Der Mönch und die Henkerstochter und andere Schauererzählungen - Ambrose Bierce - E-Book

Der Mönch und die Henkerstochter und andere Schauererzählungen E-Book

Ambrose Bierce

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Beschreibung

Bierce war ein Meister der Kurzgeschichte, des scharf geschliffenen pointierten Wortes, ein Könner in der Gattung der Schauergeschichte, seinem Landsmann Edgar Allan Poe durchaus ebenbürtig.

Die in diesem Band enthaltenen Erzählungen entstammen zum großen Teil den Sammelbänden »Can Such Things Be?« und »In the Midst of Life«. Es ist eine Auswahl von gut einem Dutzend Geschichten aus dem raffinierten Schreckenskabinett dieses Autors, der sich übrigens auch mit satirischen Fabeln und mir Geschichten in der amerikanischen Tradition der »Western Tales« wie Bret Harte oder Mark Twain einen Namen gemacht hat. Erzählungen wie die Titelgeschichte »Der Mönch und die Henkerstochter« werden zweifellos immer zu den Meisterstücken der amerikanischen Literatur zählen.

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Seitenzahl: 314

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ambrose Bierce

Der Mönch und die Henkerstochter

Aus dem Amerikanischen von Karl Bruno Leder, Gerd Leetz und M. S. Arnemann Insel Verlag

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 2. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 1268.

© 1990, Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

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Umschlaggestaltung: hißmann, heilmann, hamburg

eISBN 978-3-458-75265-3

www.insel-verlag.de

Inhalt

Der Mönch und die Henkerstochter

Ein verdammtes Scheusal

Eine Straße im Mondschein

Ein Siruptopf

Die nächtlichen Vorgänge in der Totenschlucht

Der Zwilling

Gilsons berühmtes Vermächtnis

Ein Abenteuer in Brownville

Ein harter Kampf

John Mortonsons Begräbnis

Das Geheimnis von Macargers Schlucht

Der Tod von Halpin Frayser

John Bartines Uhr

Das vernagelte Fenster

Eine Mittelzehe des rechten Fußes

Nachwort von Karl Bruno Leder

Der Mönch und die Henkerstochter

1

Am ersten Tag des Mai im Jahre des Herrn 1680 wurden die drei Franziskanermönche Ägidius, Romanus und Ambrosius durch ihren Abt von der christlichen Stadt Passau zum Kloster Berchtesgaden bei Salzburg geschickt. Ich, Ambrosius, war der jüngste und kräftigste von uns dreien, gerade einundzwanzig Jahre alt.

Das Mönchskloster Berchtesgaden lag, wie wir wußten, in einer wilden, gebirgigen Gegend, umgeben von düsteren Wäldern, in denen Bären und böse Geister ihr Unwesen trieben; und mit Bangigkeit sahen wir einem Leben in so beklemmender Umgebung entgegen. Aber da es Christenpflicht ist, den Geboten der Kirche zu gehorchen, beklagten wir uns nicht und fügten uns sogar freudig dem Willen unseres geliebten und verehrten Oberen.

Nachdem wir den Segen erhalten und zum letztenmal in der Kirche unseres Heiligen gebetet hatten, gürteten wir unsere Kutten, zogen neue Sandalen an die Füße und machten uns auf den Weg. Obwohl dieser Weg lang und gefahrvoll war, betraten wir ihn voller Hoffnung, denn Hoffnung ist nicht nur Anfang und Ende aller Gottgläubigkeit, sondern auch die Kraft der Jugend und die Stütze des Alters. Daher vergaßen wir rasch die Traurigkeit der Trennung und erfreuten uns der neuen und vielfältigen Eindrücke von Gottes weiter Welt. Die Luft war hell und lind wie das Gewand der Heiligen Jungfrau; die Sonne schien so strahlend wie das goldene Herz des Erlösers; wie ein Baldachin spannte sich der blaue Himmel über uns, und alles Leben auf Erden lobte den Herrn und Schöpfer.

Durch viele Dörfer und Städte kamen wir auf unserm Weg, und der Anblick all der Menschen, die ihren weltlichen Verrichtungen nachgingen, erfüllte uns arme Mönche mit immer neuem Staunen. Doch schienen sie alle in Demut und Frömmigkeit Gott zu dienen, denn die zahlreichen Kirchen waren groß und prächtig und die Felder und Obstgärten der Klöster gut gehalten. Das Läuten der Kirchenglocken schien uns Musik in den Ohren – uns war dabei, als sängen die Engel das Lob des Herrn.

Wo immer wir Leute trafen, grüßten wir sie im Namen unseres Heiligen. Und sie neigten sich vor uns mit der Ehrerbietung, die dem Heiligen galt. Frauen und Kinder kamen herbeigeeilt, sobald wir auftauchten, um unsere Hände zu küssen und sich segnen zu lassen. Es schien fast, als wären wir keine armseligen Diener Gottes und der Menschen, sondern Herren und Meister dieser herrlichen Welt. Aber laßt uns nicht stolz im Geiste werden, sondern in Demut die Sünde der Hoffahrt aus unseren Herzen verbannen.

Ich, Bruder Ambrosius, bekenne in Reue und Scham, daß meine Seele sich weltlichen Anfechtungen nicht ganz verschließen konnte. Es gab Augenblicke, da kam es mir so vor, als drängten sich die Frauen eifriger, meine Hände zu küssen als die meiner Gefährten. Das konnte gewiß nicht recht sein, denn ich war nicht heiliger als sie; vielmehr war ich jünger und unerfahrener in der Furcht des Herrn. Als ich diesen Irrtum der Frauen bemerkte und sah, wie die Augen der Mädchen an mir hingen, erschrak ich und fragte mich, ob ich der Versuchung widerstehen könnte, wenn sie an mich heranträte. Und oft dachte ich, daß Gelübde, Gebete und Kasteiungen nicht genügen; man muß so reinen Herzens sein, daß dieses keine Versuchung kennt. Aber wer kann das von sich sagen?

