Der Migrant - Rüdiger Wenke - E-Book

Der Migrant E-Book

Rüdiger Wenke

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Beschreibung

Bakary Dayan, ein junger Muslim, macht sich auf den Weg von Afrika nach Europa. Seine gefährliche Reise führt ihn von seinem Heimatland Mali über Algerien nach Spanien und von dort nach Paris, wo er eine Zeit lang als Illegaler lebt und arbeitet. Bei einem terroristischen Anschlag auf eine Synagoge rettet er einem französischen Polizisten das Leben. Die Suche nach dem Mann, der ihm selbst einst das Leben rettete, als das Flüchtlingsboot auf dem Mittelmeer in einen schweren Sturm geraten war, führt ihn nach Hamburg zu Hans Wallris. Es wird eine schicksalhafte Begegnung - für beide. - Ein Politthriller - hochaktuell und spannungsgeladen.

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Rüdiger Wenke

Der

Migrant

Roman

www.tredition.de

Copyright: © 2015 Rüdiger Wenke

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die Wassertropfen fielen in gleichmäßigen Abständen aus einer Spalte in der Decke, schlugen hart auf dem Boden auf, spritzten auseinander und liefen als winziges Rinnsal seitwärts ab, um in einer kleinen Spalte zu verschwinden.

Nichts war zu hören, als das Aufprallen der winzigen Tropfen auf dem gelblichen Gestein. Die Höhle war nicht groß und reichte vom Kopf des regungslos auf dem Rücken liegenden Mannes bis etwa einen Meter über seine Füße hinaus. Würde er seinen Kopf etwas zur Seite bewegen, landeten die Wassertropfen in seinem halb geöffneten Mund. Vielleicht hatte er das schon getan, um seinen Durst zu stillen. Er schien erschöpft zu sein und zu schlafen. Das scharf geschnittene Gesicht ließ kaum eine Vermutung zu, wie alt er sein mochte. Jeans und der Aufdruck auf dem ausgeblichenen blauen T-Shirt passten eher zu einem jüngeren Mann.

In der Nähe seines Kopfes tauchte plötzlich eine smaragdgrüne Eidechse auf, verharrte kurz, starrte ihn aus regungslosen, dunklen Knopfaugen an, bis sie sich nach einigen Sekunden entschloss, so lautlos wie sie gekommen war wieder davon zu huschen. Genau dort, wo sie verschwunden war, lagen Sandalen, eine Umhängetasche aus Leinen, ein abgegriffenes Buch, eine halb volle Wasserflasche aus Plastik, ein blaues Tuch und ein weißer Körperumhang zwischen den kleinen Felsbrocken. Daneben ein halbes Fladenbrot und einige Datteln.

Jetzt schlug der Mann die Augen auf, bewegte seinen Oberkörper langsam nach vorn, bis er sich in sitzender Stellung befand, und kreuzte die Beine. Er gähnte und griff mit einer entschlossenen Bewegung nach dem Buch. Es sah so aus, als sei er gut mit dessen Inhalt vertraut, denn er brauchte nicht lange bis er die Stelle gefunden hatte, die er suchte. Murmelnd formten seine Lippen die Worte, die er las. Dann legte er das Buch neben sich, saß regungslos und ließ die harte und entbehrungsreiche Strecke, die er hinter sich gebracht hatte, noch einmal vor seinen inneren Augen vorbeiziehen.

Von Ségou im Süden Malis waren nur er und der Fahrer in einem alten Lastwagen nach Timbuktu gefahren. Dort hatten sie die weißen Plastiksäcke, die sie geladen hatten, gegen schwere Kisten getauscht. Das war im Hinterhof eines unscheinbaren Hauses, nahe der Hauptstraße nach Norden gewesen. Zwei finster aussehende Männer hatten den Lkw bereits erwartet und die Ladung entgegengenommen. In dem dunklen Lagerraum, wo sie die Säcke stapelten, hatte er mehrere Kalaschnikows in der Ecke neben dem Eingang liegen sehen, und das hatte ihn zur Vorsicht gemahnt. Worte waren keine gewechselt worden.

Mit der neuen Ladung machten sie sich auf den langen und beschwerlichen Weg, am Ufer des Nigers entlang, bis nach Bourem.

Der Fahrer war ein kräftiger, verwegen aussehender Bursche, der den ausgemergelten Lastwagen erbarmungslos über die schmalen, ausgefahrenen Wege mit den unzähligen Schlaglöchern gejagt hatte. Er erinnerte sich noch mit Schrecken an die gottlosen Flüche, wenn der Wagen irgendwo in einer der zahllosen, über die Straße gewehten Sanddünen stecken geblieben war und in der sengenden Hitze freigeschaufelt werden musste. Das war seine Arbeit gewesen, deshalb hatte er mitfahren dürfen. Zu fragen, was der Wagen geladen hatte oder die Kisten näher zu untersuchen, wäre ihm nie in den Sinn gekommen und hätte ihn vielleicht sogar das Leben gekostet. Er hatte Waffen darin vermutet und war heilfroh, als sie schließlich völlig erschöpft in Bourem angekommen waren. Zwanzig Algerische Dinare, einen winzigen Lohn, hatte er sich verdient und eben diese Fahrt von Ségou nach Bourem.

