Der stumme Tod am IJsselmeer - Doris Althoff - E-Book

Der stumme Tod am IJsselmeer E-Book

Doris Althoff

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Beschreibung

Die deutsche Hauptkommissarin Wallis Windsbraut will ein Sabbatjahr am IJsselmeer verbringen. Nur der Leichenwagen des elterlichen Bestattungsunternehmens, der sie mit ihrem verstorbenen Vater verbindet, kommt mit. Direkt nach ihrer Ankunft geschieht ein mysteriöser Mord am Strand von Medemblik. Die Leiche verschwindet und taucht ausgerechnet in Wallis‘ Garten wieder auf. Als dann noch eine Urne bei ihr entdeckt wird, gerät sie ins Visier der niederländischen Polizei …

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Doris Althoff

Der stumme Tod am IJsselmeer

Kriminalroman

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Donnerbold / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7932-8

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

1 EEN

Der tote Mann am Strand De dode Man op het strand

Er hatte alles hundertmal durchdacht. Aber war das nicht immer so, wenn man etwas tat, das sein Leben verändern würde? Brisk, wie er sich selbst nannte, blickte aus dem Fenster. Es dämmerte. Er starrte auf seine Armbanduhr und wartete darauf, dass die letzten zwei Minuten verstrichen. Vielleicht hatte ihm das sein Leben lang im Weg gestanden. War er zu zögerlich, zu gründlich, zu langsam gewesen? Aber schließlich beging man ja nicht alle Tage einen Mord. Seine Uhr piepte einmal. Brisk verbot sich jeden weiteren Gedanken, schulterte seinen Rucksack und verließ das Haus.

Zwölf Minuten später parkte er seinen Wagen neben vielen anderen auf dem Parkplatz am Oosterdijk, schlug den kurzen Fußweg hinauf zum Strandpaviljoen »De Zoete Zee« ein und bog dann nach rechts ab. 

Einige Zeit ging er am Wasser entlang, ließ den Spielplatz rechts liegen und steuerte auf Onderdijk zu. Es war der letzte Tag im August und die Sonne war bereits untergegangen. Einige Badegäste und Spaziergänger kamen ihm mit ihren Strandtaschen in Richtung Parkplatz entgegen. Es wurde leise am IJsselmeer, nur vereinzelt noch drangen dünne Stimmen aus der Ferne zu ihm herüber. Die Bank, die er ansteuerte, konnte er in der Dunkelheit nicht erkennen. Das war auch nicht nötig, denn ein Blick auf seine Uhr sagte ihm, dass es noch gut 1.200 Schritte waren. Und dort würde er bereits sitzen, wie an jedem Dienstag- und Donnerstagabend. Noch bevor er die Stelle erreichte, nahm er den Qualm der Zigarette wahr, die der alte Mann rauchte. Marlboro Gold. Er rauchte immer zwei Zigaretten. Die Kippen entsorgte er in einem kleinen silbernen Aschenbecher, den er dann wieder in seiner Jackentasche verstaute. Danach blieb er immer noch eine Viertelstunde auf das Wasser schauend dort sitzen, bevor er den Rückweg antrat. Brisk blickte sich um, lauschte in die Dunkelheit. Alles war wie in den Wochen zuvor. Leise schlich er in einem großen Bogen zu dem Busch hinter der Bank, öffnete geräuschlos den Reißverschluss seines Rucksacks und nahm zuerst die Handschuhe, dann das mit Chloroform getränkte Tuch aus einer Plastiktüte. 

Der alte Mann zuckte nur kurz, bevor seine Arme schlaff herunterhingen, sein Kopf auf die Brust sank und Brisk ein zweites Mal in seinen Rucksack griff, um kurz darauf unvermittelt zuzustechen. Das war der einzige Augenblick gewesen, vor dem er sich ein wenig gefürchtet hatte. Aber am Ende verlief alles nach Plan, und als alle Sachen im Rucksack verstaut waren und die Leiche schließlich bis zur Hälfte im Wasser lag, dachte Brisk, dass es eigentlich keine große Sache gewesen war.

2 TWEE

Der abgebrochene Traum De afgebroken droom

Es war das lang ersehnte Dinner beim Italiener. Ein charmant lächelnder, junger Mann blickte sie über die Speisekarte hinweg an und begann vorsichtig zu füßeln, als das Handy Fleur van den Berg um fünf Uhr morgens aus dem Schlaf riss. Sie atmete einmal tief durch. Nicht, dass sie irgendwann einmal dazu käme, sich wirklich zu einem Essen zu verabreden, aber nun drang auch noch ihr Chef in ihre Träume ein. Das konnte kein gutes Ende nehmen. Mit geschlossenen Augen ertastete sie das Handy, nuschelte »van den Berg« hinein und wusste, noch bevor sie seine Stimme hörte, was kommen würde.

»Goedemorgen, mevrouw van den Berg, hier ist der Chief.« Der Chief! Wer nannte sich schon selbst der Chief?, dachte Fleur nicht zum ersten Mal und brummte ein hmm ins Handy. 

»Ich habe mal was anderes als Alltag für Sie. Wir haben einen Toten in Medemblik am Strand. Und wen könnte ich da besser einsetzen als meine hoch engagierte Inspectrice van den Berg? Ich wäre natürlich selbst hingefahren, aber ich habe gleich eine Konferenz. Könnten Sie das übernehmen?«

Van den Berg hätte am liebsten laut losgelacht. Eine Konferenz. Was Klügeres war ihm nicht eingefallen?! Selbst wenn er nicht eine seiner Liebschaften zu Besuch haben sollte, hätte Ton Gerritsen niemals um diese Uhrzeit sein Bett freiwillig verlassen. Und ihr gönnte er nicht mal das Ende eines schönen Traumes. 

