Skaidridt - S. A. Lee - E-Book

Skaidridt E-Book

S. A. Lee

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Beschreibung

Die Dämonen der Alten Welt sind tot! Zumindest glaubt das Kelsen, bis eine Göttin in dazu auswählt, den letzten der Großen Alten zu jagen und zu töten. Denn dieser rührt sich in seinem endlosen Schlaf und droht, alles zu vernichten. Nur eine Waffe kann den Dämon bezwingen: Das Schwarze Schwert. Gemeinsam mit einer kleinen Gruppe verzweifelter Gefährten macht sich Kelsen auf, die sagenumwobene Waffe zu finden. Hexer, Dämonen und finstere Götter kreuzen ihren Weg, der sie über die Grenzen der bekannten Welt hinaus führt …

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Seitenzahl: 489

Veröffentlichungsjahr: 2024

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SKAIDRIDT
Über die Autorin
Impressum
Vorwort
Prolog
Der Jäger
Der grüngefiederte Pfeil
Die wandernden Dörfer
Die Hexe
Der Gebieter unter dem Berg
Die Pyramide des Nichts
Die Stadt der Augenlosen
Der Pakt
Die Zweigeborene
Die Söhne des Entfesselten
Die Zeiger auf Zwölf
Der schwarze See
Epilog
Begriffs- und Figurenverzeichnis
Die Eisermann Media GmbH

S. A. Lee

SKAIDRIDT

Das Ende der Ersten Welt

Über die Autorin

S. A. Lee ist in der Zürcher Gemeinde Dielsdorf aufgewachsen und lebt bis heute dort. Nach einer kaufmännischen Lehre absolvierte sie berufsbegleitend die Berufsmaturitätsschule und anschliessend die Erwachsenenmaturität. Sie studiert an der Universität Zürich im Master Lateinische Philologie und Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft. Bereits im Alter von zehn Jahren schrieb sie kürzere Geschichten. Ihr erster Roman unter Pseudonym Die Chroniken der drei Kriege: Das Drohen der silbernen Sichel war an der größten Schweizer Comicon, der Fantasy Basel, restlos ausverkauft.

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.deabrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96173-235-7

E-Book-ISBN: 978-3-96173-286-9

Copyright (2024) Eisermann Verlag

Buchsatz: Grit Richter, Eisermann Verlag

Umschlaggestaltung: Grit Richter, Eisermann Verlag

Bilder und Grafiken von www.shutterstock.com und creativemarket.com

Stockfoto-Nummer: 2417212475 und 2242881851

Gestaltung der Landkarte: Lara Zimmermann

Hergestellt in Deutschland (EU)

Eisermann Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Alte Heerstraße 29 | 27330 Asendorf

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Für die andere Hälfte meiner Seele

A clan of twO

Vorwort

Hier, wagemutiger Leser, findest du einen Tribut an H.P. Lovecraft und seine Großen Alten und Stephen Kings ‘Dunklen Turm’ – möge mein Ka-Tet den Wandel der Welt ebenso überdauern wie seines. Denn dies ist die Geschichte, wie der letzte der Alten, der Großen Dämonen, sein Ende fand und wie das Schwarze Schwert wiedergefunden wurde.

Prolog

Aus den verbotenen Schriften von Ênrash-A’Sil, der Stadt der Augenlosen

Von all den ungeheuerlichen Kreaturen, die in den verderbtesten Winkeln der Erde hausten, war Er der Schlimmste. Der Dreigehörnte, so nennen ihn manche, Skemmdir ist sein Name in der ältesten Sprache. In den tausend Zungen, die die Dämonen sprechen, steht seine Erwähnung gleichbedeutend mit Tod und Vernichtung. So unermesslich war seine Kraft, dass er die Grundfesten der Erde aus ihren Angeln hob und damit drohte, alles Dagewesene zu zerschmettern. Und da geschah es, dass Skeir, der Blutrünstige, sein Schwert ergriff und es im grausamen Herzen des Dämons versenkte. Sogleich tat die Macht des Untiers ihre verzehrende Wirkung und ließ das Blut in Skeirs Adern vertrocknen, färbte seine Haut schwarz und saugte die Lebenskraft aus seinen Gliedern. Doch der Unverwüstliche hielt weiter fest die Waffe umschlungen und hackte wie von Sinnen auf den sich windenden Feind ein, bis er niedergestreckt und reglos vor ihm lag.

Die Vernichtung Skemmdirs kostete Skeir die Kraft seines Arms; als Asche im Wind fiel er von seinem Körper. Das Schwert jedoch, trunken vom Blut des gewaltigen Feindes und durch das Opfer mit seinem Herrn verbunden, war fortan schwarz wie die Dunkelheit und diente willig nur dem, der den König der Dämonen unterworfen. Und nachdem Skeirs Seele zu den Schatten gefahren war, wurde es dessen Sohn zur Seite gelegt und dessen Söhnen nach ihm, und bis in alle Zeiten wird es nur dieser einen Blutlinie verbunden sein, denn sie allein sind es, die seinen Blutdurst zu stillen vermögen und die ihm zu seiner Macht verholfen haben.

Der Jäger

Die vergangenen drei Wochen hatte Kelsen praktisch nur im Wald gelebt. Das war weiter nichts Besonderes, schließlich verdiente er so seinen Lebensunterhalt: Er jagte Tiere, nahm sie aus, häutete sie und verkaufte seine Ausbeute auf Märkten an den Meistbietenden.

Aber dieses Mal …

Etwas stank, und zwar gewaltig. Angefangen hatte es schon, als er den Fuß zwischen die Bäume gesetzt hatte: Kaum war das freie Land außer Sicht gewesen, war ein Wolkenbruch niedergegangen, wie er ihn in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen hatte. Durch die Bäume hindurch hatte ihm der Regen die Kleider bis auf die Haut durchnässt und ihn halb blind durch die Gegend stolpern lassen, während der schlammige Untergrund sich allmählich in eine tückische Mischung aus Sumpf und Treibsand verwandelte. Er war gezwungen gewesen, sich mitten am Nachmittag einen Unterstand für die Nacht zu bauen, und so wie der ihn trocken gehalten hatte, war auch das für den Arsch gewesen. Drei Tage lang hatte es fast ununterbrochen geregnet und dazwischen hatten sich Blitze durch den Wald gejagt, bis sogar ihm angst und bange geworden war. Vor allem, als eins dieser verfluchten Dinger nur zehn Schritte von dort, wo er wider besseres Wissen versucht hatte, ein Feuer zustande zu bringen, in eine Tanne eingeschlagen hatte.

