Der Mondtränendieb - Michael Hamannt - E-Book

Der Mondtränendieb E-Book

Michael Hamannt

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Beschreibung

Will braucht die legendäre Mondträne, um seine Schwester zu retten. Dem jungen Dieb bleibt keine Wahl, er muss das Reich der verhassten Feen betreten – und vielleicht mit seinem Leben dafür bezahlen. Kaum hat er die Grenze passiert, wird er in einen Kampf mit dem Feenkrieger Leigh verwickelt und unterliegt. In der unausweichlichen Gefangenschaft erwartet er das Schlimmste und gibt die Hoffnung schon fast auf, seine Schwester jemals wiederzusehen. Doch Leigh behandelt ihn unerwartet sanft. Gegen seinen Willen verliebt sich Will in ihn, nicht ahnend, welche Konsequenzen seine Gefühle haben werden ... Charaktere, die das Herz berühren. Eine Liebe, die Grenzen überwindet. Eine Prophezeiung mit überraschendem Ausgang.

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Seitenzahl: 234

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DER MONDTRÄNENDIEB

MICHAEL HAMANNT

INHALT

1. Teufelstänzer

2. Spitzohriger Warzengnom

3. Crassjanischer Schneckenhonig

4. Kein Gramm Fett, nur Muskeln

5. Träume & Drachenköpfe

6. Wolfsschwein

7. Dwikels

8. Lunys

9. Nieskaskade

10. Rübeeeeeeen!

11. Hungriger Volgar

12. Tinkelwinkelquips

13. Mondträne

14. Astgabelträume

15. Bobo

16. Tadaaaa!

17. Güldener Eintopf

18. Bloß weg hier!

19. Nacht der Erneuerung

Danksagung

Über den Autor

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehme ich für deren Inhalte keine Haftung, da ich mir diese nicht zu eigen mache, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweise.

* * *

Copyright © 2022 by Michael Hamannt,

Forstbachstr. 47, 40723 Hilden

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Teja Ciolczyk, Lektorat Gwynnys Lesezauber – www.gwynnys-lesezauber.de

Coverdesign und Umschlaggestaltung: Michael Hamannt

Verwendete Bilder für das Cover: Chansom Pantip/Shutterstock.com, Stone36/Shutterstock.com, Maria Aloisi/Shutterstock.com, JOM3D/Shutterstock.com. Außerdem wurden einzelne, für das Cover verwendete Bilder bzw. Grafiken mit Hilfe von Shutterstock.AI erstellt: Shutterstock.AI/Shutterstock.com. Diese Bilder wurden durch Michael Hamannt bearbeitet und angepasst. Es handelt sich nicht um ein rein KI-generiertes Cover.

Kapitel-Icon: Michael Hamannt

Cover-Schrift: Mantinia CC Regular von Carter & Cone (Adobe Fonts), Halyard Display Book von Eben Sorkin, Joshua Darden und Lucas Sharp von Darden Studio (Adobe Fonts).

* * *

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Ein Nachdruck oder eine andere Verwertung ist ausdrücklich nur mit schriftlicher Zustimmung des Autors zulässig.

Diese Geschichte widme ich allen,

die Bücher genauso sehr lieben wie ich.

KAPITEL1

TEUFELSTÄNZER

Wylderwald,

Jahr des zwinkernden Zyklopen

Mein Name ist Will und ich war ein Dieb. In meinem Leben habe ich schon so manchen Bockmist angestellt, bin jedoch – von ein paar Blessuren abgesehen – jedes Mal mit heiler Haut davongekommen. Nur einmal wäre es fast schiefgegangen. An diesem denkwürdigen Tag beschloss ich, das Dümmste zu tun, was ein Mensch nur machen kann. Ich wollte die Grenze zum Feenreich überschreiten.

Ich hatte mir von Anfang an nichts vorgemacht: Bei diesem Abenteuer standen die Chancen ziemlich hoch, dass ich sterben würde. Wenn nicht durch einen der vielen Schrecken, die die Grenze bewachten, dann mit Sicherheit durch die Hand eines Feenkriegers. Diese Typen waren verdammt gut, wenn es darum ging, einem mit ihren Schwertern den Bauch aufzuschlitzen.

Allein der Gedanke brachte mein Herz zum Stolpern. Ich wollte nicht sterben. Ich war gerade mal siebzehn. Aber ich konnte auch nicht wieder umkehren.