Alle zwei Tage kam dort ein Bus vorbei, der in den Norden des Landes fuhr, wo die Grenze zu Algerien verlief. Der Norden war Rebellengebiet, dort hatten die Gesetze der Regierung von Mali keine Geltung mehr, denn dort herrschten die Dschihadisten und kontrollierten alles, was sich bewegte.

Nach zwei Tagen Fahrt waren sie plötzlich, wie aus dem Nichts, am Straßenrand aufgetaucht und hatten den Bus gestoppt. Das war in der Nähe von Anéfis gewesen. Keiner wusste, was genau sie gesucht hatten. Mehrmals hatte er den Namen Iyad Ag Ghali gehört. Offensichtlich waren es seine Kämpfer, ausgerüstet mit modernen Schnellfeuergewehren, Bazookas und Kalaschnikows. Einige hatten ausgesehen wie Tuareg und hatten weite Gewänder und einen Gesichtsschleier getragen. Andere waren gekleidet wie arabische Beduinen, wieder andere schienen entlaufene Soldaten der Regierungsarmee zu sein und trugen zerschlissene und von der Sonne ausgebleichte Tarnanzüge.

Alle Reisenden hatten aussteigen und ihre Sachen vorzeigen müssen. Ihn hatten die Männer als Ersten gefragt, wohin er wolle. Ohne zu antworten hatte er den flachen Anhänger, den er am Hals trug, geöffnet und den unscheinbaren, in Papier eingewickelten Stein gezeigt, wie ihm sein Großvater immer gesagt hatte: »Zeige den Stein und Allah wird Dir beistehen.«

Einer von ihnen, mit blauem Kopftuch, welches Mund und Kinn bedeckte, der aussah wie ihr Anführer, hatte ihnen schließlich, nachdem er kurz mit seinen Männern gesprochen hatte, ein Zeichen gegeben, wieder in den Bus zu steigen. Dann war die Fahrt weiter gegangen, auf der kurvigen Schotterpiste, durch vermintes Niemandsland, vorbei an den felsigen Ausläufern von Gebirgsmassiven, durch Bergschluchten und durch spärlich mit Dornengebüsch bewachsene Sandwüsten. Immer wieder Sand in riesig ausgedehnten Flächen, die unendlich schienen. Manchmal hatten die Reste eines zerstörten Lkw, welcher auf eine der vielen Minen gefahren und ausgebrannt war, aus den Dünen neben der Straße heraus geragt oder eine Lehmhüttensiedlung war unvermittelt aufgetaucht, um wie durch Zauberhand wieder in der flirrenden Hitze zu verschwinden. Das waren nahezu die einzigen Abwechslungen in der schier endlosen Eintönigkeit.

Nach drei Tagesreisen hatten sie, bei einbrechender Dunkelheit, endlich El Khalil erreicht, wo die Grenze zu Algerien verlief und wo die N6, die Route National vorbeiführte, die sie weiter in den Norden bringen sollte.

Niedrige, graugelbe Lehmgebäude reihten sich an der kleinen Grenzstation aneinander und duckten sich unter einer Anpflanzung von Dattelpalmen. In der Nähe hatten Straßenhändler herumgelungert, die aber nicht gewagt hatten, näher zu kommen, weil einer von ihnen, zwei Tage zuvor, aus einem Bus heraus erschossen worden war.

Neben einem eingestaubten Toyota Pickup hatten finster aussehende, bis an die Zähne bewaffnete Männer gestanden. Der Fahrer war mit ihnen in einem der Gebäude verschwunden und erst nach längerer Zeit wieder heraus gekommen, währenddessen alle Insassen vor dem Bus ausgeharrt hatten, aus Angst sie könnten zurückgelassen werden. Alle waren erleichtert gewesen, als sie schließlich weiterfahren durften, weiter auf der N6 nach Norden.

Keiner hatte nach einem Pass gefragt, hier wurde er offensichtlich nicht gebraucht. In Ghazaouet wird man dir alles geben, was du brauchst, hatte er sich an die Worte des alten Imam erinnert. Frage nach Karim Bonounou.

Dann waren zwei grauenvolle Tagesreisen gefolgt, durch brütende Hitze, die das Gehirn austrocknete und die man nur ertragen konnte, wenn man alle Körperaktivitäten auf ein Minimum einschränkte, besonders das Einatmen der erstickend heißen Luft.

Hinter dem sich spiegelnden Horizont lagen so endlose Savannensteppen, Stein- und Schotterwüsten und Meere von Sand, wie er es nie für möglich gehalten hätte.

Als schließlich nach zwei Tagen die Akazien, Tamarisken und Dornenbüsche in der vorbeiziehenden Landschaft zahlreicher geworden waren und sich neben der Straße frei laufende Kamele und unzählige Fördertürme gezeigt hatten, war, Allah sei Dank, auch dieser Teil der Reise zu Ende gegangen. Die meisten der Männer hatten den Bus verlassen, wahrscheinlich, um sich irgendwo auf den naheliegenden Erdölfeldern Arbeit zu suchen.

Von Reggane nach Bechar war es zwar immer noch ein weiter Weg, aber es gab unterwegs mehr Aufenthalte als vorher, wo man von Straßenhändlern Wasser in Plastikflaschen kaufen konnte. In kleinen Straßenküchen wurde einigermaßen ordentliches Essen angeboten, das man allerdings teuer bezahlen musste. Deshalb hatte er sich mit Fladenbrot für nur wenige Centimen begnügt.