Spätestens da hatte Kelsen gewusst, dass es eine Quälerei werden würde. Aber er war ja selbst schuld. Er hätte sich niemals für diesen Blödsinn anheuern lassen dürfen. Aber, bei den Dämonen, das Angebot war einfach viel zu gut gewesen.

Etwa ein Mond war vergangen, seit er in Pêk in der Schwarzen Sau gehockt hatte und auf einmal der Mann bei ihm aufgetaucht war. Ein parfümierter Pinsel von Edelmann war es gewesen, mit kleinen, tranigen Augen, die seine Umgebung und vor allem Kelsen voller Abscheu gemustert hatten. Kelsen hatte sich im Laufe seines Jäger- und Wildererdaseins daran gewöhnt, Menschen einzuschätzen, und diesen Kerl hatte er von Anfang an nicht gemocht.

»Was?«, meinte er den Mann angeschnauzt zu haben. Er war sich nicht ganz sicher, denn an diesem Abend war er sturzbetrunken gewesen. Wie eigentlich die meiste Zeit seines Lebens.

Aber zumindest konnte er sich noch an die Stimme des Mannes erinnern, ein näselndes Zischen, das klang, als spräche er ständig mit zusammengebissenen Zähnen.

»Ich habe gehört, Ihr sollt der erfahrenste Jäger und beste Spurenleser in ganz Mitland sein«, hatte er erklärt und sich ein seidenbesticktes Tuch vor die Nase gehalten, was sehr zur Verbesserung seines Aussehens beigetragen hatte.

»Das ‘Ihr’ und ‘Euer’ könnt Ihr steckenlassen«, hatte Kelsen geantwortet. »Ich war in meinem ganzen Leben noch nicht mal der Bastard eines hohen Herrn.«

Der abfällige Blick über das Taschentuch hinweg hatte nichts am verführerischen Klimpern der Goldmünzen im Beutel des Edelmannes geändert, als dieser ihn tätschelte.

»Das kann ich mir vorstellen. Doch wurde mir gesagt, du besäßest Talente, die für ein Unternehmen, das ich plane, äußerst nützlich sein könnten.«

»Sagt wer?«, hatte Kelsen gefragt.

»Nun, alle, die man so fragt«, war die ausweichende Antwort gewesen. »Um es kurz zu machen, Jäger, wärst du bereit, für mich ein Tier aufzuspüren? Ich jage selber leidenschaftlich gern und an diesem ist mir ganz besonders gelegen.«

»Und wozu braucht Ihr mich da, als Jagdhund? Habt ihr nicht genügend eigene Leute, die Eure Beute vor Euch hertreiben?«

Ein kaltes, berechnendes Lächeln war das erste Zeichen von Intelligenz an dem Edlen gewesen.

»Nun, gewiss. Aber ich habe mich überzeugen lassen, dass für diesen Fall ein Fachmann erforderlich ist.«

Beim Anblick der großen, fetten, satt schimmernden Goldmünze, die der Mann dabei auf die Tischplatte gelegt hatte, war Kelsen schlagartig nüchtern gewesen.

Er hatte sich die Augen gerieben, um seine Gedanken wieder einigermaßen in Gang zu bringen und schließlich gefragt, um was für eine Art Tier es überhaupt ging.

Die Antwort des Mannes hatte ihm ein so schallendes Lachen entlockt, dass das halbe Wirtshaus verstummt war. Als sich Kelsen wieder einigermaßen beruhigt hatte, waren seine Augen feucht gewesen und sein Mund erfüllt vom Geschmack des schalen Biers.

»Unmöglich. Kaum einer hat je so ein Tier gesehen, und die wenigen, die das von sich behaupten, sind entweder Träumer oder Verrückte. Ein Mensch wäre niemals schnell oder leise genug, auch nur in die Nähe einer solchen Kreatur zu kommen, geschweige denn sie zu schießen.«

»Ich bezahle dir dreihundert Goldmünzen«, erklärte der Mann. Weder seine Augen noch sein Tonfall verrieten einen Scherz.

Kelsen hatte wieder gegluckst. »Für diese Summe könnt Ihr mich durch den Wald jagen.«

Als der Mann darauf noch immer nicht reagiert hatte, war auch Kelsen schließlich ernst geworden.

»Dreihundert Goldmünzen?« Er meinte sich zu erinnern, dass er die Worte geflüstert hatte. »Das ist mehr, als ein Kaufmann in seinem ganzen Leben verdient. Oder in zweien. Wieso bei allen Dämonen seid Ihr bereit, so viel Geld zu opfern, um einem Mythos hinterherzujagen?«

Das Funkeln in den Augen des reichen Mannes, als er antwortete, war kalt und voller Gier gewesen: »Ich will eine Trophäe, die mich unvergesslich macht. Von überallher werden die Leute kommen, um sich den ausgestopften Körper in meiner Halle anzuschauen. Und du bist der Mann, der das Wesen für mich töten wird.«

Nun, soviel dazu.

Kelsen war ebenso weit davon entfernt, dieses sagenumwobene Tier aufzuspüren wie davon, sich Flügel wachsen zu lassen. Ein- oder zweimal mochte er darüber nachgedacht haben, die Sache einfach aufzugeben und zu verschwinden, doch die Erinnerung an die Goldmünzen in den fetten Fingern des Edelmannes stand zu klar und eindrücklich vor seinen Augen.

Also packte er einmal mehr seine tropfnassen Sachen zusammen und wanderte weiter.

Er war auf dem Weg in den ältesten Teil des Waldes, weil er dort am ehesten hoffte, auf seine Beute zu treffen. Sie verabscheuten Veränderung und zogen selten um, das wusste er. Zumindest sagten die Geschichten alle dasselbe.

‚Was noch?‘, grübelte er, während er seine Kapuze tiefer ins Gesicht zog, ohne dass es gegen den Regen half. Klare Teiche, in denen sich die Sterne spiegelten, sollten sie anziehen. Das waren schwache Anhaltspunkte, aber der arrogante Edle hatte richtig bemerkt, dass es nur wenige Menschen gab, die sich besser in den Wäldern auskannten als Kelsen. Er wusste, wo er entsprechende Stellen finden konnte und wie er sich ausrüsten musste, um sie lebend zu erreichen; auf seinem Rücken trug er einen Bogen, um die Hüfte mehrere Jagd- und Fleischermesser. Außerdem hatte er eine rostig aussehende Eisenkette um seinen Oberkörper geschlungen, an deren Ende ein Halseisen baumelte.

