeschrieben; der Film mit Elizabeth Taylor und Richard Burton wurde vermutlich schon deshalb zum Klassiker, weil die beiden Schauspieler sehr nahe an eigenem Erleben agierten. Dramen wie die von Albee lassen beispielhaft nachempfinden, dass Sozialgebilde – nichts anderes ist eine Ehe – den gleichen Strategien folgen, wie andere lebendige Formen: Sie bilden in sich relativ geschlossene, dennoch für den Energie- und Stoffaustausch mit der Umwelt offene, dynamische Systeme mit dem Ziel der Selbsterhaltung und Reproduktion. Nicht nur – aber am einfachsten – durch Ausbrüche von Gewalt und Zerstörung werden aus Zuschauern Mitfühlende von Dramen. Sie absolvieren meist unbemerkt ein „Mitspielen“ ihrer eigenen Gefühle und Konfliktstrategien. So verwickeln uns Bühne, Film, manchmal sogar das Fernsehen in die Dynamik von Sozialgebilden, etwa einer Ehe an einer amerikanischen Kleinstadtuniversität oder an einer Köttelbecke in Wattenscheid. Womöglich gehen die Strategiespiele im Cyberspace darin noch eine Stufe weiter.

Dass dies unvermeidlich so ist, haben Hirnforscher in jüngster Zeit anhand der Aktivität der sogenannten „Spiegelneuronen“ nachgewiesen2. Bewusste Handlungen und Erkenntnisse spielen in den ununterbrochen ablaufenden sozialen und psychischen Vorgängen nur eine Nebenrolle. Die Strategien, deren sich Partner in einer Ehe bedienen, folgen konkurrierenden Interessen beider. Im ununterbrochenen Wechsel von Impulsen des Erlangens und Vermeidens – und der läuft weitgehend unbemerkt ab – wechseln auch die Gefühle und müssen immer wieder ausbalanciert werden. Äußere Gefährdungen können eine Bindung festigen – ebenso gut aber eine geschwächte Bindung zerbrechen. Nur eines ist sicher: weder innere noch äußere Konflikte lassen sich dauerhaft ausschließen. Normalerweise werden sie nicht mit der Keule oder dem Maschinengewehr ausgetragen, auch wenn Angst und Aggressivität nicht selten destruktive Phantasien anheizen. Dennoch haben wir die Gewalt als letzten Ausweg „im Programm“, und sie ist mit ausgesprochenen Lustgefühlen verbunden. Gerade Kinder geben durchaus lustvoll sadistischen Strebungen nach. Wenn ihre Erfahrung vor allem von Ohnmachts- und Gewalterlebnissen geprägt wird, werden sie entsprechend wenig andere Strategien einsetzen können, um ihre Ziele zu erlangen oder Nachteile zu vermeiden.

All diese Vorgänge lassen sich nicht in Ursache-Wirkungs-Schemata auflösen, darauf werde ich immer wieder zurückkommen müssen. Um mehr zu erfahren, als die Bestätigung von Vorurteilen, werde ich mich einer anderen Methode bedienen müssen. Sie hat die Naturwissenschaften – vor allem die Physik – im zwanzigsten Jahrhundert revolutioniert und so erfreuliche Erfindungen wie den Laser und den Kernspintomographen beschert. Man muss nicht allzu viel von Physik verstehen, um den Nutzen der Methode zu begreifen. Es gehört dazu nur eines: die Fähigkeit, die Perspektive zu wechseln und den Standort des „objektiven Beobachters“ zu verlassen, die Fähigkeit, sich in die Absichten und Ängste der unterschiedlichen an einer Wechselwirkung Beteiligten „einzufühlen“, also auch zu erspüren, wie einer auf andere wirkt.

Diese Fähigkeit haben fast alle, und dieses Buch soll sie ermuntern. Es wird sich mit Rollen und Ritualen befassen, mit Gefühlen und Konflikten, die unsere Wechselwirkungen mit anderen Menschen und auch mit uns selbst bestimmen – bis hin zu Gewalttaten. Spüren wir also der Dynamik des menschlichen Kosmos nach, einschließlich der Katastrophen und chaotischen Verhältnisse, die mit Gewaltausbrüchen einhergehen, und die mit dem mythischen Dreigestirn GEWALT MACHT LUST zusammenhängen.

Kapitel 2

Die Erschaffung des An-Gestell-ten

Die „Verwertung“ der Persönlichkeit. Alte und neue Existenzängste. Wie Menschen zu Kugelschreibern werden.

Der einzelne Mensch ist ein Nichts.