Der mörderische Verrat am IJsselmeer - Doris Althoff - E-Book

Der mörderische Verrat am IJsselmeer E-Book

Doris Althoff

0,0

Beschreibung

Nach ersten Anlaufschwierigkeiten will die deutsche Hauptkommissarin Wallis Windsbraut nun endlich in ihr geplantes Sabbatjahr am IJsselmeer starten. Doch prompt führt ihr Hund sie zu einer Leiche. Todesursache: unklar. Wieder gerät Wallis in die Ermittlungen der niederländischen Politie und auch ihr alter Opel Kapitän, der Leichenwagen des ehemaligen elterlichen Bestattungsunternehmens, sorgt erneut für Missverständnisse. Kurz darauf gibt es den nächsten Toten. Aber auf den ersten Blick scheint die beiden Opfer nichts zu verbinden …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 331

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Doris Althoff

Der mörderische Verrat am IJsselmeer

Kriminalroman

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2024 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Nicolas Jooris-Ancion / istockphoto.com

ISBN 978-3-7349-3012-6

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

1 EEN

Das Unglück Het ongeluk

»Verschwinde endlich aus meinem Leben!«

Die Worte dröhnten in seinen Ohren, jagten wie Pfeile durch seinen Kopf. Das Geräusch der Tür, die vor seiner Nase ins Schloss fiel, erinnerte ihn an eine Guillotine. Als der Motor ihres Wagens erst aufheulte, dann leiser wurde, nahm Piet Brouwer seine Jacke von der Garderobe und verließ ebenfalls das Haus. Ein frischer Wind wehte ihm die grau melierten Haare ins Gesicht. Er schlug den Kragen seiner Jacke hoch, vergrub sein Kinn hinter dem dicken Fleece und überquerte den Kagerdijk, um zu dem Fußweg zu gelangen, der hoch zum Deich führte. Mit jedem Schritt wurde ihm klarer, dass der letzte Rest Hoffnung mit Febes Worten nun gestorben war.

Fast ein Vierteljahr lang hatte er in dem notdürftig eingerichteten Zimmer im Keller geschlafen, Gespräche gesucht, sich wieder und wieder entschuldigt, versucht zu erklären. Es hatte eine Zeit lang gedauert, bis ihm der Schmerz, den er ihr zugefügt hatte, wirklich bewusst geworden war und er die Wochen davor zutiefst bereute.

Es konnte fatal sein, im Schlaf zu sprechen, besonders wenn man das Bett mit seiner Frau teilte und ein Verhältnis mit seiner Mitarbeiterin hatte. Wenn die Ehefrau dann noch den Daumen des schlafenden Mannes dazu nutzte, mit dem Fingerscan sein Handy zu entsperren, um seine Nachrichten zu lesen, war die Eskalation vorbestimmt. Er fand ihren Vertrauensmissbrauch zuerst nicht weniger schlimm als sie seinen und hatte das sehr deutlich zum Ausdruck gebracht. Zum ersten Mal nach 23 Jahren waren sie sich fast körperlich angegangen. Selbstverständlich wäre seine temperamentvolle Febe nicht seine Frau, hätte sie nicht unmittelbar Betje angerufen, um ihr mitzuteilen, dass sie von allem wusste. Es folgten Wochen des Schreiens, Schweigens, Weinens und Erklärens. Am Ende hatte er beide Frauen verloren, und sein Job als Abteilungsleiter eines Baumarktes wurde nicht angenehmer, als Betje sich in eine andere Abteilung versetzen ließ.

Eine Möwe flog kreischend über Piet hinweg, verhöhnte ihn. Er zog die Schultern hoch, vergrub seine Nase in dem weichen Futter seiner Jacke. Sie hatte ja recht. Alle hatten recht, die Möwe, Betje und Febe. Aber musste er wegen dieses einen Fehlers nun alles verlieren, was ihm etwas bedeutete? Auf dem Deich angekommen, blieb er stehen und blickte zurück auf das kleine Haus mit dem weißen Giebel, ☻den Butzenscheiben und der Gracht davor. Wie sehr er an diesem Bruchsteinhäuschen hing, das sie vor 20 Jahren gekauft und aufwendig renoviert hatten. Bis heute hatte er gehofft, dass sie es schaffen würden, wenn nicht ihre Ehe zu retten, zumindest eine Lösung zu finden, beide weiter das Haus zu bewohnen. Heute hatte er ihr den Vorschlag gemacht, den Dachboden auszubauen. »Niemals werde ich mit dir zusammen in einem Haus leben. Verschwinde endlich aus meinem Leben«, war die Antwort darauf gewesen. Dann hatte seine seit jüngster Zeit immer chic gekleidete Frau das Haus verlassen und die Tür zugeschlagen.

Piet ließ seinen Blick kreisen. Wervershoof, das IJsselmeer, waren sein Zuhause. Selbst diesen gerade wolkenverhangenen Himmel, das trübe Licht, das das Wasser zu einer dunklen Masse machte, die mit dem Himmel zu einem konturlosen Grau verschwamm, liebte er seit seiner Kindheit. Er war mit dem Rad in weniger als fünf Minuten am kleinen Badestrand, am Andijker Hafen, bei Gerrit im Restaurant vom Ferienpark Het Grootslag. Sollte er auch all das verloren haben? Es hatte zu nieseln begonnen. Aus der Ferne rief jemand seinen Hund, der tapsig auf Piet zugelaufen kam, an ihm hochsprang und mit seinen feuchten Pfoten dunkle Spuren auf Piets hellen Jeans hinterließ. Piet streichelte das lockige weiße Fell und lächelte. Wie oft war er diesen Weg früher mit Fenno gegangen. Der Besitzer rief noch einmal, und der Hund lief zu ihm zurück. Piet atmete tief durch und trat den Rückweg an. Wenn er sich etwas beeilte, schaffte er es noch vor Anbruch der Dunkelheit, seine abendliche Runde mit dem Rad zu drehen. Die würde seine Gedanken etwas klarer und hoffentlich sein Herz etwas leichter machen.

