Der Name der Unsterblichkeit - S. A. Lee - E-Book

Der Name der Unsterblichkeit E-Book

S. A. Lee

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Beschreibung

Magier, Unsterbliche, blutrünstige Dämonen mit einer Vorliebe für Popmusik der 90er - all das sind Schrecknisse, denen sich Reeba und Than stellen müssen! Reeba hat gerade ihr Studium beendet und ist erfolglos auf Jobsuche. Als ob das nicht schon schlimm genug wäre, liegt eines Abends ihr sterbender Onkel vor der Wohnungstür. Kurz vor seinem Tod flüstert er ihr eine geheimnisvolle Warnung zu, die ihr Leben von Grund auf verändert. Von diesem Moment an geraten Reeba und ihr neu gewonnener Freund Than zwischen die Fronten zweier alter Magierzirkel - und stellen sich dem schrecklichen Geheimnis der Unsterblichkeit.

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EPUB
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Seitenzahl: 565

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Seelenläufer
Impressum
Danksagung
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
Epilog

S. A. Lee

Seelenläufer

Fantasy

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.deabrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-143-6

E-Book-ISBN: 978-3-96752-643-1

Copyright (2021) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung: Grit Richter, XOXO Verlag

Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Dieses Buch ist verfasst in schweizer Rechtschreibung,

Grammatik und Zeichensetzung

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Danksagung

Für Papa, von wo aus immer er jetzt zuschaut.

Danke an Bergzwerg und alle anderen, die wissentlich und unwissentlich auf die eine oder andere Weise in diese Geschichte miteingeflossen sind.

Danke an Mike, Iurgus, Tija und Mörtsch für die endlose Geduld mit meinen intimen und nervtötenden Nachfragereien.

Danke an meine TestleserInnen für ihre kleingeistigen Kritteleien, scharfen Augen und ihre hassenswerte Liebe zum Detail.

Danke vor allem dir, unbekanntes Mädchen im Zug. Wir haben nie miteinander gesprochen und du weißt wahrscheinlich auch gar nicht, dass du als Hauptfigur missbraucht wurdest. Aber trotzdem tausend Dank für die Inspiration deiner Erscheinung.

1. Kapitel

Gott hat den Menschen nach seinem Bild geformt. Als er Sein Gebot missachtete, verstieß Er ihn zur Strafe aus dem Paradies und machte ihn sterblich. Seither ist es Naturgesetz, dass der Mensch altert, vergesslich wird und irgendwann elend in seinem Bett krepiert. Ebenso ist es Naturgesetz, dass ein paar heulende Verwandte oder Freunde dabeistehen, wenn das, was von ihm übrig ist, in der Erde verscharrt wird. Dann gehen sie nach Hause und schätzen sich glücklich, weil ihnen noch ein paar mickrige Jahre bleiben, bis es ihnen ebenso geht. Alles ist vergänglich, nichts bleibt, am allerwenigsten der Mensch.

Ich persönlich halte es mit den Naturgesetzen wie mit allen anderen Gesetzen: Ich pfeife auf sie.

Gegenwart

Es war der erste wirklich schöne Tag in diesem Frühling.

Areeba Seitz – sie nannte sich Reeba – warf einen knappen Blick auf den Verkehr und rannte auf die andere Straßenseite, haarscharf an der Straßenbahn vorbei. Der Bahnfahrer klingelte wütend und fuchtelte durch die Luft, als sie die Treppe zur U-Bahnstation hinunterrannte.

Sie tat so, als hätte sie es nicht gesehen.

Keuchend erreichte sie in letzter Sekunde die U-Bahn, quetschte sich hinein, ließ ihre Tasche von der Schulter gleiten und stützte sich dann auf ihre Oberschenkel, um wieder zu Atem zu kommen.

Das Rentnerehepaar neben ihr knurrte unwillig, als ihnen die Tasche auf die Füße donnerte, aber sie beachtete sie nicht. Die U-Bahn war um diese Zeit gerammelt voll und sie hatte früh gelernt, dass zu viel Rücksichtnahme einem Blutstropfen im Haifischbecken gleichkam. Als sie ein wenig verpustet hatte, richtete sie sich auf und prüfte ihr Spiegelbild im Fenster der U-Bahn-Tür. Eine schmale junge Frau von zweiundzwanzig Jahren schaute zurück, in eine viel zu große, nachgemachte Lederjacke gehüllt. Ihr wildes Kraushaar hätte Tina Turner vor Neid erblassen lassen und bedeckte nach ihrem Spurt ihr halbes Gesicht. Ungeduldig strich sie es zur Seite, was aber gar nichts half; störrisch fiel es ihr in die Augen, und nach wenigen Sekunden gab sie auf. Sie hätte einen Haargummi mitbringen sollen. Seufzend hielt sie ihre Mähne mit beiden Händen zurück und begutachtete kritisch das Make-Up, das sie entgegen ihren Gewohnheiten aufgelegt hatte. Es war verschmiert, obwohl sie mindestens eine Dreiviertelstunde damit verbracht hatte, an sich herumzupinseln. Deswegen war sie auch zu spät aus dem Haus gegangen und hätte beinahe die U-Bahn verpasst. Sie verzog die knallrot geschminkten Lippen.

Zu grell? Vermutlich schon, aber einen anderen Farbton gab es in der Schminktasche ihrer Mitbewohnerin nicht. Zumindest würde sie so nicht – um ebendiese zu zitieren – ‘wie ein verdammtes Baby’ aussehen.

Reebas Gesicht war voller, als man das für jemanden ihres Alters erwartet hätte, weshalb sie regelmäßig, wenn sie im Supermarkt Kochsherry kaufte, ihren Ausweis vorzeigen durfte. Die dichten Augenbrauen, die von ihr gehasste Stupsnase und die großen braunen Augen taten ihr Übriges dazu. Sie reckte den Hals, um in dem scheußlichen Kunstlicht zu prüfen, ob man einen Make-Up-Rand sah. Der Ton, den sie im Kaufhaus aufs Geratewohl ausgesucht hatte, war zu dunkel und betonte ihre nichteuropäische Herkunft. Vermutlich mit ein Grund, warum das Rentnerpaar neben ihr sie immer noch finster anstarrte und tuschelte.

«Schönen Tag noch und immer schön einen Stechschritt nach dem anderen!», verabschiedete sie sich fröhlich an der nächsten Station und sprang aus der U-Bahn, bevor ihre Worte in den verkalkten Gehirnzellen angekommen waren.

Es war nicht das erste Bewerbungsgespräch ihres Lebens, aber das erste, das ihr wirklich wichtig war. Es ging um ein Praktikum bei einer riesigen Firma, die Werbekampagnen lancierte. Einige Leute, die sie vom Studium kannte, hatten sich auch dafür beworben, aber außer ihr war keiner eingeladen worden. Das war schon ein Grund, stolz zu sein. Auch wenn ihr erst neulich Abend in der Bibliothek einer ihrer Kommilitonen im Vorbeigehen unüberhörbar hinterhergezischt hatte: «Der Personalchef ist ein Kerl. Sonst wäre sie nie eingeladen worden.»

In ihrem Leben hatte sie sich zu oft anhören müssen, dass sie nur aufgrund ihres Aussehens irgendetwas erreicht hatte. Daran änderten auch ihre Schulnoten nichts, die ihr bei der Reifeprüfung eine Auszeichnung eingebracht hatten. Im Laufe der Zeit hatte sie sich angewöhnt, einfach wegzuhören, aber tief in ihr drin tat es trotzdem jedes Mal weh. Als sie noch jünger gewesen war, hatte sie geglaubt, wenn sie immer bei den Besten mit dabei war, würden diese Leute früher oder später verstummen wie sie das in den Filmen oder Büchern auch immer taten. Und am Ende würde sie auf der Bühne stehen, ihr Diplom in den Händen, und alle würden erkennen, dass sie sich in Reeba geirrt hatten und persönlich vorbeikommen, um sich bei ihr zu entschuldigen.

Nun, Reeba war immer noch jung, aber nicht mehr jung genug, um an dieser Vorstellung festzuhalten. Die Welt war einfach zu voll von Idioten.

«Scheiß auf sie», pflegte ihre Mitbewohnerin zu sagen. «Es gibt immer ein paar Wichser, die an dir rummäkeln müssen, kann dir doch egal sein. Du bist viel intelligenter als sie und du hast keinen Schwanz, das sind zwei Gründe, um dich zu hassen. Ihr Problem, wenn sie in ihrem armseligen Leben nichts auf die Reihe kriegen und ihre Eltern sie nicht ausstehen können. Nicht deins.»

Nach außen hin stimmte Reeba dem zu und sagte sich das auch immer wieder vor. Aber mittlerweile wurde sie es müde. Sich immer wieder rechtfertigen, sich immer wieder den Respekt anderer erkämpfen, obwohl sie weit besser war als der Durchschnitt. Sie hatte keine Lust mehr auf diesen Mist.

Umso besser tat es ihr, jetzt diese Chance zu haben. Während sie die Straße entlangging, blätterte sie fahrig in ihren Notizen. Sie hatte sich Leitbild und aktuelle Kampagnen der Firma ausgedruckt und war erleichtert, als sie merkte, dass sie nichts von den wesentlichen Fakten vergessen hatte. Bei manchen Bewerbungsgesprächen musste man unangekündigte Tests schreiben, Fragebogen ausfüllen, und sie wollte so gut wie möglich vorbereitet sein. Stumm bewegten sich ihre Lippen, während sie Jahreszahlen und Fakten hinunterbetete. Vor ein paar Tagen hatte sie ihren Professor nach der Firma gefragt; im Geiste repetierte sie noch einmal die Dinge, die er ihr über deren geplante Werbekampagne für eine hiesige Automarke erzählt hatte. Gut, auch das saß noch mehr oder weniger. Als sie an die Kreuzung kam, wo sie abbiegen musste, blieb sie kurz stehen und atmete tief durch.