»Natuurlijk«, antwortete sie so freundlich, wie es ihr unter den Umständen möglich war, und kurze Zeit später war sie mit ihrem Golf auf dem Weg nach Medemblik. Unwissend, dass sie den gleichen Parkplatz wie einige Stunden zuvor der Täter nutzte, ging auch Fleur nun den Fußweg in Richtung Onderdijk. Kurz hinter den Fahrradständern am Pavillon blieb sie stehen, schaltete ihre Taschenlampe ein und beobachtete ein paar schnatternde Enten, die sich offensichtlich in den frühen Morgenstunden um ihr Frühstück zankten. Schön war es hier. Und Frühstück wäre auch schön gewesen, dachte sie und folgte dem schwachen Schein ihrer Lampe weiter entlang des Ufers. Sie musste unbedingt die Batterien der Lampe ersetzen. Oft kam es nicht vor, dass sie sich um diese Zeit am Wasser aufhielt, aber im Dunkeln war man dort verloren. Ihr Chief, dachte sie und konnte sich ein Seufzen nicht verkneifen, hatte nur von einem Toten gesprochen, hatte weder Geschlecht noch Alter erwähnt. Sicher hatte er Wichtigeres zu tun, als sich mit diesen Details aufzuhalten. Für die hatte man ja seine Leute. Fleur ging um die nächste Kurve und konnte dann in der Ferne das Leuchten weiterer Taschenlampen und den Blitz einer Kamera erkennen. Wie konnte es sein, dass jemand vor ihr da war? Hatte der Chief erst mal ausgiebig sein Date verabschiedet, bevor er sie informierte? Sie ging etwas zügiger, und noch bevor sie die Bank, auf der eine zusammengekauerte Person saß, erreichte, konnte sie lautes Schluchzen vernehmen. Die letzten Meter lief sie immer schneller. Bis sie das ganze Umfeld erfassen konnte, dauerte es einen Moment. Ein großer Bereich des Ufers war abgesperrt. Außerhalb der Absperrung stand ein Mann, offensichtlich Journalist, mit einer Kamera und machte Bilder. Wahrscheinlich für den »NH hier en nu«, dachte Fleur. Auf der Bank saß schluchzend eine Frau, die Fleur im Schein der Taschenlampe als ihre alte Schulfreundin Lieke identifizierte. Dahinter standen, hilflos wirkend, einige Personen mit Rucksäcken.

Offensichtlich handelte es sich um eine Wandergruppe. Fleur van den Berg schwenkte ihre Taschenlampe weiter in Richtung Wasser und folgte dem Schein, der nun auf die Rücken zweier Rettungssanitäter fiel. Daneben hockte ein weiterer Mann, der Fotos machte. Er erhob sich und kam auf sie zu. 

»Fleur«, sagte er und reichte ihr die Hand.

»Daan«, entgegnete sie erstaunt, reichte dem Pathologen ebenfalls die Hand und schaute ihn fragend an. Daan hob das Absperrband in die Höhe, sodass sie darunter hergehen und ihm folgen konnte. Fleur nickte den Sanitätern zu, und erst dann erblickte sie die Leiche des alten Mannes zu ihren Füßen, die mit dem Unterkörper im Wasser lag. Der Mann war vollkommen nackt, sein zur Seite gefallener Kopf lag auf dem steinigen Ufer, als gehörte er nicht zum Rest des Körpers. Die Lippen blutleer, auf dem Boden hatte sich rund um den Kopf eine Blutlache gebildet. Auf dem hageren Oberkörper klaffte eine Wunde, von der aus sich das Blut über den Brustraum verteilt und mit den Brusthaaren verklebt hatte, um dann im sandigen Boden zu versickern. 

Sie ging in die Hocke, einerseits, um den Toten etwas genauer zu betrachten, andererseits, um ihren weichen Knien entgegenzuwirken. Ein Toter vor dem Frühstück war eine Sache, ein solch übel zugerichtetes Mordopfer, ausgerechnet im idyllischen Medemblik, eine ganz andere.

3 DRIE

Der Sehnsuchtsort De plaats van verlangen

Wallis Windsbraut, ab sofort Hauptkommissarin im Sabbatjahr, konnte ihr Glück kaum fassen. Um exakt sechs Uhr hatte sie den Schlüssel ihrer kleinen Einliegerwohnung, in der sie seit der Trennung von ihrem Mann Nils Starke lebte, in den Briefkasten ihres Vermieters geworfen und war im münsterländischen Vreden in Richtung Holland gestartet. Schneller als gedacht war sie mit ihrem alten Opel Kapitän P 2,5 in Zwolle und von dort waren es nur noch 45 Minuten bis Lelystad. Um diese Zeit waren die Straßen noch nicht so voll, sodass sie schon vor halb neun der N307 auf den Houtribdijk folgte. Sie liebte diese Strecke, die das IJsselmeer vom Markermeer trennte und bei Sturm als Wellenbrecher zwischen beiden fungierte. Rechts und links nur Wasser, brachte sie dieser 26 Kilometer lange Weg von Flevoland nach Nordholland mit jedem Meter ihrem Ziel näher. Es war ein klarer Morgen, und schon nach kurzer Zeit war der Pooping Man, ein 26 Meter hohes und 60 Tonnen schweres Stahlkunstwerk in Form eines mitten im Wasser hockenden Mannes zu erkennen. Mit Blick auf das Markermeer auf der einen und über den Polder auf der anderen Seite hieß das Kunstwerk von Antony Gormley eigentlich Exposure oder Squatting Man, wurde im Volksmund aber meist Pooping Man (der kackende Mann) genannt.

Wallis öffnete ihr Fenster und ließ sich die frische Morgenluft um die Ohren wehen, während im Radio Grönemeyers »Sekundenglück« lief. Das kann kein Zufall sein, dachte sie und drehte lächelnd den Lautstärkeregler nach rechts. Dann setzte sie den Blinker und zog auf die linke Spur, um einen LKW zu überholen. Sie stellte den Tempomat, den sie hatte nachrüsten lassen, auf etwas unter 110 km/h und lehnte sich entspannt zurück. Die Geschwindigkeitsbegrenzung lag bei 100 km/h auf dem Damm, und man sollte Begrenzungen in den Niederlanden ziemlich ernst nehmen, sonst konnte es teuer werden. Da änderte auch der alte Kapitän nichts dran. Die Erfahrung hatte Wallis bereits hinter sich. 