»Hätte eine Jungfrau mitnehmen sollen«, brummelte er vor sich hin und wischte sich die Augen. Irgendein Mädchen aus einem der Waisenhäuser in Pêk, da lungerten genügend herum. Aber so ein Gör hätte ihn nur langsam gemacht und abgesehen davon, wer wusste schon, ob die Geschichten überhaupt stimmten?

Es platschte, und mit einem Fluch zog er seinen Fuß zurück; er war mitten in eine Pfütze getreten, die wesentlich tiefer war, als sie aussah, und Stiefel und Hose bis zum Knie durchnässt hatte.

Verärgert schüttelte er das Bein aus, als ob das etwas nützen würde.

Er blieb stehen und blinzelte mühsam durch die Wand aus Regen, um den Weg vor sich zu erkennen; dicke, verschlungene Äste versperrten ihm den Weg, behangen von fahlblauen Blättern und anderem Gesträuch. Dazwischen leuchteten milchige Beeren, die Kelsen nicht gegessen hätte, auch wenn sein Leben davon abgehangen hätte. Er suchte den Boden ab und versuchte einen Weg zwischen Tümpeln und Pfützen auszumachen. Alles war eine einzige aufgeweichte, schlammig-feuchte Masse, tückisch und rutschig, aber Kelsen hatte keine andere Wahl.

Leichtfüßig sprang er über Wurzeln und glitschige Steine hinweg, über Blätter, die trügerisch auf dem Wasser schwammen und ihm einen sicheren Pfad vorgaukelten, über Schlammlöcher und Erdspalten –

»Argh!«

Er war mit dem rechten Fuß auf eine helle Fläche getreten, die ausgesehen hatte, als wäre es fester Boden. Doch kaum hatte sein Stiefel den Sand berührt, sackte er widerstandslos ab und steckte fest.

Fluchend und um sich schlagend rang Kelsen um sein Gleichgewicht, um nicht mit dem Gesicht voran in die weiße, tückische Masse zu fallen.

»Mahlsand!«, heulte er und versuchte sich mit seinem linken Fuß, der unsicher auf den schlackigen Steinen hinter ihm hin und her rutschte, hinauszuwuchten.

Das gelang jedoch nicht, der Mahlsand schloss sich um sein gefangenes Bein wie der Schlund eines Tieres und saugte es gierig weiter nach unten.

Kelsen grabschte nach einem herunterhängenden Ast und hielt sich fest; erschrocken bemerkte er, wie viel von seinem Gewicht bereits daran hing; sein freies Bein ruderte hilflos durch die Luft und er hatte schreckliche Schlagseite.

Wut und purer Überlebenswille kamen ihm zu Hilfe.

»Ich werde hier nicht in irgendeinem verfluchten Tümpel ersaufen«, knurrte er vor sich hin und begann an dem Ast zu zerren – als ein scheußliches Knirschen und Krachen ertönte und das morsche Holz brach.

Aufschreiend stürzte Kelsen der Länge nach in den Mahlsand und schaffte es nur mit äußerster Mühe, den Kopf oben zu behalten. Prustend und keuchend sah er hilflos zu, wie sein linkes Bein wie ein Korken an der Oberfläche trieb.

»Nicht bewegen«, murmelte er vor sich hin, während die schlammige Masse ihm die Ohren verschloss, »Nicht bewegen, sonst versinkst du nur…«

Aber was zum Schatten nützte ihm das? Selbst wenn er nicht weiter versank, er wusste, allein würde er es nie aus diesem Loch rausschaffen.

Er würde jämmerlich erfrieren, verhungern oder verdursten – oder, was schlimmer war, von einem der Wesen gefunden werden, die sich hier herumtrieben.

»Verfluchter, elender, verdammter …«, fluchte er leise vor sich hin, um die aufkeimende Panik zu ersticken. Es half nicht; Bilder von früheren Jagden trieben vor seinen Augen, halbverweste Leichen, die sie in ähnlichen Tümpeln stecken gefunden hatten, und seine Kehle schnürte sich zu.

In einem Dorf, in dem Kelsen für einige Zeit gelebt hatte, hatte es einen ständig betrunkenen Götterdiener gegeben, der jeden Abend durch die Häuser gezogen war und von Habgier und ihren Folgen gewarnt hatte. Kelsen hatte ihn ausgelacht, aber jetzt fragte er sich, ob der Verrückte nicht vielleicht doch Recht gehabt hatte – war das die Strafe dafür, wie er gelebt hatte?

Nein, überlegte er, während er sich versuchsweise zur Seite rollte und noch einmal eine Handbreit einsank, es gab andere Dinge, für die er bestraft gehörte.

Die Drei wussten, welche.

»Also denkst du doch an uns.«

Kelsen schrie auf, als er die Stimme hinter sich hörte – oder hatte er sie sich nur eingebildet? Er verrenkte sich den Hals, um hinter sich zu blicken, doch da war nichts, nur die Dunkelheit des Waldes.

»Es ist kein Zufall. Nichts ist Zufall.«

Die Stimme war überall, um ihn herum im Wind, in ihm drin – er versuchte zu antworten, doch seine eigene Stimme gehorchte ihm nicht.

»Willst du, dass ich dir helfe, Jäger? Willst du leben?«

Wild schaute er hierhin und dorthin, obwohl er wusste, dass da immer noch niemand war. Es fühlte sich an, als ob direkt neben ihm jemand kauern würde und ihm ins Ohr spräche.

»Ich kann dir helfen.« Ein Gefühl, als ob sich eine eiserne Hand um seinen Oberarm schlösse.

Das war’s, ich bin schon verrückt, dachte er. Dabei traten Wahnvorstellungen seines Wissens erst nach einigen Tagen ein.

»Soll ich dir helfen? Oder willst du sterben?«

Der unsichtbare Griff um seinen Arm lockerte sich, und in diesem Augenblick war ihm alles egal.

»Nein!«, schrie er. »Ich … ich will nicht sterben! Hilf mir! Bitte, hilf mir!«

Nichts geschah. Nur der Wind schien ein wenig aufzufrischen.

Und dann, ohne Vorwarnung, verschwand die Welt vor seinen Augen.

***

Bin ich tot?

Kelsen schüttelte verwirrt den Kopf; kein Sand, kein Schlamm, kein Wasser, das sich wie ein gieriger Schlund um seine Hüfte schlang. Also musste er wohl tot sein.