Geld offen zu zeigen war gefährlich. Vor seiner Reise hatte er sich hundert Algerische Dinare besorgt, die in einem Gurt eingenäht waren, den er immer dicht am Körper trug. Das Bündel Dollarscheine, das noch von seinem Vater stammte, war eingenäht in ein Leinentuch. Sein Großvater hatte es ihm gegeben, bevor er starb: »Sei sparsam, zeige das Geld niemandem.«

Nicht einmal dem Imam in der Koranschule hatte er davon erzählt und dem hatte er bedingungslos vertraut. Zwanzig Dinare hatte ihm dieser für die Reise gegeben, mit den Worten: »Du wirst das Geld brauchen. Danke nicht mir, danke Allah.«

Zwanzig Dinare, das war nicht viel, die hätten nicht einmal für die Fahrt mit dem Bus gereicht.

In Bechar waren sie in einen anderen Bus umgestiegen, der größer war und eine Klimaanlage hatte, die zwar nicht richtig funktionierte, aber dennoch war es ein gutes Gefühl. Es war nicht mehr ganz so heiß gewesen. Die neuen Mitreisenden waren meistens Bauarbeiter, die nach In Salah wollten oder verschleierte Frauen mit dicken Bündeln auf dem Schoß, auf die sie den Kopf gelegt hatten, wenn sie schliefen.

Ganz von Anfang an dabei waren nur er und zwei Männer gewesen, die es sich auf der hinteren Sitzbank bequem gemacht hatten. Häufig, wenn sie sich unterhielten, hatte er Worte gehört wie: Ungläubige, Vernichtung, Zerstörung, Rache oder Kampf. Er glaubte auch gehört zu haben, dass sie für Boko Haram im Norden Nigerias gekämpft hatten und nun auf dem Weg nach Frankreich waren. Sie wollten irgendetwas tun, was die Ungläubigen von Allahs Macht überzeugen sollte. Was das war, hatte er nicht verstehen können. Für seine Ohren hatte es so geklungen, als wüssten sie es selbst noch nicht.

Seine Mutter hatte ihm immer geraten, Fremden zuerst in die Augen zu schauen. »Was du in den Augen siehst, ist die Wahrheit«, hatte sie ihm gesagt.

Die Augen der beiden Männer waren von Sonnenbrillen bedeckt gewesen. Aber wenn sie diese auf ihre Stirn schoben, um sich den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen, hatte er gesehen, dass Ihre Augen kalt waren und kein Vertrauen ausstrahlten. Also war er vorsichtig und wortkarg geblieben, als sie mit ihm an einem der Rastplätze ein Gespräch angefangen hatten. Er hatte ihnen nur seinen Namen genannt, Bakary Dayan, mehr nicht.

»Dayan, so hieß einer der Anführer bei dem großen Aufstand der Targi im Jahr 1995« hatte der Größere von ihnen bemerkt, der sich Abdoul Karamakou nannte und dem eine breite Narbe schräg über das linke Auge verlief.

Malikk, sein Gefährte, war wortkarg. Meistens hatte Abdoul gesprochen und ihn dabei mit kaltem, durchdringendem Blick gemustert.

»Bist du ein Targi?«

Er hatte eine Weile geschwiegen und an seine frühesten Erinnerungen und an seinen Vater gedacht. Warum auch hätte er ihnen erzählen sollen, dass seine Mutter aus einer einstmals angesehen Familie der Bambara stammte und mit seinem Vater, einem Targi, der gegen die Franzosen gekämpft hatte, eine verbotene Beziehung gehabt hatte. Dass sie an einer rätselhaften Krankheit gestorben war, als er fünf Jahre alt war und dass er bei seinem Großvater aufgewachsen war, der immer davon gesprochen hatte, dass seine Tochter, deren Namen er nie genannt hatte, für ihr Vergehen von Allah gestraft worden sei, der ihn aber dennoch aufopferungsvoll großgezogen hatte. Sein Großvater hatte sein Land und sein ganzes Hab und Gut bei einer der großen Dürren verloren, die Mali heimgesucht hatten. Aber dennoch hatte er dafür gesorgt, dass er eine gute Schulausbildung bekam. Nach dessen Tod hatte er in der Koranschule für den alten Imam gearbeitet, weil er fest daran glaubte, das sei wichtig, um ein guter Muslim zu sein.

»Allah hat dich auserwählt und dir den Verstand gegeben, etwas Großes zu tun«, hatte der alte Imam oft zu ihm gesagt. Was das bedeutete, war ihm allerdings nie richtig klar geworden.

Nun aber war er den beiden Männern eine Antwort schuldig geblieben.

»Eine meiner Hälften ist Targi«, hatte er gesagt.

»Dann könntest du ein Gotteskämpfer werden, wie wir. Allah hat uns auserwählt, für ihn zu kämpfen. Als ich zehn Jahre alt war, wurde ich Soldat. Mit elf Jahren habe ich den ersten Mann erschossen. Die vielen Männer, die danach sterben mussten, habe ich nicht mehr gezählt. Die meisten davon waren Ungläubige«, hatte Abdoul sich gebrüstet.

