Der Staatsminister reist aufs Land - Bo Balderson - E-Book

Der Staatsminister reist aufs Land E-Book

Bo Balderson

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Beschreibung

Den schwedischen Innenminister und seinen Schwager, den pensionierten Oberlehrer Vilhelm Persson, verschlägt es zur Mittsommerzeit in ein kleines, beschauliches Dorf in Schweden. Als Schirmherr für eine UN-Organisation sucht der Staatsminister hier nach einer geeigneten Immobilie für ein Kinderheim. Doch dann wird der ehemalige Kommissar Wallmann ermordet. Dem Schein nach hat Arzt Körmedeni die Tat begangen. Immerhin berichten mehrere Zeugen, dass sie ihn im Zimmer des Ermordeten gesehen haben. Doch kann das stimmen? Der Staatsminister übernimmt zusammen mit seinem Schwager die Ermittlungen und kommt dem Mörder bald näher als ihm lieb ist.Bo Balderson ist das Pseudonym eines Schriftstellers, der über ausgesprochenes Sprachbewusstsein, einen wunderbar bissigen Humor und über eine genaue Kenntnis der politischen Arena Schwedens Anfang der siebziger Jahre verfügt, in denen seine Romane erstmals veröffentlicht wurden und auch spielen. Seine insgesamt elf Kriminalromane erreichten in Schweden Rekordauflagen.Der schwedischen Presse ist es bisher nicht gelungen, den Schreiberling hinter dem Pseudonym Bo Balderson zu enttarnen."Witziger Krimi, der im Schweden der 70er Jahre spielt. Der Staatsminister bringt sich und seinen leidgeplagten Schwager mit seinen Ermittlungen wie stets in Verlegenheiten." – BertieWooster, www.lovleybooks.de"In schönster Agatha-Christie-Manier entwickelt Bo Balderson wieder einmal sein Mord-Szenario vor dem Leser. Herrlich skurile und schrullige Typen werden so überzeichnet, dass sie zwar verdächtig, meist aber doch auch sympathisch daher kommen. Viele kleine Einfälle lockern die Handlung auf und sorgen für den witzigen und schnoddrigen Tonfall, der typisch für Balderson ist und dem Leser einen vergnüglichen Lesegenuß ermöglicht." – Thorsten Wirth, www.schwedenkrimi.de-

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Bo Balderson

Der Staatsminister reist aufs Land

Aus dem SchwedischenvonMaike Dörries

Saga

Die Personen in der Reihenfolge ihres Auftretens:

Der Staatsminister Margaretaseine FrauVilhelm Perssonpensionierter Studienrat, ErzählerJohan Åkerblomdritter stellvertretender ReichstagspräsidentElvira ElmgrenHaushälterinGustaf WallmanPolizeikommissar a.D.Frau SilfverlodEigentümerin von SilfverhusMaude Silfverlodihre TochterMichael KörmendiArztHubert HallanderGemeindepfarrerHarriet Hallanderseine FrauNisse NordSchriftsteller

1

Es war eine nicht enden wollende Küsserei und Herzerei.

Der Wagen rollte bereits durchs Tor, aber der Staatsminister hing noch immer aus dem Seitenfenster und rief seiner Frau und den Kindern Abschiedsgrüße und Ermahnungen zu.

»Zähneputzen nicht vergessen! Mit den Hunden rausgehen! Den Rasen mähen! Und nicht traurig sein, in ein paar Tagen bin ich ja wieder da! Ich rufe euch abends an, um zu hören, wie euer Tag war. Und morgens, wie ihr geschlafen habt. Sollten der Ministerpräsident oder das Ministerium anrufen und fragen, wo ich stecke, sagt ihnen nicht, wo ich bin. Außer natürlich, es geht um eine Leiche. Sagt einfach, ich wäre in Norrland unterwegs, um mir ein paar Strafvollzugsanstalten anzusehen ...«

Als wir das Eigenheim und die lärmenden Kinder endlich hinter uns gelassen hatten, sah ich den Staatsminister von der Seite an und fragte ihn ganz direkt, ob er wirklich glaube, das Vertrauen des Ministerpräsidenten und der Regierung zu genießen. Was der Staatsminister entschieden bejahte. Das habe ihm der Regierungschef erst vor sechs, sieben Jahren bestätigt. Na gut, der damalige Regierungschef ...

Die Sonne schien, ein laues Lüftchen wehte; und es hätte ein richtig schöner Tag werden können, hätte ich nicht angeschnallt im Wagen des Staatsministers gesessen, ausgerüstet für einen längeren Ausflug inklusive Übernachtung. Neben dem Staatsminister im Auto zu sitzen, war, wie in einem ausrückenden Einsatzfahrzeug mitzufahren: Man weiß, dass einen Schreckliches erwartet, nur nicht, was.

Aber, dachte ich, vielleicht würde es diesmal ja gar nicht so schlimm werden.

Der Staatsminister wollte sich schließlich nur ein paar Häuser ansehen.

Ich weiß nicht, ob ich es bereits erwähnt habe: Der Staatsminister unterstützt mit seinen Millionen eine Organisation, die sich um Kinder aus Krisengebieten kümmert. Sie werden einige Monate, bis zu einem Jahr, in gut ausgestatteten Pflegeheimen untergebracht, in denen sie behandelt und aufgepäppelt werden, wo sie spielen und wieder Vertrauen lernen können. Solche Heime gibt es überall auf der Welt, in fast allen Ländern.

Keine Frage, das Ganze ist sehr lobenswert. Aber Gedanken kann man sich ja trotzdem machen. Als ich bei irgendeiner Gelegenheit vorsichtig zu bedenken gab, ob es nicht eventuell sinnvoller wäre, das Geld in geburtenkontrollierende Maßnahmen zu investieren, reagierte er mit Unverständnis:

»Aber diese Kinder gibt es bereits!«

Ich führte meine Gedankengänge nicht weiter aus. Der Staatsminister sieht vor lauter Menschen die humanitären Probleme nicht.

