Der Mord in Harpsund - Bo Balderson - E-Book

Der Mord in Harpsund E-Book

Bo Balderson

4,6

  • Herausgeber: SAGA Egmont
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Ein neuer Fall für den "Staatsminister": Fabrikdirektor Adolg Lindberg liegt an seinem 80. Geburtstag tot in seinem Bett. Schnell steht fest, dass Lindberg keines natürlichen Todes gestorben ist, sondern ermordet wurde. Diagnose: Arsenvergiftung. Einer der zehn Geburtstagsgäste, darunter auch der Staatsminister und dessen Schwager Vilhelm Persson, muss der Mörder sein. Als Justizminister und oberster Chef der Polizei macht sich der Staatsminister schnell an die Ermittlungen, um dem Killer höchstpersönlich das Handwerk legen zu wollen.Rezensionszitat"Man lacht sich durch den Roman" – Kvällsposten"Von skurrilen Figuren wie der des Staatsministers oder der Therese Carlsson-Doolck, "Kriminalschriftstellerin in sackartigen Kleidern", und der bissig-humorvollen Sprache lebt der Roman, mehr als er von Spannung lebt, aber das tut dem Lesevergnügen keinen Abbruch – Ganz im Gegenteil!" – Literaturportal schwedenkrimi.deBiografische AnmerkungUnter dem Pseudonym Bo Balderson hat ein schwedischer Schriftsteller von 1968 bis in die 1980er Jahre hinein eine lange Reihe beliebter Romane und Krimis um den schrulligen "Staatsminister" und seinen Schwanger herum veröffentlicht. .-

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Ähnliche


Bo Balderson

Der Mord in Harpsund

Aus dem SchwedischenvonDagmar Mißfeldt

Saga

Personen

Der Staatsminister

politische Unschuld mit fünfzehn Kindern

Adolf Lindberg

achtzig Jahre alt – auf den Tag genau – Fabrikdirektor

Mommy Lindberg

seine Schwester, früher das Kindermädchen des Staatsministers

Ejnar Lindberg

sein Sohn, Bankdirektor, fett

Olivia Lindberg

Frau seines Sohnes, katzenhaft

General Ygdecrantz

schmächtig, Gutsbesitzer mit dünner Stimme

Botschafter Petersén

sehr adrett, in Dialekten bewanderter Diplomat

Apotheker Karlander

grobknochiger Bridgespieler

Therese Carlsson-Doolck

Kriminalschriftstellerin in sackartigen Kleidern

Lotta

siebzehnjährige Haushaltshilfe

Vilhelm Persson

Kolumnist, Studienrat, Schwager des Staatsministers

Weitere Mitwirkende sind die Staats- und der Außenminister, andere Regierungsmitglieder, Generalsekretär U. Thant, der staatseigene Hund, der Dackel Pelleman, die Katze Missan und – nicht zu vergessen – all die kleinen Kinder des Staatsministers.

Die Tür, die sich mit einem leichten Knarren öffnete.

Die Dunkelheit im Zimmer, die Gardinen, zum Schutz vor dem grellen Licht am Sommermorgen dicht zugezogen.

Die flackernden Flammen der Kerzen, die unsere Schatten – grotesk verzerrt – an die Decke und die Wand warfen.

Die Worte zu Flüstern gedämpft, das Klirren von Porzellan, der Duft von Blumen ...

Ich erinnere mich sehr gut an alles.

Und an das Lied, das zaghaft und unsicher begann:

»Hoch soll er leben,

hoch soll er leben,

dreimal hoch ...«

Der alte Mann lag in seinem Bett, wie es Geburtstagskinder eben tun. Still und blaß – schließlich war er schon recht betagt.

Etwas zu still und etwas zu blaß?

Das Lied erklang von neuem, lauter, kräftiger jetzt, wie eine Beschwörungsformel.

»Er lebe hoch,

er lebe hoch,

er lebe dreimal hoch!«

Doch der alte Mann in seinem Bett hörte uns nicht und sah uns nicht. Lange hatte er gelebt, genau achtzig Jahre, jetzt jedoch war er tot, und kein Lied der Welt konnte ihn wieder zum Leben erwecken.

Jemand schrie, schrill, unmenschlich, und in dem Schrei schwang die geballte alte, ewige Furcht vor dem Tod, der uns alle erwartet.

Zögernd wurde der Kreis um das einsame Bett geschlossen.

Zehn Menschen, die gerade eben noch – voll Aufrichtigkeit oder Heuchelei oder Gleichgültigkeit – den alten Mann hatten hochleben lassen.

Zehn Menschen.

Unter ihnen ein Mörder.

1

»Hier ist es doch gemütlich!« stellte der Staatsminister fest und öffnete das Hotelfenster, das zu einem gewaltigen Brandgiebel hinausging. Wo der Putz abgebröckelt war, leuchteten die Ziegel rot. Es sah aus, als hätte die Wand ein Ekzem gehabt.

Ich betrachtete den mickerigen Schreibtisch, die Studie eines unbekannten Meisters über das Martyrium des heiligen Sebastian, an die schmutziggraue Tapete geklatscht wie eine zerquetschte Laus, und den Schrank, in dem bei näherer Untersuchung dürre Drahtbügel und der Mief mehrerer Generationen von Hotelgästen hingen. Unter mir knackte das Bett wie ein schwer beladener Möbelwagen, und ich dachte mir, ebensogut hätte der Staatsminister eine Grabkammer gemütlich nennen können.

»Ich habe auch die umliegenden Zimmer reserviert. Und das hier drüber. Sie stehen die ganze Woche leer. Dann bist du nachts ungestört. Es wird vollkommen ruhig sein.«

Ich kam mir noch mehr wie in einer Grabkammer vor. Ich rutschte nervös auf dem Bett hin und her, das mit einem melancholischen Knirschen antwortete.