Im grünen Laubdach über mir flüsterte der Wind, oder vielleicht lachte er auch über meine Dummheit. Flirrende Säulen aus Sonnenlicht tanzten vor mir über den Pfad, der so stark mit bleichem Valriskraut überwuchert war, dass ihn schon lange keiner mehr benutzt haben konnte. Der Wald selbst roch nach Sommer, verwegenen Träumen und begrabenen Hoffnungen.

Gelbliches Gebein schimmerte zwischen Moosen und Gräsern. Einige der Knochen waren gesplittert, als wären sie aufgebrochen und ausgesaugt worden. Unter einem Zitterfarn hervor starrte mich ein grinsender Schädel aus leeren Höhlen an. Er hatte ein auffälliges Loch in der Stirn. Ich schauderte und wäre auf der Stelle umgekehrt, wäre es bei dieser Sache nur um mich gegangen. Kela hatte jedoch so viel für mich geopfert, und dieser Auftrag bot mir die Gelegenheit, es bei ihr wieder gut zu machen. Wenn der Wald und seine Bewohner mich vorher nicht fraßen.

Es gibt eine Menge Leute, die darüber nicht traurig gewesen wären. Im Gegenteil. In den Augen all jener selbstgerechten Menschen, die jemanden wie mich verachten, hatte ich es vermutlich sogar verdient. Ich hatte wegen der Farbe meiner Haare schon so oft Beschimpfungen und Verwünschungen über mich ergehen lassen müssen, dass ich manchmal versucht war, ihnen zu glauben. Vielleicht war ich ja wirklich ein Unglücksbringer und deshalb blieben mir Trost und Zufriedenheit im Leben verwehrt. Aber das hatte mich noch nie aufgehalten und das würde auch dieser Wald nicht schaffen.

Ich legte meine Hand auf den Knauf meines Schwertes. Das Einzige, was mir von meinem Vater geblieben war, abgesehen von seinem Aussehen. Kela sagte immer, dass ich mit meinen Grübchen und den grünen Augen ganz nach ihm kommen würde. Darauf war ich ziemlich stolz, auch wenn die Leute wegen meines flammendrotem Haars nicht selten die Straßenseite wechselten. Gelegentlich machten sie auch das Zeichen gegen das Böse, sobald sie mich sahen. Und nicht wenige gaben mir die Schuld daran, dass unsere Eltern so früh verstorben waren.

›Diese Idioten!‹ Kelas Worte, nicht meine. Aber sie hatte recht, oder nicht?

Seit jeher war sie die Einzige, die zu mir stand und darum würde ich auch dafür sorgen, dass wenigstens sie ihr Glück fand.

Falls ich überlebte.

Ganz in meiner Nähe knackte es plötzlich im Unterholz und ich suchte Zuflucht hinter einer Esche. Ich bin kein schreckhafter Mensch, das brachte schon mein Beruf mit sich. Doch hier im Wylderwald, in dem angeblich die düstersten und gefährlichsten Schrecken hausten, die die Magie hervorgebracht hatte, schlug mir bereits beim leisesten Laut das Herz bis zum Hals.

Nachdem sich mein Atem wieder beruhigt hatte, linste ich hinter dem Stamm der Esche hervor und nahm meine Umgebung in Augenschein. Vielleicht war es bloß ein Tier? Ein Mensch konnte es jedenfalls nicht sein. Außer mir dürfte seit Ewigkeiten niemand mehr die Unverfrorenheit besessen haben, sich an diesen Ort zu wagen.

Mit einem Mal löste sich eine gebeugte Gestalt aus dem Schatten eines Baumes. Die Härchen in meinem Nacken stellten sich auf, und meine Finger schlangen sich fester um den Schwertgriff. Ein Teufelstänzer: Eine Kreatur mit braunem Fell und geschwungenen Hörnern. Bisher kannte ich seinesgleichen nur aus den Propagandaschriften des Landesfürsten, in dem alle Angehörigen des magischen Volkes als bösartig dargestellt werden. Es hieß sogar, dass einige von ihnen Menschenfleisch aßen.

Wie aufs Stichwort blieb der Teufelstänzer stehen, reckte die Schnauze in die Luft und schnüffelte. Einen Herzschlag später ruckte sein Kopf in meine Richtung. Zwei stechend gelbe Ziegenaugen starrten mich an.

Ich zuckte in meinem Versteck zusammen, der Teufelstänzer lachte keckernd auf. »Sieh mal an, ein Mensch!« Seine Stimme klang erstaunlich sanft.

Da er von meiner Gegenwart wusste, machte es nicht länger Sinn, mich zu verstecken. Ich trat hinter der Esche hervor, meine Hand am Schwert.