Nach einiger Zeit konnte sie die ersten bunten Kitesurfer im Wasser am Roadhouse Checkpoint Charlie erkennen, die sich an diesem Morgen aufgrund des nur leichten Windes zaghaft auf dem Wasser bewegten. Meistens machte Wallis dort einen kurzen Stopp, trank einen Cappuccino oder ging ein paar Schritte am Ufer entlang, um den schönen Rundumblick über das Wasser zu genießen. Diesmal fuhr sie durch, freute sich auf einen Morgenspaziergang mit anschließendem Latte Macchiato im Strandpaviljoen »De Zoete Zee«. In Enkhuizen angekommen, bog sie rechts ab und folgte den Schildern nach Medemblik. Sie hätte den Weg auch im Schlaf fahren können. Manchmal kam es ihr seltsam vor, dass es noch kein Jahr her war, als sie auf der Suche nach einem kleinen Ferienhäuschen das erste Maklergespräch geführt hatte. Im März hatte sie sich dann für das kleine renovierungsbedürftige Chalet 507 direkt hinter dem Deich entschieden. Es gab schönere, modernere und günstigere im Park, aber keines hatte diese Nähe zum Wasser, diese Lage, rundum von alten Bäumen umgeben. Sie war oft dort gewesen in den letzten Monaten, für Verkaufs-, Notar- und Handwerkertermine. Nun war ihr kleines Häuschen noch nicht perfekt, aber zumindest in einem Zustand, dass sie es einige Monate bewohnen konnte. Und das sogar sehr, sehr gerne. Aber an diesem, ihrem Ankunftsmorgen, wollte sie die Vorfreude noch ein wenig hinauszögern. Sie blieb auf der N307, ließ Andijk zunächst rechts liegen und folgte der Straße nach Medemblik. Es war kurz nach neun, als sie auf den großen Parkplatz unterhalb der Straße abbog und ihr ein Krankenwagen entgegenkam. Fahrer und Beifahrer starrten sie an, während sie langsam aneinander vorbeifuhren. Blicke dieser Art war Wallis Windsbraut gewohnt. Sie hatte sich einfach nicht von dem Wagen ihres Vaters trennen können. Dass es sich dabei um den Leichenwagen des elterlichen Bestattungsunternehmens, das sie nach dem Tod des Vaters vor vier Jahren verkauft hatte, handelte, änderte nichts daran. Sie hatte damals darüber nachgedacht, das Fahrzeug neu lackieren zu lassen, sich dann aber dagegen entschieden und nur die roten Gardinen gegen blaue mit kleinen Booten darauf getauscht. Der Wagen hatte ihr darüber hinaus, insbesondere während der letzten Monate, gute Dienste geleistet. Oft war sie für ein oder zwei Nächte nach Andijk gefahren, um Termine wahrzunehmen, Mobiliar anzuliefern oder einfach nur ein paar Stunden ihren Sehnsuchtsort zu erkunden. Dann hatte sie die Nächte im Wagen auf dem Campingplatz »Dijk & Meer«, der zum Park Het Grootslag gehörte, verbracht. Gemütlich ausgestattet hatte sie sich die große Ladefläche mit einer guten Matratze, kuscheliger Bettwäsche sowie mit einem Wasserkocher und einigem mehr, was Frau so brauchte.

Wallis lenkte ihren Wagen in eine Parklücke nahe dem Fußweg zum Wasser und warf einen Blick in den Rückspiegel. Es war nicht immer so, aber an diesem Morgen gefiel ihr, was sie sah. Es musste an ihrem Lächeln oder dem Strahlen ihrer grün-braunen Augen liegen, dass sie plötzlich den Worten ihrer Mitmenschen Glauben schenkte, die sie erst auf Anfang anstatt auf Ende 40 schätzten. Sie wuselte mit ihren Fingern durch ihre braune Lockenmähne, klemmte sich eine Strähne hinter das Ohr und zog ihre Jeansjacke an. Dann machte sie sich auf den Weg zum Wasser. Eine Zeitlang später stand sie mit sicherem Abstand zu einer seltsam anmutenden Gruppe von Personen unterschiedlichen Alters und Geschlechts am IJsselmeer. Rotes Absperrband und inmitten der abgesperrten Fläche eine große Plane mit den groben Umrissen eines Menschen. Diese Szene kam Wallis eigenartig vertraut vor. Das konnte nur ein schlechter Scherz sein! Ein Toter, ermordet vielleicht, hier an ihrem Seelenort, an den sie vor allem flüchten wollte? Sie machte auf dem Absatz kehrt und eilte zurück, so schnell es ging. Am Strandpaviljoen angekommen, blickte sie auf ihre Uhr. Es war fünf Minuten nach zehn Uhr. Kurz dachte sie daran, bis elf Uhr zu warten. Dann würde »De Zoete Zee« öffnen, sie bekäme ihren Latte Macchiato und eventuell würde sie dort erfahren, was hier los war. Sie hörte Stimmen und blickte in Richtung Tatort. Die Leute kamen auf sie zu. Auf keinen Fall wollte sie in irgendwelche Ermittlungen einbezogen werden oder als Zeuge fungieren. Nichts hören, nichts sehen, nicht sprechen, zumindest nicht über irgendwelche Straftaten, das war Devise Nummer eins für das kommende Jahr. Sie rannte den kleinen Weg hinunter, sprang in ihr Auto und raste los in Richtung Andijk. Erst einige Minuten später überkam sie das Gefühl, sich seltsam verhalten zu haben. Ein Leichenwagen, der sich zügig von einem offensichtlichen Tatort entfernte, erregte Aufsehen. Wenn sich das nicht rächen würde.