Wie immer, wenn es windig war, bog er neben seinem Haus rechts ab, fuhr durch den Ort, um auf die Felder im Hinterland zu gelangen. Bei schönem Wetter nutzte er gerne den Radweg auf dem Deich und fuhr dann, größtenteils mit Sicht auf das Wasser, links Richtung Medemblik oder rechts Richtung Andijk bis nach Enkhuizen. Heute fuhr er ins Landesinnere, wo es nicht so frisch und zugig war. Stoisch radelte er vor sich hin, bis ihm allmählich warm wurde und er in eine Art Automatismus fiel, in dem seine Gedanken aufhörten zu kreisen. Dieser Zustand tat ihm gut. Mehr als einmal hatte er in den letzten Wochen an freien Tagen auf diese Art und Weise fast 100 Kilometer abgerissen. Wenn er dann nach Hause kam, geduscht und eine Kleinigkeit gegessen hatte, fiel er meist in einen friedlichen Schlaf.

Langsam begann es zu dämmern, und der Regen wurde stärker. Er hielt kurz an, setzte seine Kapuze auf und band sie vor dem Kinn zusammen, sodass der Wind sie nicht abschlug. Dann machte er sich auf den Rückweg. Wie meistens fuhr er über den Radweg am Kleingouw zurück. Nur wenige andere Radfahrer kamen ihm entgegen. Der Weg war etwas schmal, und Piet musste dann jedes Mal sehr nahe an den hohen Hecken vorbei, die mittlerweile nass vom Regen waren. Gerade als er überlegte, die Straßenseite zu wechseln, riss etwas an seinem Rad und bremste es ab, als sei er vor eine imaginäre Wand geknallt. Völlig überrascht flog Piet über seinen Lenker und stürzte mit seiner rechten Schulter auf den Asphalt. Er versuchte, seinen Kopf zu heben, um sich zu orientieren, als sich plötzlich eine dunkel gekleidete Person mit schwarzer Maske auf dem Kopf über ihn beugte, an seinen Haaren riss und er einen spitzen Schmerz im Nacken spürte. Piet war zu perplex, um irgendwie zu reagieren. Die Person verschwand im nächsten Augenblick wieder und er versuchte sich, gegen die aufsteigende Benommenheit und Übelkeit ankämpfend, aufzurichten. Aber er schaffte es lediglich, sich auf seinen Ellenbogen zu stützen, um in die Dunkelheit zu blicken. Außer seinem Fahrrad, das zu seinen Füßen lag, konnte er nichts erkennen. Es war still um ihn herum, nur in seinem Kopf rauschte es mit jedem Atemzug lauter. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er das Gefühl, aus einem Traum erwacht zu sein. Seine Zunge fühlte sich plötzlich schwer an, sein rechter Arm rutschte von seinem Körper ab und fiel auf den Boden. Dann durchströmte ihn eine Eiseskälte, als hätte jemand seine gesamten Muskeln eingefroren und gelähmt. Seine Augenlider begannen zu flattern, und sein Kopf knallte zurück auf den nassen Asphalt.

2 TWEE

Der Fund De vondst

Wallis Windsbraut holte die Gummistiefel aus dem Schränkchen vor ihrer Haustür und schlüpfte hinein. Der Regen tropfte aus der Rinne des kleinen Vordachs und platschte auf die Pflastersteine. Wie gut, dass sie noch vor dem Winter einen Handwerker gefunden hatte, der das Dach montiert hat. In einem 38 Quadratmeter großen Chalet zu leben, war doch etwas ganz anderes, als nur dort Urlaub zu machen. Anfangs waren die Tropfen immer bis vor ihre Schlafzimmertür geklatscht, wenn sie bei Starkregen die Haustür geöffnet hatte und der Wind ungünstig stand. Aber vieles zeigte eben erst der Alltag. So hatte sie nach und nach ihr Domizil für ihr Sabbatjahr noch weiter optimiert und war jetzt mehr als glücklich in ihrem kleinen Reich.

Snoepje tapste ungeduldig im Flur von einer auf die andere Pfote und blickte sie durch die Glastür erwartungsvoll an. Auch für ihn war das Dach mit dem Schrank darunter, in dem alles rund um den Hund und für schlechtes Wetter deponiert war, von Vorteil. Wallis öffnete die Tür, und kaum war der Schlitz groß genug, drängte die mittelgroße Mischlingshündin sich durch die Öffnung und sprang aufgeregt vor dem Blumenbeet hin und her. Wallis holte die Leine aus ihrer Regenjacke, setzte ihr Kapuze auf und leinte den Hund an.

»Ist ja gut, du verrücktes Tier«, sagte sie, als er nun auch noch seine Schnauze zum Himmel streckte und zu jaulen begann. Sie ging mit ihm zwischen dem Holzchalet und ihrer Gartenhütte hindurch, um zum Deichaufgang zu gelangen. Der Hund zog sie wie immer ungeduldig die vielen Stufen hinauf. Wallis ließ sich von seiner Euphorie anstecken und rannte hinter ihm her, bis die matschige Wiese den Blick auf das IJsselmeer freigab. Dieser Augenblick löste in Wallis jedes Mal ein unbeschreibliches Glücksgefühl aus. Sie atmete tief durch, vergaß den Regen und schaute lächelnd nach links zum Andijker Hafen. Die großen Masten, die dort stolz und Abenteuer verheißend zum Himmel ragten, waren heute nur diffus zu erkennen. Die Windräder in Medemblik sah man überhaupt nicht, und am Horizont konnte man den Übergang zwischen dunklem Wasser und grauem Himmel nur schwer erahnen. Wallis hatte dieser Ausblick schon Hunderte Male fasziniert, und sie fand immer wieder neue Facetten, die sie begeisterten. Mal war der Himmel etwas heller, etwas dunkler, etwas blauer oder grauer. Große weiße Wattewolken, kleine fast schwarze Schlieren. Stratokumulus und Stratus. Cumulus, Nimbostratus und Cumulonimbus. Sie hatte es irgendwann mal nachgelesen. Das IJsselmeer, Het Grootslag, ihr Chalet und sie, das war wie eine niemals enden wollende Verliebtseinsphase. Snoepje zog wieder an der Leine und sprang wild vor ihr auf dem matschigen Boden hin und her. Sie machte ihn von der Leine und ließ ihn laufen.