Wir übernachteten in Klöstern, wo wir immer gastlich aufgenommen wurden. Die Mönche bewirteten uns gut und fragten uns stets nach Neuigkeiten aus der großen Welt, von der wir soviel sehen und kennenlernen durften. Nannten wir das Ziel unserer Reise, so bedauerte man uns, daß wir in so unwirtlicher Gegend leben sollten. Man erzählte uns von Eisfeldern, schneegekrönten Bergen und schroffen Felsen, wilden Gebirgsströmen und düsteren Wäldern; auch von einem geheimnisvollen und schrecklichen See, der seinesgleichen in der ganzen Welt nicht hätte. Gott beschütze uns!

Am fünften Tag unserer Reise, kurz bevor wir zu der Stadt Salzburg gelangten, bot sich uns ein seltsamer und erschreckender Anblick. Vor uns am Horizont lag eine schwere graue Wolkenbank, von dunkleren Flecken und Schründen durchzogen. Und über ihr, unter dem blauen Himmel, stand ein zweites Firmament in blendendem Weiß. Der Anblick verwirrte und ängstigte uns. Die Wolken rührten und regten sich nicht. Wir beobachteten sie im Weitergehen stundenlang und sahen keine Veränderung. Erst spät am Nachmittag, als die Sonne im Westen sank, glühten sie auf, als stünden sie in Flammen. Wer beschreibt unsere Überraschung, als wir entdeckten, daß das, was wir für eine Wolkenbank gehalten hatten, nichts anderes war als das Gebirge, von dem man uns soviel erzählt hatte; also Felsen, Geröll und kahle Erde. Den weißen Himmel darüber aber bildete die Kette schneebedeckter Gipfel.

2

Als wir vor dem Paß standen, über den der Weg ins Gebirge führte, schauderten wir, als täte sich vor uns das Tor zur Hölle auf. Hier das liebliche Land, das wir für immer verließen; dort drohende Felsen, tiefe Schluchten und finstere Wälder, voller Gefahren für Leib und Seele. Doch wir stählten unseren Mut mit Gebeten und setzten unseren Weg fort, entschlossen zu erdulden, was Gott uns auferlegen würde.

Unter den riesigen Bäumen und dem dichten Blattwerk umfingen uns Dunkelheit und feuchte Kühle, die uns schaudern ließen. Der Klang unserer Schritte und unserer Stimmen, falls wir zu reden wagten, wurde von den hohen, steilen Felsen des Passes zurückgeworfen und wiederholt, und zwar so deutlich und so vielfach, daß wir überzeugt waren, von einem Schwarm unsichtbarer Gespenster verfolgt und gefoppt zu werden. Große Raubvögel flogen aus den Baumwipfeln oder aus Felsspalten auf und kreisten über dem Blätterdach, wobei sie krächzten oder kreischten, daß uns das Blut in den Adern gefror. Selbst unsere Gebete und frommen Lieder brachten uns keinen Trost, denn das Echo wiederholte sie so verzerrt und schaurig, daß sie wie Gotteslästerungen klangen. Zuweilen sahen wir entwurzelte Bäume am Wegrand liegen, wie von einer Riesenfaust aus der Erde gerissen und umgeworfen. Zuweilen auch führte unser Weg so hart am Rande dunkler Abgründe hin, daß uns Schwindel packte.

Schließlich brach ein Unwetter los, wie wir es noch nie erlebt hatten. Halb geblendet von grell zuckenden Blitzen, halb betäubt von den Donnerschlägen, meinten wir, die Hölle habe sich verschworen, unsere Weiterreise zu verhindern und uns zu vernichten. Aber dieses Unwetter ging bald vorüber, und wir trösteten uns über die ausgestandenen Ängste mit dem Gedanken, daß unser Heiliger in den Bergen offenbar nicht weniger mächtig sei als in der Ebene.

Schließlich erreichten wir das Ufer eines Flusses, dessen silbrige Wasser uns einen erfreulichen Anblick boten. In den kristallenen Tiefen zwischen den Felsen konnten wir schöne, goldene Forellen sehen, beinahe so groß wie die Karpfen im Teich unseres Klosters zu Passau. Selbst in dieser wilden Gegend sorgte also der Himmel für die Fastenspeise der Frommen.

Unter den schwarzen Tannen und zwischen den großen, mit Moos und Flechten bedeckten Felsen wuchsen seltene Blumen, dunkelblau und goldgelb. Bruder Ägidius, der ebenso gelehrt wie fromm war, kannte sie aus seinem Herbarium und sagte uns ihre Namen. Wir erfreuten uns am Anblick der vielen glänzenden Käfer und bunten Schmetterlinge, die nach dem Regen aus ihren Schlupfwinkeln kamen, und vergaßen unsere Ängste.

Viele Stunden schon hatten wir keine menschliche Behausung mehr gesehen. Tiefer und tiefer drangen wir in das Gebirge vor. Immer unheimlicher wurde die Wildnis. Aber sie erschreckte uns nicht mehr so sehr wie zu Anfang, denn nun waren wir überzeugt, daß Gott uns beschützte.

Der Fluß versperrte uns den Weg. Aber nachdem wir eine Weile an seinem Ufer entlang gewandert waren, fanden wir zu unserer Freude eine rohe, aber feste Brücke. Wir waren schon im Begriff, sie zu überschreiten, als mein Blick auf das andere Ufer fiel und mein Blut bei dem Anblick, der sich mir bot, zu Eis erstarrte.

Auf der anderen Seite des Flusses breitete sich eine Wiese aus, mit wunderschönen Blumen übersät. Und in der Mitte der Wiese stand ein Galgen, an dem ein menschlicher Körper hing! Das Gesicht war uns zugewandt, und die verfärbten und verzerrten Züge ließen erkennen, daß der Tod am selben Tag durch Erhängen eingetreten war!