Ruckartig setzte er sich auf und öffnete im gleichen Moment seine Augen: Er befand sich auf einer kleinen, von einem grünblauen Leuchten erhellten Lichtung. Um ihn herum erhoben sich anmutige Bäume, die ein lichtes, schimmerndes Blätterdach bildeten, und in der Nähe hörte er Wasser rauschen.

‚Ich bin wirklich tot‘, sagte er sich. Er war erstaunt, wie gelassen er es hinnahm. Vielleicht waren es einfach die Ruhe und der Friede dieses Ortes, das sanfte Licht und das gleichmäßige Plätschern, das als einziges Geräusch die Stille unterbrach. Er hatte sich nie viele Gedanken darüber gemacht, wie es sein würde, wenn er starb, aber wenn das das Jenseits war, dann war es gar nicht so übel. Nur fragte er sich, warum er ganz allein war.

Ein Funkeln am Ende der Lichtung weckte seine Aufmerksamkeit.

Neugierig erhob sich Kelsen und bewegte sich darauf zu; je näher er kam, desto deutlicher konnte er seine Umgebung jetzt wahrnehmen: Das Rauschen, das er hörte, kam von einem kleinen Wasserfall, etwa fünfzig Schritte von ihm entfernt. Das Funkeln schien von einem kleinen Steintisch zu kommen, der vor dem Wasserfall stand.

Wie im Traum erreichte er das Ende der Lichtung und auf den hellgrauen Marmortisch herab, in den eine ebenfalls marmorne Schale eingelassen war. Das Funkeln, das er gesehen hatte, kam von einer silbernen Flüssigkeit in der Schale, aus der, während Kelsen hinsah, ein einzelner Tropfen aufstieg und dann mit einem leisen Plätschern wieder hineinfiel, immer wieder, in einem hypnotischen Rhythmus.

Kelsen sah dem Ding eine Weile beim Auf- und Abhüpfen zu. Es sah aus wie geschmolzenes Eisen, strahlte aber keine Hitze aus.

Wie es sich wohl anfühlte? Instinktiv streckte er die Hand aus und wollte den Tropfen einfangen.

Ein blendend heller Lichtstrahl zuckte auf und warf Kelsen nach hinten; er schlug auf dem merkwürdig weichen Boden auf und hob die Hand, um seine Augen vor der Helligkeit zu schützen.

»Kelsen der Jäger.«

Eine Stimme donnerte in seine Ohren, tief und allumfassend, dröhnend und doch angenehm.

Kelsen robbte rückwärts fort von der Lichtquelle, eine Hand immer noch über den Augen. Langsam ebbte die Helligkeit ab und er machte die Umrisse einer Frau aus, die, in lange Gewänder gehüllt, unmittelbar vor dem Becken stand.

»Ich bin die Mutter Waage und ich habe dir das Leben gerettet«, erklärte die Frau. Ihr Gesicht konnte er noch immer nicht klar sehen, zu viel Licht ging von ihr aus, aber ihre Stimme klang merkwürdig vertraut, wie Erinnerungen an jemanden, den er vor langer Zeit einmal gekannt hatte. Die Macht, die sie ausstrahlte, drückte Kelsen fest in den Boden, aber zugleich verspürte er auch ein ungeheures Gefühl von Wärme.

»Die Waage?«

Selbstverständlich kannte er alle Geschichten über die drei Götter, den Lichten, der für das Gute in der Welt zuständig war, den Schatten, der die Sünder in der Unterwelt bestrafte, und die Waage, die als Richterin zwischen ihnen stand. Jedes Kind kannte die Sagen und Geschichten über sie und er hatte von mehr als einem Sterblichen gehört, dem die Götter in irgendeiner ihrer Gestalten erschienen waren. Aber ihm? Das war unmöglich.

Er wollte etwas sagen, brachte aber kaum mehr als ein heiseres Krächzen zustande.

Endlich ebbte das Licht ab und er sah sie: Eine Frau mit kurzem, hellbraunem Haar, breitschultrig und fast so groß wie er selbst, mit einem schmalen, knabenhaften Gesicht. Ihre Augen leuchteten unnatürlich hell und zwangen ihn fast sofort, wieder den Blick zu senken.

»Ich habe dich nicht ohne Grund gerettet. Du bist auserwählt, Kelsen«, verkündete die Göttin, ihre Stimme hallte von überall und nirgends. »Auserwählt, eine große Aufgabe zu erfüllen.«

»Auserwählt?« Mühsam kam Kelsen auf die Füße; er hielt Abstand zu der Göttin, denn obwohl sie nicht mehr leuchtete, strahlte sie eine Aura der Macht aus, die ihn fast sofort wieder zu Boden drückte. »Wie meinst du das? Ich bin … ich bin ein Niemand …«

»Du bist unter einem besonderen Stern geboren und mit Fähigkeiten ausgestattet, die dich vor allen anderen auszeichnen. Du bringst den Tod zu Tieren, Jäger. Jetzt sollst du den Tod zu einem Biest bringen, wie es diese Welt schon seit tausenden von Jahren nicht mehr gesehen hat.«

Kelsen gab es auf, in der Gegenwart der Göttin stehen zu wollen; ächzend brach er wieder in die Knie. Sein Herz hämmerte ihm bis zum Hals, und ganz weit hinten in seinem Kopf begriff er, dass er wohl nicht tot war.

»Als die Zweite Welt geschaffen wurde«, fuhr die Waage getragen fort, »wurden die Geschöpfe vernichtet, die zuvor darin umgegangen waren. Doch einige kehrten zurück und leisteten Widerstand. Meine Brüder und ich kämpften gegen sie und zerstörten fast alle von ihnen. Die wenigen, die überlebten, flohen und zogen sich in die Tiefen der Welt zurück, um dort ewig zu schlafen. Skemmdir der Entfesselte war der letzte, der noch übrigblieb, und auch er wurde schließlich von den Menschen zerstört. Für Jahrtausende herrschte Frieden.«

Die Göttin schöpfte Atem und zugleich war es Kelsen, als würde die Luft um ihn herum sich abkühlen.

»Seit einiger Zeit jedoch beginnt einer der Alten sich zu rühren. Skaidridt, der mit den hundert Armen, ist aus seinem Tiefschlaf im Schwarzen See erwacht und beginnt zu träumen. Indem er das tut, brütet er und setzt Kreaturen in die Welt, deren Anblick sie seit Äonen nicht mehr zu ertragen hatte. Es dauert nicht mehr lange, bis der Alte vollständig erwacht und das Angesicht der Erde von Neuem heimsucht.«

Während sie sprach, wurde das Licht um sie herum wieder stärker, bis Kelsen die Augen schließen musste.