Sicher ist es eine gute Sache, Kinder aller Hautfarben und Nationalitäten zusammenzubringen, Juden mit Arabern spielen zu lassen und Weiß mit Schwarz. Auch das habe ich ihm gegenüber angesprochen. Da hat er mich angestarrt und gesagt, dass ihm dieser Gedanke noch nie gekommen sei!

Das ist so typisch für diesen Mann. Da setzt er einen großen und edlen Gedanken in die Tat um, ohne ihn je gedacht zu haben!

Wie auch immer, dieses Projekt war seriös, es stand unter der Schirmherrschaft der UNO und wurde von Fachleuten und Komitees organisiert. Aber der Staatsminister zahlte. Und war für die Auswahl der Häuser in Schweden zuständig.

Weil er glaubte, einen messerscharfen Blick für geeignete Objekte zu haben.

Die Häuser sollten geräumig sein und solide gebaut, sagt er, gern ein wenig in die Jahre gekommen. Sie sollten nicht in der Stadt liegen, aber auch nicht auf dem platten Land. Große Grundstücke waren ein absolutes Plus, gern auch ein Wald und ein See in der Nähe.

Der Staatsminister glaubte nun, ein paar geeignete Objekte gefunden zu haben. In einer Anzeige im Dagbladet hatte er nach einer »gr. Villa m. Parkgrundst., gern renov.bedürftig« gesucht und der erstaunten Hausbesitzerwelt mitgeteilt, dass der Betrag »bar und bei Unterschrift von finanzkräft. Interess.« gezahlt würde.

Jeder, der über noch so geringe Kenntnisse der Immobilienbranche und der menschlichen Natur verfügt, weiß, was für eine Lawine eine solche Anzeige auslöst. Von etwa hundert baufälligen Objekten, die ihm angeboten wurden, schafften es zwei Villen bei Mellanstad in Mälardalen in die engere Auswahl.

Und der Staatsminister, der seine Dummheit oft zu kompensieren versuchte, indem er zwei schlechte Geschäfte abschloss, wo jeder Einfaltspinsel sich mit einem begnügte, hatte enthusiastisch einen Schriftwechsel eingeleitet und seinem Ministerium mitgeteilt, dass er ein paar Tage abwesend sein würde.

In einem Moment kompletter geistiger Umnachtung hatte ich mich bereit erklärt, ihn auf dieser Reise zu begleiten.

Nicht, weil ich mich sonderlich für alte Villen in Mälardalen interessiere. Aber es hat schon einen gewissen Reiz, zu sehen, was einem wohntechnisch erspart geblieben ist. Außerdem wollte ich bei der Gelegenheit meine Bekanntschaft mit Schloss Gripsholm und dem Theater von Gustaf III. auffrischen ...

Wir saßen wieder im Auto.

Das Mittagessen – gedünstete Felchen mit Senf-Ei-Sauce für mich und für den Staatsminister Wiener Schnitzel mit Pommes – war äußerst wohlschmeckend gewesen und Gustafs Turmtheater genauso entzückend, wie ich es in Erinnerung hatte. Welch ein Genuss, es ohne eine Schulklasse im Schlepptau zu besichtigen. Und ohne den Staatsminister, den ich mit seinem Hang zum Makaberen bereits im Schlossgefängnis abgehängt hatte.

»Ich kauf nur schnell die Tageszeitung!«, rief er und bremste vor einem Kiosk. »Wenn du schlau bist, steigst du auch aus und vertrittst dir die Beine!«

Aber ich zog es vor, angeschnallt im Wagen sitzen zu bleiben. Schlagzeilenplakate machen mich nämlich immer ganz nervös. Sie springen einen mit so geballter Wucht an. Und diese hier sahen besonders bedrohlich aus.

Der Grund war wohl, dass ich befürchtete, sie könnten vom Staatsminister handeln.

Es war noch nicht lange her, dass er dort gehangen hatte, in Lettern so groß wie Blutwurstscheiben. Eine unangenehme Geschichte, die eigentlich ganz idyllisch begonnen hatte. Der Staatsminister und seine Frau waren mit der Fähre nach Åland gefahren, um sich einen schönen Maitag lang, weitab von allen beruflichen und familiären Strapazen, zu erholen. Auf der Rückreise hatte der Staatsminister, der ein ausgeprägter Familienmensch ist, für jedes seiner sechzehn Kinder ein Kilo Fazers Geleekonfekt in einer dekorativen Holzschachtel gekauft. Dabei übersah er die kleinliche Zollbestimmung, dass jeder Reisende maximal ein Kilogramm Konfekt einführen darf. Der Zoll winkte seinen Wagen routinemäßig aus der Schlange, der Kofferraum wurde geöffnet, und die sechzehn kleinen Holzkisten kamen ans Tageslicht. Der Staatsminister beteuerte seine Unschuld – was er bekanntermaßen überzeugend zu tun versteht – und bezahlte die Zollgebühren.

Die Angelegenheit wäre damit normalerweise aus der Welt gewesen, hätte der Zollbeamte sich nicht – ob aus Pflichtgefühl oder Geltungsdrang, das ließ sich hinterher nicht mehr klären – an eine der einschlägigen Abendzeitungen gewandt und von seinem Fang berichtet. Der diensttuende Redakteur der Abteilung Menschenhatz rief umgehend den Staatsminister an, um Hintergrundinformation einzuholen. Und der Staatsminister, der ungern schweigt, erzählte ihm so dies und das von seinen und den Essgewohnheiten seiner Kinder. Der Journalist machte sich Notizen, bedankte sich und rief danach den Ministerpräsidenten an, der wiederum nicht so leicht zu erreichen war, da er an einem Kongress der Guttempler in Jönköping teilnahm. Er hatte einen ermüdenden Tag und eine noch viel ermüdendere Tagung hinter sich, mit endlosen Vorträgen über den Teufel Alkohol und das Elend der Welt. Ganz davon abgesehen war es ein Uhr nachts, als er in seinem Hotelzimmer vom Klingeln des Telefons aus dem Schlaf gerissen wurde. Er kriegte nur mit, dass der Expressen am Apparat war und es mal wieder um den Staatsminister ging. Während der Redakteur durch eine rauschende und knackende Leitung von den Holzkisten erzählte, kämpfte der Ministerpräsident sich Stück für Stück aus dem Schlaf empor, und als Stockholm verstummte, hatte er abgespeichert, dass der Staatsminister mit sechzehn Kisten finnischem Wodka, Koskenkorva oder so ähnlich, vom Zoll erwischt worden war.