»Geh mit uns nach Frankreich. Der Kampf für Allah wird dich berühmt machen. Dein Bild wird in allen Zeitungen erscheinen.«

»Hast du deine Narbe im Kampf für Allah erworben«, hatte er ihn gefragt?

Karamakou hatte verächtlich gelacht und ei ne Reihe gelblicher Zähne gezeigt.

»Nicht für Allah! Ein Mädchen, eine Ungläubige! Ich wollte sie flachlegen, aber sie wehrte sich wie eine Löwin und hatte plötzlich ein Messer in der Hand, das sie mir über das Gesicht zog. Ich hab sie gefickt und dann erschossen.«

»Nein«, hatte Bakary geantwortet und sich abgewendet, »ich gehe allein.«

Im Hochland der Schotts, dem Land am Rande des Atlas, mit den großen, sumpfigen Salzseen, hatte er den Bus verlassen und in der Nähe einer kleinen Ansiedlung, an einem Berghang, die kleine Höhle gefunden, in der er sich nun befand.

»Bevor du dein Ziel erreichst, solltest du einen Tag ausruhen und neue Kräfte sammeln«, hatte ihm der alte Imam geraten.

Es war ein guter Rat, das merkte er jetzt und verscheuchte die Gedanken an die zurückliegende Fahrt.

Ich muss nach vorn blicken.

Ausgeruht stand er auf und streckte sich. Jetzt sah man, dass er groß gewachsen und kräftig war. Ein dunkelhäutiger, jedoch kein schwarzer Afrikaner, mit gekräuselten Haaren. Das scharfgeschnittene Gesichtsprofil mit der geraden Nase und die hellere Hautfarbe verrieten, dass er Tuareg unter seinen Vorfahren hatte.

Sorgsam verstaute er das kleine Buch in der Tragetasche und entnahm ihr ein Bündel Geldscheine, die er unter den Jeans, dicht an seinem Körper verbarg. Den silbrig glänzenden, kleinen, flachen Anhänger, der sich ebenfalls darin befand, betrachtete er lange, führte ihn dann zu seinen Lippen und hängte ihn sich um den Hals. Nachdem er sich den weißen Umhang, der ihn vor der Hitze der Sonne schützen sollte, mit einer einzigen Bewegung übergeworfen hatte und das blaue Tuch so um seinen Kopf geschlungen war, dass es auch Nase, Mund und Kinn bedeckte, verneigte er sich mit über der Brust gekreuzten Armen in Richtung Mekka.

»Allah, du hast mir geholfen und mich sicher bis hierher geführt. Zeige mir den Weg nach Ghazaouet und führe mich zu Karim Bonounou«, betete er.

Er verließ die Höhle und stieg den Berghang hinunter, bis er zur Siedlung kam, wo die Straße nach Norden vorbei führte. An der hohen Staubfahne in der Ferne konnte er erkennen, dass sich ein Fahrzeug näherte, das Allah ihm für seine Weiterfahrt geschickt hatte.

Karim Bonounou zu finden war leichter als er angenommen hatte, jeder kannte ihn. Er wohnte am Rande der Stadt in Richtung Norden. Das Grundstück war von einem hohen Eisenzaun umgeben. In der rechten Säule des Tores, in Augenhöhe eines erwachsenen Mannes, war eine kleine, dunkle Scheibe eingelassen, unter der Bakary die Aufforderung las, sein Gesicht unverhüllt zu zeigen und seinen Namen zu nennen. Er musste lange warten, ehe das Tor sich geräuschlos öffnete und den Eingang frei gab.

Ein breiter Weg mit hellem Kies führte ihn unter hohen Zedern und Kiefern hindurch zu einem schneeweißen zweistöckigen Haus mit einer Dachterrasse, auf der sich zwei riesige Sonnenschirme ausbreiteten. Neben dem Hauseingang parkte ein weißer Geländewagen mit vier ineinander verschlungenen Ringen auf dem Kühlergrill, eine Automarke, die Bakary häufig gesehen hatte als er im letzten Jahr in Bamako war und die vielen ausländischen Autos bewundert hatte. Etwas weiter im Hintergrund stand ein brandneues weinrotes Cabrio mit offenem Dach, gelben Ledersitzen und einem Stern auf der Haube, das seine Blicke anzog und für einige Zeit gefangen hielt.

Bonounou muss ein bedeutender Mann sein, ging es ihm durch den Kopf.

In der Nähe des Hauses standen mehrere bewaffnete Männer herum, die ihn schon von Weitem argwöhnisch beobachtet hatten. Mit seinem hohen Körperwuchs, seinem weißen Umhang, den er über T-Shirt und Jeans trug und seinen ausgreifenden, federnden Schritten hatte er ihre volle Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Sie ließen ihn keine Sekunde aus den Augen, als er näher kam. Er musste seinen Umhang ablegen und sich von ihnen abtasten lassen.

»Ich besitze keine Waffen«, sagte er, erhielt jedoch keine Antwort.

Ein Dunkelhäutiger öffnete ihm schließlich.

»Was willst du?«, fragte er barsch.

»Ich bin Bakary Dayan und will zu Karim Bonounou. Der Imam aus Ségou schickt mich.«

»Bring ihn herein«, hörte er eine laute Stimme aus dem Hausinneren.