4 VIER

Die vermisste Leiche Het vermiste lijk

»Das ist ja ein dickes Ding«, sagte der Chief, während er in Fleurs Büro auf und ab ging. »Ein ermordeter, nackter Mann ohne Papiere und Handy früh morgens am Ufer des IJsselmeers. Eine Wandergruppe, deren Führerin Ihre Schulkollegin war, und die einen ihr bekannten Sanitäter anruft, der wiederum noch vor uns die Pathologie informiert. Das ist wahrlich ein dickes Ding.«

Fleur blickte ihrem Chef vom Fenster bis zur Tür und zurück hinterher und dachte, dass diesem eitlen Menschen die Tatsache, die Informationen nicht als Erster erhalten zu haben, mehr zu schaffen machte als der Tote. Er hatte kurz nach seinem Erscheinen im Büro alle Informationen über den Fall zusammengetragen und mehr als 20 Minuten mit dem Pathologen telefoniert. 

»Hat Daan sich schon irgendwie zur Todesursache geäußert?«, fragte sie eher, um Ton Gerritsens Gang durch ihr Büro zu unterbrechen, als dass sie auf eine Auskunft hoffte.

»Er sagte nur, dass dem Opfer die Kopfverletzung höchstwahrscheinlich erst postmortal zugefügt wurde und ziemlich sicher nicht die Todesursache sei. Das Opfer lag mit dem Kopf auf einem Stein. Es ist davon auszugehen, dass der Täter den Mann ans Wasser geschleift und ihn dort auf den Stein fallen gelassen hat, wobei die Kopfwunde entstanden ist. Der Tod rührt wahrscheinlich von einem Stich ins Herz durch einen spitzen Gegenstand her. Mehr will er erst nach der Obduktion sagen. Das kennt man ja«, fügte der Chief stöhnend hinzu.

»Es ist bislang keine Tatwaffe gefunden worden«, bemerkte Fleur, »entweder hat der Täter sie mitgenommen oder ins Wasser geschmissen.«

»Die Spusi hat schon einen Taucher hingeschickt«, antwortete Gerritsen. »Erst mal müssen wir wissen, wer der Tote ist. Erkundigen Sie sich bitte, ob jemand als vermisst gemeldet wurde. Dann fahren Sie zum Strandpaviljoen und fragen, wann die letzten Gäste gestern gegangen sind und ob jemandem etwas aufgefallen ist. Der Mann ist noch keine 20 Stunden tot. Man könnte das Opfer oder den Täter gestern Abend gesehen haben.«

Van den Berg nickte, während der Chief plötzlich in seiner Bewegung innehielt. »Und was war das für eine Nummer mit dem Leichenwagen, der mit quietschenden Reifen abgebraust ist? Das ist ja wohl mehr als peinlich. So eilig wird der Alte es wohl nicht gehabt haben, in die Kühlkammer zu kommen. Wenn das jemand mitbekommen hat, werfen die Leute uns wieder Pietätlosigkeit vor. Wer war das denn? Der Langemüller?«

»Nein, nein, das war nicht der beauftragte Bestatter. Ich habe auch nur aus einiger Entfernung eine Frau gesehen, die in unsere Richtung kam und dann kehrtgemacht hat und kurz darauf mit einem dunklen Kapitän zügig verschwunden ist. Ich weiß nicht, ob es überhaupt ein Leichenwagen war, aber er sah zumindest so aus.« 

»Eine Frau, die zügig mit einem Leichenwagen vom Tatort verschwindet«, sagte der Chief kopfschüttelnd, »das ist ein dickes Ding, und ich will wissen, wer das war.« Dann verließ er ohne ein weiteres Wort endlich ihr Büro. 

Fleur lehnte sich zurück und ließ ihren Blick aus dem Fenster schweifen. Ihre alte Schulfreundin Lieke hatte eine Wandergruppe angeführt und den Toten dabei gefunden. Sie war fix und fertig und zu keinem Gespräch fähig gewesen. Fleur würde sie später anrufen. Lieke hatte früher schon zu den eher zartbesaiteten Menschen gehört, und bei so einem Anblick die Nerven zu verlieren, konnte schließlich niemandem verübelt werden. Sie spulte alle Bilder rund um den Tatort noch einmal in Zeitlupe ab. Irgendetwas störte sie, aber sie kam nicht darauf, was es war. Sie nahm ihre Jacke und verließ das Büro. Als sie gerade an Gerritsens Tür vorbeiging, wurde diese aufgerissen und der Chief sprang mit einem Satz auf den Flur, schnitt ihr den Weg ab. Sein Kopf glich einer roten Ampel, die deutlicher nicht zeigen konnte, dass man sich unterzuordnen hatte. In der Hand hielt er sein Telefon.

»Verschwunden«, schnaubte er, »das glaube ich nicht. Wie kann am helllichten Tag bitteschön eine Leiche verschwinden, hä?«

»Wie verschwunden? Welche Leiche ist verschwunden?«, stotterte Fleur van den Berg hilflos.

»Welche Leiche?«, schrie Gerritsen, »Haben wir denn mehr als eine? Das ist ein unglaubliches Ding«, schnaubte er und verschwand in seinem Büro, nicht ohne die Tür zu knallen.