Ich bin bereit, dachte sie bei sich. Ich schaffe das.

Oder, wie ihre Mitbewohnerin ihr gestern Abend vor dem Schlafengehen gesagt hatte: «Geh da rein und tritt ihnen in die Ärsche.»

In dem Moment, als Reeba durch die gläserne Drehtür eintrat und das Atrium sah, begann ihr Übles zu schwanen.

Die Männer hier drin trugen ausnahmslos Anzüge und die Frauen Zweiteiler mit schicken Blusen, jede einzelne davon vermutlich teurer als Reebas ganze Garderobe. Reeba besaß nur eine einzige einigermaßen repräsentable Bluse, und die hing 363 Tage im Jahr im Schrank. Zumindest hatte sie das bis zum vergangenen Abend geglaubt, denn als sie den Schrank geöffnet und die Bluse hatte hervorholen wollen, hatte sie festgestellt, dass sie sie offenbar in einem Anflug von Hochmut in die Kleiderspende gegeben hatte, in der Meinung, sie jederzeit ersetzen zu können. Und überhaupt, so erinnerte sie sich, gedacht zu haben, wann brauche ich denn jemals eine Bluse?

Ja, das war wirklich clever gewesen. Also hatte sie in Panik ihren besten Pulli hervorgekramt und um halb zwölf Uhr nachts noch gebügelt, weil er total zerknittert gewesen war. Da es sich bei ihrem schicksten Paar Schuhe außerdem um blumengemusterte Flip Flops handelte, hatte sie ihre Mitbewohnerin aus dem Schlaf gerissen, um sich ein paar ihrer Stiefeletten zu borgen. Keine Chance, ihre Mitbewohnerin war einen Kopf größer und trug Schuhgröße 40, weshalb Reeba mit ihrer 37 ½ darin herumrutschte wie in Booten. Also hatte sie sich um ein Uhr morgens darauf verlegt, ihre Sneakers zu putzen, was wenig geholfen hatte. Aber, so hatte sie sich, blauäugig wie sie war, gedacht, es kam ja schließlich auf ihre Qualitäten an, nicht auf ihre Kleider.

Ein Ellbogen stieß hart in ihren Rücken. «Gehen Sie doch aus dem Weg!», herrschte der Mann, den die Drehtür gerade ausgespuckt hatte, sie an. Reeba ging zur Seite, stolperte dabei kurz über ihre eigenen Füße, konnte aber immerhin verhindern, dass sie hinfiel. Sie atmete tief durch; der Typ, der sie angerempelt hatte, warf ihr im Weitergehen noch einmal einen wütenden Blick zu. Sein Anzug schimmerte satinweich im angenehmen Licht des Foyers, genauso wie sein penibel gestutzter Bart und sein Haar. Reeba fühlte sich von Sekunde zu Sekunde mickriger.

Die ganze Eingangshalle bestand aus hellem, blank poliertem Marmor, zwischendurch schimmernde Metallelemente, die vergoldet worden waren. Oder war es echtes Gold? Vermutlich schon. Die hochhackigen Füße der Frauen klackerten diskret auf dem makellos sauberen Boden und die Aufzugtüren an der gegenüberliegenden Seite der Halle spiegelten das Ganze in bronzener Pracht wider.

«Kann ich Ihnen helfen?», ertönte eine kühle Frauenstimme an ihrem Ohr. Reeba drehte sich um. An einer – ebenfalls marmornen – Rezeption von der Größe von Reebas Wohnzimmer saß eine Blondine in tadellos schicker D&G-Kombi, das blondierte Haar zu einem eleganten Knoten hochgesteckt. Ihr Make-Up sah aus, als hätte ein Hollywood-Stylist es aufgelegt und ihre ebenmäßigen Züge drückten eine Mischung aus professioneller Freundlichkeit und der deutlich erkennbaren Sorge aus, Reeba könnte die Pest in sich tragen.

Erst jetzt bemerkte Reeba, dass sie ihre Tasche umklammert hielt wie ein Kind sein Plüschtier. Hastig ließ sie sie sinken und ging zum Empfang. Mit jedem Schritt, den sie machte, wurde ihr deutlicher bewusst, wie ungeheuer fehl am Platz sie hier war.

«Ähm», begann sie, «ähm, guten Tag, mein Name ist Areeba Seitz. Ich habe um neun Uhr einen Termin bei Herrn …»

Fuck.

Wie war es möglich, dass sie seinen Namen vergessen hatte? Vor fünf Minuten hatte sie ihn noch gewusst, sie hatte auch noch gewusst, welche Funktionen er im Organigramm der Firma bekleidete, wer sein Chef und wer seine direkte Untergebenen waren, sie hatte sogar sämtliche Abteilungen, denen er vorstand, auf ihre genauen Tätigkeiten hin untersucht und sie sich notiert, verdammt nochmal!

Und jetzt stand sie da, ein Fleck in all der Herrlichkeit um sie herum, und hatte ein völliges Blackout.

Die Blondine kam ihr zu Hilfe. «Ach ja, Herr Thyssen hat mir Bescheid gegeben. Er hat mich darum gebeten, Ihnen zu sagen, dass er in einer Besprechung ist und Sie sich bitte noch ein paar Minuten gedulden wollen. Sie können sich gerne dort drüben hinsetzen», sagte sie und zeigte auf eine cremefarbene Sitzgruppe in der Mitte der Halle. «Die Toilette ist auf der anderen Seite», fügte sie leise hinzu und reckte in engelsgleicher Anmut das Kinn in besagte Richtung.

Reebas Gedanken explodierten. Warum sollte sie auf die Toilette wollen? Sah sie aus, als ob ihr schlecht wäre? Merkte man ihr die Nervosität so deutlich an? Dämliche Frage, sie hatte gerade den Namen ihres eventuell zukünftigen Chefs vergessen, natürlich merkte man ihr an, wie nervös sie war! Oder war etwas mit ihren Kleidern nicht in Ordnung? Hatte sie Schweißflecken? Stank sie?

Okay, okay, jetzt beruhige dich!, herrschte sie sich in Gedanken an und zwang sich, betont langsam und gelassen auf die Sitzgruppe zuzugehen. Sie setzte sich hin und merkte, dass ihre Beine in der Luft baumelten; offenbar waren diese Möbel für Leute konzipiert, die größer waren als sie. Das half nicht, sich besser zu fühlen.

Sieben quälende Minuten vergingen, in denen jeder, der an ihr vorbeiging, sie musterte und dabei keinen Zweifel daran ließ, was er über sie dachte. Einige rümpften die Nase und zwei Frauen in ihrem Alter, die Arm in Arm durch die Drehtür kamen, blieben sogar kurz stehen und kicherten betont in ihre Richtung.

Reeba hatte schon in Büchern davon gelesen, dass Figuren sich ihrer selbst plötzlich ungewöhnlich bewusst waren, sich aber nie wirklich etwas darunter vorstellen können. Nun, jetzt konnte sie es: Überdeutlich bemerkte sie ihre ehemals weißen Turnschuhe, an denen trotz aller Bemühungen noch dunkle Flecken hafteten, die Hosen aus Synthetik, die sie in einem Wallmart für zwei Pfund gekauft hatte, den Kaufhauspulli, der bestimmt wirklich Schweißflecken hatte und immer noch mehr davon bekam, weil sie aus Scham nicht wagte, ihre Jacke auszuziehen, obwohl es unter den Spotlampen über ihr brütend heiß war.

Endlich glitten die Aufzugstüren auf und ein Mann um die fünfzig kam heraus, ebenfalls in einem todschicken Anzug (Mohair) und blank polierten Schuhen. Er steuerte auf den Empfangsschalter zu, sprach kurz mit der Blonden dort und wandte sich dann zu Reeba um. Sofort setzte er ein strahlendes Lächeln auf und kam auf sie zu und mit jedem Schritt, den er näherkam, stieg ihre Abneigung. Er hatte zu viel Gel in den Haaren und trug eine dieser fetten Hipsterbrillen, die bei einem Fünfundzwanzigjährigen süß aussehen mochten, bei einem Mann seines Alters und seines Umfangs aber einfach lächerlich wirkten. Sein Bauch quoll über seinen Krokodilledergürtel und die Aftershavewolke, die ihn umwaberte, erreichte Reeba lange, bevor er vor ihr stand.

«Frau Seitz», lächelte er breit und gönnerhaft. Seine Stimme klang viel höher als sie erwartet hätte.

Ihre Nackenhärchen stellten sich auf und nur mit Mühe überwand sie sich dazu, sich aus dem Polster zu erheben und ihm die Hand zu reichen. Er hatte sich viel zu nahe bei der Bank positioniert und als sie aufstand, berührte sein Bauch ihre Hüfte.

«Schön, dass Sie Zeit gefunden haben», strahlte er und nahm ihre Hand. Sie hatte erwartet, dass seine Finger sich feucht und schlaff anfühlen würden, wie kleine tote Fische, und zuckte daher zusammen, als er ihre Hand mit aller Gewalt zusammendrückte. «Thyssen mein Name, wir hatten per E-Mail korrespondiert. Bitte, bitte, kommen Sie nur mit, gleich hier durch.»