»Aber nicht so weit weg, hörst du?«, rief sie ihm hinterher, als er bereits über die dicken glitschigen Steine rutschte, die zum Wasser führten. Wie immer trank er gierig aus dem See, als hätte er seit Tagen nichts bekommen, und raste dann wieder hoch zu Wallis, um sie nach der langen Zeit zu begrüßen. Sie tätschelte seinen nassen Kopf und dann stapfte sie los in Richtung Hafen.

Sie hatte ihr Herz schon vor Wochen an diesen jungen Vierbeiner verloren. Schon als Kind hatte sie sich einen Hund gewünscht, der sich aber mit der Berufstätigkeit ihrer Eltern, die mit ihrem Bestattungsunternehmen genug zu tun hatten, nicht vereinbaren ließ. Nachdem ihre Mutter gestorben war, blieb noch weniger Zeit für ihren Vater und sie. Und später dann, während ihrer Ausbildung und Tätigkeit als Kommissarin, war überhaupt nicht mehr daran zu denken. Hinzu kam, dass Nils Starke, ihr Ex-Mann, keinen Hund wollte und als Rechtsanwalt auch keine Zeit dazu gehabt hätte. Wallis blickte auf das dunkle Wasser, auf dem die Regentropfen große Kreise formten, und dachte an die Asche ihres Vaters, die sie bei ihrer Ankunft im Park auf dem IJsselmeer verstreut hatte. Das alles war schon sehr weit weg. Snoepje kam auf sie zugestürmt und legte ihr einen Stock vor die Füße. Sie nahm ihn auf und warf ihn so weit wie möglich. Nachdem im Herbst endlich Ruhe in ihr Leben eingekehrt war, hatte sie immer öfter daran gedacht, sich einen Hund anzuschaffen. Aber jedes Mal machten sich Bedenken in ihr breit. Was, wenn sie in ihrem Jahr auch mal eine größere Reise unternehmen, Städtetouren machen wollte? Und, schlimmer noch, was würde sie nach Ablauf des Jahres machen, wenn sie zurück nach Deutschland kehren und ihren Job als Kommissarin wieder aufnehmen würde?

Irgendwann hatte sie sich dann nach einem Tierheim in der Nähe erkundigt und auf diesem Wege Marjan van Dieken kennengelernt. Eine witzige Frau mittleren Alters, die ein kleines Tierheim in der Nähe von Enkhuizen führte und ein Herz für alles hatte, was kreuchte und fleuchte. Wallis hatte einen Spaziergang dorthin gemacht und der Frau von ihrem Wunsch nach einem Hund erzählt, ihr aber auch ihre Bedenken geäußert. Marjan, froh darüber, dass Wallis sich zum Unterschied von vielen anderen Menschen Gedanken darüber machte, bevor sie sich ein Tier anschaffte, machte sie zunächst mit allen Hunden, Katzen, Hamstern und Schildkröten bekannt, während sie ihr die Lebens- und Schicksalsgeschichte der Lebewesen näherbrachte. Marjan bewohnte eine kleines, etwas baufälliges Haus direkt neben der großen eingezäunten Anlage, die die Tiere beherbergte. Es waren keine Zwinger, in denen die Tiere lebten, sie erinnerten Wallis eher an liebevoll eingerichtete Wohnstuben. Sicher hatten es manche Tiere in ihrem Zuhause nicht so gut wie diese hier. Der Einsatz, den diese Frau ihren Findlingen entgegenbrachte, faszinierte Wallis. Marjan van Dieken war eine skurrile Person, mittelgroß, schlank, mit langen grauen Locken, die sie immer etwas wirr zusammengebunden hatte. Auf der recht großen runden Nase prangte ein dunkles Muttermal, beim Sprechen hing ein Mundwinkel meist etwas tiefer als der andere ,und Wallis fragte sich, ob das eine Angewohnheit war oder ob die Frau vielleicht mal einen leichten Schlaganfall gehabt haben könnte. Ihr lautes Lachen erinnerte Wallis immer an quietschende Bremsen. Aber sie mochte diese warmherzige Frau, die ihr Leben den Tieren gewidmet hatte und ihr anbot, doch zunächst mal mit dem einen oder anderen Vierbeiner spazieren zu gehen. Dabei konnte sie sich Gedanken darüber machen, ob sie bereit war, die Verpflichtung einzugehen, und gleichzeitig noch etwas Gutes tun. So ging Wallis ab sofort mindestens einmal in der Woche mit Corrie, dem alten blinden Schäferhund, Floortje, dem Pudel mit drei Beinen, und vielen anderen über den Deich. Vor einigen Wochen war dann Snoepje als Neuzugang gekommen. Irgendwie war kein Platz mehr für die ein Jahr alte Mischlingshündin mit dem schwarz-braun-weißen, ein wenig gelockten Fell, bei der keine Rasse abzuleiten war. Für Wallis war das dreifarbige Tier sofort zum Glückshund aufgestiegen.

Snoepje kam hechelnd zu Wallis zurück und legte ihr erneut den Stock vor die Füße. Wallis hob ihn auf, warf ihn fort und setzte ihre Kapuze ab. Es hatte aufgehört zu regnen, und sie schwitzte etwas, während sie hinter dem Hund hereilte.