Der Staatsminister blätterte in seinem Reiseprospekt.

»In den Tagen, die ich in Harpsund bin, kannst du unendlich viele Dinge hier in der Stadt unternehmen. Die Kirche ist aus dem späten 15. Jahrhundert. Das müßte doch etwas für dich sein.«

Es klang, als glaubte er, wir seien ungefähr gleichen Alters.

»Sie hat einige Krypten von historischer Bedeutung«, fuhr er mit Nachdruck fort. »Und im angrenzenden Parkfriedhof gibt es zwei, nein, drei interessante Gruften!«

Ich seufzte. Mir schien die Gesellschaft eine Tendenz zum Morbiden zu entwickeln. Und noch dazu am Ende eines langen, anstrengenden Tages.

Am Vormittag hatte mich der Staatsminister – der blonde Regierungsvertreter und Vater von fünfzehn Kindern – in die Bastugatan heraufgebracht, anschließend waren wir hinaus zum Eigenheim in Spånga gefahren, wo wichtige Unterlagen liegengeblieben waren. (Früher bewohnte der Staatsminister eine burgartige Villa in Djursholm; die er jedoch kurz nach seiner unerwarteten Beförderung zu räumen gezwungen war. »Ein sozialdemokratischer Staatsminister kann sich einiges erlauben«, hatte der Ministerpräsident bei einem Gespräch unter vier Augen betont. »Ja, wenn ich es recht bedenke, muß ich gestehen, er kann sich im Grunde alles erlauben. Aber in Djursholm wohnen, das geht zu weit. Da ist ganz eindeutig die Grenze. Du darfst umziehen. Nach Spånga vielleicht. Ja, Spånga ist ausgezeichnet. Camilla, Palme, Sträng und Geijer wohnen schon da draußen, du bist also nicht allein. Abends kannst du dann ja immer Schwarzer Peter mit Geijer spielen.«)

Nachdem die Unterlagen gefunden waren und das langwierige wie aufwendige Abschiednehmen von der Gemahlin des Staatsministers – meiner kleinen Schwester – und den zu Hause weilenden Kindern erledigt war, fiel dem Staatsminister ein, daß er in der Staatskanzlei vorbeischauen müsse, um eine Abordnung aus dem nördlichen Norrland zu empfangen, und so verließen wir das Politiker-Ghetto und fuhren gemeinsam zurück in die Innenstadt.

Der Staatsminister parkte den Wagen – ganz bestimmt gegen alle Verkehrsvorschriften – vor der säulenbewehrten Treppe zum Regierungsgebäude und eilte hinauf in sein Kabinett, überließ mich im Auto ständig neuen Überlegungen dessen, wie es einem Menschen mit so seltsamen Begabungen gelungen war, sich so lange in der Regierung zu halten. (Daß seine Berufung darauf beruhte, daß er zu große Galoschen trug, darüber habe ich die geschichtlich interessierte Leserschaft bereits in meiner früheren Arbeit »Der Staatsminister und der Tod« aufklären können.)

Mehrere Versuche, ihn zu entlassen, dürften inzwischen angestrengt worden sein; den letzten hatte man erst kürzlich unternommen – während einer Auslandsreise des Ministerpräsidenten. Ein Kreis führender Rotgardisten war damals zusammengetreten, und man war sich schnell einig gewesen, daß jetzt etwas geschehen mußte. Doch hatte man es für angebracht erachtet – vermutlich um zukünftiger Mythenbildung entgegenzuwirken – zunächst den wahren Wohnsitz des Staatsministers zu klären, eine Frage, die unter seinen Kollegen offenbar Gegenstand vielseitiger Spekulationen gewesen war.

Sie hatten ihn darum, einer nach dem anderen, zu klärenden Gesprächen zu sich gerufen. Aus diesen Unterredungen war der Staatsminister erfrischt und mit klarem Blick hervorgegangen wie ein Kind, das vom morgendlichen Spielen nach Hause zurückkehrte. Die Inquisitoren jedoch waren blaß, verblüfft und mit weit auseinandergehenden Meinungen von dannen gezogen.

Der Industrieminister hatte die Ansicht vertreten, seine alten Bedenken, der Staatsminister sei ein Rechter, hätten sich bestätigt. Der Verteidigungsminister hatte behauptet, er habe eindeutig linksextremistische Neigungen offenbart, während der Bildungsminister rein gar nichts auszusetzen gefunden und auf die Volkspartei getippt hatte. (Ein vierter Minister, der sich im Vorfeld damit gebrüstet hatte, er gedenke schlicht und einfach zu fragen: »Bist du Sozi oder nicht?«, hatte zugeben müssen, daß er im entscheidenden Augenblick nicht den Mumm dazu gehabt hatte. »Ich meine, man fragt doch auch den Bischof nicht, ob er an Gott glaubt!«)

Der Außenminister hatte indessen berichten können, er habe ihm eine Breitseite vor den Bug verpaßt und den Staatsminister frei von der Leber weg gefragt, mit welcher Partei er denn sympathisiere, er jedoch habe die Antwort erhalten: »Ja, was gibt es denn für Parteien?« – »Ich zählte dann«, war der Außenminister fortgefahren, »alle auf, einschließlich der Christdemokratischen Partei und der Allianz für Sittlichkeit und Fortschritt. Als ich damit fertig war, starrte er mich lange an und fragte dann, warum ich die Bauernpartei nicht erwähnt hätte. Er habe, so sagte er, sich doch schon immer der Bauernpartei verbunden gefühlt. Ihm gefiel die Einstellung der Partei zu vielen der kontroversen, aktuellen Fragestellungen und er sympathisiere mit ihrer politischen Ideologie.«