»Das darf doch nicht wahr sein! Das darf doch, verdammt noch mal, nicht wahr sein!«, schrie er und war endgültig wach.

»Aber wenn ich’s doch sage«, erwiderte der Redakteur und wunderte sich ein wenig, weshalb der Kerl wegen dem bisschen Konfekt für die Kinder so einen Aufstand machte. »Ich habe eben erst mit ihm gesprochen und mir die Geschichte von ihm bestätigen lassen. Ist doch eine hübsche Anekdote.«

»Wie viel, sagten Sie?«

»Sechzehn Kisten.«

»Sechzehn Kisten? Sechzehn Kisten? Verkauft er ... Mein Gott, ist er etwa so zu Reichtum gekommen ...?«

»Er sagte, es wäre für die Kinder gewesen.«

»Für die Kinder?«

»Ja. Einmal pro Woche, am Samstag, gibt’s was für alle. Er hält es für sinnvoller, ihnen einmal eine ordentliche Ration zu geben, als ständig was zwischendurch. Auf diese Weise hat er auch viel besser im Blick, was sie zu sich nehmen. Bei ihren Freunden kriegen sie schon genug dubioses Zeug. Salzlakritzschlangen und Schaumratten, das kann doch nicht gesund sein. Er kauft nur Qualitätsware, sagt er. Selbst das Baby ist verrückt danach und fängt an zu schreien, wenn es nicht genauso viel wie die anderen bekommt. Und hinterher achtet er darauf, dass sich alle gründlich die Zähne putzen.«

»Die Zähne? Glaubt er, es nützt was, sich hinterher die Zähne zu putzen?«

»Er selbst leert auch eine Kiste pro Woche, behauptet er.«

»Eine Kiste pro Woche ... Aha, jetzt verstehe ich, wieso er sich so merkwürdig benimmt! Und alles, was er sagt ... Warum bin ich nicht viel eher darauf gekommen ...«

»Werden Sie Maßnahmen ergreifen, Herr Ministerpräsident?«

»Selbstverständlich! Er muss natürlich zurücktreten! Nicht einen Tag länger ... Sechzehn Kisten ... Selbst das Baby ... Eine Kiste pro Woche ...«

»Herr Ministerpräsident, halten Sie diese Reaktion nicht für etwas zu drastisch? Meinen Sie nicht, das könnte von den Wählern möglicherweise ...?«

»Es ist mir scheißegal, wie das aufgefasst wird! Nach so einem Skandal kann er doch unmöglich weiter in der Regierung bleiben. Der Kerl ist ja kriminell, der gehört doch hinter Gitter ... Sechzehn Kisten ... Lieber eine ordentliche Ration pro Woche ... Zähne putzen ... Koskenkorva ...«

Am nächsten Tag walzte der Expressen mit fetten gewichtigen Schlagzeilen, die sich durch ihr eigenes Gewicht vom Papier zu lösen schienen, die gesamte Konkurrenz platt:

Der ministerpräsident:

StaatsministerWegen geleekonfektSeiner kinderIm gefängnis!

2

Der Staatsminister kam ohne Zwischenfälle mit seiner Zeitung zurück.

Wir fuhren weiter durch die grüne, frühlingsfrische Landschaft.

Während der Staatsminister irgendwas von einer Hündin faselte, die trotz mehrerer Versuche keine Welpen kriegte, schweiften meine Gedanken zu unserem Nachtquartier ab. Wir hatten uns im Stadthotel in Mellanstad einquartiert. Ob es wohl eher von der älteren, knarrenden oder von der modernen, hellhörigen Sorte war?

Mit einem Seufzer überließ ich das Stadthotel der Zukunft und notierte mir im Gedächtnis, dass ich mir unbedingt die Domkirche ansehen wollte, insbesondere den mittelalterlichen Taufstein ...

»Ich habe dir doch mitgeteilt, dass ich die Hotelzimmer abbestellt habe?«, unterbrach der Staatsminister meine Überlegungen. »Wir wohnen stattdessen bei Johan Åkerblom. Das ist viel netter, persönlicher.«

Das war mir neu.

Ich konnte mich nicht erinnern, einen Johan Åkerblom zu kennen.

Also fragte ich nach.

»Du weißt nicht, wer Johan Åkerblom ist? Du bist ihm bestimmt schon mal begegnet. Oder hast zumindest von ihm in der Zeitung gelesen. Er ist Reichstagspräsident. Stellvertretender Vizepräsident. Dritter Vizepräsident, um genau zu sein. Ein alter Parteigenosse. Von mir, versteht sich. Hat sich zwanzig Jahre lang in Västmanland aufstellen lassen. Davor war er Volksschullehrer. Da könnt ihr pädagogische Erfahrungen austauschen, ist das nicht wunderbar? Er wohnt bei Mellanstad. Ganz in der Nähe unserer Immobilienobjekte. Praktisch, oder?«

»Weiß er davon?!«

Meine hochgeschraubte Stimmlage war durchaus berechtigt, hatte der Staatsminister mich doch schon des Öfteren in spontane Besuchsüberfälle verwickelt, Morde inklusive, die jeden Hotelaufenthalt in den Schatten stellten.