Snoepje und sie waren in den wenigen Wochen ein eingespieltes Team geworden, und Wallis wurde es jedes Mal ein wenig schwer ums Herz, wenn sie ihn abends zurückbrachte. Seit einiger Zeit quälte sie der Gedanke, er könnte an jemanden vermittelt werden, und sie überlegte, ihn eventuell ganz zu sich zu nehmen. Dann musste sie eben auf große Reisen verzichten und würde, wieder im Dienst, jemanden suchen müssen, der tagsüber auf Snoepje aufpasste, sofern sie ihn nicht mit zur Arbeit nehmen konnte. Es gab für alles eine Lösung. Heute würde er zum ersten Mal über Nacht bei ihr bleiben.

Sie waren an der Parkeinfahrt angelangt, und Wallis hatte eigentlich noch weiter in Richtung Hafen und Onderdijk gehen wollen, als der Hund plötzlich seinen Stock fallen ließ und zu schnüffeln begann.

»Was ist, Snoepje?«, fragte Wallis und ging auf ihn zu. Der Hund blickte sie kurz an, als er seinen Namen hörte, und schnüffelte dann weiter auf dem Boden, während er in Richtung Straße lief. Wallis hatte sich bislang immer darauf verlassen können, dass Snoepje zumindest beim zweiten Rufen zu ihr zurückkam, sonst hätte sie ihn nicht von der Leine gelassen. Aber diesmal schien der Hund sie gar nicht wahrzunehmen, als sie wiederholt nach ihm rief. Sie schrie etwas lauter und machte einige schnelle Schritte auf ihn zu, aber Snoepje folgte seiner Fährte und rannte auf die Hauptstraße, die nach Andijk führte, zu. Erschrocken eilte Wallis ihm hinterher, hatte in ihren Gummistiefeln aber keine Chance, ihn einzuholen. Als sie von links ein Auto kommen sah, schrie sie auf und rannte mit den Armen wedelnd in Richtung Straße, um auf sich aufmerksam zu machen. Noch bevor sie die Straße erreichte, war das Auto direkt vor ihr, und sie konnte Snoepje nicht mehr sehen. Dann quietschten die Bremsen des Wagens, und Wallis wartete entsetzt auf einen Aufprall.

Der dunkle Passat kam unmittelbar vor ihr zum Stehen, und Wallis sah im Schein der Straßenlaterne, wie Snoepje, weiter die Schnauze auf dem Boden, in der Dunkelheit aus ihrer Sicht verschwand. Erstaunt starrte Wallis ins Wageninnere, als sich die Beifahrertür öffnete und Ton Gerritsen, Hoofdinspecteur in Medemblik, sie, sich über den Beifahrersitz beugend, hinweg anblickte.

»Windsbraut, was machen Sie denn hier?«

Ohne zu antworten sprang Wallis so abrupt in den Wagen, dass der Hoofdinspecteur es noch in letzter Sekunde schaffte, seinen Arm unter ihrem Hintern wegzuziehen.

»Da, hinterher«, schrie Windsbraut, zeigte mit der linken Hand in Richtung Molenweg, während sie mit der rechten Hand ihr Handy aus der Tasche kramte.

»Aber ich kann doch jetzt nicht einem Hund folgen, ich bin im Dienst und muss zu einem …«

»Los jetzt, machen Sie schon. Er kann noch nicht weit sein. Bitte«, fügte sie hinzu und blickte ihn flehend an.

Gerritsen verdrehte die Augen, setzte den Blinker und folgte Wallis Bitte, während er »Das ist jetzt echt wieder ein dickes Ding«, nuschelte.

Es piepte im Wagen, und eine Kontrollleuchte zeigte an, dass der Beifahrer nicht angeschnallt war. Wallis zog an dem Gurt, während sie weiter auf ihr Handy blickte und »Wo will der denn hin?«, fragte.

»Sie haben Glück, dass das auch meine Richtung ist«, antwortete Gerritsen. »Seit wann haben Sie überhaupt einen Hund, und wo will der hin?«

»Das scheint nur er zu wissen«, sagte Wallis, weiter auf ihr Handy starrend.

»Observieren Sie jetzt Hunde, oder was?«

»Es ist nicht meiner, und ich kenne ihn noch nicht so lange. Deshalb hat er ein GPS-Halsband. Da vorne rechts.«

Gerritsen starrte Wallis an und sagte: »Da wollte ich sowieso hin. Das ist aber jetzt nicht wahr, oder?«

»Da, er ist stehen geblieben. Im Kleingouw. Nächste rechts. Mein Gott, hoffentlich ist er nicht vors Auto gelaufen. Bitte beeilen Sie sich. Die nächste rechts«, wiederholte Wallis und starrte auf die nasse Straße.

»Ich weiß«, antwortete der Chief tonlos, »und ich glaube, nicht der Hund ist der Tote.«

3 DRIE

Es muss weg Het moet weg

Fleur van den Berg band sich ihre blonden Haare über dem Kopf zusammen und stieg in die Dusche. Sie drehte die Wassertemperatur auf fast kalt und stellte sich schwer atmend unter den Wasserstrahl. Es war ihre einzige Chance, einen klaren Kopf zu bekommen. Sie hatte die doppelte Ration Baldrian geschluckt, um endlich einmal zur Ruhe zu kommen und eine Nacht durchzuschlafen. Die Decke bis zum Hals gezogen, hatte sie auf dem Sofa gelegen und mit zunehmend kleiner werdenden Augen in den trüben Himmel geblickt. Diesmal musste sie dem Chief beinahe dankbar dafür sein, sie auf seine unhöfliche Art zum Tatort zu zitieren, dachte sie, während sie sich einseifte und dabei unbewusst ihren Bauch ausließ. Wahrscheinlich hatte er sie diesmal davor bewahrt, bereits vorm Zubettgehen schweißgebadet aufzuwachen, weil eine eiskalte Hand ihr die Kehle zuschnürte oder ein Eiszapfen in ihr Herz gerammt wurde.