Hier soll eine längere Zeit des Schweigens entstanden sein, während der die Minister sich vermutlich ins Gedächtnis zurückzurufen versuchten, welche politische Ideologie die Bauernpartei vertrat, eine Tätigkeit, die ein gewisses Maß an Konzentration erfordern kann und vorzugsweise unter Schweigen ausgeübt werden sollte. Diese wurde von dem jungen, energischen Staatssekretär unterbrochen, der, außerstande, sich länger zu beherrschen, schrie, ein Sympathisant der Bauernpartei als Innenminister sei untragbar und vor allem ein Bauernparteiler, der praktisch die gesamte Industrie besaß, und daß alles in allem ein Skandal und der reinste Hohn und Spott gegenüber den heiligsten Idealen der Bewegung sei: der allgemeinen Zusatzrente, der Investment-Bank und des Mutterschaftsgeldes, und was würde außerdem der Jugendverband dazu sagen? Der Außenminister hatte in etwas scharfem Ton geantwortet, daß ihn der Jugendverband einen Dreck interessiere und ein Bauernparteiler in der Regierung ganz und gar keinen Skandal bedeute, er selbst habe Zeiten erlebt, da ihr vier davon angehört hätten, wenn auch Hedlund meist nur als passives, korrespondierendes Mitglied fungiert hatte. Darauf hatte der junge, energische Staatssekretär, weiß im Gesicht, entgegnet, daß er, der Außenminister, wohl deshalb so schnell Witterung bekommen habe und nicht nur der Bauernparteiler, sondern »alle alten Knacker« ausgeschaltet werden müßten.

Der Bildungsminister hatte nun eine längere, vermittelnde Rede des Inhalts gehalten, daß man sich trotz allem nicht ohne weiteres eines Staatsministers entledigen könne, den die Führungsspitze der Bewegung rein intuitiv gewählt hatte. Am Ende der Ausführungen jedoch hatte der Staatssekretär nur gesagt: »Oh, verdammt, war es Intuition? Ich habe immer geglaubt, Erlander habe ihn wegen des Geldes genommen.«

Anschließend war man zur Diskussion der Frage übergegangen, wo man den Staatsminister unterbringen solle, sofern man denn den Staatsminister zu bewegen vermochte, sich von seinem Amt zu verabschieden. Der Unterrichtsminister hatte vorgeschlagen, man könne ihn doch jederzeit in irgendeinem Land zum Botschafter machen, in Ceylon zum Beispiel. Doch der Außenminister hatte Protest eingelegt: »Wir können nicht erst tonnenweise Anti-Baby-Pillen hinschicken und dann einen Botschafter mit fünfzehn Kindern. Das wäre keine überzeugende und konsequente Außenpolitik.«

Der Finanzminister, der sich lange in Schweigen gehüllt hatte, griff an dieser Stelle in die Debatte ein und entgegnete, einzig von Bedeutung sei, daß sich dem Staatsminister nicht die Gelegenheit bieten werde, die direkte Führung seines Industrie-Imperiums selbst in die Hand zu nehmen. Das werde nämlich, und das sei seine feste Überzeugung, schnell das günstige Konjunkturbild verändern und sich langfristig genauso negativ auf unsere Wirtschaft auswirken wie eine umfassende Sozialisierung.

Der Industrieminister hatte hier ein Gesicht gemacht, als sei er von einer Nadel gestochen worden.

»Ich muß doch ganz entschieden darauf bestehen«, war der Finanzminister fortgefahren, »daß er auch in Zukunft unter staatlicher Regie beschäftigt bleiben wird, und das am besten in der Regierung, wo wir ihn ständig im Auge behalten können.«

»Wenn wir Camilla nicht hätten, dann könnte er jederzeit Familienminister werden«, hatte der Außenminister entgegnet. »Familie hat er schließlich. Wie viele Kinder hat er eigentlich?«

Der Industrieminister hatte zur Antwort gegeben, er habe bei ihrer letzten Begegnung fünfzehn Kinder gezählt, könne aber nicht beschwören, daß die Zahl noch ganz aktuell sei.

»Ja, mein Gott, und was für eine Familie er hat!« hatte der Bildungsminister ausgerufen. »Es ist nicht in Worte zu fassen. Ich war diese Woche zum Abendessen bei ihm, und alle fünfzehn Kinder saßen mit am Tisch. Na ja, sitzen ist vielleicht etwas zuviel gesagt. Glaubt mir, schon oft habe ich Jugendlichen gegenüber gestanden, aber so etwas habe ich noch nie erlebt. Er hat nicht einmal eine Miene verzogen, als ein langhaariger Bengel nach dem Essen Tarzan gespielt hat und mit dem Kronleuchter durch den Fußboden gebrochen und in den Keller abgestürzt ist. ›Wie dunkel es geworden ist!‹ hat er bloß gesagt.«

»Der Mann muß Nerven wie Drahtseile haben«, hatte der Außenminister gemurmelt.

»Nerven wie Drahtseile!« erklang das Echo des Finanzministers. »Da haben wir doch die Lösung! Wir ernennen ihn zum Justizminister. Da kann er die Polizei und den Staatsschutz leiten. Ansonsten braucht er meistens nur Pornographie zu lesen und Gefangene zu begnadigen. Das ist kein sonderlich zentraler Posten. Er hat übrigens gute Meriten, seit er den Mord in den Schären aufgeklärt hat.«

Und so wurde es gemacht.