»Ist lange her, dass ich jemanden wie dich in diesem Wald gesehen habe.« Der Teufelstänzer leckte sich die Lippen, als hätte er eigentlich sagen wollen: ›Oh, was für ein leckeres Appetithäppchen sehen meine Augen da.‹ Er lachte erneut, als wüsste er genau, was ich dachte. »Du kommst zu einem günstigen Zeitpunkt. Zumindest günstig für dich! Heute ist Vollmond. So wenige Stunden vor der Nacht der Erneuerung verzichte ich auf jegliche Nahrung. So süß und verlockend sie mir auch erscheinen mag!«

Ja, klar doch, sagte ich mir. Zuerst wiegst du mich in Sicherheit, als Nächstes brätst du mir eins über und dann komme ich als brutzelnder Spieß über deinem Lagerfeuer wieder zu mir.

»Ich ... ich sollte weitergehen.«

»Vielleicht solltest du das wirklich.«

Ich machte einen Schritt zur Seite und er einen in meine Richtung. »Vielleicht solltest du die Gelegenheit aber auch nutzen, um mir Fragen zu stellen.« Der Teufelstänzer neigte den Kopf zur Seite. In seinen Ziegenaugen blitzte es spöttisch. »Du scheinst mir nicht sonderlich viel über uns zu wissen.«

Mein Wissen über den Wylderwald und seine Bewohner stammte ebenfalls aus den Propagandaschriften, aus Büchern und den Geschichten alter Trunkenbolde, die ihren Lebensabend in verrauchten Schankstuben fristeten.

Meine Augen verengten sich. »Warum solltest du mir helfen wollen?«

»Neugier«, erwiderte er leichthin. »Ich hatte schon lange nicht mehr die Gelegenheit, mit einem wie dir zu reden. Außerdem ...« Er kniff die Lider zusammen. »Da ist etwas an dir ...« Er brach ab.

Ich krauste die Stirn. »Ja?«

»Ach, nichts.« Er winkte lässig ab.

Der führte doch irgendwas im Schilde. »Na schön, nehmen wir einmal an, ich wäre an einem Gespräch mit dir interessiert: Welche Informationen könntest du mir schon geben, auf die ich mich verlassen kann?«

Er schürzte die Lefzen, als müsste er über meine Frage nachdenken. Im nächsten Moment leuchtete seine Fratze auf, als wäre ihm gerade ein großartiger Einfall gekommen. »Feenwesen lügen nicht, hach!« Er verschränkte die Arme vor der zotteligen Brust. »Das kannst du unmöglich gewusst haben!«

Lächerlich.

»Und wenn schon, die Wahrheit hat viele Gesichter«, erwiderte ich. »Worte können das eine ausdrücken, aber etwas völlig anderes meinen.« Das wusste ich aus eigener leidvoller Erfahrung.

»Wohl wahr. Allerdings musst du zugeben, dass es sich mit vollem Bauch nur schlecht tanzen lässt.« Er seufzte. »Stell dir bloß mal diese Blamage vor, wenn ich mich jetzt mit deinem süßen Fleisch vollstopfe und sie heute Nacht alle mit dem Finger auf mich zeigen und lachend rufen: Seht euch nur Nigl an, der tanzt wie ein vollgefressenes Uschuk auf Pilzen!« Der Teufelstänzer schüttelte den Kopf. »Nein, nein, Junge. Das bist du mir nicht wert, vor mir bist du sicher. Nur bedeutet das möglicherweise nicht viel. Nicht in diesem Teil des Waldes.«

»Dann gibt es hier noch mehr von deiner Sorte?«

Keckernd warf er den Kopf in den Nacken. Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, wischte er sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Dieser Wald ist voller magischer Wesen. Du hast sie nur noch nicht bemerkt, weil sie dich aus dem Verborgenen heraus beobachten.«

Ich warf einen verunsicherten Blick über meine Schulter, konnte jedoch nichts Verdächtiges entdecken. Als ich mich wieder dem Teufelstänzer zuwandte, grinste er und zwei Reihen spitzer Zähne schimmerten zwischen seinen Lippen. »Du solltest umkehren, bevor es zu spät ist, Junge.«

»Das kann ich nicht. Ich habe mein Wort gegeben, diesen Auftrag ...« Moment mal, warum erzählte ich ihm das überhaupt?

»Oha, ein Dieb mit Ehrgefühl«, murmelte der Teufelstänzer. »Welch ein seltener Anblick.«

»Woher weißt du, das ich ein Dieb ...« Ich verstummte und kniff die Augen zusammen. Allmählich kam es mir vor, als würde mir die Kreatur bloß auf den Zahn fühlen wollen.