Sie spülte den Schaum von ihrem Körper und trat aus der Dusche. Während sie sich abtrocknete, blickte sie hinaus in den Nebel, der ihr die Sicht auf die Straße nahm. Genauso trübe wie der Himmel sah es in Fleur van den Berg aus. Seit Wochen nun schon, und wahrscheinlich würde es nie wieder besser werden, dachte sie. Ihr Leben war, wie die meisten wohl, nicht immer nach Plan oder nur erfreulich verlaufen, aber sie konnte mit Sicherheit behaupten, dass die letzten Wochen die schlimmsten in ihren bisherigen 34 Jahren gewesen waren.

Den Verrat ihres letzten Liebhabers, der ihre Naivität ausgenutzt hatte, um an Details ihrer polizeilichen Ermittlungsarbeit zu kommen, noch nicht verkraftet, geriet ab diesem Zeitpunkt ihr Leben vollends aus den Fugen. Sie fand einfach keinen Weg, damit umzugehen, dass dieser Liebhaber nicht einfach der Journalist der größten niederländischen Tageszeitung gewesen war, sondern sich als Serienmörder, der beinahe auch noch ihre deutsche Kollegin getötet und sich am Ende selbst einen Eiszapfen ins Herz gestoßen hatte, entpuppte. Bei alldem hätte sie ja vielleicht noch darauf vertrauen können, dass die Zeit die Wunden heilen oder zumindest die Narben verblassen lassen würde, aber das Erlebnis sollte erst die Ouvertüre in einem wirklich großen Drama für sie sein.

Fleur drückte auf die Starttaste ihrer Kaffeemaschine, während sie in Jeans und ein dunkelblaues Shirt schlüpfte und sich die halblangen Haare kämmte. Mit dem Wunsch nach Veränderung hatte sie sich die Haare etwas kürzen und stufig schneiden lassen. Den Menschen in ihrem Umfeld schien die neue Frisur zu gefallen, zumindest bekam van den Berg allerhand Komplimente dafür, aber ihr selbst war sie ziemlich gleichgültig. Sie hatte nichts an ihrer Situation geändert.

Sie füllte ihre Kaffeetasse mit kalter Milch auf, leerte sie in einem Zug, zog ihre halbhohen Stiefeletten und ihren grauen Wintermantel an und verließ das Haus. Als sie sich auf den Fahrersitz fallen ließ, wurde ihr wie so oft in letzter Zeit speiübel. Vor zwei Wochen hatte sie einen Kredit aufgenommen und ihren alten Wagen durch einen neuen Seat ersetzt, weil sie den Geruch der Leiche, die zeitweise in ihrem Kofferraum gelegen hatte, nicht mehr ertragen konnte. Niemand außer ihr hatte den Gestank wahrgenommen, und da dieser sie nun auch in dem neuen Wagen verfolgte, schien es offensichtlich an ihrer Wahrnehmung zu liegen. Wie immer in letzter Zeit fühlte sie sich hin- und hergerissen von ihrem Wunsch, besonders gute Arbeit zu leisten oder zumindest ihren Fauxpas wiedergutzumachen, und dem Verlangen, sich unter einer Decke zu verkriechen. Sie öffnete das Fenster und fuhr von ihrer Hauseinfahrt auf die Hauptstraße in Wervershoof.

Die Worte ihrer Mutter »Es muss weg, Fleur«, hallten wie ein Kehrreim in ihrem Kopf wider, während sie den Blinker setzte und nach rechts in Richtung Andijk abbog. Ihre Mutter hatte gut reden, umsorgt von ihrem Mann und den Hintern in die mallorquinische Sonne haltend, unter der sie seit über zehn Jahren lebte. Noch während Fleur ihre Nummer gewählt hatte, wusste sie, dass sie das Gespräch kurz danach bereuen würde, aber sie hatte sich so hilflos wie selten gefühlt und zudem gedacht, dass es ihre Pflicht sei, ihre Eltern über so ein Erlebnis in Kenntnis zu setzen. Die Mutter hatte nicht gefragt, wie es ihrer Tochter geht, wohl eher an den Ruf der Familie gedacht, obwohl sie der eigentlich auch schon sehr lange nicht mehr interessierte, nachdem sie ihre Zelte in Deutschland fast gänzlich abgebrochen hatte. Aber zumindest hatte sie ihrer Tochter keine Vorwürfe gemacht, nur eben darauf hingewiesen, dass es wegmüsste. Fleur hatte ihrer Mutter selbstverständlich nicht die ganze Geschichte erzählt, nur die Eckdaten, dass der Mann tot sei und es nicht ehrlich mit ihr gemeint habe. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihre Mutter sich unter diesen Umständen freuen würde, Großmutter zu werden, aber mit »Es muss weg« hatte Mevrouw van den Berg sich wirklich selbst übertroffen. Als könne man es mit dem nächsten Stuhlgang einfach entsorgen oder mit dem täglichen Müll in die Tonne schmeißen.

4 VIER

Am Tatort Op de plaats van het delict

Der Chief parkte am Straßenrand, und Wallis Windsbraut sprang aus dem Wagen, erleichtert, im Lichtschein einer Taschenlampe Snoepje an der Leine einer sehr korpulenten Frau zu sehen. Erst danach erkannte sie in der Dunkelheit, dass unmittelbar zu deren Füßen ein bewegungsloser Körper und ein Fahrrad lagen. Der Hund zog sofort an der Leine und wollte auf Wallis zulaufen. Ton Gerritsen ging auf den am Boden liegenden Mann zu und vergewisserte sich von dessen Tod, dann wandte er sich zu der Frau und stellte sich vor. Wallis hockte sich zu Snoepje, der freudig an ihr hochsprang. Dann stellte sie sich ebenfalls vor, nahm der Frau den Hund ab, bedankte sich und hörte dem Chief bei der Befragung zu. Die ziemlich gelassen wirkende Frau stellte sich als Nanda Vos vor.