5 VIJF

Der Joker De joker

Eigentlich hatte Brisk seinen Joker erst später ziehen wollen, aber das Schicksal hatte ihm diesen Zug in die Hände gespielt und er hatte ja bereits gelernt, dass man auch mal etwas riskieren und spontan sein musste. Aus sicherer Distanz hatte er beobachtet, wie die deutsche Kommissarin, die das Chalet im Park gekauft hatte, dazugestoßen und dann mit ihrem Leichenwagen eilig wieder verschwunden war. Das hatte offensichtlich für Missverständnisse oder zumindest für Unruhe gesorgt. Und da in Orten wie Medemblik nicht ständig ein Toter gefunden wurde, war eine kleine Polizeidienststelle schnell schon mal überfordert. Auf jeden Fall konnte er zunächst nicht fassen, was er durch sein Fernglas beobachtete. Nach und nach zogen Zeugen, Sanitäter, Pathologe und Kommissarin ab, nur die Leiche war abgedeckt dort liegen geblieben. Seltsamerweise näherten sich auch keine anderen Menschen dem Tatort. Offensichtlich hatte sich die Medembliker Neuigkeit noch nicht herumgesprochen. Brisk hatte nur kurzüberlegt, er wollte nicht wieder seine Chance durch zu geringe Risikobereitschaft und zu langes Zögern verpassen. Er nahm sein Ersatzhandy mit der Prepaidkarte aus der Tasche und wählte Jakob Teuwens Nummer. Jakob war ein Dachdecker, der sein Gehalt hin und wieder durch kleine schräge Dinger aufbesserte. Bei einem Einbruch vor einigen Jahren war zufällig die Besitzerin des Restaurants durch Glassplitter verletzt worden. Das hatte ihm vier Monate Knast beschert. Ansonsten war Jakob ein kleiner Fisch, der ihn nur vom Telefon und nur unter dem Namen Brisk kannte. Als Brisk sich vor einigen Monaten zu seinem neuen Weg entschlossen hatte, war ihm klar gewesen, dass er eventuell einen Helfer brauchen würde und dass dieser gut gewählt sein sollte. Er kannte Jakob schon lange und der Dachdecker hatte keinen blassen Schimmer, welche Informationen Brisk über ihn zusammengetragen hatte. Er hatte ihm schon vor Wochen einen nicht unerheblichen Betrag zukommen lassen, um ihn in Bereitschaft zu versetzen. Brisk hatte ihm klargemacht, dass es die gleiche Summe nach Vollendung der Tat, die er später noch genauer definieren würde, noch einmal geben würde, er aber keine Fragen zu stellen hatte. An diesem Morgen sah Brisk seine Chance gekommen, wählte Jakobs Nummer und beobachtete kurz darauf durch sein Fernglas, wie die Leiche eines alten Mannes in einer Tasche für ein Kiteboard verschwand und auf einem kleinen Boot abtransportiert wurde. Das Risiko für Brisk war gering. Sollte Jakob gefasst werden, würde man die Spur zu ihm nicht verfolgen können. Aber sicher war sicher, dachte Brisk, während das Boot mit Jakob und der Leiche durch sein Fernglas immer kleiner wurde. Diesen Auftrag sollte Jakob noch zu Ende bringen, und dann wollte Brisk mit seiner nächsten Tat drei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Er würde jede Menge Geld sparen, einen mutmaßlichen Zeugen beseitigen und hatte ein neues Opfer, das er dazwischenschieben würde.

6 ZES

Glück hat einen Namen Geluk heeft een naam

Eigentlich hatte Wallis Windsbraut sich ihre Ankunft im Park anders vorgestellt. Fast wie ein Verbrecher fühlte sie sich, als sie am Medembliker Stoommachinemuseum vorbeigerast und nach Andijk gefahren war. Erst als sie endlich »Proefpolder« auf dem Schild am Parkeingang las, wurde sie allmählich ruhiger und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. War dort wirklich ein Mord geschehen? Und sie war einfach weggerannt, dachte sie nun kopfschüttelnd. Aber wer konnte auch hier mit einem Mord rechnen? Und das ausgerechnet am Morgen ihrer Ankunft. Sie hoffte, dass niemand gesehen hatte, wie sie mit ihrem Leichenwagen davongerast war. Zum ersten Mal wünschte sie sich ein unauffälligeres Auto. Wallis kramte einen Salzlakritz aus ihrer Handtasche, kaute auf ihm herum und dachte über die Szene am Ufer nach. Shit happens. Was sollte es? Sie hatte sich schließlich nichts zuschulden kommen lassen. Außerdem war sie im Sabbatjahr. Niemand wusste von ihrem Beruf – und überhaupt kannte sie bis auf ein paar Handwerker und Nachbarn kaum jemanden hier. Sie hatte bei den wenigen Bekanntschaften, die sie in Holland bislang geschlossen hatte, peinlichst darauf geachtet, sich als kaufmännische Angestellte auszugeben, damit niemand auf den Gedanken kam, ihr dumme Fragen zu stellen. Lediglich in dem Notarvertrag beim Kauf ihres Hauses hatte sie ihren Beruf angeben müssen. Aber den kannten nur die Maklerin, die Übersetzerin und die alte Besitzerin, eine deutsche Krankenschwester, die das Chalet aus Zeitgründen nicht mehr oft nutzte und deshalb verkauft hatte. Niemand von ihnen hatte sie auf ihre berufliche Tätigkeit angesprochen. Warum auch? Sie fuhr die schmale Straße unterhalb des Deiches auf den Park zu, beobachtete die grasenden Pferde auf der Weide und holte die Karte aus ihrer Mittelkonsole, die sie zum Öffnen der Schranke benötigte.

Es war wie schon oft zuvor der Augenblick, als sie um die Kurve fuhr und während des Einparkens den ersten Blick auf das hölzerne Chalet warf, der ihr ein Glücksgefühl bescherte. Eine Vergrauungslasur, die dem neuen Profilholz einen Naturcharakter verlieh und es für viele Jahre schützen würde. Neue Fenster und Türen mit weißem Rahmen, eine weiße Attika und schlichte graue Pflastersteine. Es hatten hässliche alte Waschbetonplatten dort gelegen, und der Gärtner, ein zuverlässiger, sehr netter, älterer Holländer, hatte vorgeschlagen, diese einfach umzudrehen. Wallis hatte zugestimmt und war angenehm überrascht über die Wirkung gewesen, zudem hatte sie das Geld für neue Platten gespart. 