Ich wollte gerade meine Begleiter auf den schrecklichen Anblick aufmerksam machen, als etwas Seltsames geschah: Auf der Wiese erschien ein junges Mädchen mit langem, goldenem Haar, um das ein Blütenkranz geschlungen war, und in einem hellroten Kleid, das wie eine Flamme zu leuchten schien. Das Mädchen zeigte keine Angst vor dem Galgen und der daran baumelnden Leiche. Im Gegenteil, es lief laut singend darauf zu und schwenkte die Arme, um die Geier zu verscheuchen, die um den Galgen flatterten und krächzend mit ihren Schnäbeln auf den Gehenkten einhackten. Beim Herannahen des Mädchens ließen sie widerwillig von ihrer Beute ab, bis auf einen besonders großen Vogel, der auf dem Galgen sitzen blieb und erst wich, als das Mädchen ihn mit Schreien, Stampfen und Händeklatschen verscheuchte.

Der Gesang und das Schreien des Mädchens hatten auch meine Gefährten auf das seltsame Schauspiel aufmerksam gemacht. Während wir stumm und fassungslos diese unbegreifliche Szene beobachteten, überlief mich plötzlich ein kalter Schauder. Es heißt, dies sei ein Zeichen dafür, daß irgend jemand auf die Stelle getreten ist, an der man selbst einmal begraben wird. Seltsamerweise fühlte ich diesen Schauder gerade in dem Augenblick, als das Mädchen unter den Galgen trat. Aber dies zeigt nur, wie unsinnig jeder Aberglaube ist. Denn wie sollte ein treuer Jünger des heiligen Franziskus unter einem Galgen begraben werden?

»Kommt!« sagte ich zu meinen Gefährten. »Wir wollen für die Seele des Toten beten!«

Wir eilten über die Brücke und begannen sofort zu beten, ohne unsere Augen zu erheben. Mein Herz war von Mitleid für den armen Sünder erfüllt, und ich erinnerte mich der Worte Gottes, der gesagt hat: »Die Rache ist mein.« Der Herr, der am Kreuz dem Schächer vergeben hatte, würde vielleicht auch mit diesem Sünder Erbarmen haben.

Das Mädchen hatte sich bei unserer Ankunft ein wenig zurückgezogen, doch plötzlich hörte ich seine süße, glockenhelle Stimme wieder. Sie rief erregt und voller Angst:

»Der Geier! Der Geier!«

Ich hob den Kopf und sah einen großen, grauen Vogel über den Tannen kreisen und ohne Furcht vor uns und unsern Gebeten sich wieder dem Galgen nähern.

Meine Brüder waren ungehalten über das Mädchen, das unsere Andacht störte. Ich aber sagte: »Vielleicht ist es eine Verwandte des Toten. Bedenkt doch, Brüder: Und nun kommt dieser schreckliche Vogel und hackt das Fleisch von seinem Gesicht und seinem Körper.«

Einer der Brüder sagte: »Geh hin, Ambrosius, und beschwichtige das Mädchen, damit wir in Ruhe unsere Gebete zu Ende sprechen können.«

So ging ich über die Blumenwiese zu dem schönen Kind hin, das immer noch angstvoll nach dem Geier ausspähte. Die schlanke Gestalt wandte sich zu mir um, blieb aber ruhig und aufrecht stehen und sah mir entgegen. In ihren großen, dunklen Augen las ich ihre Furcht, ich könnte ihr etwas zuleide tun. Auch als ich ganz nahe war, kam sie mir nicht entgegen, wie es Frauen und Kinder sonst zu tun pflegten, um meine Hände zu küssen.

»Wer bist du?« fragte ich. »Und was tust du ganz allein an diesem grausigen Ort?«

Sie antwortete nicht und rührte sich nicht, so daß ich meine Frage wiederholte: »Sag mir, Kind, was tust du hier?«

»Ich verscheuche die Geier«, antwortete sie mit ihrer süßen, weichen Stimme.

»War der Tote ein Verwandter von dir?« fragte ich. Sie schüttelte den Kopf. »Aber du kanntest ihn?« fuhr ich fort. »Und du beklagst seinen unchristlichen Tod?«

Aber sie schwieg, und ich fragte weiter: »Wie hieß er, und warum wurde er gehenkt? Was war sein Verbrechen?«

»Sein Name war Nathaniel Alfinger, und er hat einer Frau wegen getötet«, antwortete sie klar und mit einer Selbstverständlichkeit, als seien Mord und Hinrichtung die natürlichsten Dinge der Welt. Überrascht starrte ich sie an. Aber sie zeigte keine Gemütsbewegung.

»Kanntest du Nathaniel Alfinger?«

»Nein.«

»Und doch kommst du hierher, um seine Leiche vor den Raubvögeln zu schützen?«

»Ja.«

»Warum erweist du diesen Dienst einem, den du nicht kennst?«

»Das tue ich immer.«

»Wie…?«

»Immer, wenn einer gehenkt wird, verscheuche ich die Vögel vom Galgen. Da – schon wieder ein Geier!«

Sie stieß einen schrillen Schrei aus, warf die Arme empor und lief schreiend und winkend über die Wiese, bis der Vogel davonflog. Dann kam sie erschöpft und schweratmend zurück.

Ich fragte sie so sanft ich konnte:

»Wie heißt du, mein Kind?«

»Benedikta.«

»Und wer sind deine Eltern?«

»Meine Mutter ist tot.«

»Aber dein Vater? Wo ist er?«

Da sie schwieg, drang ich weiter in sie, mir den Namen ihres Vaters zu nennen. Ich wollte sie nach Hause bringen und dem Vater ans Herz legen, sein Kind von dieser grausigen Stätte fernzuhalten.