»Haben Sie den Mann gefunden, Mevrouw Vos?«, fragte er.»Ja, dat heb ik gedaan«, antwortete sie.

»Können Sie mir bitte schildern, unter welchen Umständen?«

»Ja, ich bin aus der Haustür raus«, sie zeigte mit der Hand auf die Glastür des kleinen reetgedeckten Hauses, in dem Licht brannte, hinter sich. »Ich wollte rüber zu meiner Freundin, die da wohnt.« Nun zeigte sie auf die gegenüberliegende Straßenseite. »Wir spielen manchmal Sjoelen zusammen. Und dann habe ich den da liegen sehen.«

Sie leuchtete mit ihrer Lampe auf den Toten.

»Ich bin gleich hin, um zu sehen, ob er vielleicht noch lebt. Er war ja noch ganz warm. Und als ich keinen Puls gefühlt habe, habe ich die Politie gerufen. Und dann kam plötzlich noch der Hund angerast und schnupperte an dem Toten. Zo was het«, fügte sie hinzu und nickte.

»Ja, und da liegt ja sein Fahrrad. Die rasen hier auch manchmal daher, sage ich Ihnen. Manche schlimmer als die Autos. Und so viele. Soms is het net als de Tour de France. Kein Wunder, dass sich mal einer das Genick bricht. Bin gespannt, ob es jetzt besser wird.«

»Kennen Sie den Toten?«, fragte Gerritsen.

Sie leuchtete mit der Taschenlampe auf das Gesicht des Toten, der mit weit aufgerissenen Augen in den dunklen Himmel zu starren schien.

»Nee, ik geloof niet.«

»Haben Sie auch einen Hund?«, fragte Wallis und wurde unterbrochen, weil alle auf die Straße zu den näherkommenden Scheinwerfern blickten. Ein großer schwarzer Van parkte direkt hinter Gerritsen, und Daan Maartens, der Gerichtsmediziner, stieg aus. Der Chief ging ihm entgegen, und Wallis fragte Nanda Vos noch einmal: »Haben Sie auch einen Hund?«

Mevrouw Vos überhörte die Frage, begann Snoepje zu kraulen und fragte: »Ist das der Pathologe in dem weißen Overall?«

Wallis nickte, nahm Snoepjes Leine aus ihrer Jackentasche, leinte den Hund an und hielt Mevrouw Vos ihre Leine hin.

»Vielen Dank«, sagte sie, »die brauchen Sie doch sicher für Ihren Hund.« Die Frau nahm die Leine, steckte sie in die Tasche und blickte zu Gerritsen und Daan, die sich über die Leiche beugten.

»Was haben Sie denn für einen Hund?«

Vos antwortete nicht, beobachtete, wie Daan das Portemonnaie des Toten aus seiner Jackentasche zog.

»Mevrouw Vos?«, wiederholte Wallis und ging mit ihrem Gesicht näher an das der Frau.

»Ja?«, antwortete sie und blickte Windsbraut nun ebenfalls an. »Ach so, nee, ik heb geen hond. Ich hatte mal einen, aber der ist lange tot.«

»Und die Leine haben Sie verwahrt?«

»Ja, die hängt immer noch am Schlüsselbrett.«

Wallis nickte und ging ebenfalls zur Leiche.

»Goeden avond, Meneer Maartens.«

Er sah sie etwas verdutzt an. »Goeden avond. Schon wieder mit im Team?«, fragte er lächelnd.

»Nein, nein«, entgegnete Wallis, »diesmal bin ich zufällig hier. Scheint ja auch nur ein Unfall zu sein. Ich gehe jetzt auch wieder. Vielen Dank, Meneer Gerritsen.«

Es begann zu regnen, der Chief nickte und fragte Daan ein wenig genervt: »Sag schon, Tod durch Genickbruch vom Sturz? Kann ich auch wieder fahren?«

Wallis wandte sich mit dem Hund zum Gehen, als sie den Pathologen sagen hörte: »Ich würde mal die Spusi rufen, Genickbruch hat der ganz sicher nicht.«

Wallis zögerte und drehte sich wieder zum Toten hin. Der Mann war vielleicht nicht durch den Sturz gestorben? Sie hörte Motorengeräusch, und kurz darauf kam Fleur van den Berg eilig auf sie zu. Sie nickte ihr nur kurz zu, ging an ihr vorbei direkt zu ihrem Chef. Noch bevor sie einen der Anwesenden begrüßte, fragte sie: »Was will die Deutsche denn schon wieder hier?«

»Die ist zufällig hier. Schön, dass Sie auch noch kommen.«

»Das sind aber viele Zufälle mit der, finden Sie nicht?«

»Van den Berg, was ist eigentlich los mit Ihnen? Konzentrieren Sie sich vielleicht mal auf Ihre Arbeit.«

Fleur atmete tief durch und fragte dann: »Was ist passiert?«

»Das wüsste ich auch gerne. Der Tote heißt Piet Brouwer«, sagte Gerritsen, »und …«

»Den kenne ich«, unterbrach ihn van den Berg, »der arbeitet doch im Gamma, oder?«

Wallis verfolgte das Gespräch. Offensichtlich Fremdverschulden. Woran war der Mann gestorben? Was hatte es mit dem Fahrrad auf sich? Sie schüttelte den Kopf. Nein, sie würde sich nicht schon wieder in einen Mord hineinziehen lassen. Noch war Zeit zu gehen. Sie war noch nicht einmal Zeugin. Sie war im Sabbatjahr hier an ihrem Sehnsuchtsort, um nichts mit Mord und Totschlag zu tun zu haben. »Komm, Snoepje«, sagte sie und wandte sich zum Gehen. Dann hörte sie lautes Hundegebell. Es kam aus dem Haus hinter ihr.