Sie stieg aus, nahm eine große Kiste mit Lebensmitteln vom Rücksitz und ging auf ihr Chalet zu. Vor dem Haus stand ein großer Holztisch, den sie in der Farbe des Hauses gestrichen hatte. Sie stellte die Kiste darauf ab und blickte auf ihren kleinen, aber feinen Garten. Sie hatte dunkelbraune, dicke Bambusrohre am Rand des Beetes eingegraben und mit Efeu umwickelt, so dass im Laufe der Zeit ein Sichtschutz zum Nachbarhaus entstehen würde. Eine weiße Hortensie, einige weiße Veilchen und etwas Lavendel blüten noch. Am meisten freute sie sich über die Pflanze, die sie in einem Andijker Baumarkt gekauft hatte und deren Namen sie nicht kannte. Sie hatte große, weinrote, glockenförmige Blüten, die Wallis auf dem Hintergrund des dunklen Rindenmulchs, den sie auf dem Beet verteilt hatte, ganz ausgezeichnet gefielen. Wallis schloss die Tür auf und trug die Kiste in die Küche. Dann schaltete sie den Strom, den Kühlschrank und das WLAN ein. Augenblicklich sprang das kleine Bluetooth-Radio, das auf dem Sofa im Wohnzimmer stand, auf Empfang. »Bluetooth connected«, sagte eine monotone Stimme. Sie verband ihr Handy mit dem Radio und startete die WDR 4 App. Cat Stevens »Father and Son« war bei der letzten Strophe angelangt, und Wallis stieg lauthals ein, während sie sich auf den Weg zum Auto machte, um die nächste Kiste zu holen. Wie einfach, klein und überschaubar hier doch alles war.

Nachdem sie sich eingerichtet und alles verstaut hatte, zog sie ihre Laufschuhe an und verließ ihr Chalet. Sie wollte erst eine Runde um den geliebten Deich drehen, dann zum Gartencenter fahren und einige Blumen für den Garten hinter dem Haus kaufen. Sie hatte auch dort eine kleine Fläche pflastern lassen und eine schöne alte Bank darauf gestellt. Von dort aus konnte man direkt auf den Deich sehen. Sie liebte es, in der Dämmerung mit einem Glas Rotwein da zu sitzen und den Silhouetten der letzten Spaziergänger vor dem Hintergrund des langsam dunkler werdenden Himmels hinterherzuschauen. Meistens schillerte der Himmel in Richtung Westen zum Andijker Hafen hin noch in unterschiedlichen Rot- und Orangetönen, weil dort die Sonne unterging. Vor der alten Bank hatte sie drei große Blumenkübel mit Rankgittern platziert und ebenfalls Efeu gepflanzt, der leider eingegangen war, weil sie vergessen hatte, Löcher für den Ablauf des Wassers in das Gefäß zu stechen. Auch vor der gesamten Rückseite des Chalets wollte sie Blumen pflanzen. Es lag noch aufgewühlte, lockere Erde dort, weil ein kleiner Bagger einen Graben gezogen hatte, um den maroden Stahlträger, auf dem das Chalet stand, zu schweißen. Dieser Teil des Grundstücks war der einzige, der noch verschönert werden musste. Aber dazu hatte Wallis ja nun endlich genügend Zeit.

Sie ging den kleinen Muschelweg bis hin zur Treppe, die hoch zum Deich führte. Dann nahm sie zwei Stufen auf einmal und lief die letzten Meter, bis der grüne Deich den Blick auf das blaue Wasser freigab. Dieser Anblick erfüllte sie jedes Mal aufs Neue mit derartiger Freude, dass sie ihr Glück nicht fassen konnte, Besitzerin eines Chalets dort zu sein. Oben angekommen, atmete sie tief ein und aus und ließ ihren Blick über das IJsselmeer gleiten. Links sah sie in einiger Entfernung die hohen Masten der Segelboote im Hafen, über dem Wasser umflogen Möwen kreischend ein kleines Fischerboot, und auf der rechten Seite erkannte sie den Turm der kleinen Kirche im Ort. Weiter hinten lag Enkhuizen. Sie freute sich schon auf die erste Fahrradtour dorthin. Wallis bog nach rechts ab, sodass sie das Wasser zu ihrer Linken und die Chalets zu ihrer Rechten hatte. Nach wenigen Metern fiel ihr Blick wie immer auf ihr Chalet, das schönste am Platz, wie sie fand. In zweiter Reihe, ein wenig versteckt zwischen den alten, großen Bäumen, deren Art sie endlich einmal in Erfahrung bringen musste. Mehrmals schon hatte sie bei Google Lens gesucht, war jedoch nicht fündig geworden. Neben der idyllischen Lage und der Nähe zum Wasser liebte sie die absolute Stille, besonders in dieser Ecke des Parks. Het Grootslag bestand aus dem Chaletviertel, dem weitaus größerenBungalowviertel und dem Campingplatz. Es gab drei direkte Aufgänge zum Deich. Der, der ihrem Chalet am nächsten lag, wurde von den wenigsten Leuten benutzt, da nur sehr wenige Besucher überhaupt zu diesem Teil des Parks kamen. Die Attraktionen wie Schwimmbad, Streichelzoo, Pferdehof, Kinderanimation sowie die Rezeption, das Restaurant und der kleine Laden lagen am Eingang des Parks, sodass es fast ausschließlich die Besitzer der Chalets waren, die sich im Chaletviertel aufhielten. Hinzu kam, dass die meisten in der Ecke, in der Wallis wohnte, ihr Haus nicht in der Vermietung hatten und ihr Ferienhaus auch nur selten selbst nutzten. Es hatte Wochenenden gegeben, da hatte Wallis rund um ihr Haus und selbst oben auf dem Deich keinen Menschen gesehen. Ein Paradies eben, dachte sie und schaute einem Boot nach, das eine weißschaumige Spur hinter sich herzog. Wie immer ging sie bis an die Stelle des Deiches, an der der Weg weiter nach Enkhuizen führte, und bog dann rechts ab, um oberhalb der Straße zurück zum Parkeingang zu gelangen. Am Abend würde sie im Parkrestaurant den Lachs aus dem Ofen mit Yakitoris-Sauce, Salat und holländischen Pommes essen und dabei vielleicht etwas über den Mord in Medemblik erfahren. Sie hatte nun etwa die Hälfte des Weges hinter sich gelassen und sah mal auf die schönen kleinen, typisch niederländischen Häuser und Gärten unterhalb des Deichs, mal blickte sie zur anderen Seite und sah die Boote in großer Entfernung. Endlich überkam sie das Gefühl, angekommen zu sein. Morgen würde sie sich von ihrem Vater verabschieden und mit ihrer Vergangenheit Frieden schließen. Dann konnte ihr neues Leben beginnen. Glück hatte einen Namen: »Het Grootslag, Chalet 507«.