»Wo wohnst du, Benedikta? Bitte sag es mir.«

»Hier.«

»Was? Hier? Mein liebes Kind, hier steht doch der Galgen.«

Sie wies zu den dunklen Tannen hinüber. Als ich der Richtung ihrer Hand folgte, gewahrte ich unter den Bäumen eine elende Hütte, einem Stall ähnlicher als einer menschlichen Behausung. Da wußte ich, wessen Kind sie war.

Als ich zu meinen Gefährten zurückkehrte und sie mich nach dem Mädchen fragten, sagte ich: »Des Henkers Tochter.«

3

Nachdem wir die Seele des Toten der Fürbitte der Heiligen Jungfrau und aller Heiligen empfohlen hatten, verließen wir diese Stätte des Grauens. Ich blickte mich noch einmal nach der schönen Henkerstochter um. Sie stand reglos, wo ich sie verlassen hatte, und sah uns nach. Mit den großen, traurigen Augen und dem Blütenkranz auf dem Haar bot sie ein Bild von ergreifender Lieblichkeit. Meine Gefährten tadelten mich für die Teilnahme, die ich der Tochter des Henkers bezeigte; eines Mannes also, der ein so unchristliches Handwerk ausübte. Mich aber betrübte der Gedanke, daß sie ohne eigene Schuld verachtet und geächtet sein sollte. Warum mußte sie für ihres Vaters schrecklichen Beruf leiden? Bewies sie selbst nicht reinstes christliches Mitgefühl, indem sie die Aasvögel von den Leichen Gehenkter verscheuchte, die sie im Leben gar nicht gekannt hatte? Handelte sie nicht gottgefälliger als mancher Christ, der nur mit Worten Gott dient?

Ich teilte diese Gedanken meinen Gefährten mit. Aber zu meinem Leidwesen ließen sie sich nicht überzeugen. Im Gegenteil, sie schalten mich einen Träumer und Narren, der die altüberkommenen Bräuche mißachte. Der Henker und seine Familie seien nun einmal aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und müßten gemieden werden wie ein ansteckendes Übel. Ich war entschlossen, zu meiner Meinung zu stehen, und widersprach ihnen mit aller schuldigen Demut. Ich sagte, ich hielte es für ungerecht, solche Menschen wie Verbrecher zu bestrafen, da sie doch nur Werkzeug des Gesetzes seien, das durch sie Verbrecher bestraft. Auch wenn der Henker und seine Familie in der Kirche in eine dunkle, abgeschiedene Ecke verbannt sind, bleibe es doch unsere Pflicht als Diener des Herrn, Gerechtigkeit und Gnade zu predigen und ein Beispiel christlicher Liebe und Barmherzigkeit zu geben. Aber meine Brüder wurden sehr zornig und schalten mich laut, so daß ich anfing, mir schlecht und verworfen vorzukommen, obwohl ich meinen Fehler nicht einsehen wollte. Ich konnte nur hoffen, daß Gott mit uns barmherziger sein möge, als wir es gegeneinander sind. Ein Trost war mir der Gedanke, daß sie den Namen Benedikta trug. Vielleicht hatten ihre Eltern damit den Segen des Himmels auf sie herabbeschwören wollen; auf sie, die sonst niemand segnen würde.

Aber ich muß von dem seltsam wilden Land berichten, in das wir nun gelangt waren. Hätten wir nicht gewußt, daß die ganze Welt Gottes ist, denn er hat sie geschaffen, dann wären wir versucht gewesen, dieses Land für das Reich des Bösen zu halten.

Tief unter unserm Pfad rauschte und schäumte der Fluß zwischen den hohen Felsen dahin, deren Grate bis in den Himmel zu ragen schienen. Als wir aus der Schlucht herauskamen, erblickten wir zur Linken schwarze, undurchdringliche Tannenwälder und vor uns einen hohen Berg, der spitz zulief wie eine Narrenkappe und in seiner oberen Hälfte weiß war von Schnee. Schnee im Wonnemonat Mai! Gottes Werke sind wunderbar und unbegreiflich.

Zu unserer nicht geringen Überraschung sahen wir, daß an manchen Stellen entlang unserer Straße der Wald gerodet worden war, um Platz für einzelne Hütten mit Gärten zu schaffen. Manche dieser einfachen Heimstätten standen an Stellen, an denen man höchstens einen Adlerhorst vermutet hätte. Aber der Mensch streckt seine Hand nach allem aus, und sei es noch so schwer zugänglich.

Endlich erreichten wir den Ort unserer Bestimmung, das Kloster und Gotteshaus, die zu Ehren unseres geliebten Heiligen in dieser Einöde errichtet worden waren. Unsere Herzen schlugen bei diesem Anblick höher. Auf einem von Tannen überwachsenen Felsplateau standen Kloster und Kirche, von kleinen Häusern und Hütten umgeben wie der Schäfer von seiner Herde.

Möge Gott unsern Eingang in diese heilige Stätte segnen!

4

Seit mehreren Wochen lebe ich nun in dieser Wildnis. Aber Gott ist hier gegenwärtig wie überall. Meine Gesundheit bleibt gut, und dieses Haus unseres geliebten Heiligen ist ein Hort des Glaubens, ein Haus des Friedens, ein Asyl für jene, die die Versuchungen des Bösen fliehen, und ein Obdach für die Beladenen. Was mich selbst betrifft, so bin ich jung und habe noch so wenig Erfahrung in den Anfechtungen dieser Welt, daß ich mich dem Irrtum und der Sünde gegenüber besonders anfällig fühle. Mein Leben gleicht einem Bächlein, das ruhig und friedlich dahinplätschert, aber jählings zum reißenden Strom werden kann, wenn Sturm und Wolkenbrüche es aufwühlen und verwandeln.