Er führte sie quer durchs Foyer und durch eine Tür, weg von Marmor und Glitzer in den sterilen Glanz neumodischer Hochhauskomplexe. Chromstahl und Glas, wo man hinsah, dazwischen wieder Marmor, aber dunkler als der in der Halle. Die Leute sollten sich ja schließlich auf ihre Arbeit konzentrieren.

«Jetzt hier die Treppe rauf, bitte. Oder bevorzugen Sie den Aufzug?», fragte er, als sie einen runden Raum erreichten, von dem mehrere Gänge und Treppen abzweigten. Einige postmoderne, eckige Möbel waren in der Mitte drapiert worden und nur Gott allein wusste vermutlich, wozu der Raum diente.

«Treppe ist prima, danke.»

Mit einer Geste, die er wohl für galant hielt, ließ er sie vorgehen. Reeba schürzte die Lippen.

Als er sie begrüßt hatte, hatte sie gesehen, wie die Augen des Mannes über ihr Septum glitten, über die zwei Piercings in ihrem rechten Nasenflügel, über ihre Segeltuchtasche mit aufgenähtem Peace-Zeichen, die billige Hose und die ausgelatschten Schuhe. Als sie jetzt vor ihm die Treppe hochstieg, spürte sie ganz deutlich, dass er woanders hinsah.

Sie drehte sich um, erwischte ihn mitten im Glotzen und genoss es, ihn erröten zu sehen.

«Also, Ihre Zeugnisse sind ja wirklich beeindruckend», plapperte er los, um den peinlichen Moment zu durchbrechen. Dabei lächelte er warm, offensichtlich im Glauben, die Situation gerettet zu haben.

Das hier ist ein Bewerbungsgespräch, mahnte sie eine kleine Stimme in ihrem Kopf. Sei freundlich! Mach Smalltalk, lächle, tu irgendwas, verdammt nochmal!

«Vielen Dank», sagte sie. «Die Uni ist anstrengender als alles, was ich bisher gemacht habe, aber ich bin auch froh über neue Herausforderungen. Man lernt sich so selbst kennen und besser einschätzen.»

Und wie nett sie das auswendig gelernt hat, höhnte die kleine Stimme. Reeba befahl ihr, die Klappe zu halten.

Thyssen jedoch, offenbar froh, dass sie darauf einging, stimmte ihr zu und erzählte ihr nun wiederum von seiner Studienzeit. Es stellte sich heraus, dass er dieselben Kurse wie Reeba belegt hatte und wollte wissen, ob einige der alten Professoren noch immer an der Universität seien. Auf diese Weise trug sie ihr Gespräch bis zu einer unauffälligen, aber nichtsdestoweniger elegant designten Tür, die er für sie öffnete und die in den bisher am wenigsten protzigen Raum führte. Er war nicht viel größer als die Büros, die die Assistenten an ihrer Uni hatten, und bis auf den üblichen Marmorboden sehr schlicht. Nichts stand darin außer einem Tisch und zwei Stühlen, dazu eine dekorative Topfpflanze in der Ecke. Jemand hatte eine Flasche Mineralwasser und zwei Gläser auf den Tisch gestellt. Während sie sich setzte, las Reeba das Etikett und spürte erneut einen Anflug von Verachtung; sogar bei dem Scheiß-Wasser verlegten die hier sich auf die Luxusmarke.

Thyssen fragte, ob sie ein Glas wolle und weil sie nicht unhöflich sein wollte, sagte sie ja. Die darauffolgende halbe Stunde verlief fast genau so, wie Reeba es sich vorgestellt hatte: Er fragte sie, warum sie für diese Firma arbeiten wollte, was sie für den Job qualifizieren würde, das übliche Zeug. Ihr Eindruck hatte sie nicht getäuscht; sie war gut vorbereitet und konnte auf alle seine Fragen zufriedenstellende Antworten geben. Als sie in einem geeigneten Moment die Bemerkungen ihres Professors zu der künftigen Werbekampagne einfließen ließ, wirkte Thyssen unleugbar beeindruckt.

«Sehr schön, Frau Seitz», sagte er dann, und Reeba verkrampfte sich. Jetzt war der Augenblick gekommen, wo sie einen Test ausfüllen musste.

«Ich hole jetzt Herrn Albrecht. Er ist der Chef der Abteilung, in der Sie arbeiten werden. Nichts Großes, nicht dass Sie sich beunruhigen, er will sich nur noch gerne selbst ein Bild von Ihnen machen, bevor wir das Offizielle regeln, also die Verträge und so weiter. Machen Sie es sich ruhig gemütlich, bin gleich wieder da.»

Und damit entschwand er.

Im ersten Moment begriff Reeba gar nicht, was gerade passiert war. Dann begann sie zu grinsen.

Das war ja einfach, dachte sie. Und dafür hatte sie so ein Theater abgelassen wegen dieser dämlichen Bluse. Gut, wenn sie wirklich hier arbeiten würde, würde sie sich wohl ein paar dieser Teile zulegen müssen. Vielleicht konnte sie ihre Mitbewohnerin überreden, mit ihr einkaufen zu gehen. Aber ansonsten … Offenbar hatte sie Thyssen imponiert, und auch wenn er ein Frauen-auf-den-Arsch-starrender Widerling war, so war er doch sehr nett mit ihr umgegangen, hatte faire Fragen gestellt und war offensichtlich nicht darauf aus, einem das Leben schwer zu machen. Und er hatte gesagt, ihre Zeugnisse seien beeindruckend.

Gerade als sie dabei war, sich vorzustellen, wie es sein musste, auf Stöckelschuhen durch dieses Foyer zu laufen, öffnete sich die Tür und Thyssen kam zurück. In seiner Begleitung war ein Mann, jünger als er, mit der Ausstrahlung eines hungrigen Piranhas. Er war sehr groß, dünn, trug einen noch teureren Anzug als Thyssen und hatte sein blondes Haar gescheitelt als gelte es, den Oberkommandierenden des Militärs zu beeindrucken. Er musterte sie kurz, reckte dann das Kinn und sagte in die Luft hinaus: «Ah ja. Die Bewerberin», ungefähr in dem Ton, in dem andere Leute sagen würden: «Ah ja. Die Büroklammer.»

Unwillkürlich spannten sich Reebas Muskeln an.

«Also», begann er, ohne ihr die Hand zu geben oder sich vorzustellen. «Herr Thyssen hat mir hier eine Auflistung Ihrer Qualifikationen gegeben.» Er besah sie sich mit leicht gerümpfter Nase, wie ein englischer Butler eine nicht gebügelte Zeitung. «Sie wissen, wir sind eine international operierende Firma und legen großen Wert auf unseren Ruf. Wir nehmen nur Bewerber auf, die zur Festigung dieses Rufs beitragen können.»

«Das weiß ich. Und ich bin sicher, das kann ich.»

Er kräuselte kurz die Lippen, als ob er das bezweifelte, sagte aber nichts.

Stattdessen nickte er Thyssen zu, welcher fortfuhr: «Wir sind stolz darauf, dass sich unser Unternehmen durch Fortschrittlichkeit und Innovation auszeichnet. Gemäß einer kürzlich veröffentlichten Statistik verbinden uns 95% der Befragten mit aktuellen und zukünftigen Trends – wir sind jung, wir sind modern. Wir sind die Firma mit der höchsten Frauenquote in Chefetagen. Unsere Mitarbeiter sprechen zwanzig Sprachen und kommen aus allen Regionen der Welt. Erst vor kurzem haben wir auch unsere ersten Paraplegikerarbeitsplätze eingerichtet, unglaublich, wie gut die angekommen sind, ich kann Ihnen die Rückmeldung des Verbands zeigen …»

«Kurz, wir sind bemüht, alle Bereiche abzudecken und sämtliche Zielgruppen anzusprechen. Um unser Kundenfeld unablässig zu erweitern, bemühen wir uns, in unseren Projektgruppen ein Umfeld zu schaffen, das jedem vermittelt, am richtigen Ort zu sein», erklärte Albrecht, wobei seine Stimme ungefähr so viel Wärme ausstrahlte wie flüssiger Stickstoff. «Wir haben erst kürzlich eine Anfrage von einem renommierten New Yorker Bekleidungsunternehmen erhalten. Der Gründer ist ein Selfmade-Man, aus der Bronx, hat die Bude aus dem Boden gestampft, sozusagen, und mittlerweile beschäftigt er fast viertausend Angestellte. Jetzt plant die Firma zu expandieren und möchte uns für ihre erste Werbekampagne in Europa.»

Und plötzlich, noch während sie von Thyssens grinsendem Gesicht in Albrechts eisige Maske blickte, begriff Reeba, warum sie zu diesem Gespräch eingeladen worden war. Es ging nicht um ihre Qualifikationen, nicht um ihre Noten, nicht einmal darum, ob der alte Sack vom Personalbüro sie heiß fand oder nicht. Sie war eine Quote. Sie war die schwarze Frau, die man den Medien präsentieren konnte. Oder noch besser, die man Besuchern präsentieren konnte, wenn neue Verträge abgeschlossen werden sollten. Afroamerikanischen Besuchern, wenn möglich. Sie schaute Thyssen in die Augen, wo noch immer seine Begeisterung über die medienwirksamen Paraplegiker unter seinen Angestellten schimmerte; kein Wunder, hatte er sie so großmütig durch das Gespräch gewinkt. Gleich zwei benachteiligte Gruppen mit einer Stellenbesetzung abgedeckt. Er konnte stolz auf sich sein.