5 VIJF

Gemütlichkeit Gezelligheid

Wallis nahm wie meistens den Weg über den Deich. Der Hund trottete mit hängendem Kopf angeleint hinter ihr her. Anfangs war er neben ihr hergesprungen, hatte mit geneigtem Kopf darauf gewartet, dass sie die Leine abmachte, aber das hatte Wallis aus sicherheits- und erziehungstechnischen Gründen nicht getan. Snoepje verstand nicht, was er falsch gemacht haben sollte, fügte sich aber seinem Schicksal. In Wirklichkeit ging es Wallis auch nicht nur um Erziehung, sondern sie stand ein wenig mit ihm auf Kriegsfuß, weil er ihr wieder eine Leiche beschert hatte, die ihr nicht aus dem Kopf ging. Die Freude darüber, ihn unverletzt wiederzufinden, war vorüber, und nun quälten sie insbesondere drei Fragen: Warum hatte er die Spur des Toten aufgenommen? Hatten Snoepje und Piet Brouwer sich gekannt? Und warum hatte Nanda Vos ihren Hund verschwiegen?

Sie war froh, dass sie mit Marjan van Dieken vereinbart hatte, dass Snoepje heute bei ihr übernachten würde. Sie trocknete dem tapsigen Tier, das erst noch lernen musste, auch mal ruhig zu stehen, die nassen Pfoten ab, füllte ihm Futter in seinen Napf und bereitete sich dann aus Nudeln, getrockneten Tomaten, Paprika, Rucola und Pesto selbst eine Mahlzeit zu. Dann schenkte sie etwas Tia Maria, ihren Lieblingskaffeelikör, in ein Glas, stellte es für zehn Sekunden in die Mikrowelle und verzierte es mit einem Sahnehäubchen. Dazu holte sie die Dose mit Chocodrops aus dem kleinen Schränkchen unter der Spüle, in dem sie stets einen gewissen Vorrat an Lakritze, dunkler Schokolade und Nüssen aufbewahrte, und nahm exakt drei Stück der großen dunklen Schokoladenkugeln, die mit salzigem Lakritz gefüllt waren, heraus. Sie ging zu ihrem Sofa im Wohnzimmer, legte die Kugeln ab, stellte das Glas auf den Tisch und zog Snoepjes Decke vor das Sofa. Dann legte sie ihm ein Schweineohr darauf. Der Hund sprang freudig auf die Decke, nahm seine Leckerei und warf sie übermütig auf das Sofa.

»Nein, Snoepje, aus.«

Wallis nahm das Schweinohr, legte es erneut auf die Decke und deutete dem Hund an, ebenfalls dort Platz zu nehmen.

»Komm hierhin, Snoepje. Ablegen.«

Es dauerte einen Moment, aber dann legte der Hund sich auf die Decke und begann geräuschvoll auf seiner Beute zu kauen. Wallis stand vor ihrem Sofa, blickte nach rechts durch die große Terrassenschiebetür in den noch tristen Garten mit den leuchtenden Solarlampen, den sie trotz der noch dunklen Winterzeit liebte und sich schon darauf freute, bald die ersten Tulpen in ihm begrüßen zu dürfen. Dann blickte sie nach links durch ihr großes Wohnzimmerfenster, das die Sicht auf den Deich freigab. Manchmal stand sie dort einige Minuten, sah von links nach rechts und wieder zurück, weil sie sich nicht entscheiden konnte, welche Sicht sie genießen wollte. Nun legte sie sich mit dem Rücken an die rechte Lehne des weißen Sofas, zog sich ihr weiches Lieblingskissen in den Rücken und legte sich die blaue Kuscheldecke über die Beine, die zu ihren Füßen lag. Sie steckte sich die erste der drei Schokokugeln in den Mund und sah in Richtung Deich. Bei der Dunkelheit waren natürlich keine Spaziergänger mehr zu beobachten, aber hin und wieder blitzte ein Licht auf, und man konnte einen Hund erkennen, weil der Besitzer mit seiner Taschenlampe oder seinem Handy auf ihn leuchtete. Für Wallis hatte dieser Blick, die Gemütlichkeit ihres kleinen Raumes, der durch die Delfter Fliesen-Deko auf Wand und Boden den typischen niederländischen Charme des 17. Jahrhunderts versprühte, immer etwas Meditatives. Rechts neben ihr an der Wand hing ein Bild von einem weißen Fensterrahmen, durch den man direkt aufs Meer blickte. Schon die Pastelltöne der Sand-, Wasser- und Wellenfarben erwärmten ihr Herz. In diesem gesamten 18 Quadratmeter großen Raum, der aus Wohnzimmer, Küche und Essecke bestand, war nicht ein Gegenstand, der nicht weiß, beige, blau oder grau war. Die weißen Wände hätten mal wieder einen Anstrich nötig, die Stromkabel, wie in holländischen Ferienhäusern üblich, waren auf Putz verlegt. Auch der helle Laminatboden und das spärliche zusammengestoppelte Mobiliar passten sich, wenn man es durchaus auch als etwas abgenutzt oder gar ein wenig schäbig bezeichnen konnte, dieser Farbgebung an. Einzig der silber-schwarze Kaffeevollautomat, in den Wallis investiert hatte, wollte mit seinem Glanz und seiner Farbe nicht so richtig dorthin passen. Aber dieser kleine Stilbruch war Wallis der tägliche Latte macchiato mit feinstem Milchschaum wert. Von außen hatte sie das Chalet mit hochwertigem grau lasiertem Holz verkleiden lassen, was ihm, außer seiner direkten Nähe zum Deich, zusätzlich eine besondere Note verlieh. Im Inneren wären durchaus einige Verschönerungen nötig, was Wallis irgendwann auch mal in Erwägung zog, aber für den Moment einfach die Zeit genießen wollte, außerdem waren ihre finanziellen Mittel begrenzt. Ganz sicher hätte sie nicht eine einzige Nacht in ihrem Sehnsuchtshäuschen gegen eine in einem Fünfsternehotel getauscht.