7 ZEVEN

Der Leichenwagenchauffeur De lijkwagenchauffeur

Ton Gerritsen hatte die ganze Abteilung versammelt und die Tür hinter sich geschlossen.

»Erstens, das Wichtigste, das jetzt zu tun ist, ist, die Presse herauszuhalten. Wenn morgen in der Zeitung steht, dass wir uns eine Leiche haben klauen lassen, können wir dichtmachen. Zweitens, wir müssen die Leiche schnellstmöglich wiederfinden, um sie identifizieren zu können. Mit jedem Tag, der vergeht, sinkt die Chance, den Täter zu finden. Das brauche ich hier ja niemandem zu sagen. Gibt es eine Vermisstenmeldung oder sonstige Hinweise darauf, um wen es sich bei dem Toten gehandelt haben könnte?« Der Chief blickte zu Fleur, die den Kopf schüttelte. Sie hatte lange telefoniert, war im Strandpaviljoen gewesen und hatte mit einigen Leuten gesprochen, aber niemandem war etwas aufgefallen. 

»Das Blöde ist«, sagte Fleur, »dass wir ohne Leiche nicht mal ein Bild an die Presse geben können, um Angehörige ausfindig zu machen oder zumindest seine Identität zu klären.« Sie blickte zu dem Pathologen.

»Ach, du hast doch Fotos gemacht, Daan.«

»Bedaure«, antwortete er, »aber ich mache Bilder von den Verletzungen für mein medizinisches Gutachten. Die sind nicht pressetauglich.«

»Aber da hat doch noch jemand Fotos gemacht«, entgegnete Fleur, »ich konnte im Dunkeln nicht sehen, wer es war, aber ich habe Blitzlicht gesehen.«

»Stimmt, ich glaube, das war einer vom »NH hier en nu«. Mir kam das Gesicht irgendwie bekannt vor.«

»Also, wir können ja kaum die Redaktion der Tageszeitung um Fotos des Opfers bitten, weil uns die Leiche abhandengekommen ist, oder?«, mischte Gerritsen sich ein, stand auf und begann, auf und ab zu gehen. »Es gibt nur einen Weg. Wir müssen den Alten wiederfinden. Was habt ihr denn am Tatort gefunden?«, fragte er und blickte zu Saar de Vries, einer jungen, schüchternen Kollegin der Spurensicherung. 

»So gut wie nichts«, sagte de Vries, ein wenig betreten. »Da gehen täglich so viele Menschen und Hunde her, dass es von Spuren und Fußabdrücken nur so wimmelt. Es macht den Eindruck, als habe jemand die Leiche auf dem Wasserweg entsorgt. Eine kurze Schleifspur könnte darauf hinweisen. Der Spürhund hat ebenfalls angeschlagen, konnte die Spur aber nicht weiterverfolgen. Das könnte aber auch bedeuten, dass jemand die Leiche in einem Sack oder Ähnlichem fortgeschafft hat. Im Wasser hat der Taucher weder Leiche noch Tatwaffe gefunden. Paul ist natürlich auch der einzige Taucher, den wir für so etwas haben. Wir haben ohnehin zu wenig Leute. Und es gestaltet sich natürlich umso schwieriger, weil wir nicht wissen, nach welcher Waffe wir suchen.«

Alle sahen zum Pathologen, der mit den Schultern zuckte und eine Grimasse zog. »Nix Leiche, nix Info.«

»Mann, Mann, Mann«, schimpfte der Chief, »warum klaut jemand überhaupt eine Leiche? Die hätte uns doch ohne Klamotten und Handy ohnehin kaum Infos geliefert.«

»Genau«, bemerkte Saar de Vries, »außerdem hätte der Täter sie dann doch sofort nach der Tat verschwinden lassen können, oder?«

»Woher hat der überhaupt gewusst, dass sie noch da gelegen hat?«, fragte Fleur und fügte hinzu: »Vielleicht ist der Leichendieb auch nicht der Täter.«

»Ein Leichensammler, oder was?«, fragte Gerritsen und starrte aus dem Fenster auf die Straße. Eine Zeit lang schwiegen alle, dann sagte der Chief: »Das Problem ist, dass wir eigentlich Verstärkung bräuchten. Dafür müssten wir aber öffentlich machen, dass die Leiche weg ist. Apropos Leiche. Was ist eigentlich mit dieser Leichenwagenfahrerin? Hat jemand mal mit der gesprochen?«