«Nun, ich hätte vorgeschlagen, Sie kommen einfach gleich mit und schauen sich Ihren Arbeitsplatz an», fuhr Albrecht fort, noch immer, ohne ihr direkt in die Augen zu sehen. «Sie werden dem Team zugeteilt, das sich in den nächsten Tagen und Wochen ausschließlich um diesen Kunden kümmert. Wir reden hier von einer Kampagne im ganz großen Stil, Fernsehwerbung, Plakate, etc., etc. Im Moment geht es um erste Entwürfe für die TV-Spots. Frau Marten wird Sie in alles einweisen. Sie ist sehr um ein jugendliches Design bemüht, alles sehr hipp, alles mit Wiedererkennungswert. Soweit ich weiß, geht es um … Basketballer?» Er wandte sein Gesicht fragend in Thyssens Richtung, streifte ihn mit seinem Blick.

«Stimmt», hechelte Thyssen mit hündischer Ergebenheit. «Eine Gruppe junger Leute, alle ethnischen Gruppen, Frauen, Männer, auf einem Basketballfeld. Sie alle tragen seine neue Sportkollektion. Derzeit casten wir noch ein paar Schauspieler, vor allem suchen wir noch nach einem asiatischen Mädchen und einem afroamerikanischen Basketballer-Typ …»

«Kennen Sie eventuell jemanden?», unterbrach Albrecht und schaute ungefähr in Reebas Richtung.

Vermutlich war die Frage nicht so gemeint.

Aber sie kam genau so bei Reeba an. Und urplötzlich, ohne dass sie es wollte, verschwamm die Welt vor ihren Augen und machte einer anderen Platz: Der Welt in Albrechts Kopf. Und ohne zu wissen, woher, war ihr klar, wie es darin aussah: Ganze Rudel von Schwarzen, allesamt Basketballer, 100-Meter-Sprinter oder Soulsängerinnen, Leute, die man, wenn man sie nach dem Weg fragen musste, grundsätzlich erst einmal auf Englisch ansprach, ohne Präpositionen und Personalformen zu verwenden. Leute, die froh sein mussten, dass sie mit Persönlichkeiten wie ihm, Albrecht, im selben Bus fahren durften.

Unter dem Tisch bohrten sich ihre Nägel in ihre Oberschenkel.

Albrecht redete weiter, als hätte er nicht bemerkt, dass sie gar nicht reagiert hatte: «… dabei präsentieren wir die neuen Sommerfarben des Designers und bringen sie kontrastierend zu dunklem Hintergrund. Frau Marten kann das alles viel besser erklären als ich, sie ist tiefer in dieser … Materie. Also, wir sehen da ein Mädchen in pinkem Shirt, einen Jungen in orangener Hose …»

«Oranger.»

Sie hätte die Klappe halten sollen, sie wusste es, sie sah es an der Art, wie seine Miene einfror, aber sie hatte sich nicht zurückhalten können. Thyssens gönnerhaftes Grinsen, die köterhafte Ergebenheit, mit der er sämtlichen Äußerungen dieses arroganten Arschlochs einfach grinsend zustimmte, zusammen mit dem Wissen, warum sie hierherbeordert worden war, das alles war einfach nur zum Kotzen.

«Bitte, was?», fauchte Alberts, mitten in seinem Sermon unterbrochen. Erstaunlich, dass er ein Wort wie ‘Bitte’ über die Lippen brachte. Thyssen starrte sie an und sie wusste, sie musste versuchen, sich aus der Situation herauszuholen. Sie setzte ihr freundlichstes Lächeln auf.

«Es heißt in ‘oranger’ Hose‘», führte sie aus und lachte dabei, als handele es sich um nichts als einen Scherz unter Freunden. «man kann ‘-farben’ anhängen, um das zu meiden, aber man flektiert das Farbadjektiv nicht.»

Sie rechnete es Thyssen an, dass er mit ihr mitlachte und ihr aus der Klemme zu helfen versuchte.

Albrecht jedoch lachte nicht. Zum ersten Mal schaute er sie sehr offen und direkt an. «Ach wissen Sie, Sie müssen nicht alles glauben, was in einem ‘Deutsch als Zweitsprache’-Buch steht», sagte er.

Thyssen schaute betreten zu Boden, seine Finger spielten mit dem Wasserglas.

Okay, fick dich einfach, dachte Reeba.

«Deutsch ist meine Muttersprache», erklärte sie und hörte sehr wohl, wie sehr ihre Stimme zitterte. «Solche Sachen haben wir damals im ersten Jahr am Gymnasium gelernt. Ich weiß nicht, warum das bei Ihnen offenbar vergessen ging.»

Die Stille dehnte sich aus, schwoll schrecklich an … Dann lächelte Albrecht verhalten und sagte: «Vielleicht möchten Sie sich kurz noch einmal in unserem Leitbild das Unterkapitel ‘Teamfähigkeit’ anschauen, bevor Sie gehen.»

Es kostete Reeba alle Selbstbeherrschung, mit den beiden Männern zurück zur Treppe zu gehen und sich dort höflich von ihnen zu verabschieden. Diesmal wählte sie den Lift – sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Thyssen oder gar Albrecht ihr auf den Hintern glotzte.

Als die beiden weg waren, betrat sie die Kabine und hämmerte so lange auf den Aufzugsknopf, bis die Tür endlich zuging. Ihre Augen brannten und sie hasste dieses Gefühl. Das Gefühl, versagt zu haben, obwohl ihr gesunder Menschenverstand ihr sagte, dass es nicht stimmte. Sie hatte nichts falsch gemacht. Warum zum Teufel fühlte es sich dann genau so an? Ihre Wangen brannten vor Scham wie damals, als sie bei der mündlichen Matheprüfung eine elementare Frage ihres Lehrers falsch beantwortet hatte. Alle hatten zugesehen und gelacht, weil sie sich darüber gefreut hatten, dass auch Reeba falsche Antworten geben konnte. Sie hatte daraufhin nächtelang nicht einschlafen können, hatte die drei darauffolgenden Wochen wie eine Verrückte gelernt und in der nächsten Prüfung die Bestnote geschrieben.

Genauso fühlte es sich an.

Ich hätte mich nicht provozieren lassen dürfen, sagte sie sich. Einfach ruhig bleiben und dem Arschloch ins Gesicht lächeln.

Und daraufhin monate- vielleicht jahrelang für ihn und seine Arschlochkumpels in der Chefetage schuften, damit sie noch höhere Boni kassieren und sich noch eine Line Kokain mehr in die Nase ziehen können.

Sie fühlte etwas Feuchtes in ihren Augenwinkeln und wischte es energisch weg. Sie war gleich unten in der Lobby und eher hätte sie sich von Thyssen an den Hintern fassen lassen als vor einer dieser Hyänen da unten zu heulen. Sie würde keinen von ihnen sehen lassen, wie sehr sie gerade gedemütigt worden war.

Gedemütigt und beleidigt.

Die Aufzugtüren gingen auf und Reeba marschierte mit kerzengeradem Rücken aus dem Aufzug. Sie hielt den Kopf trotzig erhoben, auch wenn sie das Gefühl hatte, dass jedes Augenpaar in der Lobby ihr folgte, ihre Kleidung musterte und darüber tuschelte, was gerade vorgefallen war, auch wenn keiner von ihnen das wissen konnte.

Nicht gut genug, flüsterte die Stimme in ihrem Kopf, während in ihren Augenwinkeln die Umrisse der ganzen Gucci- und Louis Vuitton-Kleiderständer an ihr vorbeischwammen. In der Drehtür sah sie kurz ihre eigene Gestalt gespiegelt, bevor die Mechanik sich in Bewegung setzte. Nicht gut genug.

2. Kapitel

Meine Lieblingserfindung der letzten zwei Jahrhunderte ist die Psychologie. Jene weinerlichen, zum Versagen geborenen Individuen, die sich hinsetzen und anderen weinerlichen, zum Versagen geborenen Individuen versichern, sie seien wertvolle Menschen und alles, was sie dächten und täten, sei etwas Besonderes. Diese gehen dann hin und zahlen glücklich unerhörte Summen dafür, dass eine Person ihnen den Kopf tätschelt, von der sie spüren, dass sie noch erbärmlicher ist als sie selbst.

Vertraut mir, wenn ich euch sage: Ihr seid nicht wertvoll. Ihr seid nicht im Geringsten besonders. Niemand mag euch oder wird sich je an euch erinnern, wenn ihr in einem Altersheim an eurer eigenen Spucke erstickt seid.

Ihr seid wertlos.

Keine Sorge – ihr gewöhnt euch schon dran.

Irgendwo in Finnland, 1349

Die Männer waren hart und lange marschiert und näherten sich endlich ihrem Ziel. Der Wald war in den vergangenen Stunden immer dichter geworden, und jetzt, da die Sonne untergegangen war, sah man kaum mehr die Hand vor Augen. Doch das war für die Gruppe kein Problem; auf ein gemurmeltes Kommando hin hob der Vorderste von ihnen seine Faust, und eine Sekunde später war sie von grellgelben Flammen umgeben.

«Wie weit noch?», fragte einer von ihnen, ein stämmiger, knollennasiger Mann, dessen Gesicht unter seinem dichten Bart kaum mehr zu sehen war.

«Nicht mehr weit», erwiderte der mit den Flammen. Wie bei den anderen, so waren auch bei ihm Haare und Bart mit Frost bedeckt, sodass sie alle aussahen wie wandelnde Schneemänner.