Nach ein paar Wochen wurde der Staatsminister mit allen Ehrbezeigungen in sein neues Ministerium eingeführt, begleitet von devoten Fanfaren der eigenen Presse und gedämpften Entsetzensschreien der Zeitungen auf seiten der Opposition. Einer der Pioniere der Bewegung erklärte, er habe keinem glanzvolleren Staatsbegräbnis beigewohnt, seit Branting zur letzten Ruhe geleitet wurde, doch der Ministerpräsident hatte im Fernsehen verkündet: »Gegenwärtig ist er vielleicht nicht so ganz ... so ganz firm in der Justiz; aber warten Sie erst einmal ab, innerhalb von 14 Tagen hat er sich zu einem Justizminister gemausert.«

Der Staatsminister hatte nun wieder neben mir Platz genommen und sich in seinem komplizierten System aus Sicherheitsgurten festgezurrt und etwas gemurmelt wie, daß er offensichtlich am Vortag die Abordnung aus dem nördlichen Norrland hätte empfangen sollen; in der Staatskanzlei habe er jedenfalls lediglich eine Abordnung aus dem südlichen Norrland angetroffen, die seines Glaubens erst in einer Woche hätte ankommen sollen. Ich gab der Hoffnung Ausdruck, daß nun endlich die Reise nach Ädelsta losgehen könne, und der Staatsminister bestätigte auch, daß dem so sei, doch ordnete er sich nahezu unverzüglich in die falsche Spur ein. Ein, zwei Runden sausten wir dann um die zentralen Bezirke der Innenstadt, während ich mir den Kopf zerbrach, wer wohl der rechte Mann sei, um dem Polizeiminister den Führerschein zu entziehen. Bei der dritten Runde begannen die Leute, das riesige Auto zu erkennen, und machten sich gegenseitig auf die Karosse aufmerksam, und beim Gustav Adolfs Torg rief eine Gruppe von krausbärtigen, militanten Linken: »So ist der Kapitalismus ...« Erst an einer roten Ampel gelang es dem Staatsminister, sich zur angepeilten Abflußrinne durchzuschlängeln, und danach flossen wir mit dem anderen Unrat aus der Stadt hinaus.

Der Staatsminister, der sich jetzt vollkommen befreit von lästigen Fahrspuren wähnte, lenkte den Wagen immer wieder seltsam diagonal hinüber auf die andere Fahrbahnseite, und das alles, während er mit ausholenden Gesten über das merkwürdige Leben in der Welt der Politik berichtete. Die Fahrer, denen es glückte, sich an uns vorbeizumanövrieren, waren rot im Gesicht – einige auch weiß – und drohten uns mit der Faust. Doch der Staatsminister winkte ihnen zu und referierte dann über die spontane Freundlichkeit der anderen Verkehrsteilnehmer und das Gentleman-Verhalten auf der Straße, das alle Autofahrer einte.

Es ging auf den späten Nachmittag zu, als wir in Ädelsta eintrudelten, in der sörmländischen Idylle, wo ich Landluft schnuppern sollte, während der Staatsminister und seine Kumpane in nur ein paar lächerlichen Meilen Entfernung anläßlich einer Tagung in Harpsund weilten, auf der sie die Gesellschaft umstrukturierten.

Nun saßen wir also in dem Hotelzimmer, ich seufzend auf dem Bett und der Staatsminister im Fenstersturz die makaberen Sehenswürdigkeiten des Ortes verlesend.

Der Staatsminister vernahm den Seufzer und schaute auf.

»Aber wenn du lieber bei uns in Harpsund sitzen willst, läßt sich das selbstverständlich einrichten. Du könntest als Experte fungieren. Für Schulfragen. Mitunter haben wir beide Flügel voller Experten. Sie bekommen eine Aufwandsentschädigung und haben das Ruderboot zur freien Verfügung.«

Ich streckte mich ein wenig.

»Ja, ich habe immerhin alles in allem mehr als dreißig Jahre Erfahrung als aktiver Lehrer.«

Der Staatsminister sah mich nachdenklich an.

»Erfahrung? Erfahrung ... na ja, das ist zwar nicht schlecht, aber ... ja, du hast nicht zufällig, ähäm, eine ... Vision oder so etwas? Von der Schule der Zukunft, frei von jedem hinderlichen Zwang? Das würde sich wirklich besser machen ...«

Ich verneinte, eine Vision hatte ich nicht zu bieten und mir wurde klar, daß die Zukunft mich eingeholt hatte. Ich beschloß, mich an den Friedhof zu halten. Dort konnte ich zwischen den Gruften wandeln wie ein Toter unter Toten. Frei von Visionen, menschlicher Gemeinschaft und Aufwandsentschädigungen.

Im Eßzimmer des Hotels aß ich zu vorgerückter Stunde – apropos tote Gegenstände – etwas gekochten Dorsch naturell; meine Gedärme waren wie gewöhnlich nach einer Autofahrt mit dem Staatsminister so sehr durchgerüttelt, daß ich das Gefühl hatte, selbst wenige Löffel Eisoße seien eine unzulässige Ausschweifung.

Wir kehrten ins Zimmer zurück, wo der Staatsminister in seinen Betrachtungen über die Gräber des Ortes fortfuhr, während ich die Bekanntschaft mit dem heiligen Sebastian erneuerte.

»Ädelsta!« rief der Staatsminister plötzlich aus wie ein zweiter Archimedes in der Badewanne. »Ädelsta! Aber hier wohnt doch Mommy, meine alte Amme. Ich muß sie besuchen. Komm, wir machen uns gleich auf den Weg!«

Ich kann nicht behaupten, alte Ammen – sei es nun die des Staatsministers oder anderer Leute – übten eine größere Anziehungskraft auf mich aus, aber in diesem Augenblick beschlich mich das Gefühl, ich sollte mich an diesem Abend lieber mit dem Waschen von Leichen befassen als im Hotelzimmer zu bleiben.

So standen wir dann wenige Minuten später auf dem Bürgersteig.

Ich hätte wissen müssen, was dabei herauskommen würde.

Der Staatsminister hatte natürlich weder Adresse noch Namen – Mommy konnte schließlich ebensogut der Name einer Katze sein wie der einer Amme –, und ich kann versichern, daß es außerordentlich beklemmend ist, durch eine Kleinstadt zu wandern im Schlepptau des obersten Wächters des Rechtswesens des Landes, der ohne Unterschied die Entgegenkommenden nach seiner alten Amme befragte.