Wieder blitzte es schelmisch in seinen Augen. »Genug geredet. Ich muss weiter, bevor mich dein verlockender Duft am Ende noch zu einer Torheit verführt.« Damit drehte er sich lachend um und marschierte davon. »Sei auf der Hut, Menschensohn!«, rief er mir noch zu, ehe er im Unterholz verschwand. »Dein Schicksal erwartet dich jenseits der gläsernen Bäume.«

Was hatte das schon wieder zu bedeuten?

Einerlei. Ich drehte mich um und hastete weiter. Froh, dieser Kreatur mit heiler Haut entkommen zu sein.

Die Grenze zum Feenreich konnte nicht mehr weit sein, falls die Karte stimmte, die ich im Haus meines Auftraggebers studiert hatte.

Schon bald wurde mir klar, dass sich etwas geändert hatte. Als hätte mir die Begegnung mit dem Teufelstänzer, diesem Nigl, die Augen geöffnet, sah ich sie mit einem Mal überall: magische Wesen. Was ich zuvor für Rehe gehalten hatte, waren in Wirklichkeit Bären mit mächtigen, knochenbleichen Geweihen, die aufrecht auf ihren Hinterpfoten liefen. Kaninchen entpuppten sich als katzenähnliche Geschöpfe, die ihre Beute mit knisternden Feuerstößen erlegten. Und aus vermeintlichen Mäuselöchern heraus beobachteten mich rotglühende Augen. Selbst die Luft war mit einem Mal von boshaft kichernden Geschöpfen erfüllt, die verborgen im Laub über mir durchs Geäst tollten.

Nervös fuhr ich mir durch das Gesicht und rieb mir die Augen. Aber nein, es war kein Traum. Doch auch wenn mich keine der Kreaturen offen angriff, traute ich dem Frieden nicht. Der Pfad in den Wylderwald wurde nicht umsonst die Straße der Selbstmörder genannt. Nur die Allerwenigsten, die ihn betreten hatten, waren lebendig zurückgekehrt – und das sagte noch nichts über ihre geistige Verfassung aus.

Lieber ging ich auf Nummer sicher und nutzte meine Fähigkeiten als Dieb, die ich mir über Jahre hinweg auf Gharstigs Straßen angeeignet hatte, und verschmolz mit den Schatten. Aus diesem Grund trug ich auch dunkle Kleidung und eine Kapuze, die ich mir tief ins Gesicht gezogen hatte. Meine Stiefel waren aus weichem Leder gefertigt, was es mir erlaubte, mich beinahe lautlos zu bewegen. Niemand würde mich sehen oder hören, wenn ich es nicht wollte. Zumindest galt das für Menschen. Keine Ahnung, ob das auch auf die Bewohner dieses Waldes zutraf oder sie mich bewusst ignorierten, weil sie längst wussten, welches Schicksal mir blühte. Der Teufelstänzer hatte da gewisse, beunruhigende Andeutungen gemacht. Vielleicht war das aber auch nur seine Art gewesen, sich einen Spaß mit mir zu erlauben.

Ich huschte von Baum zu Baum, glitt geräuschlos zwischen Sträuchern und mannshohen Farnen hindurch und legte schließlich eine Verschnaufpause unter den tiefhängenden Ästen einer Trauerlinde ein, die mich wie ein Vorhang gegen den Rest der Welt abschirmte. Möglicherweise war das meine letzte Gelegenheit, in Ruhe etwas zu essen und zu trinken, bevor ich die Grenze erreichte.

Auf der Suche nach dem Beutel mit Trockenobst wühlte ich in meiner Umhängetasche herum, als mir ein zerfleddertes Büchlein in die Finger geriet. Es handelte von Dragon, dem mutigsten aller Helden. Als Vorbild taugte er nicht viel, weil er alles und jeden mit seinem Schwert zerhackte, ohne jemals Fragen zu stellen. In den meisten Fällen wusste er nicht einmal, ob er gerade Feind oder Freund zerlegte. Aber die Geschichten waren spannend. Zudem war es das dünnste und leichteste unter meinen Büchern, und darum hatte ich mich für dieses als Glücksbringer entschieden.

Ich liebe Bücher. Sie leisteten mir in der Einsamkeit meiner Verstecke Gesellschaft. Das Lesen hatte ich mir selbst beigebracht. Genug Zeit hatte ich ja gehabt. Am liebsten verschlang ich Geschichten über Elfen, Kobolde, Riesen und Drachen. Manchmal auch etwas über Feen. Doch von allen Mitgliedern der magischen Völker kamen sie häufig am schlechtesten in den Büchern weg.