Er streckte die Nase in die Luft. «Riechst du es nicht?», fragte er. «Hier herrscht Magie.»

Der mit der Knollennase reckte sich ebenfalls und schnüffelte einen Augenblick in der Luft herum, bis er die Blicke der anderen bemerkte. Dann stapfte er weiter und verfluchte sie für ihr unterdrücktes Gelächter. Schnee knirschte unter seinen Stiefeln.

«Das hier ist kein verfluchtes Spiel!», knurrte er, als er zu seinem Anführer aufgeschlossen hatte. «Wenn der, den wir suchen, wirklich so mächtig ist, wie es heißt …»

Der mit den Flammen in der Hand winkte ab. «Sie sind nie so mächtig, wie es heißt. Erinnerst du dich noch an Kakos den Griechen? Der angeblich mit bloßen Händen ganze Häuser einreißen konnte?»

Der Knollennasige lachte schnaubend auf; ja, er erinnerte sich.

«Oder die Schlangenfrau von Moldau?» Diebisches Vergnügen glitzerte bei diesen Worten in den Augen des Anführers.

Der Mann mit der Knollennase nickte; sein Anführer hatte Recht. Wie oft waren sie schon angeheuert worden, um Monster oder angeblich Unsterbliche zu vernichten, die sich als ganz normale Magier herausgestellt hatten, die einfach gut darin waren, sich einen Ruf zu machen? Kurz hing der Knollennasige – Olaf nannten ihn seine Begleiter – seinen Erinnerungen nach, wie er die angebliche Schlangenfrau vergewaltigt hatte, wieder und wieder, und nur aufgehört hatte, um einem seiner Gefährten Platz zu machen. Danach hatten sie sie angezündet und zugesehen, wie sie bei lebendigem Leib verbrannte. Den Leuten, die sie dafür bezahlt hatten, hatten sie ihren verkohlten Schädel gebracht als Beweis für ihren Erfolg.

«Trotzdem», meinte er, als diese angenehme Erinnerung verblasste, «das hier ist was anderes; er will ihn lebend haben.»

Sein Anführer knurrte. Das war tatsächlich ungewöhnlich und würde die Sache nicht einfach machen.

«Wir werden tun, was wir immer tun», erwiderte er schließlich; unter dem Frost war zu sehen, dass sein Haar fast denselben Gelbton hatte wie die Flammen, die aus seiner Hand loderten. «Wenn er klug ist, kommt er mit, ohne Ärger zu machen. Wenn nicht … nun ja, es heißt nur, dass er lebend ankommen muss. Von unversehrt hat er nichts gesagt.»

Olaf nickte und stieß heftig Rotz aus seiner Nase. Er würde nichts mehr sagen, aber er hatte ein ungutes Gefühl. Das war ebenfalls ungewöhnlich; seit über zwanzig Jahren war er nun Söldner in Diensten von Leuten, die viel Geld bezahlten, um magische Unannehmlichkeiten aus der Welt geschafft zu bekommen, und nie hatte er Zweifel gehabt. Vielleicht wurde er allmählich alt.

«Achtung jetzt», wisperte ihr Anführer plötzlich und blieb stehen. Die Flammen in seiner Hand gingen aus.

Die anderen sechs Männer sammelten sich um ihn. Sie waren die Sieben, die fähigsten und stärksten Magier diesseits des Ozeans – und, wenn man ihren eigenen Aussagen glauben wollte, auch jenseits. Sie alle hatten Erfahrung und wussten, was sie zu tun hatten.

Der Anführer drehte sich zu einem Mann um, der aussah, als könnte er der Jüngste der Gruppe sein; etwas über zwanzig mit einem armseligen kleinen Flaum um sein vorstehendes Kinn.

«Wie weit noch?»

Der junge Mann schloss kurz die Augen und die Luft um ihn herum schien hellblau zu erglühen. «Zwei Meilen in östlicher Richtung. Hinter dem Hügel da.»

Er zeigte auf eine Mauer aus Schwärze, die sich vor ihnen in dem dichten Wald erhob.

«Ist er allein?»

Der Junge öffnete die Augen wieder. «Ich fühle keine weitere Magie. Nur eine Person.»

Erleichtertes Gemurmel; sie konnten keine unnötigen Verzögerungen gebrauchen.

«Also, ihr kennt den Plan: Unser Vorteil liegt in der Überraschung!»

Einer der Männer schnaubte leise. «Wir sind sieben zu eins, glaubst du wirklich, dass das nötig ist?»

Ein Blick seines Anführers brachte hin zum Schweigen. «Wenn irgendeiner von euch im falschen Moment furzt und der Kerl abhaut, häute ich den Schuldigen bei lebendigem Leib und lasse euch zusehen, wie seine Gedärme gefrieren. Kapiert?»

Daraufhin erhob keiner mehr einen Einwand.

Lautlos machten sie sich auf. Irgendwann lichteten sich die Bäume über ihnen ein wenig, und man sah undeutlich die Umrisse einer Hütte. Eine Kerze flackerte schwach hinter einem der Fenster.

Ein warmes Licht des Willkommens, dachte Olaf hämisch.

Er konnte die anderen nicht mehr sehen, sie hatten sich in einem weiten Kreis verteilt und näherten sich jetzt unsichtbar von allen Seiten ihrem Ziel. Sein Herz hämmerte wild vor Aufregung, und um seine Finger herum flackerten orange Lichtfunken, die aussahen wie sterbende Feuer.

Der, den sie suchten, war da drin. Wie viel würde er ihnen einbringen, wenn sie ihn sich gegriffen und abgeliefert hatten!

Trotz des wadenhohen Schnees ging er in die Knie und kroch dann auf allen Vieren vorwärts. Ein Zweig knackte unter seinen Fingern, und er hielt inne. Warf einen Blick durchs Dickicht. Der Lichtschein war immer noch da, der Hüttenbewohner hatte ihn nicht bemerkt. Olaf kroch noch näher, war nur etwa zehn Schritte von der Hütte entfernt und jetzt meinte er, einen Schatten hinter dem Fenster zu sehen.

Das Blut rauschte in seinen Ohren, aber nicht laut genug, um den leisen Pfiff zu überhören. Das Signal.

Absolut gleichzeitig, wie sie es immer taten, gingen die Sieben zum Angriff über.

Was sie vorfanden, überstieg jeden Albtraum, den sie sich je hätten vorstellen können. Die meisten von ihnen lernten in dieser Nacht, was es hieß, schreiend zu sterben.

Gegenwart

«Belang ihn wegen Rassismus», schlug Leonie, Reebas Mitbewohnerin, vor. «Sag die Wahrheit, er hat dich als Ausländerin beschimpft und klargemacht, dass er dich nur wegen deiner Hautfarbe einstellt. Als Quotenschwarze, wie in dem Film ‘Der Dunkle Turm’. Wobei sie dort die schwarze Frau im Rollstuhl weggelassen haben, also ist das vielleicht kein gutes Beispiel. Oder umso besser?»

«Hätte keinen Sinn», unterbrach Reeba den Redeschwall ihrer Freundin. «Außer mir und ihm war nur noch Thyssen da und der wird seinen Kopf nicht aus Albrechts Hintern ziehen.»

Sie stand am Herd und häckselte wahllos irgendwelche Kräuter in die Sauce, während ihre Mitbewohnerin an ihrem klapprigen Plastikküchentisch saß und ihr zuschaute. Leonie Berlinger war so alt wie Reeba, studierte Physik an der Uni und neigte dazu, so schnell zu sprechen, dass außer Reeba niemand mehr in der Lage war, ihren Gedanken zu folgen. Sie hatte kinnlanges, glattes, braunes Haar, das zu einem erstaunlich modisch aussehenden Carré geschnitten war, blaue Augen hinter einer schwarz umrandeten Brille und eine Haut, die so rein war, dass sie schon fast perlweiß schimmerte. Ein schmaler Silberring glitzerte in ihrer kleinen, champignonförmigen Nase.

Draußen regnete es heftig, und während Leonie ihre Füße bequem auf Reebas Stuhl platzierte, manifestierten sich in Reebas Vorstellung Blitze, die zu Dutzenden in dem protzigen Bürogebäude einschlugen. Kurz sah sie Albrecht vor sich, wie er brennend und kreischend durch das Gebäude rannte und seine flammende Gestalt sich im blanken Marmor spiegelte, und ein grimmiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. Dann verschwand es und ihr war noch elender zumute; nicht genug, dass sie Mist gebaut hatte – jetzt fühlte sie sich auch noch als schlechter Mensch.

«Ach, was soll‘s», versuchte Leonie sie tapfer aufzumuntern und griff nach ihren Vorlesungsnotizen. «Dann eben eine andere Stelle. So hast du wenigstens mehr Zeit, um für die Semesterprüfungen zu lernen.»

«Ja», murmelte Reeba, «yippie.»

Die Sauce begann zu kokeln, und fluchend zog sie den Topf von der Platte. Dabei spritzte die eine Hälfte quer über den Herd, die andere Hälfte landete auf ihrem T-Shirt und brannte – so fühlte es sich zumindest an – ein Loch in den Stoff und ihre Haut. Reeba begann so fantasievoll zu fluchen wie seit dem Kindergarten nicht mehr, und Leonie erbarmte sich. Sie stand auf, kam zu ihr herüber und nahm ihr den Putzlappen aus der Hand.

«Geh erst mal duschen, ich mache hier alles fertig», schlug sie ihr vor. Es sprach für ihr Feingefühl, dass sie wartete, bis Reeba den Raum verlassen hatte. Erst dann warf sie einen angeekelten Blick auf die klebrige Masse im Topf, schüttelte den Kopf und leerte entschlossen das ganze Desaster in den Ausguss.