Am Ende, als er sich erinnerte, daß sie Lindberg hieß und mit ihrem Bruder zusammen wohnte, biß ein Passant an. Ein älterer, vornehmer Herr deutete mit anmutigen Bewegungen seines Spazierstockes den Weg, der unserer war.

»Ein großes, gelbes Haus mit weißen Fensterrahmen, Sie können es gar nicht verfehlen«, schloß er, und ich bedankte mich und dachte, daß er da aber den Staatsminister schlecht kannte.

Wir steuerten bezeichnete Richtung an. Ädelsta erwies sich als eine der Kleinstädte, in denen die Storgatan, die Hauptstraße, sich selbst in den Schwanz beißt und die Seitenstraßen in launischen Mustern frei verstreut lagen.

»Sie ist bei uns gewesen, bis ich in die Schule gekommen bin, dann ist sie ausgezogen, um ihrem Bruder den Haushalt zu führen, nachdem er Witwer geworden war«, erzählte der Staatsminister mit ungewohnten Seufzern der Nostalgie – wenn es denn nicht von der Steigung der Straße kam. »Die Hefewecken, die sie samstags immer gebacken hat, ich habe noch den Duft in der Nase! Sie ist ein paar Mal zu Besuch gekommen, und wir haben uns kleine Briefe geschrieben, aber dann fand ich wohl, ich sei zu groß für so etwas, wie Jungen eben so sind. Ich habe wirklich jahrelang nicht mehr an sie gedacht, bis meine alte Tante letztes Weihnachtsfest gesagt hat: ›Wenn du ohnehin in Harpsund bist, dann kannst du doch auch mal Mommy in Ädelsta besuchend.‹ Hier muß es sein!«

Es war tatsächlich ein großes, auffälliges Haus, eher ein Anwesen, und es schien mir des für die Bewohner etwas besorgniserregenden Typs zu sein, der jederzeit von fanatischen Wahrern des kulturellen Erbes ins Stockholmer Freilichtmuseum Skansen verfrachtet werden konnte. Mansardendach mit altem, geädertem Schiefer; die mit breiten Balken beplankten Wände und gedrechselten Fensterrahmen ergaben eine stattliche Fassade, die durch verschnörkelte Latten verlängert wurde, hinter denen Laubmassen einen schattigen Garten verhießen.

Der Staatsminister steuerte sogleich auf die aus Eichenbohlen gezimmerte Haustür zu, geschnitzt und ehrwürdig wie der Deckel eines Sarges, und ich spürte die übliche Unruhe, die mich befällt, wenn ich ihm auf unangemeldete Visiten in gutbürgerliche Stuben folge, wo er schnell als Störfaktor oder wenigstens als unruhestiftendes Element empfunden werden mußte. (Ich erinnere mich an eine aristokratische Tante, der offensichtlich ein erheblicher Teil der politischen Umwälzungen der letzten Jahrzehnte entgangen war. Sie befaßte sich eingehend mit der Tätigkeit des Staatsministers. »Ich finde, in letzter Zeit liest man in der Zeitung so seltsame Dinge über dich. Und warum sieht man dich so häufig mit diesem Erlander zusammen? Willst du dir nicht endlich einmal eine ordentliche Arbeit suchen? Ja, du mußt mir verzeihen, daß ich es laut ausspreche, aber manchmal kommt es mir so vor, als wärst du in schlechte Gesellschaft geraten und Sozialist geworden. Deinen Eltern hätte es gar nicht gefallen. Nein, es hätte ihnen wirklich ganz und gar nicht gefallen.«)

Doch der Staatsminister, der Sehnsucht nach seiner Mommy hatte, pochte an und hämmerte mit dem Türklopfer, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, daß er einem steuerschweren Grundstückseigentümer und seinen dienstbaren Geistern wie der Gehörnte höchstpersönlich vorkommen konnte.

Die Haustür wurde geöffnet, und eine zierliche Dame stand in stummer Verwunderung auf der Schwelle. Doch dann war alles ein einziges Rufen und Umarmen.

Es war die Dame, die schließlich den Clinch auflöste.

»Aber mein Junge, laß dich richtig anschauen! Wie groß du geworden bist! Und auch so elegant! Mein Junge, du bist immer noch der alte, ich habe dich gleich wiedererkannt, obwohl es bestimmt schon an die dreißig Jahre her sein muß. Ja, ich habe dich natürlich in der Zeitung gesehen, aber das ist ja nie dasselbe. Aber wir wollen doch nicht hier draußen herumstehen!«

Und so verschwanden der Staatsminister und die alte Frau durch die Haustür, die wieder ins Schloß fiel, und ich stand, wo ich war, und kam mir vor wie ein Hautlappen, der nach einer gelungenen Operation überflüssig geworden war.

2

Nach einigen endlosen Sekunden jedoch öffnete sich die Tür abermals, und der Staatsminister zog mich ins Haus.

»Das ist mein Schwager, Studienrat Persson. Er ist Lehrer«, ergänzte er überdeutlich und laut, so wie es jüngere Leute gern in Gegenwart von überlebenden Exemplaren der älteren Generation tun, bei denen man von vornherein davon ausgehen kann, daß sie Gehör und Begriffsvermögen nahezu vollständig eingebüßt haben.

»Wie angenehm, Herr Studienrat Persson, Sie kennenzulernen! Willkommen in meinem Hause und willkommen in Ädelsta darf ich Sie wohl auch heißen!«

Sie war in der Tat eine ganz und gar wunderbare, kleine Dame, diese Mommy.

Dünn und zerbrechlich, bleiche Wangen und silbergraues Haar, so stand sie vor mir wie die Urgroßmutter aus einem Märchen. Die feste Stimme und die funkelnden, blauen Augen vermittelten dem urteilsfähigen Beobachter unmißverständlich, daß Senilität die Kommunikation hier nicht behindern würde. Um den schrumpeligen Hals ruhte ein entzückendes, krauseartiges Gebilde, und auf den knöchellangen Rock fiel die Bluse in einer Wolke aus Rüschchen und Plüschchen.