»Aber natürlich weiß er Bescheid! Man kann die Leute doch nicht einfach überfallen, ohne sich vorher anzukündigen! Ich habe ihn heute Morgen angerufen, und er klang hocherfreut. Na ja, zumindest nicht ablehnend. Die Kinder sind aus dem Haus, und seine Frau macht gerade eine Rundreise und besucht sie. Da fühlt er sich doch sicher einsam und langweilt sich. Du hast sogar ein eigenes Zimmer! Ich habe gesagt, dass du nur unter der Bedingung mitkommen würdest.«

Mit Familienanschluss untergebracht zu sein ist fast noch schlimmer, als im Hotel zu wohnen, weil man sich dem Tagesrhythmus der Gastgeber und ihren häufig sehr eigenartigen Gewohnheiten anpassen muss. Bei einem unserer Ausflüge musste ich beispielsweise um sechs Uhr morgens aufstehen, um unserem Gastgeber zu seinem achtzigsten Geburtstag ein Ständchen zu bringen. (Der zu dem Zeitpunkt bereits tot war.) Für einen empfindlichen Magen kann auch die Nahrungsaufnahme zum echten Problem werden. Wie oft habe ich mich schon von trockenen Keksen oder Zwiebäcken ernährt, die ich heimlich in meinem Zimmer gegessen habe, weil es bei den Mahlzeiten ausschließlich fette Fleischwürste, gebratene Leber oder klumpige Puddings gab. Besonders schwer zu ertragen sind die Familien mit Kindern. Die Kleinsten halten einen die ganze Nacht mit ihrem Gebrüll wach, die älteren mit nächtlichen Musikorgien. Was habe ich schon mit Stöcken an Decken und Wände geklopft, aber das Gejohle der Idole übertönt alles. Die meisten Eltern entwickeln im Laufe der Jahre eine Widerstandskraft, die schon an Immunität grenzt und sie gegen jede Art von Klagen taub macht. Und für einen Gast geziemt es sich ja wohl kaum, diesbezüglich ein Machtwort zu sprechen.

In diesem Fall waren die Kinder bereits ausgeflogen. Aber wer konnte schon wissen, welchen nächtlichen Ausschweifungen sich der Präsident in Abwesenheit seiner Frau hingab?

Ich näherte mich Mellanstad mit sehr widersprüchlichen Gefühlen. Der Countdown der Schilder von 110 über 90 auf 70 bis 50 km/h ging schnell, danach passierten wir den unvermeidlichen Gürtel aus Tankstellen, die sich auf die übliche vulgäre Weise darboten. In dem alten Stadtkern erhaschte ich zwischen zwei verglasten Kaufhäusern einen kurzen Blick auf den Dom. Gleich darauf befanden wir uns im Tankstellengürtel auf der anderen Seite der Stadt.

Der Staatsminister reckte den Hals und murmelte Straßennamen vor sich hin, und nach ausgedehntem, verwirrendem Herumgekurve, vorbei an kleinen, roten Backsteinhäuschen in kleinen, gepflegten Gärten, erreichten wir waldigeres Gebiet. Die Villen auf den Lichtungen boten einen eindeutig individuelleren Anblick.

»Hier muss es sein!«, rief der Staatsminister und bog in einen schmalen Weg ein, der sich gleich darauf auf einen Kiesplatz mit einem großen »Schutzbaum« in der Mitte öffnete.

Es war ein stattliches Haus, das Präsident Åkerblom sein Eigen nannte. Wie einer der Gutshöfe aus der Zeit Gustav Vasas, in dem jener in seiner stürmischen Jugendzeit häufig Schutz suchte. Braun gebeiztes Fachwerk, Laubengänge, kleine Sprossenfenster und ein insgesamt rustikaler Stempel. Wohl kaum der Ort, an dem ein einsamer Vizepräsident die ganze Nacht hindurch Hardrock hörte, dachte ich und schnallte mich los.

Da trat Präsident Åkerblom aus seinem Haus.

Er war auch eher von der rustikaleren, altmodischeren Sorte.

Nicht, dass er sonderlich alt gewesen wäre, Mitte fünfzig, vielleicht. Und die Augen hinter der Goldrahmenbrille blinzelten lebhaft. Aufrechte Haltung und energischer Gang. Aber seine Erscheinung strahlte etwas leicht Angestaubtes aus. Vielleicht lag es an der grauweißen Ponytolle, die ihm in die Stirn fiel. Oder an seiner Kleidung. Er trug ausgebeulte, fischgrätengemusterte Knickerbocker, einen Pullover mit großen Karos, Strickstrümpfe mit kleinen Karos und Lederwanderschuhe. (Dieser Aufzug, wohl mit Ausnahme der Lederwanderschuhe, war gerade topmodern, wie ich später erfuhr. Trotzdem bin ich überzeugt, dass Johan Åkerblom zu der zeitlosen Spezies Mensch gehört, die alle zehn Jahre für eine kurze Saison modern sind, ganz ohne eigenes Zutun.)

»Herzlich willkommen!«, rief Åkerblom und strich sich die grauweiße Tolle aus der Stirn. »Nein, ich nehme das Gepäck! Immer rein mit euch in die gute Stube! Das Essen ist gleich fertig. Elsa ist verreist, ihr werdet euch also mit dem begnügen müssen, was ich zu bieten habe. Nein, nicht in die Küche, da ist es zu unordentlich!«

Das Durcheinander im Wohnzimmer war auch nicht von schlechten Eltern. Besonders beeindruckend fand ich die Zeitschriftenstapel, die über den ganzen Boden verteilt lagen und Stühle, Sofas und Tische unter sich begruben, sodass sie aussahen wie nachlässig zugedeckte Leichen. Dazwischen lagen diverse Reichstagshandouts und ungeordnete Unterlagen, die wie aufgescheuchte Hühner aufflatterten, als wir den Raum durchquerten.

Ich räumte einen Stapel Regierungsvorlagen von einem Bauernstuhl, setzte mich und blätterte in dem kleinen Zeitungshügel zu meinen Füßen. Die älteste Ausgabe war eine Woche alt. Daraus schloss ich, dass Frau Åkerblom an diesem Tag das Haus verlassen hatte.