Als ich noch klein war, hatte unsere Mutter Kela und mir jeden Abend ein Märchen vor dem Zubettgehen erzählt. Im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen hatte sie eine unerwartet hohe Meinung vom magischen Volk. Einmal hatte sie mir sogar anvertraut, dass es mich ohne die Magie gar nicht gäbe. Ich habe leider nie herausgefunden, was sie damit meinte.

Ah ja, da sind sie ja.

Ich hatte den Beutel mit den getrockneten Aprikosen gefunden und ließ sie mir schmecken. Nachdem ich gesättigt war und mich ein wenig ausgeruht hatte, setzte ich meinen Weg fort. Doch je näher ich dem Feenreich kam, desto unruhiger wurde ich. Ein Gefühl, das mir wie klebriger Sirup über die Haut kroch. Nicht nur die Tiere des Wylderwaldes hatten sich in meiner Wahrnehmung verändert, auch der Wald selbst. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass er sich meiner Gegenwart bewusst war. Vielleicht bildete ich mir das aber auch nur ein, weil meine Sinne inzwischen völlig überreizt waren.

War es ein Fehler gewesen, hierher zu kommen?

Auf jeden Fall.

Würde ich umkehren?

Niemals.

Für Kela würde ich noch viel Schlimmeres als diesen Wald auf mich nehmen. Mein Auftraggeber hatte mir sein Wort gegeben, sie gehen zu lassen, wenn ich ihm die Mondträne brachte – und das würde ich auch tun. Koste es, was es wollte!

Zudem war ich neugierig. Was hatte der Teufelstänzer damit gemeint, dass mich mein Schicksal hinter den gläsernen Bäumen erwarten würde? Es musste ja nicht gleich etwas Schlechtes sein, oder? Andererseits war mir Tix, der schmerbäuchige Gott des Glücks, noch nie besonders zugetan gewesen.

Bald darauf drang ein eigentümliches Klingen an meine Ohren, das mich an das sanfte Läuten Tausender heller Glöckchen erinnerte. Ich erstarrte. Was konnte das sein? Eine Prozession lebensmüder Mönche, die mit ihren Büßerglöckchen durch den Wylderwald zog, um seine heidnischen Bewohner zu missionieren?

Bei der Vorstellung hätte ich beinahe gelacht. Hätte ein Mönch auch nur den dicken Zeh in diesen Wald gesetzt, wären sofort von allen Seiten wilde Kreaturen herbeigestürzt, um diesen fleischigen rosa Knubbel in Millionen winzige Einzelteile zu zerfetzen. Das magische Volk und die Kirche des Lichts waren nicht gerade die dicksten Freunde.

Ich entschied, dem Glöckchenspiel zu folgen, weil es sich in diesem Augenblick richtig anfühlte.

Auf diese Weise dauerte es nicht lange, bis ich vor einem Wall aus silbernen Bäumen stand, der sich endlos in beide Richtungen durch den Wald erstreckte.

Die Grenze.

Genau so wurde sie auch in dem Buch meines Auftraggebers beschrieben. Nur über die Glöckchen hatte nichts darin gestanden. Doch jetzt erkannte ich: Es waren die gläsernen Blätter der Bäume, die einander klingend und klirrend antippten, sobald der Wind durch das Geäst wehte.

Zwischen den Stämmen hindurch versuchte ich, einen Blick auf das zu erhaschen, was dahinter lag. Doch wuchsen die Bäume so dicht beieinander, dass ich durch jede Lücke nur wieder einen anderen Baum erspähte. Ein Zufall war das ganz sicher nicht. Wenn ich also wissen wollte, was auf der anderen Seite lag, gab es nur eine Möglichkeit.

Ich atmete tief durch, um meine Nerven zu beruhigen, die mir mittlerweile das Empfinden einer aufgescheuchten Hühnerschar vermittelten, bei der ein Fuchs zum Abendbrot vorbeischaute. Es half kein bisschen. Also zog ich mein Schwert, um mich mutiger zu fühlen. Aber auch das brachte nichts. Doch wenigstens konnte ich mir jetzt einreden, dass meine Hände bloß aufgrund des Gewichts der Waffe zitterten.

Vielleicht gibt es ja auch nette Feen, die nicht gleich jeden Menschen umbringen wollen, dem sie begegnen, sagte ich mir und setzte mich in Bewegung.

›Träume weiter, Will‹, schien der Wald hinter mir zu flüstern.

KAPITEL2

SPITZOHRIGER WARZENGNOM

Wylderwald,

Jahr des zwinkernden Zyklopen

Es war verrückt – oder wohl eher Magie.