»Und … was soll ich da tun?«, fragte er; obwohl es außer dem leisen Rauschen des Wasserfalls still war, hatte er das Gefühl, schreien zu müssen, um gegen die Allgewalt der Göttin anzukommen.

»Du sollst den Tod über den Hundertarmigen und die Seinen bringen«, erwiderte die Waage einfach.

Kelsen stockte. Schließlich brachte er hervor: »Ich? Warum ich?«

Durch die zunehmende Helligkeit meinte Kelsen die Göttin lächeln zu sehen. »Wer könnte ein Untier besser erlegen als ein Jäger? Und du sagst doch selbst, dass es keinen besseren Jäger als dich gibt.«

Einen Moment schwieg Kelsen; er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. »Warum bringst du das Ding nicht selber um? Du bist doch eine Göttin, oder? Mach es kalt! So wie die anderen damals!«

Die Helligkeit flackerte. Als die Waage erneut sprach, klang sie eher traurig als verärgert. »Die Welt wandelt sich. Die Macht der Götter schwindet. Wir sind uneins und schwächen uns selbst. Die Menschen brauchen uns nicht mehr so sehr wie einst. Eure Gebete, die uns stärken, nehmen ab und mit ihnen unsere Macht. Es ist an der Zeit, das Schicksal in eure Hände zu legen. Wie es vorherbestimmt ist.« Einen Moment schwebten ihre Worte in der Luft, dann fuhr sie sanfter fort. »Der Lauf der Dinge ist unaufhaltsam. Das Erwachen eines Alten ist nicht vorgesehen und droht, die zarten Fäden, die das Weltgefüge zusammenhalten, zu zerreißen. Er muss vernichtet werden.«

Kelsen schluckte hart. »Aber wie?«

Das Licht begann zu flackern; ihm war, als ob sich die Gestalt langsam von ihm entfernte. »Finde die Waffe, die vor langer Zeit verloren ward. Das Eine Schwert, getränkt mit dem Blut der Alten, das den Tod über sie alle bringt.«

Kelsen begriff kein Wort. »Ein Schwert? Und wo soll ich das finden?«

»Niemand weiß, wo das Eine Schwert verlorenging. Nur das Blut des Erben ist in der Lage, es zu finden. Durch dich wird das Schwert zurückgewonnen werden, und du wirst den Tod zu der Bestie tragen.«

Kelsen schüttelte den Kopf. »Ich … ich verstehe nicht! Und ich kann … ich werde nicht … Such jemand anderen! Jemanden, der weiß … Such dir einen Helden! Ich bin der Falsche für so was!«

Ein seltsames Lächeln umspielte die Lippen der Göttin und für einen Moment konnte er sie wieder glasklar vor sich sehen.

»Ich weiß, wen ich ausgewählt habe. Du musst es tun. Und wenn dir meine Gründe nicht reichen, so sollte dir dieser reichen: Du schuldest mir dein Leben. Du hast eine Schuld zu begleichen.«

Vor Kelsens Augen begann es zu flimmern. Ihm war fürchterlich heiß und einen Augenblick lang schien es ihm, als läge ein Gewicht auf ihm, das ihm den Atem raubte.

Wie oft schon hatte er Geschichten gehört, was mit den Leuten passierte, die Verträge mit Göttern brachen …

Er hatte keine Wahl.

»Aber …«, seine Stimme klang fürchterlich brüchig, also räusperte er sich. »Ich meine: Wie kann ich …«

»Folge dem Pfad, den der grüngefiederte Pfeil dir weist. Vertraue auf die Kraft in den Runen und hüte dich vor dem Herzen unter dem Berg. Vertraue auf das Blut, das du siehst. Nutze die Macht von Rädern und Metall, aber sei auf der Hut vor Verstand, der über Mitleid geht.«

Die Welt um Kelsen wurde dunkler und er konnte den Boden unter sich nicht mehr spüren.

»Deine Reise wird lang sein und voller Gefahren. Gefährten werden sich um dich scharen und sich wieder verlieren, doch du musst dein Ziel erreichen. Finde das Schwert, Kelsen der Jäger. Und rette uns alle.«

***

Regen prasselte auf ihn hinunter und drang unter seine zuckenden Augenlieder. Mit der rechten Wange lag er im Matsch, und als er leise aufstöhnte, sickerte ihm ziemlich viel davon in den Mund. Vorsichtig tastete er mit den Händen über den Boden: Weicher, schlammiger Waldboden, aber keine Spur von Mahlsand.

Wo war die Frau hin?

Er fuhr sich mit der linken Hand über das Gesicht und zwang blinzelnd die Augen auf: Er lag auf einer Lichtung, an der er noch nie vorbeigekommen war und die nichts gemein hatte mit dem Platz, wo er in den Sand eingesunken war. Verwirrt blickte er um sich; der Wasserfall war weg, das Becken und die Person, die zu ihm gesprochen hatte, auch.

Ob er geträumt hatte?

Aber wie war er dann aus dem Mahlsand herausgekommen? Seine Muskeln schmerzten von den Verrenkungen, die er gemacht hatte, um sich zu befreien, und an seiner rechten Seite spürte er eine Prellung da, wo der Ast, an dem er sich festgehalten hatte, auf ihn gefallen war.

Seine Kleider waren vollständig durchnässt und jetzt, da er an sich hinuntersah, bemerkte er, dass er von oben bis unten mit Matsch und Sand beklebt war.

Also auf keinen Fall ein Traum. Aber was dann?

Er spuckte Schlamm aus und gab ein paar Flüche von sich, die selbst die Dämonen der Ersten Welt hätten erröten lassen, dann wuchtete sich in die Höhe. Sein Fuß tat weh, vermutlich hatte er ihn sich bei seinem Sturz verdreht. Das war nicht gut, es würde ihn langsamer machen und auch lauter.

Grübelnd kratzte er sich am Kopf. Er wusste, dass es Dämonen gab, er hatte selbst schon mehr als einen getroffen. Die meisten waren den Menschen nicht wohlgesonnen, aber das war auch das Einzige, was sie gemein hatten: Manche musste man einfach in Ruhe lassen, anderen das Herz herausschneiden, wieder andere verbrennen, einige bannen – Kelsen hatte mittlerweile genügend Übung darin, zu unterscheiden, was für welche galt, wenn er die Dinger schon von weitem sah. Aber die Frau, die ihm erschienen war, hatte nicht wie ein Dämon gewirkt. Wieder dachte er an die Berichte, die sich Wanderer gegenseitig in Wirtshäusern erzählten: Die Götter, die die Welt und alle Menschen darin geschaffen hatten, waren früher häufig in der Welt umgegangen, um Gläubigen beizustehen und Abgefallene zu bestrafen. Mittlerweile jedoch wurden solche Begegnungen immer seltener – vielleicht hatten sie von den Menschen die Nase voll.