»Wenn ich nur wüsste, wo Elsa den Küchenfreund versteckt hat!«

Unser Gastgeber stapfte in einer Wolke Essensdünste aus der Küche ins Wohnzimmer und ließ seinen Blick verzweifelt über das Zeitungschaos schweifen. Hier kam offensichtlich jede Hilfe zu spät: ein Mann, der im Wohnzimmer nach dem Pfannenwender sucht, hat eindeutig die Kontrolle über sein Zuhause verloren.

Der Staatsminister sagte, ein Vorlegemesser täte es auch, worauf der Präsident mit einem dankbaren Grunzen zurück in die Küche entschwand.

»Ich verstehe gar nicht, wie es so schnell so unordentlich werden kann«, sagte er wenig später beim Abendessen, zu dem etwas zäh Gebratenes serviert wurde, bei dem man nicht unnötig lange verweilen sollte. »Dabei bin ich doch eigentlich nur samstags und sonntags zu Hause. Unter der Woche übernachte ich in meinem Zimmer im Reichstag in Stockholm.«

Er kratzte sich in der weißen Mähne und sah uns aufrichtig verzweifelt durch den Goldrahmen an.

»Ich vermute, die Zeitungen sind an allem schuld«, fuhr er fort. »Ich muss sie ja alle lesen, überregionale und lokale Zeitungen. Und die kommen, ob ich zu Hause bin oder nicht. Am Wochenende muss ich sie dann durcharbeiten und gucken, ob sich etwas auszuschneiden lohnt. Aber kaum schlage ich eine Zeitung auf und fange an zu blättern, werde ich von einem Anruf unterbrochen oder einem Besuch, und so bleiben sie liegen!«

Er zeigte mit einer hilflosen Geste über das bedeckte Mobiliar.

»Es hat etwas so Demoralisierendes, wenn die Zeitungen sich immer weiter ausbreiten, und dann fange ich an, mit dem Aufräumen und dem Abwasch zu schlampern, und überhaupt. Ich war richtig froh, als euer Anruf kam, dass ihr hier wohnen wollt. Das zwingt mich sozusagen dazu, den Zeitungen den Garaus zu machen! Dachte ich. Aber dann konnte ich die Schere nicht finden und musste mit den Vorbereitungen fürs Abendessen anfangen.«

»Wie wäre es mit einer Haushaltshilfe?«, schlug der Staatsminister vor.

Johan Åkerblom sah ihn erschrocken an. Die Hand strich über die Stirntolle.

»Um Himmels willen, das geht auf keinen Fall! Sie würde sich bloß auf die Zeitungen stürzen, sie zusammenfalten und stapeln. Wie soll ich da jemals wiederfinden, was ich ausschneiden wollte. Außerdem kann man einer Putzfrau ein Chaos wie dieses kaum zumuten.«

Damit wollte er wohl ausdrücken, dass der Zustand in seinem Heim bereits die Grenze überschritten hatte, wo man noch guten Gewissens Hilfe von außen in Anspruch nehmen konnte. Und ich konnte ihn verstehen, er in seiner Position war angreifbar, er musste an seinen Ruf bei seinen Wählern denken. Wenn bekannt wurde, dass der Präsident nicht in der Lage war, in seinen eigenen vier Wänden für Ordnung zu sorgen, dass es in seinem Haus aussah wie in einem Schweinestall ...

»Ist Elsa lange fort?«, fragte der Staatsminister.

»Wir haben fünf Kinder, und sie bleibt drei, vier Tage bei jedem von ihnen. Mit drei Wochen muss ich schon rechnen. Und jetzt ist gerade mal die erste vorbei.«

Ich stellte fest, dass das Blättern in dem Zeitungsstapel mich der Wahrheit sehr nah gebracht hatte.

»Ach, fünf Kinder sind schon eine Menge«, seufzte Johan Åkerblom. »Natürlich war es auch oft anstrengend, als sie noch alle zu Hause wohnten. Aber eigentlich finde ich es viel anstrengender, seit sie nicht mehr da sind. Im Herbst zieht Björn, unser Ältester, für ein paar Jahre mit seiner Familie nach Japan. Ich habe mich noch nicht getraut, Elsa zu fragen, ob sie ihn dort auch besuchen will. Da wäre sie ja Monate unterwegs!«

Der Staatsminister schlug dem Präsidenten vor, bei einem der vielen Ausschüsse des Reichstags eine Reise dorthin zu beantragen, an der er natürlich selber teilnehmen würde. Aber jetzt würde er, der Staatsminister, erst mal einen Kaffee ansetzen, bevor sie gemeinsam die Zeitungsberge in Angriff nehmen würden.

Beim Kaffee erwähnte ich, dass die Autofahrt mich sehr erschöpft hätte. Johan Åkerblom sprang auf.

»Wo bin ich bloß mit meinen Gedanken! Ihr wollt natürlich sehen, wo ihr untergebracht seid! In den Kinderzimmern war niemand mehr, seit Elsa weg ist, da ist es also sauber und aufgeräumt. Aber die Betten müssen noch bezogen werden. Meine Güte, wo mag Elsa bloß die Bettwäsche haben?«

Der Staatsminister rettete die Situation, indem er verkündete, dass seine Frau Margareta uns Bettzeug eingepackt hätte. Ich wurde in mein Zimmer geführt, wo ich meine Taschen auspackte und mein Nachtlager bereitete. Dann legte ich mich mit den »Beiträgen zur Erforschung der Kämpfe zwischen König Sigismund und Herzog Karl 1598–1599« ins Bett, einer Abhandlung, die mich mit ihrem umfangreichen Anmerkungsapparat schon lange reizte.

3

Um neun Uhr am nächsten Morgen betrat der Staatsminister mit einem Teetablett mein Zimmer und teilte mir mit, dass wir in einer Stunde mit Kommissar Wallman verabredet seien.