Kaum war ich in eine Lücke zwischen den Bäumen geschlüpft, fand ich mich in einer dicken Nebelsuppe wieder. Ein weißes, stilles Nichts, das sich nach allen Seiten erstreckte. Keine Bäume, keine singenden Glasblätter. Es schien, als hätte die Welt aufgehört, zu existieren. Mir schlug das Herz bis zum Hals, und das Schwert in meiner Hand zitterte inzwischen so stark, als wäre es eine Wünschelrute, die auf eine verborgene Wasserader gestoßen war.

»Nur keine Panik, Will«, sagte ich mir, als ob das etwas nützen würde.

Ich wischte mir mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Dabei rutschte die Kapuze von meinem Kopf, was jetzt auch egal war. Falls sich außer mir noch etwas in dem Nebel aufhielt – was sehr wahrscheinlich war, weil böse Dinge es nun einmal liebten, aus dem Hinterhalt anzugreifen –, hatte es mich ohnehin längst entdeckt.

Ich runzelte die Stirn. Hieß es nicht, dass die Grenzen des Feenreiches von den Toten bewacht wurden, die in der Schlacht gegen sie gefallen waren?

Oh, oh.

Vermutlich sammelte sich gerade eine Horde Wiedergänger um mich herum, unsichtbar für meine Augen, und schleckte sich alle zehn Finger nach mir ab – in manchen Fällen auch weniger. In Gedanken konnte ich hören, wie sie mich untereinander aufteilten.

›Ich hätt' gern die Schenkel. Mhm, bei einem so jungen Kerl sind die besonders knackig und saftig.‹

›Ich nehm die Brust. Yamm. Yamm.‹

›Ist das nicht sexistisch?‹

›Nur wenn’s eine Frau wäre.‹

›Na, dann.‹

›Hirn.‹

›Was hast du nur immer mit deinem Hirn, Stiff?‹

›Hirn. Hirn. HIRN.‹

Es ist nie gut, zu viel Fantasie zu haben. Glaubt mir. Vor allem nicht als Kind, wenn nachts Kratzlaute unter deinem Bett hervordringen, für die wahrscheinlich nur die Katze verantwortlich ist, es dir aber aufgrund deiner blühenden Vorstellungskraft viel logischer erscheint, dass es sich um ein Monster handelt. Manchmal passiert mir das auch heute noch.

Urrgs.

Kurzentschlossen nahm ich die Beine in die Hand und flitzte los. Eine Weile rannte ich nur geradeaus, ohne, dass sich etwas änderte. Innerhalb des Nebels war es still wie in einem Mausoleum und auch genauso frostig.

War es möglich, dass er sich endlos ausdehnte?

Schließlich blieb ich stehen, um erst einmal wieder zu Atem zu kommen und zusammenzukratzen, was von meinem Verstand noch übrig war. Logisch betrachtet handelte es sich vermutlich bloß um einen schmalen Nebelstreifen, der zur Abschreckung und Verwirrung entlang der Grenze verlief. Ich musste jedoch die Orientierung verloren haben und folgte nun diesem Streifen, statt einfach nur drei Meter nach rechts zu treten und wieder im Freien zu stehen.

»Hach, du hast es immer noch drauf, Will!«, gratulierte ich mir selbst, machte eine Neunzig-Grad-Wende und marschierte los. Zwei, vier, sieben Schritte, aber auf ein Ende des Nebels stieß ich nicht, stattdessen regte sich vor mir etwas in dem weißen Dunst.

Ich hielt inne und wartete, die zittrige Rechte mit dem Schwert vorgestreckt.

Eine Gestalt schälte sich aus den Schwaden.

Oh, verdammt!

Ich wollte bereits zurückweichen, als ich einen eisigen Hauch im Nacken verspürte. Rasch warf ich einen Blick über die Schulter, nun sah ich, dass sie sich mir von allen Seiten näherten: bleiche, durchscheinende Geister. Sie sahen aus, wie man sich typische Straßenräuber vorstellte: ungepflegt, mit grobschlächtigen Gesichtern und Augen, hinter denen die Gewalt wie ein sprungbereites Raubtier lauerte. Nur eben tot. Darum waren sie gleich noch viel grässlicher anzuschauen, denn sie zeigten noch immer die Verletzungen, die ihr Ende herbeigeführt hatten.

Einem hatten man die Kehle aufgeschlitzt, weshalb sein Kopf bei jedem Schritt hin und her wackelte, zwei anderen die Bäuche. Einem fehlten ein Arm und ein Bein, sodass er sich hüpfend fortbewegte, und drei anderen klaffte jeweils ein Loch in der Brust.