Karim Bonounou stand in der Mitte des Eingangsraumes. Er war groß, nicht mehr ganz jung. Der helle Anzug aus feinem Stoff passte nicht zu seinem wettergegerbten, mit Narben übersäten Gesicht. Mit einem blauen Tuch wischte er sich den Schweiß von der Stirn und musterte ihn aus großen, beweglichen Augen.

»Ich höre du kommst aus Ségou.«

»Ja, der Imam Ibrahim Ben Abdoulaye schickt mich zu Ihnen. Er sagt, Sie können mir helfen, nach Frankreich zu gelangen. Ich war viele Tage unterwegs. Allah hat mich beschützt und zu Ihnen geführt.«

»Wie ist dein Name?«

»Ich heiße Bakary Dayan.«

Bonounou wirkte überrascht.

»Ist Dayan der Targi dein Vater?«

»Ja.«

Bonounou blickte ihn lange und nachdenklich an, bevor er weitersprach.

»Als ich jünger war habe ich mit deinem Vater zusammen in Gaddafis Armee gedient. Später waren wir in seiner Leibgarde. Dort waren nur die Besten, es war eine absolute Elitetruppe. Wir waren gute Freunde und konnten uns voll aufeinander verlassen. Wir hatten eine sehr schöne Zeit. Später verloren wir uns aus den Augen. Jeder von uns hatte Anderes im Sinn. Er kämpfte für die Interessen seines Volkes, während ich mich meinen eigenen Interessen zuwandte. Ich habe ihn in guter Erinnerung behalten. Er war ein tapferer und kluger Mann, der auch in Augenblicken der größten Gefahr den Überblick nicht verlor.

Einmal bei einer Besichtigungsfahrt zu neu erschlossenen Erdölfeldern auf der Cyrenaika waren wir in einen Hinterhalt von Fundamentalisten geraten. Gaddafi überlebte, weil er im zweiten Fahrzeug war, was keiner wusste. Dein Vater hatte es so angeordnet. Ich saß im ersten Wagen, unter dem eine Sprengladung hochgegangen war. Wie er es schaffte, weiß nur Allah, aber deinem Vater gelang es, mich aus dem brennenden Wagen herauszuholen. Er rettete mein Leben und setzte seines dafür ein. Leider konnte ich es ihm nie zurückzahlen und stehe deswegen noch in seiner Schuld.«

In Gedanken versunken stand er und wischte sich mit dem Tuch die Stirn.

»Wenn der Imam dich zu mir schickt, musst du ein strenggläubiger Muslim sein!«

»Ja, ich versuche es zu sein, so gut es mir gelingt.«

»Er schickt nur junge Burschen zu mir, die bereit sind, Allah mit Leib und Seele zu dienen und für ihn zu sterben. Ob du das allerdings auch willst, musst du selbst entscheiden. Wie ich sehe, bist du zum Sterben noch zu jung«, sagte er und die Andeutung eines Lächelns huschte über sein Gesicht.

»Kannst du mit Waffen umgehen?«

»Nein.«

»Wenn du der Sohn deines Vaters bist, wirst du es schnell lernen. Ich werde dir helfen, nach Spanien zu gelangen. Von dort aus gehst du am besten nach Frankreich, nach Paris.«

Er nahm das Bündel Dollarnoten entgegen, das Bakary hervorgeholt hatte und warf es achtlos auf einen Tisch, ohne nachzuzählen.

»Wenn du bereit bist, ruhmvolle Taten für Allah zu vollbringen, wende dich an diesen Mann«, sagte er und gab ihm ein Stück Papier auf das er eine Telefonnummer schrieb.

»Er wird dir alles Weitere sagen. Hol die Tasche«, wandte er sich an den Mann, der wartend an der Tür stand.

»Hör gut zu Bakary Dayan. Du wirst nach Dakhla Plage gehen und dort morgen früh bei Sonnenaufgang am Strand warten. Irgendwo dort in der Nähe ist das Boot verankert, das dich nach Spanien bringen wird. Dort werden einige Männer und zwei Frauen warten, aber auch zwei Männer aus Nigeria, die genau wie du Allah dienen, allerdings auf eine etwas andere Art. Es sind erfahrene Kämpfer und sie sind verantwortlich für die Ladung, die an Bord genommen wird. Sie werden deine Hilfe sicherlich nicht brauchen, aber hilf ihnen, falls das doch der Fall sein sollte.

Die Tasche, die du von mir bekommst«, dabei blickte er in Richtung des Mannes, der mit einer Plastiktüte zurückgekommen war, »enthält alles, was du für die Überfahrt brauchst.«

Er machte eine Pause und griff sich an den Rücken.

»Von dem, der euch in Spanien empfängt, es wird ein Mann namens Paolo sein, wirst du alles Weitere erfahren. Sei morgen früh pünktlich bei Sonnenaufgang in Dakhla am Strand, wie ich dir gesagt habe.«

Karim Bonounou wandte sich um und wollte schon gehen, doch dann besann er sich und musterte Bakary noch einmal von oben bis unten, mit einem wohlwollenden Blick, so, als hätte er Gefallen an ihm gefunden.

»Du kannst jederzeit bei mir anfangen. Junge Männer wie dich kann ich immer gut gebrauchen. Überlege es dir! Aber es ist auch gut, seinen eigenen Weg zu gehen. Ich glaube das hätte dein Vater zu dir gesagt, wenn er noch am Leben wäre.