Ich kannte ihn lange genug, um zu wissen, was das bedeutete.

»Mord!«, rief ich und zerkrümelte den Frühstückskeks.

»Mord?!«, echote der Staatsminister enthusiastisch. »Wer wurde ermordet? Warum hast du mich nicht geweckt! Raus aus den Federn, wir müssen die Spuren sichern!«

Nach einem ausdauernden Hin und Her verwirrter Rufe in beide Richtungen stellte sich glücklicherweise heraus, dass keiner von uns eine Leiche vorzuweisen hatte. Das Missverständnis war aufgrund der flüchtigen Erwähnung Kommissar Wallmans durch den Staatsminister entstanden, der nicht, wie ich nachvollziehbarerweise geglaubt hatte, aktiver Polizist bei der Ausübung seines Amtes war, der uns wegen irgendwelcher Leichen oder Alibis zum Verhör vorgeladen hatte, sondern einer der zwei Hauseigentümer, der seine Villa an den Mann bringen wollte. Man vergisst leicht, dass auch Polizisten eine private, immobilienveräußernde Seite haben können.

»Wie bedauerlich«, sagte der Staatsminister. »So eine Leiche ist doch immer wieder erfrischend ... Wie bitte, du möchtest deinen Tee trinken, ohne über Leichen zu reden? Du willst ihn trinken, ohne überhaupt zu reden? Wie du willst. Dann sehen wir uns in einer halben Stunde draußen im Garten. Wir sind übrigens alleine, Johan Åkerblom ist zu irgendeiner Sitzung gefahren. Das Wetter ist schön, pack dich also nicht zu warm ein.«

Es war in der Tat ein traumhafter Tag, wie ich wenig später feststellte, als ich die Rasenfläche betrat. Die Sonne schien, ohne zu stechen, und es ging eine leichte Brise, die einen nicht frieren ließ. In einem Anflug von Poesie äußerte ich, dass man an einem Tag wie diesem das Band zwischen Seele und Natur spüre und wie sich der Geist in höhere Sphären aufschwinge.

Der Staatsminister erwiderte, an solchen Tagen bekäme er immer Lust, sein Auto zu waschen.

Wir hatten den Zufahrtsweg zur Villa des Präsidenten verlassen und befanden uns nun auf der breiteren, mit kleinen Steinen durchsetzten Landstraße, die links und rechts von dichtem und düsterem Tannenwald eingerahmt war. Aber am Wegrand wuchsen gelbe Osterglocken. Ich konnte nicht widerstehen, mir eine Blume ins Knopfloch zu stecken.

»Was ist dieser Kommissar Wallman, der sein Haus verkaufen will, für ein Typ?«, fragte ich und schwang meinen Stock schwungvoll wie in jungen Jahren.

»Ich weiß auch nicht mehr über ihn als du. In seinem Brief hat er nur über sein Haus geschrieben, nichts über sich selbst. Doch, dass ich niemandem erzählen sollte, dass er vorhat, das Anwesen zu verkaufen. Und dass ich seinen Brief mitbringen und mich irgendwie ausweisen soll. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass er ein äußerst misstrauischer und vorsichtiger Mensch ist. Ich wollte eigentlich Johan Åkerblom nach ihm fragen, aber der war heute Morgen leider schon ausgeflogen. Und gestern Abend, als wir die Zeitungen zerschnippelt haben, haben wir nur über Politik geredet. Na, wir werden Kommissar Wallman gleich ja persönlich kennenlernen. Wenn ich die Beschreibung aus dem Brief richtig im Kopf habe, müssen wir immer nur diesem Weg folgen. Das Grundstück ist von einer gelben Mauer umgeben.«

Zehn Minuten später waren wir am Ziel. Jedenfalls standen wir vor einem Eingangstor in einer ausgesprochen gelben Mauer, die dem neugierigen Auge nicht die kleinste Ritze bot.

»Abgeschlossen«, konstatierte der Staatsminister, nachdem er kräftig an dem Handgriff gerüttelt hatte. »Lass uns ein Stück an der Mauer entlanggehen und uns ein wenig umsehen.«

Die Mauer war über zwei Meter hoch und verlief fünfzig Meter in einer geraden Linie, ehe sie einen scharfen Knick vor einem Feld machte. In regelmäßigen Abständen leuchtete einem in signalroten Lettern »Warnung. Betreten der Mauer verboten!« entgegen. Der Staatsminister, der grundsätzlich drückt, wo »Ziehen« steht, und zieht, wo er drücken soll, bekam ein herausforderndes Blitzen in den Augen.

»Diese Mauer wurmt mich«, sagte er. »Ich will unbedingt einen Blick auf die andere Seite werfen. Wenn ich auf deine Schultern klettern würde ...«

»Nein«, sagte ich.

»Ich stemme dich auch gern mit der Räuberleiter hoch, dann kannst du ...«

»Nein, habe ich gesagt. Was willst du überhaupt da oben? Die Pappeln auf der anderen Seite verhindern sowieso jeden Einblick. Und in zehn Minuten kannst du gucken, so viel du willst, ohne einen Finger krumm machen zu müssen.«

»Gibt es hier denn gar nichts zum Draufklettern, einen Stein oder was auch immer?« Der Staatsminister ließ nicht locker. »Na, wer sagt’s denn, die Planke da drüben sieht doch ganz brauchbar aus!«

Ich wollte ihn darauf hinweisen, dass die betreffende Planke wesentlicher Bestandteil des Steges war, der über den Graben führte, aber da hatte der Mensch sie bereits losgerissen und gegen die Mauer gelehnt.

»Jetzt!«, rief er. »Ich laufe jetzt die Planke hoch und halte mich am oberen Mauerrand fest ... Siehst du, das läuft doch wie am Schnürchen!«

Wie am Schnürchen, vielleicht, aber wohl eher ein tödliches Stolperschnürchen. Der Staatsminister rannte auf die Mauer zu und die daran lehnende Planke hoch, griff nach der Mauerkrone, sprühte Funken wie eine Wunderkerze und fiel zu Boden.