Eben so weit in meinen Beobachtungen gediehen, wurde ich von einem schwanzwedelnden, dackelähnlichen Tier überfallen, das an mir hochzuklettern versuchte, ohne Zweifel in der Hoffnung, nackte, faltige Gesichtshaut abschlecken zu können.

»Aber Pelleman, daß du dich nicht schämst! Ist ja gut, jetzt aber runter mit dir!«

Mommy hatte eingegriffen und den Hund zur Ordnung gerufen, mußte sich jedoch sogleich eines neuen kläffenden Männchens annehmen.

»Mommy! Ist John gekommen? Aber was macht ihr denn bloß da draußen? Wir haben doch schon die Karten ausgegeben!«

»Oh, oh, mein Bruder Adolf glaubt bestimmt, der Apotheker ist da, der vierte Mann beim Bridge«, seufzte Mommy und scheuchte uns mit der unmißverständlichen Handbewegung eines Kindermädchens auf die verärgerte Altmännerstimme zu, deren Besitzer sich jetzt offenbar selbst aufgemacht hatte, um herauszufinden, was sich in seinem Flur abspielte.

»Aber warum ...?«

Die Ähnlichkeit der Geschwister war unschwer zu erkennen.

Der feingliedrige Körperbau, weiter gekrümmt im eisernen Griff der Jahre, der verschrumpelte, kleine, vogelartige Hals, die feste Stimme – alles verriet den gemeinsamen Ursprung. Jedoch Bruder Adolfs funkelnde Augen hinter dem Zwicker waren nicht blau, sondern pfefferkornbraun und nicht sanft, sondern scharf wie das Gewürz selbst.

»Wie belieben?« fragte er und mir war, als hörte ich jemanden diese Worte zum ersten Mal außerhalb der Theaterbühne sagen.

»Das ist mein Bruder, Fabrikdirektor Adolf Lindberg. Darf ich vorstellen, Studienrat Persson aus Stockholm.«

Der alte Mann starrte mich an, nicht besonders erfreut; er sah eher aus, als frage er sich, ob nun auch die Lehrerschaft angefangen habe, bettelnd von Tür zu Tür zu ziehen.

»Und dies hier ist«, fuhr Mommy mit einer Miene fort, die verriet, daß sie das Beste bis zum Schluß aufgespart hatte, »dies hier ist der Junge, von dem ich schon so viel erzählt habe und aus dem ein großer Staatsminister geworden ist!«

Der scharfe Blick des alten Mannes war bedeutend milder geworden. Er schaute richtig freundlich aus, und ich erkannte, daß er zur Gattung der Kriecher gehörte und daß ich mir ganz unnötig Sorgen gemacht hatte. Vergessen waren offensichtlich sämtliche ein Unternehmen hemmenden Maßnahmen und Steuern und vergessen war das jahrzehntelange Gejammer über die Nivellierung, die Ausplünderung und den Raubbau an den Kräften, die den Wohlstand unserer Gesellschaft garantierten. Begleitet von entzückten Glucksern und allerlei großzügigen Angeboten, schickte er sich an, den Gleichmacher und Aussauger von Staatsminister in die gute Stube zu komplimentieren.

»Wenn der Herr Staatsminister sich hier herein begeben wollen ... Es ist mir eine große Ehre ... Nein, hier entlang, wenn ich bitten darf ... Kann ich Ihnen etwas anbieten? Eine Zigarre vielleicht? Doch bestimmt ein Glas Sherry? Wie belieben? Orangensaft? Mommy, Mommy, wo stehen die Saftflaschen? Aber schnell doch, der Herr Staatsminister möchte unseren Orangensaft probieren! Wenn ich doch nur gewußt hätte ... Nein, in keinster Weise, ich versichere es Ihnen! Wir haben uns nur in kleiner Runde zum Kartenspielen versammelt wie an jedem Samstagabend ... Darf ich Ihnen meinen guten Freund vorstellen, General der Ingenieurstruppen Ygdecrantz – Herr Staatsminister und Leiter des Justizministeriums! Aber die Herren sind sich bestimmt schon bei dem einen oder anderen Kriegsgericht begegnet ... ich meine ... einem Gerichtsprozeß ...«

Der alte Mann zog sich aus der Bredouille, indem er auch mich schnell aufforderte, die generalische, etwas feuchte Hand zu schütteln.

General Ygdecrantz machte nicht den Eindruck eines Generals – nicht wenn man eine uniformierte, schneidige, wettergegerbte Erscheinung erwartete.

Was ich erblickte, war ein schmächtiger, schmalschultriger Zivilist mit einer Haut so weiß wie die eines Adelsfräuleins aus dem 17. Jahrhundert und einem scheuen Zug um die Augen, der bei einem inspizierten Fähnrich oder einem betrügerischen Buchhalter natürlicher gewesen wäre, der unerwartet dem spitznasigen Wirtschaftsprüfer gegenübersteht. Ich gab ihm die Hand und dachte bei mir, ihm war vermutlich in letzter Zeit eine Laus über die Leber gelaufen.

»Seit ich vor zwei Jahren in Pension gegangen bin, wohne ich das ganze Jahr über auf meinem väterlichen Gut, fünf Meilen südlich von Ädelsta. Ich hoffe, Sie werden Zeit finden, mich dort zu besuchen«, entgegnete der General mit dünner Stimme.

Der Fabrikdirektor trippelte weiter auf einen Herrn in den Fünfzigern zu, der sich von seinem Platz am Spieltisch erhoben hatte.