»Du bist wegen der Schätze der Feen gekommen, nicht wahr?«, fragte der Geist mit der aufgeschlitzten Kehle. Er hatte eine schnarrende Stimme, die klang, als würde man versuchen, mit einer rostigen Mistgabel eine Laute zu stimmen. »Versprich uns einen Anteil deiner Beute und wir lassen dich ziehen.«

Es gab Spukerscheinungen, die ohne große Macht waren. Sie hausten in verlassenen Häusern und begnügten sich damit, ahnungslose Wanderer zu erschrecken, die dort vor der Nacht Zuflucht suchten. Und dann gab es noch jene, die voller Neid und Wut auf die Lebenden waren und die im Laufe der Zeit einen solchen Hass entwickelt hatten, dass sie einen Menschen durch bloße Berührung töten konnten.

Ein Gedanke, der nicht gerade dazu beitrug, mich ruhiger werden zu lassen. Vor allem, weil ich spürte, wie mir allein die Nähe dieser Geister langsam das Leben aussaugte. Da sie mich nicht sofort angegriffen hatten, konnte das nur bedeuten, dass es sich um Wächter handelte. War das ein Test? Ich würde erst einmal mitspielen, auch wenn ich mir dabei fast in die Hosen machte.

»Was ... ist mit euch passiert?«, fragte ich und versuchte, nicht allzu ängstlich zu klingen. Nach dem hämischen Grinsen zu urteilen, mit dem der Geist reagierte, war mir das nicht besonders gut gelungen.

»Wir sind seinerzeit einer Patrouille Feenkrieger in die Arme gelaufen, was mir nicht gut bekommen ist.« Mit einem zahnlückigen Grinsen schob er zwei Finger in den Schlitz unterhalb seiner Kehle. »Die dreckigen Spitzohren hatten etwas dagegen, uns ihr Gold zu überlassen. Aber du bist anders, nicht wahr, kleiner Rotschopf? Du verstehst uns, darum wirst du auch mit uns teilen.« Sein Grinsen wurde noch breiter, während er auf mich zu schwebte, bis uns nur noch eine Armeslänge voneinander trennte. Mein Schwert steckte inzwischen bis zur Hälfte in seinen Eingeweiden, was ihn jedoch nicht sonderlich zu stören schien.

Ich hingegen fröstelte am ganzen Körper, als hätte die Wintergöttin selbst ihre eisigen Finger nach mir ausgestreckt. Nicht mehr lange, und die Nähe der Geister würde mich umbringen. Ich musste sie dringend loswerden.

Nur wie?

Habgier hatte die Menschen zu allen Zeiten ins Feenreich getrieben. Gerüchte von Juwelen groß wie Zwergeneier – also wirklich, ich meine die, aus denen sie schlüpfen – und Hallen voller Gold und Silber waren einfach zu verlockend, um ihnen zu widerstehen. Nur war keiner je zurückgekehrt, der sich in die Gefilde der Feen gewagt hatte. Jetzt wusste ich, warum. Auch ich war gekommen, um von ihnen zu stehlen. Allerdings nicht für mich und nicht aus Gier. Tatsächlich hatte ich immer nur von jenen genommen, denen es nicht wehtat. Und nur so viel, wie ich zum Überleben brauchte. Ich hatte es mit ehrlicher Arbeit versucht. Nur wollte niemand einem Unglücksbringer wie mir eine echte Chance geben.

»Nur ein paar Münzen«, drängte der Geist, »und wir gewähren dir bei deiner Rückkehr sicheres Geleit.«

Ich glaubte ihm kein Wort. Wenn es so einfach wäre, die Grenze zu passieren, hätten prahlerische Schatzjäger schon davon berichtet. »Was ... wollt ihr mit den Münzen? Ihr seid tot.«

»Was wohl? Den Fährmann bezahlen, damit er uns endlich hinüberbringt und wir aus diesem elenden Dasein erlöst werden.« Er neigte den Kopf so weit zur Seite, dass er ihm auf die Schulter kippte. »Was sagst du, kleiner Rotschopf? Wir sind doch jetzt Kumpels, oder nicht? Ein winziger Anteil deiner Beute, mehr verlangen wir nicht. Und immerhin ist es für einen guten Zweck: unser Seelenheil.«

Ich könnte einfach Ja sagen, ihnen das Blaue vom Himmel versprechen, aber das wäre nicht ich. Auch war ich mir sicher, dass der Geist jede Lüge durchschauen würde. Das konnte nur eine Falle sein. So blieb mir nur eines übrig: Ich musste es mit der Wahrheit versuchen.