Als Reeba zwanzig Minuten später aus dem dampfgeschwängerten Badezimmer kam, fühlte sie sich besser. Nicht viel, aber etwas.

Sie ging in ihr Zimmer, ignorierte das Durcheinander, das entstanden war, als sie in panischer Suche ihren ganzen Kleiderschrank im Raum verteilt hatte, und zog sich an. Als sie sich bückte, um in ihre Trainingshose zu schlüpfen, schlug etwas hart gegen ihre Stirn.

«Au!»

Sich die Stirn reibend richtete sie sich auf und tastete nach dem Ding; ja, richtig, an diesem Morgen hatte sie sich eine Halskette umgelegt, etwas, das sie sonst nie machte. Das Ding hatte sie schon beim Duschen gestört, aber sie hatte es nicht über sich gebracht, die wohlige Wärme des Wasserstrahls noch einmal zu verlassen, um es abzulegen.

Es war nichts Prunkvolles, eine einfache Lederschnur, an der ein Halbedelstein befestigt worden war. Ein schwarzer Turmalin, soweit sie sich an die Worte ihrer Mutter erinnerte, als sie ihr das Ding vor fünfzehn Jahren geschenkt hatte. Sie hatte wohl erwartet, dass Reeba ihn trug, denn bei der einen Gelegenheit, als sie sich mal getroffen hatten, und es nicht so gewesen war, hatte sie enttäuscht gewirkt. Der Anhänger sollte ihr Glück bringen, hatte ihre Mutter gesagt. Deshalb hatte Reeba ihn heute angezogen.

«Ja, am Arsch», sagte sie laut ins Zimmer und zog die Kette aus.

Ihre Mutter war ein Thema, das Reeba in Konversationen mied, wenn es sich einrichten ließ. Vor fünfundzwanzig Jahren war ihr Vater in ein nordafrikanisches Land gereist, um für eine Aluminiumfirma zu arbeiten. Eine höhere Position, Lust auf die Welt, was auch immer er für Gründe gehabt hatte, Reeba hörte bei dieser Geschichte meist nicht genau hin. Dort hatte er Reebas Mutter kennengelernt. Als sie schwanger geworden war, hatten sie geheiratet und waren mit Rücksicht auf die Zukunft ihres Kindes nach Europa zurückgekehrt. Die anfängliche Skepsis seitens der Verwandtschaft der neuen Frau – und vor allem einem so offensichtlich fremdländisch aussehenden Enkel – gegenüber war lange Zeit nicht verschwunden, und dieselbe Zurückhaltung begegnete ihnen bei vielen anderer Leute, die sie kennenlernten.

Reeba kam damit klar.

Ihre Mutter nicht.

Irgendwann war sie so von Heimweh zerfressen gewesen, dass sie beschlossen hatte, zurückzugehen. Reebas Vater hatte sie nicht begleiten wollen. Als ihrer Mutter klargeworden war, dass auch Reeba nicht mitgehen würde, hatte sie kurzerhand ihre Sachen gepackt und war in einer Nacht- und Nebelaktion verschwunden. Reeba hatte fast ein Jahr nichts mehr von ihr gehört, bis ihr Vater einen Brief erhalten hatte, dass sie die Scheidung wollte.

Gut neun Jahre war das jetzt her und Reeba musste sich eingestehen, dass sie ihr noch immer nicht ganz verziehen hatte.

Hin und wieder – nun, eigentlich sehr selten – skypten sie, tauschten Höflichkeiten aus und machten Smalltalk. Einmal hatten sie sich getroffen, an einem Flughafen, als Reeba mit der Schule einen Auslandaufenthalt gemacht hatte. Mehr hatten sie nicht zustande gebracht.

Manchmal bedauerte Reeba das. Meistens nicht.

Ihr Vater hatte Reeba einmal erklärt, dass ihre Mutter sehr traurig sei über ihre Trennung, aber irgendwie hatte Reeba ihm das nicht ganz abnehmen können. Der mütterliche Teil ihrer Familie, so kam es ihr oft vor, hatte sonderbare Vorstellungen von Familie und Verpflichtung.

Als sie sicher und warm in ihren Trainingsanzug eingehüllt war, kämmte sie sich die nassen Haare nach hinten und bezähmte sie mühsam mit einem Gummiband. Dasselbe Haarband, das sie heute Morgen nicht dabeigehabt hatte.

Die Erinnerung an die Demütigung kam mit neuer Wucht in ihr hoch und seufzend lehnte sie die Stirn gegen den Spiegel.

Warum hatte sie nicht einfach die Klappe halten können? Ganz einfach, weil sie diese urplötzliche Ahnung gehabt hatte, was ihr Gegenüber wirklich von ihr hielt, und damit nicht hatte umgehen können. Wieder einmal.

Schon immer hatte sie ein intuitives Gespür dafür gehabt, was Leute gerade dachten oder empfanden, blitzartige, unerklärliche Eindrücke, die sie überrollten und von denen sie nicht wusste, woher sie kamen.

Diese Fähigkeit war wohl mit ein Grund dafür, dass die in der Berufsberatung ihr gesagt hatten, sie sollte in die Krankenpflege gehen. Soweit sich Reeba erinnerte, hatte sie im selben Moment, als die Berufsberaterin das gesagt hatte, einen Einblick in deren Kopf gehabt: Sie hatte plötzlich einfach gewusst, dass die Beraterin zu der Art gehörte, die dachte, Frauen seien nur in Lehr- oder Pflegeberufen einzusetzen und sollten ansonsten lieber zu Hause bleiben und sich um ihre acht Kinder kümmern. Dementsprechend hatte ihre Antwort auf diesen Vorschlag gelautet.

Ihr Vater hatte ziemlich bald darauf einen recht unfreundlichen Anruf von der Berufsberatung bekommen, dass seine Tochter ihr Temperament zügeln müsse, sonst würde sie es in der Arbeitswelt niemals zu etwas bringen. Tja, bisher hatte die alte Kuh ja Recht gehabt.

Aber zumindest in anderen Situationen war diese Begabung sehr hilfreich gewesen; so hatte sie vom ersten Moment an gewusst, dass Leonie jemand war, der es ehrlich mit ihr meinte, oder dass der letzte Mensch, mit dem sie eine Beziehung hatte eingehen wollen, doch nichts für sie war. Noch wichtiger, vor zwei Jahren hatte sie ihren Großvater (väterlicherseits) dazu bringen können, zum Arzt zu gehen, weil sie gespürt hatte, dass es ihm nicht gut ging. Sie erinnerte sich an seinen Gesichtsausdruck, als er ihr erzählte, der Doktor habe eine Thrombose in seinem Arm gefunden, die ihn Tage, vielleicht nur Stunden später das Leben gekostet hätte.

Es ist in Ordnung, sagte sie sich, es ist okay. Vielleicht muss ich etwas anderes tun. Vielleicht muss es so sein, dass ich die Stelle nicht gekriegt habe. Es wartet etwas anderes auf mich.

«Ja, genau, und heute Nacht kommt Tinkerbell zu mir und nimmt mich mit nach Nimmerland», schmetterte sie ihre naiven Gedanken sofort ab und richtete sich auf. Energisch schüttelte sie den Kopf und folgte den verführerischen Düften, die mittlerweile in ihr Zimmer drangen, in die Küche.

«Sooo, du Drückebergerin!», strahlte Leonie und schöpfte ihr den Teller so voll, dass es aussah, als wollte sie drei Obdachlose damit durchfüttern. «Aber deine Mutter lässt du das nicht hören, bitte schön!»

Reeba führte die Gabel zum Mund und fragte sich, was die mysteriöse Äußerung ihrer Freundin bedeuten mochte. Dann warf sie einen Blick auf den Küchenkalender.

Ramadan. Scheiße.

Sie dachte einen Moment lang darüber nach, dann zuckte sie die Achseln und schob sich das Essen in den Mund.

Leonie grinste.

«Dafür ess’ ich an Weihnachten bei deinen Eltern weniger», versprach Reeba.

Manchen Leuten, die sie kannte, war ihre Flexibilität in Sachen Religion ein Dorn im Auge. Sie hingegen sah darin kein Problem. Schlussendlich – und sie hätte nie gewagt, das einem Mitglied ihrer Familie mütterlicherseits ins Gesicht zu sagen – predigten doch alle Religionen mehr oder weniger dasselbe, und überhaupt, solange Verrückte auf dieser Welt herumliefen, die sich selbst oder einander gegenseitig in die Luft jagten, Kinder umbrachten und in den Krieg schickten, würde kein göttliches Wesen, das einigermaßen vernünftig war, sich über Reebas kleine Sünden aufregen. Und wenn es das doch tat, war es keines, an das Reeba ihre Verehrung hätte verschwenden wollen.

«Freut mich, dass du trotz allem deinen Appetit nicht verloren hast», kommentierte Leonie, als Reeba schließlich mit unangenehm vollem Bauch den leeren Teller wegschob. «Und zur Feier des Tages gehen wir uns morgen Abend richtig betrinken. Aber nur, solange es noch hell ist.»

Reeba grinste. «Klingt gut. Nur wir beide?»