Nicht Kummer oder Verzweiflung hatten mich ins Kloster getrieben, sondern der aufrichtige Wunsch, dem Herrn zu dienen, meinem geliebten Heiligen anzugehören, die Gebote der Kirche zu befolgen und in christlicher Nächstenliebe Gutes zu tun. Meine Eltern starben früh, und so betrachtete ich die Kirche, die sich meiner annahm, mich nährte, kleidete und belehrte, als meine geliebte Mutter. Oh, wie glücklich werde ich sein, wenn ich armer Mönch eines Tages die Priesterweihe empfangen darf! Immer denke ich daran und versuche meine Seele auf diese hohe Gnade vorzubereiten. Ich weiß, daß ich dieses großen Glücks nicht würdig bin, aber ich hoffe, Gott und den Menschen als guter, treuer Priester dienen zu dürfen. Ich bete manchmal, der Himmel möge mir eine Prüfung schicken und mich rein und unversehrt aus ihr hervorgehen lassen. Aber hier in dieser Einsamkeit gibt es keine Versuchungen. Und die Gefahren der Welt scheinen so fern von mir wie die stürmische See von diesem abgeschiedenen Bergland.

5

Unser Abt, Pater Andreas, ist ein milder und frommer Herr. Unsere Brüder leben in Frieden und Eintracht miteinander. Sie sind fleißig und mäßig und bescheiden in ihren Tafelfreuden, obwohl das Kloster über große Reichtümer verfügt. Alle Ländereien und Wälder ringsum sind Klosterbesitz. Die Wälder bieten Überfluß an Wildbret aller Art, die Flüsse an Fischen. In unserem Kloster wird aus Malz und Hopfen ein starkes, bitteres Bier bereitet, das stärkt und erfrischt.

Das Bemerkenswerteste in diesem Teil des Landes ist die Salzgewinnung. Man sagt mir, die Berge seien voll von Salz – wie wunderbar sind doch die Werke des Herrn! In Schächten und Stollen dringt der Mensch tief in das Innere der Erde vor, um das Salz in roten, braunen und gelben Kristallen ans Tageslicht zu bringen. Die Minen geben unsern Bauern und ihren Söhnen Arbeit und Brot. Der Aufseher, Salzmeister genannt, ist ein mächtiger Mann, aber unser Abt und die Brüder sprechen nicht gutvon ihm. Es heißt, er sei hart und böse. Der Salzmeister hat einen einzigen Sohn, Rochus mit Namen; ein schöner, aber wilder und gottloser junger Mann.

6

Die Menschen hier sind ein stolzer, eigensinniger Schlag. In alten Chroniken werden sie als Nachkommen der Römer bezeichnet, die schon zu ihrer Zeit Stollen in die Erde gruben, um das kostbare Salz herauszuholen. Die Vorväter der heutigen Bewohner waren noch eigensinniger als sie und beharrten noch im Heidentum, als ihre Nachbarvölker längst das Kreuz des Heilands angenommen hatten. Aber nachdem sie endlich ihre steifen Nacken doch dem Kreuz gebeugt hatten, wurden sie frömmer und strenger im Glauben als andere.

Körperlich sind sie kräftig und auffallend schön, besonders die jungen Männer. Die Frauen haben langes, goldenes Haar, das sie Heiligenscheinen gleich um ihre Stirnen flechten. Auch lieben sie es, sich mit funkelnden Steinen zu schmücken. Die jungen Männer, heißt es, kämpfen um die Frauen wie Hirsche um die Hindin. Oh, welche Abgründe von Leidenschaft beherbergt das menschliche Herz! Aber da ich von diesen Dingen nichts weiß und nichts verstehe, steht mir auch kein Urteil darüber zu.

O Herr, wie glücklich der, dessen Seele ganz von Dir erfüllt ist und keine weltlichen Leidenschaften, sondern nur den Frieden in Dir kennt!

7

Ich habe die schöne Henkerstochter wiedergesehen. Als die Glocken zur Messe läuteten, sah ich sie vor der Klosterkirche stehen. Ich kam gerade vom Krankenbett eines armen Alten, und ihr Anblick tat meinem betrübten Herzen wohl. Darum wollte ich sie begrüßen, aber sie hielt die Augen niedergeschlagen und bemerkte mich nicht. Der Platz vor der Kirche war voller Menschen, die Männer auf der einen, die Frauen und Mädchen auf der andern Seite, alle im Sonntagsstaat. Sie standen dicht beieinander, aber als das arme Kind sich näherte, traten sie beiseite, tuschelten und warfen ihr feindselige Blicke zu wie einer Aussätzigen, deren Berührung Fluch und Verderben bringt.

Mitleid erfüllte meine Brust und bewog mich, ihr zu folgen. Als ich sie eingeholt hatte, sprach ich sie an: »Gott grüße dich, Benedikta.«

Sie erschrak heftig. Dann, als sie mich erkannte, schien sie verwundert. Sie errötete über und über und senkte wieder den Kopf.

»Fürchtest du dich, mit mir zu reden?« fragte ich.

Aber sie antwortete nicht.

Da sprach ich weiter: »Tu recht, gehorche Gott und scheue niemand – dann wirst du gerettet werden.«

Darauf seufzte sie tief und antwortete mit leiser Stimme: »Ich danke Euch, Herr.«

»Ich bin kein Herr, Benedikta, sondern nur ein armer Diener Gottes, unseres Vaters, der allen seinen Kindern gnädig ist. Bete zu ihm, wenn dein Herz schwer ist, und dir wird geholfen werden!«

Während ich sprach, hob sie den Kopf und sah mich an wie ein trauriges Kind, das von seiner Mutter getröstet wird. Da führte ich sie vor allen Leuten in die Kirche.