Wo er reglos liegen blieb.

Mir war gleich klar, dass er mit etwas Elektrischem in Berührung gekommen sein musste, und ich wich schnell ein paar Schritte zurück. Womöglich stand er noch immer unter Strom.

Nach etwa einer Minute schlug er die Augen auf und fragte, was passiert sei. Ich erzählte es ihm, und er rappelte sich mühsam auf. Er blutete an der Hand, und ein Anzugärmel war aufgeschlitzt.

»Unglaublich«, murmelte er. »Kommissar Wallman hat Stacheldraht auf seiner Mauer. Starkstrom führenden Stacheldraht!«

Mir ging plötzlich auf, wie knapp ich dem Tod entronnen war. Wäre der Staatsminister auf meine Schultern gestiegen, wäre der Strom durch mich hindurchgeflossen. Eine solche Belastung hätte mein schwaches Herz nie im Leben ausgehalten. Der Staatsminister hingegen hat ein extrem starkes Herz.

»Was ist denn das? Hörst du das auch?«

Ich lauschte konzentriert und hörte ein hartnäckiges Signal, das vom Grundstück kam.

»Eine Alarmanlage!«, brüllte der Staatsminister. »Mauer, Stacheldraht, Starkstrom und Alarmanlage! Das Haus muss ich haben! Das scheint ja was ganz Exklusives zu sein. Komm, lass uns zurück zum Tor gehen, es ist schon nach zehn Uhr. Und wir wollen unseren Furcht erregenden Kommissar schließlich nicht warten lassen.«

Dieses Mal sahen wir den Klingelknopf neben dem Tor. Der Staatsminister drückte ihn.

Nach einer ganzen Weile waren hinter dem Tor Schritte im Kies zu hören.

»Stellen Sie sich so hin, dass ich Sie mir ansehen kann!«, bellte eine spitze Frauenstimme. In dem Tor war ein Spion eingelassen. Der Staatsminister brachte sich davor in Positur.

»Sind Sie der Herr aus Stockholm, der das Haus kaufen will?«

Der Staatsminister bejahte.

»Stecken Sie den Brief des Kommissars in den Briefschlitz. Damit wir sichergehen können, dass Sie tatsächlich derjenige sind, für den Sie sich ausgeben. Der Kommissar hat Ihnen geschrieben, dass Sie ihn mitbringen sollten. Und dann würde ich noch gern Ihren Ausweis sehen.«

Der Staatsminister kramte das Verlangte hervor und warf es in den Briefschlitz.

»Da ist noch jemand!«, rief die Frau hinter der Wehrmauer. »Ich hab ihn sehr wohl gesehen, auch wenn er versucht, sich zu verstecken. Der darf aber nicht mit rein!«

»Das ist doch nur Herr Persson«, rief der Staatsminister. »Er ist Immobilienexperte. Ich habe dem Kommissar geschrieben, dass ich ihn mitbringen würde.«

»War er das auf der Mauer? Zum Verrücktwerden, dieser Alarm. Er sieht ein bisschen mitgenommen aus, wenn Sie mich fragen. In seinem Alter sollte man nicht mehr auf Mauern rumklettern! Wie ein Schuljunge!«

Nach weiteren lauten Vorhaltungen in ähnlichem Stil und nachdem ich mich mit meinem Postbankausweis ausgewiesen hatte, drehte sich ein Schlüssel im Schloss, die Riegel schnalzten und das Tor öffnete sich.

Sie sah aus, wie sie sich anhörte, lang und knochig und ziemlich spitz. Sie streckte den Kopf vor, als würde sie Witterung aufnehmen.

»Frau Kommissarin, nehme ich an?«, sagte der Staatsminister und verbeugte sich.

»Unsinn. Was reden Sie denn da? Der Kommissar ist doch nicht verheiratet! Ich bin nur die Haushälterin. Elvira Elmgren. Fräulein Elvira Elmgren.«

Obgleich immer noch barsch in Ton und Haltung, war deutlich zu erkennen, dass die Frau sich durch die Vermutung des Staatsministers geschmeichelt fühlte.

»Und Sie wollen also das Haus kaufen?«, nahm sie den Gesprächsfaden wieder auf, nachdem sie das Tor hinter uns verriegelt hatte. »Haben Sie Kinder? ... Das ist gut, hier sollten Kinder sein, das Haus ist viel zu groß für einen einsamen Menschen. Aber wir sind nicht hier, um die Zeit zu verplaudern, Sie sind spät dran. Der Kommissar besteht auf Pünktlichkeit. Außerdem ist er ungehalten wegen der Mauerbesteigung. Im Haus ist der Alarm so laut, dass man den Verstand verlieren könnte. Wenn ich nur wüsste, wozu der Alarm gut sein soll, wo es hier doch überhaupt keine Wertsachen gibt. Jedenfalls nicht, soweit ich weiß. Und dann der Revolver, den er die ganze Zeit mit sich rumträgt und mit dem er drinnen wie draußen rumballert! Irgendwann passiert noch ein Unglück, so wahr ich hier stehe. Zum Glück kommt ihn ja kaum noch jemand besuchen. ›Wie will der Herr Kommissar das Haus verkaufen, wenn die Wände voller Einschusslöcher sind?‹, frage ich ihn immer wieder. ›Häng einfach ein Bild davor‹, sagt er dann. Aber die Bilder reichen nicht mehr aus, also hab ich angefangen, Wandbehänge zu weben. Nein, hier entlang bitte!«

Wir liefen Gartenwege entlang, die so mit Unkraut überzogen waren, dass man sie kaum von dem umgebenden Rasen unterscheiden konnte, und unter Bäumen hindurch, deren Kronen die Sonne und den Himmel beinahe gänzlich abschirmten.