«Ich dachte, ein paar Leute aus der Assistenz, Mikaela und Roger, Lisa, eventuell kommt Kai auch mit …»

Reeba lächelte nur. Sie hatte nicht die geringste Lust, die schlimmste Peinlichkeit ihres Lebens vor einem Haufen Leute auszutreten, die sie kaum kannte und auch nicht besonders mochte, aber sie würde nichts sagen. Leonie hatte tausende von Freunden und es war nett gemeint, dass sie Reeba immer wieder mitnahm und mit einigen von ihnen bekanntmachte, um Reebas ‘erbärmlich winziges soziales Umfeld zu erweitern’. Reeba selbst war nicht so gut darin, sich Freunde zu machen. Psychologen hätten vermutlich gesagt, dass der Fortgang ihrer Mutter in ihr Bindungs- und Verlustängste geweckt hatte, sie selbst hätte gesagt, dass sie einfach gerne für sich war.

Leonie, obwohl sie nicht über Reebas ausgeprägten Instinkt verfügte, schien ihre Gedanken zu ahnen. Sie hörte auf zu sprechen und schaute sie abwartend an.

«Wir müssen auch nicht weggehen», fuhr sie vorsichtig fort. «Wir könnten mal wieder einen Filmabend veranstalten, oder eine Seriennacht, es gibt da eine ganz neue auf Netflix …»

Reeba hörte aus Leonies Stimme, wie gerne sie ausgehen wollte.

Sie holte tief Luft. «Nein, Quatsch», sagte sie und lächelte dabei, wie sie fand, ziemlich überzeugend. «Lass uns ausgehen. Wann soll ich wo sein?»

Wahrscheinlich tat es ihr gut, mal rauszugehen, dachte sie sich, als sie im Bett lag. Vielleicht würde es ja sogar ganz lustig werden.

Es war noch dunkel, aber das war nur gut. Dunkelheit bedeutete Schutz.

Tahar ben Yassine hielt einen Moment inne und schaute sich um. Er stand in einer winzigen Gasse zwischen zwei Häusern, die auf einer Seite von einer Mauer, auf der anderen von einem falsch geparkten LKW blockiert wurde. Er schwitzte, obwohl es zu dieser Jahreszeit nach Sonnenuntergang immer noch empfindlich kalt wurde. Tahar war fürchterlich erschöpft, aber er konnte sich nicht ausruhen, hatte nur wenige Minuten, vielleicht nur Sekunden, bis man ihn fand. Unter Aufbietung aller Sicherheitsvorkehrungen, die man ihm hatte geben können, war er vor einigen Tagen aufgebrochen, und doch hatte man ihn aufgespürt, kaum dass er und seine Begleiter diesen Kontinent betreten hatten. Das hatte ihn nicht gewundert; die Magie, wenn auch jünger als die in seiner Heimat, war in diesen Teilen der Welt viel agiler, wandelbarer und sensibler für alles, was neu und möglicherweise gefährlich für sie war. Und sie befand sich viel zu oft in den falschen Händen.

Seine Freunde und er hatten sich trennen und alleine versuchen müssen, diesen Ort zu erreichen. Wo die anderen waren, ob sie alle noch lebten, er wusste es nicht. Nur eines war ihm klar, dass er als Einziger in die Stadt gelangt war. Wäre das nicht so gewesen, hätte er die anderen gespürt, da war er sicher. Er betete zu Allah, dass sie alle in Sicherheit waren.

Woran lag es, fragte er sich, während er die Hände auf die Knie stützte und sich ein paar tiefe Atemzüge erlaubte, dass so viele seiner Art begannen, der Finsternis zu huldigen? War es die Erziehung, die so viele magisch Begabte glauben ließ, sie wären besser als die anderen? Oder war es die Magie selbst, die sie mit der Zeit korrumpierte?

Wie es auch sein mochte, er hoffte, sie, die er finden musste, wäre frei von diesem verdorbenen Kern und bereit, ihm zu helfen. Sofern sie ihm überhaupt glauben würde. Aber das musste sie, und er würde sie überzeugen.

Sein Herz verkrampfte sich, als er an seine Schwester dachte und die Lügen, die er ihr erzählt hatte. Er hatte ihr nicht gesagt, wohin er wollte, als er aufgebrochen war, und warum. Hätte sie es gewusst, hätte sie vermutlich darauf bestanden, ihn zu begleiten. Aber was hätte sie ausrichten können? Nichts, nur sinnlos sterben. Das hätte er nicht ertragen, nicht, wenn er schon so viele andere mit in den Tod genommen hatte.

Ein Schwirren hinter ihm ließ ihn aufhorchen; seine Verfolger waren wieder da. Er presste sich gegen die Wand und atmete ganz flach. Waren sie schon über ihm? Ein Blick hoch zum Dachfirst überzeugte ihn vom Gegenteil. Gut. Aber sie waren nahe.

Er schloss die Augen und sammelte sich. Vor Tahars innerem Auge manifestierte sich die Wand, die ihm gegenüberlag, genau so, wie er sie vorhin gesehen hatte. Und dann entstand, ebenfalls nur in seiner Vorstellung, eine Tür in der Wand, ein Durchgang, hoch und rund, wie ein schimmerndes griechisches Omega.

Ohne die Augen zu öffnen, rannte er los und durch die Mauer hindurch, als wäre sie gar nicht da. Von ihm blieb nichts zurück als ein kaum sichtbarer, hellgrauer Dunst in der Luft.

Kaum war Tahar in der Hauswand verschwunden, erschien auf dem gegenüberliegenden Dach eine Gestalt. Auch dabei handelte es sich um einen Mann, klein und korpulent, mit asiatisch angehauchten Gesichtszügen. Suchend und ohne ein Anzeichen von Höhenangst blickte er auf die tief unter ihm liegenden Gebäude, eine weite, öde Ansammlung von leerstehenden Fabrikhallen. Er reckte das Kinn und weitete die Nüstern, als hoffte er, den, den er jagte, zu erschnüffeln. Seine Augen, zu winzigen Schlitzen verengt, weiteten sich plötzlich, und ohne Anlauf zu holen sprang er los, zwei Meter hoch und vier Meter weit. Scheppernd landete er auf dem Dach des Gebäudes, durch dessen Mauer Tahar gerade verschwunden war; ein eisengraues Licht blitzte in seinen Augen auf. Mit einer Schnelligkeit und Geschicklichkeit, die man ihm bei seiner Figur nicht zugetraut hätte, spurtete er auf dem schräggeneigten Dach entlang und spähte dabei immer wieder nach unten, als könnte er durch die Ziegel in das Haus sehen. Als er das Ende des Daches erreichte, sprang er erneut, sieben Meter weit diesmal, und landete auf dem Flachdach einer niedrigen, weitläufigen Lagerhalle. Dann blieb er stehen.

«Wo ist er?», ertönte eine heisere Stimme von unten.

Der Mann blickte über den Rand des Daches und sah unter sich am Eingang der Halle zwei Personen stehen.

«Vorhin war er noch da», erwiderte er. «Vielleicht ist er noch in dem Gebäude da drüben.»

«Negativ», meldete sich eine dritte Stimme, die einer Frau. «Wir haben nachgesehen. Matteo spürt ihn nicht mehr.»

Der Asiate murmelte irgendetwas Finsteres. Dann, mit derselben Sorglosigkeit, mit der andere Leute eine einzelne Treppenstufe nehmen, sprang er vom Dach und landete geschmeidig an der Seite seiner Gefährten.

Der Mann und die Frau, die auf ihn gewartet hatten, waren beide älter als er, sie Mitte dreißig, er, der offenbar Matteo hieß, vielleicht Anfang vierzig.

«Habt ihr eine Meldung gemacht?», fragte der Asiate, wobei er alles andere als glücklich wirkte.

Matteo, dessen dunkles Haar und Bart getrimmt und gepflegt waren wie bei einem Banker, grub unwillig in seiner Brusttasche und zog ein schimmerndes Handy der neuesten Generation hervor, so dünn, dass es als Buchzeichen hätte durchgehen können. Als er es antippte, flackerte und zippte der Bildschirm, als hätte der Apparat eine schwere elektronische Störung. Die Frau streckte die Hand aus und berührte es, und von einer Sekunde auf die andere stoppte das Flackern. Ein hübsches, ausdrucksloses Landschaftsbild erschien als Hintergrund, der Akku war voll und das Gerät zeigte vollen Empfang.

«Grazie», murmelte Matteo, klang aber gar nicht danach. Fahrig drückte er die Schnellwahltaste und wartete, das Telefon ausgestreckt und auf Lautsprecher.

Es klingelte zweimal, dann hob jemand ab.

«Ja?»

«Sì, pronto, è Matteo», begann der Italiener, der sich sichtlich unwohl fühlte. «Stiamo inseguendo il ribelle e …»

«Ist er tot?» Die Stimme klang metallen und kalt.

«Noch nicht», schaltete sich der Asiate ein, da er sah, dass Matteo der Schweiß ausbrach.

«Hat er schon Kontakt aufgenommen?»

Die Frau sah den Asiaten hilflos an, also fuhr er fort: «Wir haben ihn verloren. Er kennt sich hier offenbar besser aus, als wir dachten. Wir haben ihn in einen Außenbezirk der Stadt getrieben, aber es scheint, als hätte er einen Notfallplan gehabt. Einen Fluchtweg. Wir würden vorschlagen, dass wir uns trennen und weitersuchen. Erbitte Erlaubnis, fortzufahren.»

Für einen Moment herrschte fürchterliche Stille.