Nun lag sie da, blickte in die Dunkelheit, genoss ihren Tia Maria und sah den Toten vor sich, der einige Fragen aufwarf. Auf dem Rückweg hatte Wallis zunächst geglaubt, dass Mevrouw Vos mit ihrem Hund vielleicht losgehen wollte, und dieser Piet Brouwer vor das Rad gelaufen und er deshalb gestürzt war. Da sie sich für den Tod des Mannes nicht verantwortlich fühlen wollte, hatte sie den Hund ins Haus gebracht und die Geschichte ein wenig verdreht. Aber erstens war die Frau ihr etwas zu gelassen erschienen, und zweitens war das Opfer ja offensichtlich nicht durch den Sturz gestorben. Zumindest nicht durch Genickbruch, hatte der Gerichtsmediziner gesagt. Es war natürlich möglich, dass er unglücklich gestürzt war und inneren Verletzungen, die man auf den ersten Blick nicht erkannte, erlegen war. Vielleicht hatte der Mann auch Vorerkrankungen. Oder er hatte einen Herzinfarkt, einen Schlaganfall, ein Aneurysma, was ihn zu Fall gebracht hatte, und es war doch nur ein Unfall gewesen. Sie würde morgen mal Ton Gerritsen aufsuchen, ihm von dem seltsamen Geheimnis um Vos’ Hund erzählen und dabei hoffentlich etwas über die Todesursache Brouwers hören. Sie sah hinunter zu Snoepje, der immer noch auf seinem Schweineohr herumkaute. Und bevor sie ihn morgen schweren Herzens wieder bei Mirjam van Dieken abgab, wollte sie in Erfahrung bringen, ob Piet Brouwer und der Hund sich gekannt hatten. Wallis stand auf, holte ihr Handy und suchte im Internet nach der Adresse Piet Brouwers. Sie zuckte kurz zusammen, als es in ihrer Hand klingelte, was nicht allzu oft passierte.

»Paul, altes Haus«, meldete sie sich, nachdem im Display der Name »Paul Fuchs« auftauchte.

»Wallis«, ertönte die angenehm warme Stimme ihres Kollegen aus Deutschland.

»Hoe gaat het met jij?«, fragte er.

»Heel good«, antwortete sie lachend, »ich sehe schon, du sprichst noch eher Holländisch als ich.«

»Kannst du es immer noch nicht? Zeit genug hast du aber. Oder jagst du wieder holländische Mörder?«

»Nee«, erwiderte sie, ein wenig zögerlich.

»Wallis, erzähl …«

»Ja, nix, ich bin nur heute zufällig …«

Er schnitt ihr das Wort ab.

»Zufälle gibt es nicht, verehrte Kollegin. Sag nicht, du bist wieder gaaaanz zufällig über eine Leiche gestolpert.«

»Also, ich konnte wirklich nichts …«

»Das ist jetzt nicht wahr, oder? Ich packe keine Leichen um, das sage ich dir gleich.«

»Nein, nein, ich bin nicht in Schwierigkeiten. Zum Glück. Ich habe dir doch von Snoepje erzählt?«

»Ja, du hast mir ungefähr 26 Bilder von ihm geschickt.«

»Jetzt übertreib mal nicht. Er folgt ja eigentlich ziemlich gut, deshalb lasse ich ihn am Deich ja auch von der Leine. Aber heute ist er mir zum ersten Mal weggelaufen. Beinahe wäre er noch von Gerritsen überfahren …«

»Gerritsen? Das ist doch dieser niederländische Kommissar, oder?«

»Ja.«

»Was hast du mit dem denn noch zu tun?«

»Ja, nix. Der ist zufällig zu einem Tatort gefahren, als mein Hund …«

»Dein Hund? Hast du ihn jetzt doch zu dir genommen?«

»Nein. Also, noch nicht. Ich war mit ihm spazieren, als er abgehauen ist und Gerritsen zufällig vorbeikam.«

»Du und deine Zufälle«, knurrte Paul ins Telefon.

»Jetzt sei doch mal still und hör mir zu.«

»Musst ja nicht gleich ›krummer Hund‹ zu mir sagen«, murrte er und schwieg dann, während Wallis ihm den gesamten Vorgang schilderte. Er antwortete nicht sofort. Wallis sah förmlich, wie er den Kopf schüttelte.

»Dann ändere ich meine Pläne«, sagte er schließlich.

»Wie? Welche Pläne änderst du, Paul?«

»Ich habe übernächste Woche Urlaub und wollte dich besuchen. Eigentlich«, fügte er hinzu.

»Wie schön«, rief Wallis fröhlich ins Telefon. Sie wusste, wie ungern ihr Kollege, den sie so gerne um sich hatte, reiste, und schätzte diese Idee außerordentlich.

»Wann kommst du? Wie lange bleibst du? Dann können wir ja endlich mal …«

»Stopp, Wallis!«, rief er dazwischen. »Mir steht es hier bis zur Oberkante Unterlippe mit Mord. Ich werde sicher nicht ins platte, nasse Windmühlenland fahren und dort wieder einen Mord aufklären.«

»Nein, natürlich nicht. Ich habe doch nichts mit ihm zu tun, Paul.«

»Nee, is klar, als ob du nicht schon in Gedanken ermitteln würdest.«

»Och, Paul. Ich mache nix, ehrlich nicht. Regnet es so bei dir?«, fragte sie.

»Nein, wieso? Gerade scheint hier mal die Sonne.«

»Ach, es hatte sich so angehört«, erwiderte sie schmunzelnd und wusste im gleichen Augenblick, dass er die Klospülung betätigt hatte.

»Also, wann kommst du nun?«

»Ich schlafe noch mal drüber.«

»Okaaaay.«

»Bis die Tage, Wallis.«

»Bis übernächste Woche.«

6 ZES

Die Frau des Opfers De vrouw van het offer