Und, denke daran, solltest du einmal Hilfe brauchen, ich stehe noch in deines Vaters Schuld.«

Er nahm den Zettel wieder an sich, den er ihm vorher gegeben hatte, schrieb eine zweite Telefonnummer dazu und verließ ohne weitere Worte den Raum.

Bakary fiel auf, dass er einen schwerfälligen Gang hatte und das rechte Bein nachzog.

Der Türsteher übergab Bakary die Tüte und machte eine Handbewegung, dass er sich nun entfernen sollte.

Wieder auf der Straße schaute Bakary in die Plastiktüte und entdeckte darin drei Fladenbrote, eine große Flasche Wasser und fünfzig Euro.

Kein Pass?

Vielleicht bekomme ich den in Spanien oder von dem Mann in Paris, überlegte er.

Dakhla Plage war ein kleiner, flach in das Meer verlaufender Sandstrand, der seitlich von schroffen, steil ansteigenden dunklen Felsen eingerahmt war. Es war noch früh am Morgen. Obwohl die aufgehende Sonne viel gelbes und rotes Licht für den heraufziehenden Tag abgab, war es noch sehr kühl.

Bakary hatte die Nacht am Strand verbracht und immer wieder fasziniert auf das Spiel der riesigen Wellen geschaut, die auf ihn zurollten, sich auftürmten und sich schäumend überschlugen. Größere hatte er nie zuvor gesehen. Als die riesigen Wassermassen ihm keine Angst mehr einflößten, sondern ihn wegen ihrer Gleichmäßigkeit eher beruhigten, hatte er das Rauschen der Wellen wahrgenommen. Sie erzählten von Ländern, die er kennenlernen würde: Spanien, Frankreich, vielleicht auch Portugal. Länder von denen er viel gehört hatte: Französische Revolution, Menschenrechte, Eifelturm, Zinédine Zidane, Paul Gauguin, König Felipe, Mirage, FC Barcelona, Real Madrid, Christiano Ronaldo, Vasco da Gama.

Das Meer hatte ihn völlig in seinen Bann geschlagen und schickte immer neue Wellen heran, die ihn aufforderten, die Reise unbedingt anzutreten und sei sie auch mit noch so vielen Gefahren verbunden. Dann war er in einen tiefen Schlaf gefallen. Im Traum war er seinem Vater begegnet, dem Imam aus der Koranschule und Karim Bonounou. Sie hatten miteinander gesprochen, aber Bakary hatte nicht verstanden, über was sie geredet hatten. Weil er es aber unbedingt wissen wollte, war er aufgewacht. Immer noch müde rieb er sich die Augen, um den Schlaf zu vertreiben.

Ganz in der Nähe hatte sich eine Gruppe von etwa zwanzig Männern und zwei Mädchen, eingefunden. Die beiden Mädchen, die aussahen wie Schwestern, hatten sich gegenseitig die Arme um die Schultern gelegt und standen eng aneinander geschmiegt. Die Männer schienen sich gut zu kennen. Einer von ihnen sprach in sein Handy, begann daraufhin zu gestikulieren und wandte sich den Anderen zu, um ihnen etwas offensichtlich Wichtiges mitzuteilen.

Die beiden abseits stehenden Männer in ausgeblichenen grünen Militärjacken nahmen von alledem keine Notiz und schienen einfach nur zu warten. Wegen der Sonnenbrillen waren ihre Gesichter nicht zu erkennen. Man konnte nicht sagen warum, aber Ihre zur Schau gestellte Körperlichkeit hatte etwas Bedrohliches an sich. Obwohl sie jetzt andere Kleidung trugen, hatte Bakary sie wiedererkannt, es waren Abdoul und Malikk.

Sie sehen so aus, als ob sie mir Unglück bringen, ging es ihm durch den Kopf.

Sein Blick blieb immer wieder an dem alten, grau gewordenen Fischerboot hängen, das etwas weiter draußen im tieferen Wasser vor Anker lag, so als ahnte er, welchen Einfluss es auf sein Schicksal nehmen würde. Das Boot machte den Eindruck, als ob es höchstens noch für Ausfahrten bei gutem Wetter tauglich sei. Der altersschwache blaue Farbanstrich blätterte schon an vielen Stellen ab und gab darunterliegendes, vom Salzwasser angefressenes Holz frei.

Dann näherten sich Motorengeräusche. Ein weißer Lieferwagen rumpelte schwankend auf dem holperigen Weg heran, der zum Stand führte, fuhr vorsichtig über den lockeren Sand und hielt an der Wasserkante an. Zwei Männer sprangen heraus und öffneten die Hecktür. Sie sahen aus wie Fischer und schienen die Eigentümer des Bootes zu sein. Abdoul sprach kurz mit ihnen, rief die wartenden Männer zu sich heran und wies sie an, eine Schlange zu dem dümpelnden Boot zu bilden, um den Lieferwagen zu entladen. Weiße Kartons mit rotem Kreuz wurden von Arm zu Arm gereicht und wanderten vom Lieferwagen über das Wasser hinweg, um in der Ladeluke des Fischerbootes zu verschwinden. Leicht waren die Kartons nicht, aber das rote Kreuz war für alle ein Ansporn, keinen davon nass werden zu lassen, besonders dort nicht, wo das Wasser bereits hüfthoch war.