»Es ist eine Schande, wie es hier aussieht. Aber ein einzelner Mensch kann sich unmöglich um das Haus und den Garten kümmern. Es ist alles so übermäßig groß. Und der Kommissar muss auch den lieben langen Tag beaufsichtigt werden. Nein, Pålle, sei still! Dass du aber auch jeden ausbellen musst, den du nicht kennst. Ja, natürlich, du langweilst dich. Du darfst nicht auf die andere Seite der Mauer, und hier kommt nie jemand vorbei. Wissen Sie, ich habe Pålle letzten Winter von meinem Bruder aus Stockholm bekommen. Er fand, ich hätte ein wenig Gesellschaft nötig. So ist brav, Platz, mach Platz!«

Aus dem hohen Gras war ein kleiner Pekinese hervorgeschossen und kläffte uns grell und hartnäckig an. Jetzt verzog er sich mit einem vorwurfsvollen Blick auf uns Eindringlinge in sein überwuchertes Revier zurück.

Wenige Schritte später standen wir vor dem Haus.

4

An den unterschiedlichsten Orten des Landes hatte ich diese Sorte Häuser schon gesehen, die von den Anzeigen des Staatsministers aus ihrem Dornröschenschlaf in der Dornenhecke geweckt wurden. Dieses prangte groß und weiß und kapitalhungrig inmitten der grünen Pracht, wie eine in die Jahre gekommene Braut in Erwartung ihres nicht auftauchenden Bräutigams.

Wir stiegen die Treppe zu einer höher gelegenen Veranda hoch, die sich über die gesamte Breite des Hauses erstreckte. Ich drehte mich um, um mir einen Überblick über den Garten zu verschaffen. Aber außer Bäumen und Büschen, die überall dort wucherten, wo sich der Garten eigentlich den Blicken und Promenierwilligen öffnen sollte, sah ich nichts.

»Hier muss aber eine Menge abgeholzt werden«, nuschelte der Staatsminister.

Das Wohnzimmer war so dunkel, wie es von einem Wohnzimmer im Dschungel nicht anders zu erwarten war. Ich hielt nach Einschusslöchern Ausschau, wobei ich nur mit Mühe den gestickten Text auf dem Wandbehang entziffern konnte, der in Knöchelhöhe an die Wand genagelt war. (Vermutlich hatte der Kommissar auf eine Ratte geschossen.) Sprich freundlich mit dem müden, das ist wie medizin. Das klang wie der verzweifelte Schrei einer gemarterten Haushälterinnenseele. Oder einer angeschossenen Ratte.

»Der Kommissar erwartet Sie in seinem Zimmer«, sagte Fräulein Elmgren und führte uns durch die Eingangshalle, wo ich meinen Mantel ablegen konnte. Von der gegenüberliegenden Wand starrten uns drei Eichentüren an. Die Haushälterin klopfte an die mittlere.

»Herr Kommissar, der Herr aus Stockholm ist jetzt da!«

»Hat er den Brief vorgezeigt? Und seinen Ausweis? Was hatte er auf der Mauer zu suchen? Ist der Immobilienexperte auch dabei?«

Die Fragen wurden in schneller Folge abgeschossen. Die Stimme klang scharf, gereizt.

»Jawohl, er hat sowohl Brief als auch Ausweis vorgezeigt. Und der Immobilienexperte ist ebenfalls anwesend. Er war der Akrobat auf der Mauer. Wollte wahrscheinlich überprüfen, ob sie solide gebaut ist.«

»Hat er sich auch ausgewiesen?«

»Hat er. Aber von dem ist nichts zu befürchten. Dazu ist er viel zu alt und schwächlich. Kraftlos, würde ich sagen. Er hat einen ganz ungesunden Teint.«

»Stellen Sie ihn so vor die Tür, dass ich ihn sehen kann!«

Fräulein Elmgren fasste mich am Arm und zog mich vor ein ähnliches Guckloch wie das im Eingangstor. Ich wurde neuerlich einer Observierung unterzogen. Das war ja schlimmer als beim Arzt.

»Ich verbürge mich für seine Harmlosigkeit!«, schrie der Staatsminister übereifrig.

Allmählich reichte es aber. Immerhin war ich in meiner Jugend zwischen Vaxholm und Skäggaudd hin und her gerudert, eine Strecke von gut und gerne drei Kilometern. Ich spannte den Brustkorb und streckte den Rücken.

»In der Tat, eine halbe Portion«, war nun eine geradezu amüsierte Stimme von der anderen Seite der Eichentür zu vernehmen. »Den schaffe ich ja mit einem Arm auf dem Rücken.«

Das Schloss klackte.

Die Haushälterin öffnete die Tür.

Er saß reglos vor uns und starrte uns an, und er saß im Rollstuhl. Trotzdem war mein erster Eindruck: Stärke. Alles an dem Mann, der dort vor uns saß, wirkte kräftig, massiv: Kopf, Schultern, Nacken. Er hatte ein breites Gesicht mit markanten Falten zwischen Mundwinkel und Nasenflügel. Die Stirn schlug zwei Kerben in das graue, kurz geschnittene Haar. Hände und Gesicht waren sonnengebräunt. Ich schätzte ihn auf fünfundfünfzig, sechzig Jahre.

Wir standen vor der Türschwelle, und er saß auf der anderen Seite in seinem Rollstuhl. Wir nahmen uns gegenseitig ins Visier, möglicherweise starrten wir sogar, aber irgendwann war die Inspektion abgeschlossen, und Kommissar Wallman rollte den Rollstuhl rückwärts in den Raum hinein und machte uns Platz. Auch in dieser Bewegung, die man ungewollt mit Krankheit und Schwäche assoziierte, strahlte er eine ungeheure Kraft aus.

»Setzen Sie sich«, sagte er, ohne zu lächeln. Er trug eine Art Overall aus weichem, braunem Stoff, der bis zum Hals geschlossen war.

Wir stellten uns mit Namen vor und tauschten ein paar Begrüßungsformeln aus.