O heiliger Franziskus, vergib mir die Sünde, die ich während des Heiligen Sakraments beging! Denn während Vater Andreas die feierlichen Worte der Heiligen Messe sprach, wanderten meine Blicke immer wieder zu der Stelle, wo die arme Benedikta und ihr Vater allein und von allen gemieden knieten. Sie schien mit großer Inbrunst zu beten. Und gewiß fand sie Gnade vor deinen Augen, denn es war deine unendliche Nächstenliebe, die dich vor den Thron Gottes brachte. Sollte ich, der Elendeste deiner Jünger, mich nicht dieser armen Ausgestoßenen annehmen, die ohne eigene Schuld leidet? Die tiefe Zuneigung, die ich für sie empfinde, ist gewiß ein Zeichen des Himmels, daß ich dazu ausersehen bin, sie zu schützen und ihre Seele zu retten.

8

Unser Abt hat nach mir geschickt und mir einen strengen Verweis erteilt. Er sagte, ich hätte unter den Brüdern und unter dem Volk großen Unwillen erregt, als ich zusammen mit der Tochter des Henkers die Kirche betrat. Welcher Teufel habe mich geritten, daß ich ein solches Ärgernis gab?

Ich erwiderte, daß mich die Arme dauerte und ich nicht anders handeln konnte.

»Warum dauert sie dich?« fragte der Abt.

»Weil alle sie meiden, als wäre sie die Sünde selbst, während sie doch ohne alle Schuld ist. Was kann sie dafür, daß ihr Vater Henker ist, wo es doch, leider, Henker geben muß?«

O heiliger Franziskus, wie schalt mich der Abt ob dieser kecken Worte! Ich solle in mich gehen und bereuen, befahl er mir. Aber wie kann ich mein Mitleid bereuen, das mir, wie ich fest glaube, der Himmel selbst eingegeben hat?

Zur Strafe für meine Verstocktheit hieß er mich in meiner Zelle bleiben, fasten und Buße tun. Ich nahm die Strafe demütig hin und schonte mich nicht, denn es ist Glück, für einen unschuldigen Mitmenschen leiden zu dürfen.

Ich stehe am Gitterfenster meiner Zelle, von wo aus ich die hohen, geheimnisvollen Berge schwarz gegen den Abendhimmel sehen kann. Unter dem Fenster murmelt der Fluß sanft und tröstlich. Unser Kloster ist auf einem hohen Felsen über dem Fluß erbaut, und gerade unter den Fenstern unserer Zellen fällt die Steinwand so steil ab, daß man sie nur unter Lebensgefahr erklimmen kann. Wie betroffen war ich daher, als ich eine Gestalt aus dem Abgrund heraufklettern sah! In der Dämmerung konnte ich nicht erkennen, was für ein Wesen es war; und da ich dachte, ein böser Geist käme, mich zu versuchen, bekreuzigte ich mich und sprach ein Gebet.

Die Gestalt hatte inzwischen die Felskante unter meinem Fenster erreicht. Ich sah eine Bewegung ihrer Hand, und plötzlich flog etwas durchs Fenster in meine Zelle. Ich hob es auf.

Es war ein Strauß Blumen – Blumen, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte: weiße Sterne, blattlos, weich wie Samt, aber ohne Duft. Erstaunt beugte ich mich weiter zu den Gitterstäben vor, um die Gestalt zu sehen, und härte eine sanfte, leise Stimme sagen: »Ich bin Benedikta; und ich danke Euch!« O Himmel! Sie war es, die unter Lebensgefahr die furchtbare Steilwand heraufgeklettert war, um mich in der Einsamkeit meiner Buße zu trösten! Sie wußte also von meiner Strafe und wußte, welches meine Zelle war. O geliebter Heiliger, das alles konnte sie nur durch dich wissen! Diese Gewißheit bestärkte mich in meiner Überzeugung, daß es mir aufgetragen war, sie zu retten.

Sie winkte mir noch kurz zu, wandte sich dann zum Abgrund zurück und verschwand. Unwillkürlich stieß ich einen Schrei aus. War sie hinuntergestürzt? Ich klammerte mich an die Eisenstäbe und versuchte in den Abgrund zu spähen, konnte aber nichts unterscheiden. Verzweifelt warf ich mich auf den Boden meiner Zelle und betete, der Himmel möge sie auf ihrem gefahrvollen Weg beschützen, wenn sie noch am Leben, oder ihrer Seele gnädig sein, wenn sie gestürzt war. Endlich aber gab mir Benedikta ein Zeichen, daß sie sicher das Tal erreicht hatte. Es war der juchzende Schrei, den diese Bergbewohner in ihrer ungezähmten Lebensfreude ausstoßen. Aus der Tiefe des Abgrunds, von seinem eigenen Echo begleitet, ergriff er mich so stark, daß ich weinen mußte. Meine Tränen fielen auf die wilden weißen Blumen in meiner Hand.

9

Als Jünger des heiligen Franziskus darf ich nichts besitzen, was meinem Herzen teuer ist. Daher schenkte ich meinem Heiligen das Liebste, was ich besaß, nämlich den Blumenstrauß, den mir Benedikta gebracht hatte. Er schmückte jetzt das Bild in der Klosterkirche, das den Heiligen mit dem blutenden Herzen darstellt, dem Symbol für seine leidende Menschenliebe.

Ich habe jetzt erfahren, wie man die Blume nennt: Sie heißt Edelweiß, wegen ihrer Farbe. Sie ist kostbarer als andere Blumen, weil sie in solcher Schönheit nur auf den höchsten und unzugänglichsten Felsen wächst. In welche Gefahren hat sich die schöne Benedikta begeben, um mir eine Freude zu bereiten!

10

Ich glaube, ich wurde blaß, als einer der Brüder bei Tisch berichtete, vor dem Bild des Heiligen sei ein Strauß Edelweiß gefunden worden; und er sei so schön, wie er nur auf einem schroffen Felsen in schwindelnder Höhe, tausend Fuß über einem schrecklichen See, wächst. Die Brüder erzählen schaurige Geschichten von diesem See, dessen Wasser wild und unergründlich sind und an dessen Ufern böse Geister ihr Unwesen treiben. Dorthin also hat das arme Kind sich ganz allein gewagt, um die Blumen für mich zu pflücken.