Nach zehn Minuten war das Ausladen beendet und der Lieferwagen fuhr davon. Auf ein Zeichen hin kletterten alle über eine kleine Leiter in das Boot und Bakary musste sich beeilen, damit er als letzter noch an Bord genommen wurde.

»Wenn wir in Spanien sind, wird Paolo euch erwarten. Nachdem ihr ihm geholfen habt, das Boot zu entladen, wird er euch sagen, wie es weitergeht«, sagte einer der beiden Bootseigner.

Nach einer Reihe von explosionsartigen Fehlzündungen startete der Motor und als er sich warm gelaufen hatte, steuerte das Boot, eine dunkle Rauchwolke hinter sich herziehend, auf das offene Meer hinaus.

Bakary stand vorn am Bug. Er vermied es, hinter sich zu blicken, sondern war ganz auf das konzentriert, was jetzt vor ihm lag. Erwartungsvoll blickte er auf das im Morgenlicht glänzende Wasser und nahm die Meeresgerüche wahr, die ihm der Wind entgegentrug.

Allah hat mir den Gedanken eingegeben, mein Heimatland zu verlassen und der Imam hat mich darin bestärkt. Es ist Allahs Wille, er wird mir helfen und mir den richtigen Weg zeigen, dachte er.

Das jüngere der beiden Mädchen, das neben ihm stand, griff über die Bordkante und hielt seinen ausgestreckten Arm in das vorbeiströmende Wasser. Das Boot war schwer beladen und lag sehr tief im Wasser. Von der Bordkante aus konnte sie die Wasseroberfläche erreichen, ohne sich weit hinauslehnen zu müssen.

Was wird mir die Zukunft bringen?, dachte sie voller Wehmut.

Es kann nicht schlechter sein als das, was hinter mir liegt.

Bei dem Gedanken, dass sie ihr Heimatland vielleicht nie wieder sehen würde, erfasste sie tiefe Trauer und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie umarmte ihre Schwester und drückte sich fest an sie und weinte noch immer still in sich hinein, als Afrika schon weit hinter ihr lag, und die Küstenlinie mit der Horizontlinie fast verschmolzen war.

Viel Platz war auf dem Boot nicht vorhanden. In der kleinen Kajüte standen die beiden Bootsführer. Davor befanden sich der Motorraum und die Luke zum Laderaum, wo die weißen Kartons gestapelt waren. Dort hatten es sich die beiden Männer in den grünen Jacken bequem gemacht und ließen keinen Zweifel aufkommen, dass sie diesen Platz mit keinem teilen würden.

Die Anderen saßen oder kauerten dicht gedrängt am Boden des Decks oder standen an die Bordwand gelehnt, hielten die Köpfe in den Fahrtwind und lauschten dem klopfenden Motorgeräusch, das sich mit dem Rauschen des Meeres vermischte.

»Woher kommt ihr«, fragte Bakary das jüngere der beiden Mädchen.

»Wir sind aus Ayorou in Niger. Ich heiße Awa. Unsere Eltern und Verwandten wohnen dort. Sie sind sehr arm, aber sie haben Geld gesammelt, damit wir nach Frankreich gehen können.

Ein Onkel hat uns erzählt, dass man dort gut bezahlte Arbeit findet und dort gut leben kann. Wir werden ihnen Geld nach Hause schicken, so ist das abgesprochen. Sie sind sehr arm und sind auf uns angewiesen.«

Sie machte eine Pause und erzählte zögernd weiter.

»Ich und Aimeé, meine Schwester, wir haben schon immer von Frankreich geträumt. Aber jetzt, auf dem Weg dorthin, habe ich doch sehr viel Angst, weil ich nicht weiß, was uns dort erwartet.«

Sie schlug die Augen nieder.

»Und du?«, fragte sie nach einer Weile.

»Ich komme aus Ségou, in Mali. Ich werde auch nach Frankreich gehen oder vielleicht sogar nach Deutschland. Ich möchte gerne einen Beruf erlernen. Das ist schwer in Mali, wenn man nicht die richtigen Leute kennt. Aber ich vertraue Allah.«

»Meine Schwester sagt, Paolo wird uns nach Frankreich bringen. Du hast es doch auch gehört, Paolo wird uns in Spanien am Strand erwarten.«

Wie schön sie ist und was für hübsche Augen sie hat, dachte Bakary, der sie lange angeschaut hatte, während sie redete, und fühlte wie eine Welle warmen Blutes in seinem Körper aufstieg.

»Weißt du was in den weißen Kartons ist?«

»Wahrscheinlich Medikamente oder Hilfsgüter für das Rote Kreuz. Aber ich hab mir darüber noch keine Gedanken gemacht«, sagte er.

»Ja, es könnte so sein. Wir helfen Paolo beim Entladen und er wird uns dafür nach Frankreich bringen.«

»Wenn Allah es so will, wird es gut sein«, antwortete Bakary.

Weil das Meer ruhig war, konnte der laut dröhnende Motor das vibrierende Boot mit langsamer, fast gleichbleibender Fahrt vorwärts schieben. Der Himmel war mit weißen Wolkenschleiern bedeckt und die kühlende Seeluft war angenehm auf der Haut zu spüren.