Dann: «Negativ. Ihr werdet nicht fortfahren. Ihr Idioten habt einen einzelnen Mann verloren, der sich auf ihm fremden Gelände befindet, in einer Stadt, die ihr wie eure Westentasche kennt. Und ihr wagt es, das so zu sagen, als wäre es das Normalste der Welt! Ihr seid eine Schande für uns, eine Schande für unseren Zirkel, für eure Familien! Das wird Konsequenzen haben, das sei euch garantiert!»

Obwohl die Person am Telefon sie nicht sehen konnte, hatten alle drei die Köpfe gesenkt, Matteos Hände zitterten so schlimm, dass man Angst haben musste, er könnte das Handy fallenlassen.

Endlich fand die Frau als Erste die Stimme wieder. Zittrig begann sie: «Verstanden. Wir bitten demütig um Vergebung. So etwas wird nicht wieder vorkommen.»

«Das wird es garantiert nicht.» Der fürchterliche Unterton in der metallenen Stimme ließ sie alle einen Schritt zurückweichen.

Dann fuhr die Stimme fort: «Ihr werdet zu unserem Hauptquartier in der Stadt gehen und dort Anweisung geben, dass von allen und überall nach ihm gefahndet wird. Auch die öffentlichen Streitkräfte sollen sich einschalten, alles, was wir zur Verfügung haben. Er muss abgefangen werden, bevor er mit irgendjemandem Kontakt aufnehmen kann, versteht ihr? Unter allen Umständen!»

Ein reumütiges, im Chor gesprochenes «Jawohl» war die Antwort.

Dann wurde die Leitung unterbrochen.

Knapp neun Stunden, nachdem diese unheilvolle Szene stattgefunden hatte, überquerte Reeba einen kleinen, gepflasterten Platz mitten im Stadtzentrum. Ein kitschig-hübscher Springbrunnen bildete die Mitte des Platzes und darum herum waren in akkuratem Abstand zueinander einige Parkbänke aufgestellt. Einige ältere Damen saßen auf den Bänken und musterten im Vorbeigehen Reebas flatternde Karohosen. Eine von ihnen, ganz in grauen Tweedstoff gekleidet, vergaß sogar, die adipösen Tauben zu ihren Füßen zu füttern. Mit zusammengekniffenen Augen folgte sie Reebas Schritten und bemerkte dabei nicht, dass eine der Tauben, die in dem Baum über ihr saß, ein Kotkügelchen auf ihren Hut fallen ließ.

Reeba unterdrückte ein Grinsen, als sie den älteren, gutaussehenden Mann bemerkte, der am anderen Ende des Platzes neben einem Mülleimer stand und Zeitung las. Er blickte auf, sah sie und begann ebenfalls zu grinsen. Er kam ihr entgegen und schloss sie fest in die Arme, für die mit Vogelkot beschmierte Dame Anlass genug, sich zu ihrer Freundin hinüber zu beugen und heftig zu tuscheln.

«Hallo, A-Hörnchen», lächelte Martin Seitz und hielt sie auf Armlänge von sich weg. «Du bist dünn geworden», befand er und musterte sie kritisch über den Rand seiner Lesebrille hinweg. «Du machst doch keine Diät?»

«Doch», erwiderte Reeba todernst. «Eine Neuheit aus Amerika: Abnehmen durch Nahrungsverweigerung. In ein bis zwei Wochen habe ich mein Idealgewicht erreicht und bin tot.»

Das Gesicht von Reebas Vater verfinsterte sich. «Darüber macht man keine Witze. Du weißt, in vielen …»

«Jaja, ist schon gut», würgte ihn Reeba ab und lächelte. «Lass uns irgendwo in ein Restaurant gehen, ich habe nicht gefrühstückt und verhungere gleich.» Und weil sie es nicht lassen konnte: «Ich bin aus Afrika. Ich darf das sagen.»

Eine Wolkendecke begann sich zusammenzuziehen und der Wind frischte auf. Reeba sah, wie viele Leute, die, in der Hoffnung, es würde weiterhin warm bleiben, leichte Jäckchen angezogen hatten, ihre Kragen hochstellten und die Schritte beschleunigten.

Hier im Café, wo sie mit ihrem Vater saß, war es warm. Behaglich lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück und nahm einen Schluck Tee.

«Also», begann Martin Seitz, als der Kellner ihre Bestellung aufgenommen hatte und gegangen war, «schön, dass du wieder einmal Zeit für deinen alten Vater gefunden hast.»

Reeba zog eine Augenbraue hoch. Ihr Vater machte Witze über sein Alter, aber sie wusste, dass es ihn beschäftigte; er war vor acht Monaten fünfzig geworden und sie konnte fast zusehen, wie er in eine zunehmend schlimmer werdende Midlife-Crisis hineinschlitterte. Zuerst hatte er sich ein Fitness-Abo gekauft, obwohl er Sport verabscheute wie kaum jemand, und erst vor einigen Wochen hatte er Reeba per WhatsApp gefragt, ob sie ein gutes Tattoo-Studio kenne. Reeba fürchtete, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er mit einer zwanzig Jahre jüngeren Freundin aufkreuzte.

Dabei musste sie ihm zugutehalten, dass er seit der Trennung von ihrer Mutter nie eine Frau gehabt hatte – zumindest nicht so, dass Reeba etwas davon mitbekommen hätte. Nicht, dass es ihm an Gelegenheit gefehlt hätte; an der Abschlussfeier ihrer Schule hatte Reeba kaum Zeit gehabt, mit ihm zu reden, weil er andauernd von ganzen Trauben alleinstehender Mütter umringt gewesen war. Schon als Kind war Reeba stolz gewesen, einen so hübschen Vater zu haben. Erst, wenn man erwachsen wurde, begannen einem die beunruhigenden Möglichkeiten zu dämmern, die gutaussehende Elternteile mit sich bringen konnten.

«Ja, ich weiß. Ich hatte einfach so viel zu tun, Seminararbeiten schreiben, Prüfungen …»

«Ihr armen Studenten», lächelte ihr Vater, drückte ihr jedoch die Hand. «Verstehe ich. Ist ja auch anstrengend, von einer Verbindungsparty zur anderen zu rennen und dabei noch Bestnoten zu schreiben.» Er zwinkerte ihr zu. «Deshalb bin ich damals lieber gleich auf den Partys geblieben.»

«Und ich muss arbeiten», fügte Reeba hinzu. Sie jobbte seit ihrem Auszug in einer Bibliothek auf dem Campus, aber das brachte nicht viel ein. Vor allem nicht, weil Nina Müller, dieses Miststück, sich beim Bibliothekar einschleimte und anfing, ihr alle Schichten wegzunehmen.

«Tja, würdest du noch brav zu Hause wohnen, hättest du diese Probleme nicht», grinste ihr Vater.

«Wenn ich einen anständigen Job finden würde, auch nicht», meinte Reeba und ließ ihre Tasse, die sie eben in die Hand hatte nehmen wollen, stehen; der Kellner war erschienen und stellte ihre Teller vor sie hin, Wiener Schnitzel und Pommes für Reeba, einen Salatteller mit Hähnchenbrust für ihren Vater.

«Wer ist hier auf Diät?», spottete Reeba und begann glücklich, ihr Schnitzel zu zerkleinern.

«Ich bin ja auch keine zwanzig mehr», verteidigte sich ihr Vater und musterte kritisch die Salatsauce, als ob er sie auf gesättigte Fettsäuren prüfen wollte. Dann nahm er den abgebrochenen Gesprächsfaden wieder auf: «Ach ja, apropos Job: Dein Vorstellungsgespräch. Wie ist es gelaufen?»

Reebas Gesicht verfinsterte sich. Um den Moment hinauszuzögern, wo sie ihrem Vater in die Augen sehen musste, säbelte sie weiter an ihrem Schnitzel herum.

«So mies, ja? Ach komm, du machst dich doch wieder selber schlechter, als du bist.»

Reeba setzte das Besteck ab. «Brauchte ich nicht, das hat dieser Mistkerl vom Personalbüro schon hingekriegt.»

Als sie die Geschichte erzählt hatte, musterte ihr Vater sie, ohne etwas zu sagen.

Komisch, gerade hatte sie noch einen Bärenhunger gehabt, mit einem Mal war davon nichts mehr zu spüren.

«Und du bist sicher, dass du ihn nicht einfach …»

«Dass ich ihn falsch verstanden und überreagiert habe?»

«Das wäre nicht das erste Mal», nickte ihr Vater und kaute langsam auf einem Stück Hähnchen. «Du weißt, schon damals in der Schule warst du oft empfindlich …»

Rasch blickte Reeba aus dem Fenster, um ihn ihre Wut nicht sehen zu lassen. Klar, dass er so redete. In seinen Augen war sie impulsiv, hitzköpfig und übersensibel. Er musste es ja nicht seit der ersten Klasse ertragen, dass alle ihm vorwarfen, zu intelligent, zu hübsch, zu weiblich und – der Gipfel der Frechheit – zu schwarz zu sein.

«Es war einfach … ich hab‘ einfach genau gewusst, was für ein Arschloch das ist», unterbrach sie ihn. «Ich meine … kennst du das, du schaust jemanden an, und von einer Sekunde auf die andere ist dir einfach klar, was er über dich denkt? Dass du in seinen Augen niemals gut genug sein wirst, ganz egal wie sehr du dich verdammt nochmal anstrengst?»

«Du sollst nicht so fluchen», murmelte Martin Seitz; von den Nachbartischen schauten schon einige Leute herüber, weil Reeba immer lauter geworden war.

Sie brach ab, halb verlegen, halb wütend und doch mit einem seltsamen Bedürfnis zu grinsen, weil ihr Vater sie immer noch wie ein Kind tadelte.