»Und das hier ist mein besonders guter Freund Botschafter Petersén, vorübergehend auf Heimaturlaub von seinem Posten in Pretoria.«

Wenn schon der General nicht den Anstand gehabt hatte, wie ein Militär auszusehen, dann schaute zumindest der Botschafter aus wie ein Diplomat und benahm sich auch dementsprechend. Mit wohlgesetzten Worten begrüßte er uns; er versicherte, als seien wir alte Schulfreunde, daß wir immer gern gesehene Gäste bei ihm und in seinem Hause seien. Und es wurde verbindlich hierhin gelächelt und sich leicht dorthin verneigt. Ausladende Gesten lenkten die Aufmerksamkeit auf das wogende, kohlrabenschwarze Haar, und die Augenlider waren halb geschlossen wie die einer Katze, die in der Sonne döste, und verbargen mit dem anderen Zubehör kunstvoll, was für ein Mensch und wildes Tier in der Tiefe schlummern mochte.

Nachdem der Gastgeber das obligatorische Vorstellungszeremoniell absolviert hatte, konnte er dem Staatsminister von neuem seine ungeteilte Aufmerksamkeit zukommen lassen.

»Es ist wirklich bedauerlich, daß mein Sohn noch nicht hier ist, ich erwarte ihn erst morgen früh. Er ist sehr beschäftigt, und mein achtzigster Geburtstag ist schließlich erst morgen. Aber der Herr Staatsminister ist ihm sicher schon in Stockholm begegnet, er ist Bankdirektor und seit dem letzten Winter Chef der Provinzbank. Bankdirektor Ejnar Lindberg. Ja, ich dachte es mir! (Der Staatsminister hatte sich geräuspert und geschluckt und wenn man wollte, konnte man das alles positiv auslegen.) Er besitzt einen sehr scharfen Verstand und hat auch außerordentlich schnell Karriere gemacht, der Junge ist kaum fünfundvierzig. Ich weiß noch, wie er schon in der Schule ...«

Der Fabrikdirektor zog an dieser Stelle den Staatsminister zur Seite, einem alternden Löwenmännchen gleich, das sich mit seinem erlesenen Antilopenfilet vom Rudel absondert, und mich überließ man vor dem offenen Kamin mir selbst. Botschafter Petersén, sicherlich seit seinen Tagen als Attaché geübt darin, einsame Gäste aufzuspüren und ihnen zu Hilfe zu eilen, gesellte sich geschmeidig zu mir.

»Sind Sie schon einmal in Swahililand gewesen?« begann er mit einem untrüglichen Gespür dafür, was sich unverzüglich zu einem zentralen Gesprächsthema entwickeln konnte: Botschafter Petersén und seine Verdienste in fernen Ländern. Er nahm sich auch nicht die Zeit, meine ohnehin vorhersehbare Antwort abzuwarten, ehe er fortfuhr.

»Ich war dort Mitte der sechziger Jahre unser Gesandter. Wie Ihnen bekannt sein dürfte, drohte dort zu dem Zeitpunkt ein blutiger Stammeskrieg auszubrechen.«

Ich überlegte, ob es als korrekt betrachtet werden konnte, den kausalen Zusammenhang zwischen diesen beiden Ereignissen in Frage zu stellen, doch noch ehe ich mich zu einer Entscheidung durchgerungen hatte, vertraute er mir an, er sei der einzige Schwede und vermutlich der einzige Nordeuropäer, der fließend Swahili sprach und zudem vier andere der gutturalen Bergdialekte verstand. Ich beglückwünschte ihn, und mit einer unendlich anmutigen Handbewegung führte er einige undiplomatisch widerspenstige Haarsträhnen über dem einen Ohr wieder dem Protokoll zu.

Mommy bot diverse Getränke auf einem Tablett an. Als ich mich hinunterbeugte und nach dem Glas Mineralwasser griff, flüsterte sie: »Wenn mein Bruder Sie fragen sollte, dann sagen Sie, daß die Forstaktien Ihrer Meinung nach bald wieder steigen. Er hat sich in der letzten Zeit darüber Sorgen gemacht. Ja, ich habe meinen Jungen auch darum gebeten. Aber jetzt kommt bestimmt der Apotheker!«

Jemand schlug draußen mit dem Klopfer an die Tür, als gelte es, einen Toten aufzuwecken, was selbst für einen Apotheker zugegebenermaßen ein hochgestecktes Ziel war.

Mommy eilte davon, und schnell drang eine Stimme zu uns herein, auch diese wie klingend Erz.

»Ich muß wirklich um Entschuldigung bitten, daß ich so spät komme! Aber der Doktor hat gerade, als ich losgehen wollte, per Telefon förmlich einen Hagel an Rezepten aufgegeben, mitten in der Sommerhitze scheint sich eine Grippewelle anzubahnen. Förmlich ein Hagel, ich sage es Ihnen. Adolf ist sicher schon ungeduldig? Tja, Beherrschung war noch nie seine Stärke.«

Der hochgewachsene Mann in mittleren Jahren, der Knickerbocker trug, füllte für einen Augenblick den Türrahmen aus und nahm gleichermaßen das ganze Zimmer ein. Der Fabrikdirektor stellte ihn vor als »mein Freund, der Apotheker Karlander«. Ich erinnerte mich, daß der Botschafter als »mein besonders guter Freund« und der pensionierte General als »mein guter Freund« tituliert wurden, und ich dachte mir, daß in diesem Hause Freundschaft mit seltsamer Genauigkeit einer sozialen Stufenleiter folgte. Meine Hand wurde ergriffen und vollkommen von einer muskulösen, haarigen Masse umschlossen, als sei sie eine kleine, wehrlose Pille, die zur Nacht einzunehmen war. Wir unterhielten uns eine Minute, ich erinnere mich jedoch nicht des Inhalts unseres Gesprächs, da meine Gedanken hauptsächlich mit seinen ungewöhnlich spitzen Schneidezähnen beschäftigt waren.