Für kurze Zeit wurden sie von einer Gruppe von Delfinen begleitet, die mit spielerischer Leichtigkeit neben ihnen her ihre Bahnen zogen. Es hatte fast den Anschein, als ob sie im Sprung herüberschauten und sich vergewissern wollten, dass ihre geschmeidigen Bewegungen auch wahrgenommen wurden. Mit einem Mal waren sie so überraschend verschwunden wie sie aufgetaucht waren. Einer der Männer sagte, das sei ein gutes Zeichen, wenn Delfine sich zeigen, das bringe Glück. Bakary hatte dazu keine besondere Meinung, hoffte aber insgeheim, dass der Mann Recht behalten möge.

Nach anderthalb Tagesreisen, auf denen sie nur einige Containerfrachter, einen weißen Passagierdampfer und eine Fähre aus der Ferne sahen, hatten sie bereits einen Großteil der Strecke zurückgelegt. Bakary hatte die meiste Zeit vor sich hin gedöst, in seinem Koran gelesen oder Awas Geschichten gelauscht. Es war einfach schön, neben ihr zu sitzen, sie anzuschauen und ihr zuzuhören. Sie hatte ihm erzählt, dass ihre Familie Christen sind.

»Wir sind eine sehr kleine Minderheit in unserem Land und werden überall benachteiligt. Unsere Möglichkeiten, in Niger ein normales Leben zu führen, sind sehr schlecht. Darum würden ich und meine Schwester gern in Frankreich leben, dort ist es besser für uns. Seit der Revolution sind dort alle Menschen gleich, so habe ich es in der Schule gelernt.«

»Das könnte stimmen«, gab Bakary zu, ohne länger darüber nachzudenken. Er sah nur in die schönen Augen von Awa und war glücklich, wenn sie mit ihm sprach.

Am späten Nachmittag des zweiten Tages zeigte die spanische Küste sich als feiner Nadelstreifen vor ihnen am Horizont. Doch je näher sie kamen, desto mehr verdunkelte sich der Himmel und überzog sich mit einem schwefeligen Gelb, während das Meer in dunkles Blau, fast in Schwarz getaucht war. Die ausgefransten Zackenmuster auf der Wasseroberfläche kündigten einen Sturm an.

Und dann plötzlich ging alles sehr schnell. Das Boot musste gegen immer höhere Wellen ankämpfen und verlor stark an Fahrt. Schließlich schien es stehen zu bleiben, obwohl der Motor auf voller Leistung lief.

Bakary sah die ängstlichen Mienen der beiden Bootsführer und betete zu Allah, dass er sie vor dem Unwetter beschützen möge. Der Wind schwächte sich jedoch nicht ab, sondern nahm immer mehr an Stärke zu. Auch bei dem Gedanken an Allahs Hilfe gelang es Bakary nicht, sich zu beruhigen, und zwar deswegen nicht, weil sein Magen rebellierte. Er fühlte sich schlecht und ihm blieb nichts anderes übrig, als sich an die Bordwand zu klammern und auf Wetterberuhigung zu hoffen. Spätestens jetzt war jedem der Bootsinsassen klar, wie gefährlich ihre Lage war und wie bei zunehmender Windstärke sich ihre Chancen, heil an Land zu kommen, immer mehr verringerten. Die sich überschlagenden Wellen schütteten Sturzbäche von Wasser auf das tief liegende Boot und brachten es bei jedem erneuten Eintauchen in ein Wellental fast zum Untergehen.

Angetrieben von ihren eigenen angstvollen Schreien schöpften die Männer Wasser aus dem Boot. Weil kaum Gefäße vorhanden waren, blieben es jedoch Einzelversuche, die schnell erlahmten und dumpfer Hoffnungslosigkeit Platz machten. Jeder klammerte sich irgendwo fest und hoffte, nicht über Bord gespült zu werden.

Abdoul und sein Gefährte Malikk hatten eine Zeit lang lautstark auf die beiden Bootsführer eingeredet. Plötzlich sah Bakary, wie sie mit blitzschnellen Bewegungen zwei der neben ihnen stehenden Männer packten und ins Meer warfen. In der Rückwärtsbewegung rammten sie zwei weitere Männer gegen die Bordwand und stießen sie ins Wasser.

Bakary und die Anderen waren zunächst völlig überrascht, stürzten sich auf die Beiden und versuchten sie festzuhalten. Weil sich das alles auf nur einer Seite abspielte, neigte das Boot sich gefährlich.

Ibrahim, dem größten und kräftigsten der Männer, war es schließlich gelungen, Malikk von hinten zu umklammern. Bakary, der am nächsten stand, wollte ihm helfen, konnte aber nicht, weil es neben der Ladeluke zu eng war. Ibrahim musste wieder loslassen, bekam einen Tritt in den Unterleib, verlor das Gleichgewicht und taumelte rückwärts. Im gleichen Augen blick schlitzte das Messer von Abdoul ihm den Hals auf. Mit hilflos ausgestreckten Armen drehte er sich in einer pulsierenden Blutfontäne um die eigene Achse. Seine zuckenden Hände suchten Halt an der Bordwand, dann fiel er röchelnd vor Bakarys Füße.

Erschrocken wichen die anderen Männer zurück. Ihnen war klar, dass sie es mit brutal entschlossenen Kämpfern zu tun hatten. Sie standen wie gelähmt und sahen tatenlos zu, wie einer nach dem anderen über Bord gestoßen wurde.