Er schüttelte den Kopf wie ein begossener Köter, um Augen und Ohren freizukriegen.

»Am Arsch«, brummte er verstimmt vor sich hin.

Er hatte die Worte der Frau – ob sie nun die Waage gewesen war oder nicht – noch sehr genau im Ohr und sie hatten nichts von ihrer Eindringlichkeit verloren. Aber was sollte das heißen, er sollte sie alle retten. Warum ausgerechnet er? Er war nur irgendein kleiner Furz in der Welt, keiner von den großen Helden in den Liedern. Er hatte keine Rüstung, war kein Magier, ja er besaß noch nicht einmal ein Schwert. Er wollte ja sehen, wie er mit seinen Jagdmessern einen der Alten erlegen sollte.

Unwillkürlich schauderte er.

An die Dämonen der alten Zeit dachte man nicht und man redete auch nicht von ihnen. Das war eins der wenigen Dinge, die er als Kind beigebracht bekommen hatte. In den Weiten der Welt gingen genug alte und unheimliche Dinge um, als dass man auch noch die Aufmerksamkeit eines der Urwesen auf sich lenken wollte. Auch wenn sie angeblich lange tot waren – Kelsen hatte oft genug angeblich Totes wiederauferstehen sehen, um sicher zu gehen.

»Wo zum Schatten bin ich hier eigentlich?«, murmelte er und sah sich um: Der Regen war zu einem kaum wahrnehmbaren Tröpfeln geworden und so konnte er die knorrigen, verworren wachsenden Bäume um sich herum klar erkennen. Die Stämme mancher dieser Riesen waren so dick, dass zehn Männer sie zusammen nicht hätten umfassen können. Ihre Blätter waren dunkel und ihre Rinde so verwittert, dass es aussah, als wären sie aus Stein.

Kelsen legte den Kopf in den Nacken, und als er den Himmel über sich nicht sehen konnte, begriff er, dass er – wie auch immer es zugegangen sein mochte – im ältesten Teil des Waldes angekommen war.

Ob die Frau – Göttin – was auch immer – ihn hierhergebracht hatte? Oder war er fiebrig durch die Gegend gestolpert und von selbst hierhergelangt? Je länger er so im Regen stand, desto leichter fiel es ihm, sich einzureden, dass die zweite Möglichkeit die richtige war.

Du hast eine Schuld zu begleichen.

Wieder erschauderte er, doch diesmal schüttelte er heftig den Kopf und lief los, so, als könnte er durch die Bewegung auch seine Erinnerungen hinter sich lassen.

»Der grüngefiederte Pfeil«, sagte er langsam, während er ging, ohne es richtig zu bemerken. Und was hatte sie noch gesagt? Er sollte das Eine Schwert finden, was auch immer das war. Dann schüttelte er noch einmal den Kopf.

»Was für ein Schwachsinn!«

Selbst wenn es wirklich die Göttin gewesen war, die zu ihm gesprochen hatte, und nicht irgendein verfluchter, unirdischer Wechselbalg, der ihm einen Streich gespielt hatte, wieso sollte sie von allen Menschen ausgerechnet ihn auswählen? In den mehr als dreißig Jahren seines Lebens hatte er nichts getan, was eine solche Entscheidung rechtfertigen würde. Vorhin, als er im Mahlsand gelegen hatte, waren ihm all die Dinge eingefallen, die er getan hatte: Er hatte getrunken, gestohlen, sich geprügelt, einmal im Suff sogar einen Mann totgeschlagen, er glaubte nicht, dass die Götter sich für so jemanden interessierten.

Ganz zu schweigen von diesem einen Tag … Kelsen presste die Hände auf die Augen und fluchte noch einmal laut. Er hatte sich geschworen, nicht mehr daran zu denken, und viele Jahre gepaart mit noch viel mehr Alkohol hatten ihn bei diesem Schwur unterstützt. Und doch war ihm in diesem Moment, als hörte er noch einmal das Brechen eines morschen Astes, als röche er feuchtes Laub, vermischt mit dem metallenen Geruch von Blut …

Unwillkürlich schlug er die Faust gegen den nächsten Baum.

Der Schmerz half: Selbst wenn, sagte er sich.

Er hatte keine Zeit für so etwas.

Er musste seine Beute finden.

***

Das Blätterdach über ihm war so dicht, dass er die Tageszeit nicht abschätzen konnte, aber die zunehmende Dunkelheit sagte ihm, dass es allmählich Abend wurde. Seine klammen Kleider klebten ihm am Körper und allein die ständige Bewegung verhinderte, dass er zu zittern anfing.

Das Gras, das zunächst nur vereinzelt zwischen Matsch, Blättern und Gesträuch hervorgeblinzelt hatte, wucherte jetzt quer über den ganzen Waldboden und reichte ihm bis über die Knie. Die Luft war erfüllt von feuchtem Nebel und unirdischem Schimmern, das von den gewaltigen Glühwürmchen herrührte, die Kelsen um den Kopf schwirrten. Über ihm krächzten andere, verborgene Kreaturen durch die Nacht und Kelsen hoffte nur, dass sie blieben, wo sie waren.

Kleine Dinge wuselten vor ihm durch das Gras und ihm war, als folgten ihm Augen aus dem Zwielicht, Augen voller Bosheit und Spott, die verschwanden, sobald er sich nach ihnen umdrehte.

Schon früh hatte er gelernt, keine Angst zu haben, denn vieles von dem, was in den Wäldern herumgeisterte, wurde erst gefährlich, wenn es Furcht roch. Trotzdem wäre ihm im Moment lieber gewesen, er hätte dem fetten Lord einfach eine reingehauen, anstatt sich auf seinen Blödsinn einzulassen.

Vor ihm glitzerte etwas.

So leise es ihm sein verletzter Fuß gestattete, pirschte er sich näher heran und löste den Bogen von seiner Schulter.

Dann, ohne Vorwarnung, lichteten sich die Bäume und gaben den Blick frei auf einen kleinen Waldweiher, in dem sich der Mond kräuselnd spiegelte. In einem fast perfekten Kreis umstanden ihn die Bäume und öffneten sich in einen wolkenlosen, sternenübersäten Himmel.