8 ACHT

Die Urne De urn

Wallis hatte, wie schon so oft, zu viele Blumen gekauft. Sie hatte alle in den Garten hinter das Haus gestellt und war dann zum Restaurant gegangen. Es war noch keine 19 Uhr, hell und warm genug, um auf der netten Terrasse des Restaurants zu essen. Sie bestellte Lachs und Radler und genoss ihr Abendessen. Zum Abschluss nahm sie sich ein Softijs mit nootjes mit. Es waren nur wenige andere Gäste dort gewesen und niemand, den sie kannte. So hatte sie keine weiteren Informationen über den Vorfall in Medemblik bekommen. Auch das Internet gab noch nichts her. Sie würde sich bis zum nächsten Tag gedulden müssen. Aufgrund der anstehenden Dunkelheit beschloss sie, das Einpflanzen der Blumen auf den nächsten Morgen zu verschieben und anstelle dessen ihre Abendrunde über den Deich zu drehen. Vielleicht, dachte sie, sollte ich auch heute meinen Ankunftsabend mit meinem Vater verbringen. Der Gedanke, dass ihr ein Neubeginn sicher leichter fallen würde, wenn diese Aufgabe endlich erledigt war, gefiel ihr. Außerdem stand die Sonne schon sehr tief am klaren Himmel, sodass in Kürze ein schöner Sonnenuntergang zu erwarten war. Ja, heute war sie in der richtigen Stimmung dazu. Sie kehrte zu ihrem Haus zurück und packte eine dünne Jacke, ein Glas und eine kleine Flasche Rotwein in einen Korb. Dann ging sie zu ihrem Wagen und nahm die angefangene Schachtel Zigaretten, die nur in besonderen Momenten zum Einsatz kam, und ein Feuerzeug aus dem Handschuhfach und legte beides ebenfalls in den Korb. Anschließend öffnete sie den Kofferraum des Wagens, klappte die Abdeckung hoch und hob das Reserverad heraus. Darunter lag eine Tüte, die sie vorsichtig herausnahm. Sie hielt einen Augenblick inne, bevor sie die dunkelbraune Urne herausnahm und hoch zum Himmel hob.

»Es ist so weit, Papa. Wir sind am Ende unserer Reise und heute wirst du in die ewige Freiheit entlassen. Dein und mein geliebtes Meer.« Wallis sprach die Worte leise vor sich hin, und so hörte sie die Schritte, die sich ihr näherten, erst sehr spät. Sie drehte sich um und blickte in den Dienstausweis einer jungen, schlanken Frau mit langen, blonden Haaren.

»Fleur van den Berg, inspectrice, Commissariaat Medemblik. Mevrouw Windsbraut?«

Wallis zuckte kurz zusammen und besann sich augenblicklich ihrer Situation. Wahrscheinlich war sie sich nie zuvor im Leben so blöd vorgekommen. Deshalb nickte sie nur wortlos und legte die Urne ein wenig unbeholfen zurück in die Tüte. Fleur van den Berg starrte ebenso konsterniert und fragte: »Darf ich Sie fragen, was das ist?«

»Eine Urne.«

»Eine Urne?«

»Ja, eine Urne.«

»Aha.«

Beide schwiegen für einen Moment. Dann fragte van den Berg: »Ist da Asche drin?«

»Ja, das ist die Aufgabe einer Urne.«

»Aha. Und welche Asche, bitte?«

Wallis wurde es ein wenig übel. Sie hatte damals mit dem ortsansässigen Bestatter einen Deal abgeschlossen. Er hatte dafür gesorgt, dass ihr ein großer Teil der Asche ihres Vaters ausgehändigt und nur ein kleiner beerdigt wurde. Bestatter hatten durchaus Interesse daran, gut mit der Polizei zusammenzuarbeiten, besonders, wenn der Wettbewerb groß war.

»Die meines Hundes«, antwortete sie, »aber darum sind Sie sicher nicht hergekommen, oder?«

Die niederländische Inspektorin fragte sich, ob es möglich war, einen männlichen Leichnam verschwinden und innerhalb weniger Stunden einäschern zu lassen und welchen Grund es dafür geben könnte.

»Darf ich die Urne vielleicht mal sehen?«, fragte sie so selbstbewusst wie möglich. Wallis, die sich schon mit einer Ordnungswidrigkeit konfrontiert sah, schlimmer noch, damit, dass ihr Gegenüber nach dem Mord die falschen Schlüsse ziehen und die Asche ihres Vaters konfiszieren würde, antwortete: »Sicher nicht. Ich wüsste nicht, warum. Könnten Sie mir jetzt den Grund Ihres Erscheinens nennen, bitte? Ich habe noch zu tun.«

Fleur zeigte mit dem Finger auf den Leichenwagen.

»Ist das Ihrer?«

»Ja, und?«

»Waren Sie heute Morgen mit dem in Medemblik?«

Kurz dachte Wallis daran, es abzustreiten, aber dann geriet sie wahrscheinlich erst recht ins Visier der jungen, dynamischen Polizistin. Sie hatte Erfahrung mit dieser Art von Lügen.

»Ja, und?«, sagte sie erneut. 

»Warum sind Sie so schnell wieder verschwunden?«

»Warum nicht? Ich wollte im Strandpaviljoen einen Kaffee trinken, habe gesehen, dass er noch geschlossen war und bin wieder gefahren. Wo ist das Problem?«

»Heute Morgen wurde am Ufer eine männliche Leiche gefunden. Haben Sie das mitbekommen oder wissen Sie etwas darüber?«

Wallis fasste sich ans Herz.

»Eine Leiche? Hier in Medemblik? Oh, mein Gott. Was ist passiert?«

»Dazu darf ich leider nichts sagen. Sie wurden nur in der Nähe des Tatorts gesehen.«

»Ja, ich sagte ja, dass ich dort war. Ich habe auch gesehen, dass dort eine Menschenansammlung stand, aber da der Paviljoen noch zu war, bin ich eben wieder gefahren.«

»Hm«, entgegnete Fleur und nickte, »machen Sie Urlaub hier?«

»Ja, ich habe das Chalet vor einiger Zeit gekauft.«

»Es ist sehr schön hier. Na, dann. Das war’s erst mal. Vielen Dank und einen schönen Abend.«

»Danke. Haben Sie eine Karte?«

Fleur griff in ihre Jackentasche und reichte ihr eine.

»Falls mir noch was einfällt.«

Fleur blickte sie ein wenig erstaunt an.