O du armes, schuldloses Kind, von den Menschen geächtet! Gewiß hat Gott dich beschützt, um mir ein sichtbares Zeichen zu geben, daß ich für deine Rettung ausersehen bin. Schon fühle ich in meinem Herzen etwas von der Verehrung, die einer Heiligen gebührt. Vielleicht wird Gott eines Tages deine Reinheit und Unschuld durch ein Zeichen offenbaren und die Kirche dich unter ihre Heiligen aufnehmen!

Noch etwas anderes habe ich über das Edelweiß erfahren. In diesem Land gilt es als ein Pfand der Liebe. Der Jüngling schenkt es seiner Liebsten, und das Mädchen schmückt den Hut seines Auserwählten damit. So wollte also Benedikta mit der Gabe, die sie mir, als einem bescheidenen Diener der Kirche, brachte, ihre Liebe und Verehrung für die heilige Kirche ausdrücken.

Tag für Tag streifte ich jetzt durch die Berge und Wälder; ich kenne schon jeden Pfad und jeden Winkel. Oft werde ich in die Häuser der Bauern, Jäger und Hirten geschickt, um den Kranken Arznei und den Betrübten Trost zu bringen. Unser ehrwürdiger Abt sagt, sobald ich die heilige Priesterweihe erhalten habe, werde ich auch den Sterbenden das Sakrament bringen dürfen.

Möge ich dieser Gnade würdig sein! Möge unser geliebter Heiliger meine Seele rein von irdischer Leidenschaft und Schuld erhalten!

11

Das Kloster hat ein großes Fest gefeiert, und ich will alles berichten, was dabei geschah.

Viele Tage lang vor dem Ereignis waren die Brüder schon mit den Vorbereitungen beschäftigt. Sie schmückten die Kirche mit Tannen- und Birkenzweigen und mit Blumen. Einige stiegen mit den Männern des Dorfes in die Berge und sammelten Alpenrosen, die im Sommer dort im Überfluß wachsen. Am Tag vor dem Fest wanden sie sie zu Kränzen für die Kirche.

Am nächsten Morgen fand die große Prozession statt. Sie war herrlich anzusehen und gereichte unserem Kloster zur Ehre. Der ehrwürdige Abt wandelte unter einem purpurroten Seidenbaldachin, umgeben von den ehrwürdigen Vätern, und trug in seinen Händen das Allerheiligste. Wir Brüder folgten mit brennenden Kerzen, Psalmen singend. Hinter uns kam die Menge des Volks im Festtagsstaat. Die stolzesten unter ihnen waren die Bergleute; an ihrer Spitze ritt der Salzmeister auf einem edlen Pferd, das mit kostbarem Zaumzeug geschmückt war, ein Schwert an der Seite, einen Federhut auf dem hocherhobenen Kopf. Ihm folgte sein Sohn Rochus. Als wir uns vor dem Tor in einer Reihe aufstellten, hatte ich Gelegenheit, mir diesen Rochus näher anzusehen. Er ist ein auffallend schöner, starker junger Mann; er trug den Hut schief auf dem Kopf und warf kecke, feurige Blicke nach den Frauen und Mädchen. Uns Mönche musterte er mit sichtlicher Verachtung.

Der Salzmeister ist so mächtig in dieser Gegend wie unser Abt. Er wird vom Herzog eingesetzt und hat große Vollmachten in allen Angelegenheiten, sogar Macht über Leben und Tod derer, die eines Verbrechens angeklagt sind. Möge Gott ihn stets weise und gerecht urteilen lassen!

Durch das Dorf zog die Prozession hinaus ins Tal und hinunter zu den Eingängen der großen Salzminen. Vor dem Haupteingang zur größten Mine war ein Altar errichtet, und dort las unser Abt das Hochamt, während alles Volk kniete. Ich bemerkte, daß der Salzmeister und sein Sohn nur widerwillig niederknieten und ihre Köpfe beugten, und das betrübte mich. Nach dem Gottesdienst zog die Prozession zu dem Hügel, der noch über dem Kloster liegt und Kalvarienberg genannt wird. Der Abt hob das Kruzifix und sprach Gebete und Beschwörungen, um die bösen Geister zu bannen, die in den Bergen der Umgebung hausen. Die Glocken läuteten zur Ehre Gottes, und es war, als sängen göttliche Stimmen über der Wildnis.

Ich sah mich nach der Tochter des Henkers um, konnte sie aber nirgends entdecken.

Nach dem Gottesdienst begann das Fest. Auf der Wiese waren unter Bäumen Tische aufgestellt, auf denen das Mahl aufgetragen wurde. Junge Männer entfachten große Holzfeuer und brieten Fleisch an hölzernen Spießen. Auch sotten sie Bergforellen und Karpfen in großen Kesseln. In riesigen Körben wurde das Weizenbrot aufgetragen, und auch an Getränken war kein Mangel, denn der Abt und der Salzmeister hatten jeder ein großmächtiges Faß Bier gestiftet. Zu Ehren des heiligen Franziskus muß ich sagen, daß das Faß des Abts das größere war.

Die beiden besten Tische waren dem ehrwürdigen Abt und den Patres sowie dem Salzmeister und seinen Leuten vorbehalten. Auch viele Ritter waren mit ihren schönen Frauen und Töchtern von ihren fernen Schlössern gekommen, um an dem Fest teilzunehmen. Ich wartete bei Tisch auf, zusammen mit einigen anderen jungen Mönchen. Ich reichte die Schüsseln und füllte die Gläser und staunte über die großen Mengen an Speisen und an bitterem braunem Bier, die vertilgt wurden. Ich beobachtete auch die verliebten Blicke, die des Salzmeisters Sohn den Frauen zuwarf und die mir mißfielen, denn er konnte doch nicht alle diese Frauen heiraten, besonders, da viele von ihnen schon verheiratet waren.