Kelsen hatte schon viel gesehen, doch auch er konnte in diesem Moment nicht anders als stehenzubleiben und mit leicht geöffnetem Mund die Ruhe und Schönheit der Szenerie zu bewundern. Ein leises Rascheln ließ ihn aufhorchen; durch das Unterholz am gegenüberliegenden Ufer huschten Geschöpfe, Rehe, dem Geräusch nach zu urteilen, aber sie wagten sich nicht hinaus. Kelsen überlegte, ob er sich anpirschen sollte, aber er konnte ohnehin kaum mehr etwas sehen, und wenn er danebenschoss oder seine Beute im Dunkeln nicht fand, würde sie irgendwo sinnlos verenden und sein leerer Magen wäre immer noch nicht gefüllt.

Also grub er in seinem durchnässten Beutel und holte ein Stück Dörrfleisch hervor.

Während er es kaute, erstarben die Dämmerungsgeräusche um ihn herum und machten allmählich den Geschöpfen der Nacht Platz; es wurde stiller, nur hin und wieder raschelte ein Vogel oder eine Fledermaus vorbei.

Die Luft war schwer und süß vom Regen und erfüllte Kelsen mit einem merkwürdigen, tiefen Frieden.

Obwohl er ungeschützt und völlig allein im Dunkeln saß, mitten auf einer Lichtung, an einem Wasserloch, wo er von allen Seiten leicht zu sehen und noch leichter anzupirschen sein würde, spürte Kelsen, wie seine Augen immer schwerer wurden. Er war so müde, seine Beine so schwer, und im hohen Gras fuhr der Wind nicht so stechend durch seine feuchten Kleider, dass er beschloss, noch einen Augenblick sitzen zu bleiben. Nur noch einen Moment, dann würde er aufstehen und sich einen Unterschlupf für die Nacht bauen.

Nur noch einen Augenblick …

***

Als er erwachte, sangen die ersten Morgenvögel in den Bäumen.

Die Welt um ihn war grau, durchzogen von Rosa, und es lag so dichter Nebel, dass er kaum bis ans andere Ufer des Teichs sehen konnte.

Verwirrt rieb er sich den Schlaf aus den Augen.

»Verdammter Dreck«, fluchte er leise und setzte sich auf; sein Haar und sein Gesicht waren voller Tau und während er geschlafen hatte, war ihm auch sein Bogen aus den Händen gerutscht; harmlos lag er einen guten Schritt von ihm entfernt und hatte sich wahrscheinlich in der Nässe verzogen. An die spröde gewordene Sehne wollte er gar nicht erst denken.

So etwas war ihm noch nie passiert, und er ärgerte sich über sich selbst.

Am Ufer des Teichs sammelten sich ganze Rotten kleiner Tiere, Hasen, Vögel und so weiter, um zu trinken. Es musste das einzige Wasserloch weit und breit sein.

»Na immerhin«, brummte Kelsen und nahm den Bogen auf. »Frühstück.«

In diesem Augenblick … geschah etwas.

Es war, als ginge ein Rascheln durch die Luft, nur um gleich darauf von einer vollkommenen Stille abgelöst zu werden. Sämtliche Tiere auf der Lichtung verharrten und drehten die Köpfe in Richtung des Waldes, der am anderen Ufer lag.

Sofort war jegliche Müdigkeit verflogen; Kelsens Instinkte erwachten, seine Finger ergriffen einen Pfeil und legten ihn auf die Sehne. Was immer dort im Wald verborgen war, ob ein Dämon oder ein natürliches Untier, es würde sehr bald bereuen, dass es sich gerade diesen Platz für seinen Morgenspaziergang ausgesucht hatte.

Ein sanftes Licht schimmerte durch die Bäume, ähnlich dem Mondlicht, das Kelsen gestern Abend sich im Wasser hatte spiegeln sehen. Er fragte sich, ob die Sonne schon aufging – und dann trat etwas aus den Bäumen hervor und es war, als hielten sämtliche Kreaturen auf der Lichtung den Atem an.

Kelsen klappte der Mund auf, und ohne dass er etwas dagegen tun konnte, fiel ihm zum zweiten Mal der Bogen aus den erschlafften Händen.

Das Licht verblasste und das Tier trat ganz hinaus auf die Lichtung. Doch die anderen Lebewesen kamen nicht auf es zu, sondern wichen zurück, manche neigten sogar die Köpfe, als ob sie sich vor ihm verbeugten.

Kelsen starrte es an.

Er wusste, was es war, obwohl er noch nie eines gesehen hatte und obwohl keine Beschreibung, die davon existierte, zutraf.

Es hatte keine Ähnlichkeit mit einem Pferd. Eher glich es einem hochgewachsenen, anmutigen Reh mit gespaltenen, schimmernden Hufen. Es hatte keinen Schweif, sondern eine Art schlanken, eleganten Schwanz, an dem silberne Haare wuchsen, fast wie bei der Rute eines Wolfs. Sein Kopf auf dem anmutigen Hals war klein und schmal, mit einem seltsam spitz zulaufenden Gesicht. Das Horn auf seiner Stirn schraubte sich spiralförmig empor und strahlte noch heller als der ganze restliche Körper. Einen kurzen Moment war Kelsen von der puren Helligkeit und Schönheit geblendet und gleichzeitig verstört von dem unerwartet bedrohlichen Aussehen der einzigen Waffe des Wesens.

Verwirrt beobachtete er, wie das Einhorn einen Fuß vor den anderen setzte, mit langsamen, präzisen Bewegungen, als hätte es schon seit Jahrhunderten vorgehabt, genau auf diese Weise genau diesen Weg entlangzugehen. Seine dichte Mähne fiel ihm bis fast zu den Fesseln und wallte und wogte dabei, obwohl es absolut windstill war. Fast war es, als wehte von irgendwoher eine einzelne Brise, nur dazu da, die Schönheit des Geschöpfes zu unterstreichen. Mit jeder Bewegung seines Kopfes, jeder Drehung des schlanken Halses, jedem Heben und Senken der schimmernden Hufe, wurde Kelsen seine eigene Hässlichkeit und Unvollkommenheit bewusst, und plötzlich traf ihn die Erkenntnis, dass er sterblich war, mit voller, schockierender Wucht. Er konnte nur hilflos dasitzen und das Geschöpf anstarren.