Unter nicht enden wollenden, entschuldigenden Verbeugungen gegen den Staatsminister begann der Gastgeber sodann, seine jetzt vollzählig versammelte Bridge-Runde zusammenzutreiben – der Spieltrieb war offenbar genauso stark entwickelt wie das Bedürfnis, sich mit Titeln zu umgeben. Doch der freigestellte Staatsminister gesellte sich mit glücklicher Miene zu Mommy aufs Sofa. Ich selbst sank in einen weinroten Fauteuil, nachdem ich eine fette Katze fortgescheucht hatte, die sich unter einem gelben, vorwurfsvollen Blick trollte.

In der Bridge-Runde herrschte offensichtlich eiserne Disziplin, da sogar der Botschafter schwieg und allein ein leises Brummeln zu hören war sowie die ein oder andere wohlartikulierte Zurechtweisung des Gastgebers gegenüber dem weniger folgsamen Apotheker. Doch als die erste Partie beendet war, entwickelte der alte Mann abermals einiges an geselliger Aktivität.

»Aber Mommy, meine Liebe, wo hast du nur deinen Kopf, bekommen wir denn heute abend gar keinen Tee? Oh, Entschuldigung, ich habe nicht gesehen, daß der Herr Staatsminister sich mit meiner Schwester unterhält! Nein, kommt nicht in Frage, daß der Herr Staatsminister jetzt geht, ohne Tee. Aber es ist in der Tat bedauerlich, daß der Herr Staatsminister meinen Sohn nicht kennenlernt ...«

Die Karten waren von neuem gemischt und verteilt worden, der Fabrikdirektor jedoch sprach über seinen Sohn, den Bankdirektor, und da mußte offensichtlich die Rücksicht auf das Spiel weichen. Er verbreitete sich über seine Verdienste, hielt sich bei Meilensteinen seiner Karriere auf und schilderte bis ins kleinste Detail Bekanntschaften und Verbindungen innerhalb der tonangebenden Kreise.

Der General war verärgert, das fiel mir sofort auf.

Anfangs schnitt er nur etwas ungeduldige Grimassen vor sich hin und trommelte leicht mit den Fingern auf der Tischplatte, doch bald begann er, Blickkontakt mit seinen Spielkameraden zu suchen. Er starrte sie vielsagend an, verdrehte die Augen und führte sich überhaupt wie ein gelangweilter Schuljunge auf, zur Stille zwar gezwungen, jedoch nicht ganz von einem gestrengen Lehrer unterworfen.

Doch dann schaute der Fabrikdirektor auf, mitten in einer sinnlosen und ausschweifenden Schilderung, wie dem Sohn der Orden des Weißen Löwen dritter Klasse von der Hand des Präsidenten der Republik verliehen wurde. Der General bot gerade dem Botschafter eine seitliche Grimasse dar, die deutlicher als alle Worte sagte: »Mein Gott, wie lange will er sich dabei noch aufhalten?«

Dem alten Mann blieb der Mund offen stehen, er glotzte, bekam die Situation spitz und schoß hoch, blaurot im Gesicht angelaufen und schrie: »Wie belieben? Wie belieben?«

Dann fielen die Wörter, die ich in einen solchen Kreis nicht für möglich gehalten hätte: »Ja, stellt euch vor, ich spreche von ihm! Und das tue ich, weil er ein Thema ist, über das man sprechen kann! Er sitzt zufällig nicht in einer Anstalt wie deine Mißgeburt von Sohn!«

Auch der General hatte sich auf die Hinterbeine gestellt. Er beugte sich über den Tisch zum Fabrikdirektor hinüber, und ich sah, wie ihm die Hände zitterten.

Keine Ahnung, was ich für eine Reaktion von ihm erwartete. Ich glaube, ich hätte ihn verstanden und eine Entschuldigung gefunden, ganz gleich, was er getan hätte – dem Alten eine aufs Maul geben, ihm ins Gesicht spucken oder ganz einfach aus dem Zimmer und dem Haus gehen.

Doch er tat nichts dergleichen.

Er stammelte unverständliches Zeug, sank auf den Stuhl zurück, nahm seine Karten wieder zur Hand und schickte mit belegter Stimme einen Appell an die Herzen.

Der Fabrikdirektor setzte sich ebenfalls. Er fröstelte, mahlte mit den Kiefern und brummelte ein wenig vor sich hin, doch schnell war er wieder beim Spiel, und es folgte eine peinlich genaue Schilderung des sich anschließenden Mittagessens in der Botschaft, nachdem der Orden dem Sohn an die Brust geheftet worden war.

Der General schaute stur auf seine Karten hinunter.

»Wie stark es regnet!«

Mommy hatte sich aus dem Sofa erhoben, stand jetzt hinter ihrem Bruder und strich ihm sanft über die Schultern, als wolle sie ihn besänftigen.

Es regnete tatsächlich, es peitschte geradezu gegen die bleiverglasten Sprossenfenster. Ich bereute meine Unvorsichtigkeit bitterlich, an diesem lauen Sommerabend ohne Mantel aus dem Haus gegangen zu sein.

»Jetzt weiß ich aber, was wir machen!«

Der Fabrikdirektor sprang mit erstaunlicher Spannkraft auf und schoß ans Fenster.

»Der Herr Staatsminister übernachtet hier, ja, der Herr Studienrat selbstverständlich auch. Dann müssen Sie nicht in dieses furchtbare Wetter hinausgehen, werden meinen Sohn kennenlernen und können morgen früh bei der Geburtstagsaufwartung dabeisein. Es ist übrigens schon abgemacht, daß der Botschafter und der General hier nächtigen, sie haben einen beträchtlichen Weg zu ihren Gütern und wollen morgen früh um sechs die Gesangseinlage nicht verpassen. Nein, es macht nicht die geringste Mühe, wir haben so viele Gästezimmer da oben bereitstehen. Nicht wahr, Mommy, meine