Es gab auch Musik. Einige junge Männer aus dem Dorf vollführten sie mit Flöten, Pfeifen und Fiedeln. Gewiß mag es eine schöne Musik gewesen sein – nur hat der Himmel mir das rechte Gehör für solche Töne versagt.

Nach dem Essen trieben die jungen Männer allerlei Spiele, in denen sie Kraft und Geschicklichkeit bewiesen. Heiliger Franziskus! Was für kräftige Arme, Beine und Nacken sie haben! Sie sprangen und rangen miteinander und es war, als ob Bären kämpften. Der bloße Anblick erschreckte mich. Es schien, als würden sie einander zermalmen. Aber die Mädchen sahen mit großem Vergnügen zu, kicherten und zeigten keine Angst. Auch über die Stimmen dieser jungen Bergbewohner konnte ich nur staunen. Sie warfen die Köpfe zurück und juchzten und schrien, und als das Echo die Schreie von allen Seiten zurückwarf, klang es wie ein Chor von Dämonen.

Unter diesen jungen Leuten schien der Sohn des Salzmeisters König. Er sprang wie ein Hirsch, kämpfte wie ein Bär und brüllte wie ein junger Stier. Ich merkte, daß viele ihn um seine Kraft und Schönheit beneideten und ihn heimlich haßten; trotzdem gehorchten ihm alle. Es war ein schöner Anblick, wie dieser junge Mann seinen schlanken und doch kräftigen Körper bewegte, wie er die goldenen Locken schüttelte und mit flammenden Wangen und blitzenden Augen die Spiele anführte. Wie traurig nur, daß Hochmut und Leidenschaft in seiner Seele wohnten!

Es dämmerte bereits, als der Abt, der Salzmeister, die Patres und alle vornehmen Gäste aufbrachen und den Jungen das Feld zu Trunk und Tanz überließen. Ich mußte an der Seite des Bruders Kellermeister zurückbleiben, um den übermütigen jungen Leuten Bier aus dem großen Faß zu kredenzen. Auch der junge Rochus blieb zurück. Ich weiß nicht, wie es dazu kam, aber plötzlich stand er vor mir. Sein Blick war finster und seine Haltung stolz.

»Bist du der Mönch«, fragte er mich, »der kürzlich solches Ärgernis erregt hat?«

Obwohl ich unter meiner Mönchskutte einen sündigen Zorn verspürte, antwortete ich doch demütig: »Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht.«

»Du weißt es recht gut«, herrschte er mich an. »Und merke dir dies: Wenn du dich jemals wieder an dieses Mädchen heranmachst, will ich dir einen Denkzettel geben, den du nicht vergessen sollst. Ihr Mönche nehmt euch unter dem Deckmantel der Tugend jede Frechheit heraus. Aber ich durchschaue euch. Merk dir das, du Kuttenträger, und hüte dich!«

Damit wandte er mir den Rücken und ging davon. Aber ich härte seine kräftige Stimme noch durch die Nacht schallen, als er mit den anderen sang und lachte.

Daß dieser wilde junge Mensch ein Auge auf die Henkerstochter geworfen hatte, beunruhigte mich tief. Sicher waren seine Gefühle für sie nicht ehrenhaft, sonst hätte er mich für meine Freundlichkeit ihr gegenüber nicht zur Rede gestellt, sondern mir dafür gedankt. Ich fürchtete für Benedikta und versprach meinem Heiligen, über sie zu wachen und sie zu retten – ihren Leib wie ihre Seele.

12

Die Burschen warfen trockenes Reisig ins Feuer, so daß die Flammen aufprasselten und Wiese und Bäume mit rotem Schein beleuchteten. Dann griffen sie sich die Mädchen und drehten sich mit ihnen im Tanz. Alle Heiligen im Himmel! Wie sie stampften und herumwirbelten, ihre Hüte in die Luft warfen und mit den Füßen ausschlugen, die Mädchen aufhoben und durch die Luft schwangen wie Federbälle! Dabei schrien und lärmten sie wie eine Schar höllischer Dämonen. Die Burschen waren voll des bitteren braunen Biers, das die Sinne umnebelt. Die wachsende Trunkenheit stachelte sie zu immer neuen Kämpfen an. Mit Fäusten und Messern gingen sie aufeinander los, so daß es schien, als wollten sie einander ermorden. Doch plötzlich sprang der Sohn des Salzmeisters zwischen die Kämpfenden, packte zwei von ihnen an den Haaren und stieß ihre Köpfe so gewaltsam gegeneinander, daß ich glaubte, die Schädel müßten bersten wie Eierschalen. Aber diese Leute haben harte Köpfe, und solche Behandlung schien ihnen wenig auszumachen.

Die Musik setzte wieder ein, die Geigen kratzten, und die Pfeifen schrillten. Mit zerrissenen Kleidern und zerschundenen, blutigen Gesichtern begannen die Burschen wieder zu tanzen, als wäre nichts geschehen. Was ist das für ein Volk! Ganz nach dem Herzen eines Bramabas oder Holofernes!

Ich hatte mich kaum von dem Schrecken erholt, den Rochus mir eingejagt hatte, als mich schon ein neuer erwartete.

Rochus tanzte mit einem schönen, großen Mädchen, das wie für ihn geschaffen schien. War er der König des Festes, so war sie die Königin. Sie vollführten gewaltige Sprünge und schwindelnde Drehungen, aber zugleich mit solcher Anmut, daß alle sie im Kreis umstanden und ihnen bewundernd zusahen. Das Mädchen lächelte stolz und selbstsicher, als wollte es sagen: Seht ihr! Ich bin die Herrin seines Herzens!

Plötzlich aber stieß er die Schöne von sich, brach aus dem Kreis der Tänzer aus und rief seinen Freunden zu: »Ich hole mir ein anderes Mädchen zum Tanz. Wer kommt mit?«