»Ich bin nicht wegen des Feengoldes hier. Ich ...«

Seine Augen loderten rot auf. »Erzähl das einem anderen! Menschen sind alle gleich!«

Ich wich einen Schritt zurück. Die Kälte in meinem Nacken kroch mir wie Raureif über die Haut und von meinen Lippen stiegen weiße Wölkchen auf.

Bei Jax – soll es das gewesen sein?

»Bitte, ich will doch nur ...«

»... sterben?«, erwiderte der Geist mit einem boshaften Lächeln und streckte die Hand nach mir aus. Blasse Knochen schimmerten unter seiner durchscheinenden Haut. »Letzte Chance: ja oder nein?«

Ich schüttelte den Kopf, dann kniff ich die Lider fest zusammen, um nicht mitansehen zu müssen, was als Nächstes passierte. In Gedanken zählte ich die Schläge meines wummernden Herzens mit. Als ich bei dreißig ankam und noch immer lebte, öffnete ich blinzelnd ein Auge und fand mich auf einer sonnenbeschienenen Lichtung wieder.

Vögel zwitscherten. Eine Hummel rauschte knatternd an meinem Ohr vorbei. Die Luft schmeckte so süß, als wäre sie mit Zuckerguss überzogen. Vielleicht lag das aber auch an meiner Erleichterung darüber, noch am Leben zu sein. Das Schwert entglitt meinen Händen und fiel ins Gras, ich sackte auf die Knie. Am Ende war es doch eine Prüfung gewesen.

Erleichtert lachte ich auf, was nicht das Schlaueste war, das man in einer Situation wie der meinen tun konnte. Spätestens jetzt wusste jede Fee im Umkreis von einer Meile, dass hier jemand war, der ganz offensichtlich nicht ins Feenreich gehörte.

Mit angehaltenem Atem wartete ich darauf, was als Nächstes geschehen würde. Zu meiner Überraschung blieb alles ruhig. Ich wurde weder von einem magischen Blitz dahingerafft noch von einem Pfeil durchbohrt.

Tja, wie hieß es so schön: Das Glück ist mit den Dummen!

Ich raffte mich auf, steckte mein Schwert ein und nahm mir einen Augenblick, um mich zu orientieren.

Auf dieser Seite der Grenze war der Wald ein völlig anderer. Die Bäume wirkten älter und größer, ihre Blätter saftiger und grüner. Einige von ihnen waren ganz und gar ungewöhnlich anzusehen. Sie hatten Stämme, grau wie Asche und Blätter, rot wie Blut. Aus der Ferne vernahm ich ein leises Klingen, was darauf hindeutete, dass es hier ebenfalls gläserne Bäume gab. Auch die Präsenz, die ich schon früher gespürt hatte, konnte ich in diesem Teil des Waldes wahrnehmen. Sogar stärker noch als zuvor.

Ich drehte mich einmal um mich selbst. Welche Richtung sollte ich einschlagen?

Mein Auftraggeber, bei dem es sich im Übrigen um Gharstigs einflussreichsten Kaufmann handelte, besaß eine seltene Karte des Wylderwaldes. Vor meinem Aufbruch hatte ich sie mir eingeprägt. Dummerweise endete sie an der Grenze zum Feenreich, weshalb ich jetzt erst einmal auf mich allein gestellt war. Seit Langem war ich der Erste, der sie lebend überschritten hatte.

Die Vorstellung erfüllte mich mit Stolz, auch wenn ich jetzt vor einem gänzlich anderen Problem stand: Wie fand ich die Hauptstadt der Feen und diese vermaledeite Mondträne, wegen der mich der Kaufmann hergeschickt hatte? Ich konnte schlecht jemanden nach dem Weg fragen.

In diesem Moment fiel mein Blick auf ein paar Pilze, die am Rande der Lichtung wuchsen und groß wie Kürbisse waren. Oder vielleicht konnte ich ja doch. Einige der Pilze hatten Fenster, Türen und sogar Schornsteine, aus denen Rauch aufstieg. Wer immer dort lebte, stellte ganz sicher keine Gefahr dar.

Ich steckte mein Schwert ein und marschierte los, als es plötzlich links von mir im Unterholz knackte. Ich wirbelte herum und erstarrte. Im Schatten unter den Bäumen stand ein Eber und blickte mich aus goldenen Augen an. Sein Fell war weiß wie frisch gefallener Schnee.

»Ooooh«, hauchte ich ergriffen, weil er kaum größer als ein junges Kätzchen war und doch zweifelsohne ausgewachsen.