Das Einhorn schlenderte seelenruhig weiter über die Wiese am Teich, senkte hin und wieder andeutungsweise den Kopf, nur um dann doch zu entscheiden, dass die Gräser für seinen feinen Gaumen nicht gut genug waren. Irgendwann schien es jedoch eine Stelle gefunden zu haben: Mit einer Geste unbeschreiblicher Anmut blieb es stehen und neigte den Hals, um vornehm einige Blumen abzurupfen.

Wie ein durchnässter Hund schüttelte Kelsen den Kopf: Jetzt war der Augenblick gekommen, von dem er nicht geglaubt hatte, dass er ihn je erleben würde. Jetzt war es an ihm, das Tier zu schießen, das der fette Lord von ihm gefordert hatte und das Kelsen für den Rest seines Lebens reich machen würde. Langsam tastete er nach seinem Bogen, ohne das Einhorn aus den Augen zu lassen. Das Tier ließ sich von ihm nicht stören; hin und wieder ließ es seine schönen, uralten Augen über die Umgebung gleiten, aber mit einer solchen Herablassung, als wisse es schon längst, dass Kelsen da war, ohne ihn jedoch als Gefahr anzusehen.

Nun, das würde es bereuen.

Kelsen legte den Pfeil auf die Sehne und zielte, bemerkte jedoch verärgert, dass seine Hände zitterten.

Das ist die Kälte, dachte er bei sich. Mir ist kalt und ich bin müde, das ist alles!

Er blinzelte heftig und zielte erneut.

Da, mitten ins Herz musste er es treffen. Jetzt, da er genauer darüber nachdachte, hatte er keine Ahnung, ob ein Einhorn ein Herz und überhaupt dieselben Organe hatte wie Hirsche oder andere Tiere, aber er würde es darauf ankommen lassen.

Vorausgesetzt er war schnell genug dafür; er wusste nicht, wie schnell Einhörner rennen konnten. Und überhaupt, hieß es nicht immer, dass die Tiere unsterblich waren?

Er war verwirrt, sein Kopf voller Zweifel und Gedanken, die da nicht hingehörten und die ihn noch nie bei der Jagd gestört hatten.

Verflucht noch mal, reiß dich zusammen!, herrschte er sich in Gedanken selbst an.

Das Einhorn graste ungestört weiter, die Mähne floss wie Seide aus Silber über den Boden, ein Bild der Vollkommenheit und Unschuld.

Gold, wütete es in Kelsens Kopf, Gold ist das, was es bedeutet, unermesslich viel davon! Und sonst gar nichts!

Erneut hob er den Bogen, doch seine Hände waren so unruhig, dass er gleich wieder abbrach. Schweiß lief ihm in Strömen übers Gesicht und stach in den Augen, also schloss er sie.

‚Einhörner sind die Hüter des Waldes, den sie bewohnen‘, kamen ihm die Worte wieder in den Sinn, die er sich für die Suche nach dem Wesen aus dem Gedächtnis zusammengekratzt hatte. ‚Ohne sie sterben die Wälder und die Tiere, die darin wohnen.‘

Kelsen hatte schon in vielen Wäldern gejagt, in denen hatte es von Bäumen und Tieren nur so gewimmelt und da hatte es ganz sicher keine Einhörner gegeben!

Sie sterben sowieso aus, ermahnte er sich, es gibt nur noch so wenige von ihnen. Auf eins mehr oder weniger kommt es nicht mehr an.

Kelsen atmete schwer und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht.

Wenn du das tust, sagte er sich, kannst du dich für den Rest deines Lebens auf die faule Haut legen. Ein Haus kaufen, irgendwo wo es fettes, grünes Gras gibt und Hügel und keine widerlichen Lords, die deine Dienste kaufen und dich dabei ansehen wie einen räudigen Köter. Keine Nächte auf dem harten Boden mehr, du kannst abends die Augen schließen, ohne dich zu fragen, ob du am nächsten Morgen wieder aufwachst …

Das gab den Ausschlag; er fasste den Pfeilbogen fester und öffnete die Augen.

Fast hatte er gehofft, das Tier wäre in der Zwischenzeit verschwunden, doch es war immer noch da, es war sogar nähergekommen, schritt erhaben das Ufer ab – die anderen Tiere hatten sich respektvoll zurückgezogen – und neigte endlich seinen makellosen Kopf, um zu trinken.

Kelsen legte an, die Hände vollkommen sicher diesmal.

Er atmete tief aus und spannte die Sehne, die Augen unverwandt auf die schneeweiße Flanke gerichtet –

Mit einem dumpfen Tschack sauste ein Pfeil eine Handbreit an seinem Gesicht vorbei und bohrte sich vor ihm in den Boden.

Das Einhorn fuhr zusammen, riss den Kopf hoch und jagte schnell wie ein Sturmwind ins Geäst davon.

Kelsen fluchte scheußlich und drehte sich mit erhobenem Bogen um, um dem Übeltäter seinerseits einen Pfeil in den Kopf zu jagen.

Dann sah er, dass er bereits ins Visier genommen worden war: Vor ihm in den Büschen stand eine Frau, etwas kleiner als er, aber von kräftigem, muskulösem Wuchs, als ob sie täglich harte Arbeit verrichtete. Sie trug unauffällige, farblose Kleider aus grobem Tuch und hatte ihr braunes Haar in einem strengen Knoten zusammengebunden. Ausdruckslos starrte sie auf ihn hinunter, einen weiteren Pfeil im Anschlag.

Kelsen glotzte sie an, völlig verdutzt.

»Was machst du hier?«, blaffte er.

»Dasselbe könnte ich dich fragen«, erwiderte sie. »Das hier ist mein Teil des Waldes, du hast hier nichts zu suchen.«

»Dein Teil des Waldes? Sagt wer?«

Die Frau zog die Sehne straff. »Sage ich.«

Ihre Stimme klang vollkommen ruhig, doch ihr Blick war erbarmungslos und sagte ihm, dass sie keinen Moment zögern würde, ihn an Ort und Stelle niederzustrecken, sollte er eine Dummheit versuchen. Also ließ Kelsen langsam seine eigene Waffe sinken und hob die Hände. Einen Moment sagte keiner von ihnen ein Wort. Kelsen musterte sie und versuchte ihr Alter abzuschätzen: Ihr Gesicht mit der rosigen Haut und der zierlichen Nase wirkte kindlich, doch um die stahlblauen Augen herum zeichneten sich winzige Fältchen ab, die höchstwahrscheinlich vom jahrelangen Blinzeln durch das Zwielicht herrührten. Zwischen achtzehn und dreißig hätte sie jedes Alter haben können.

»Du wolltest das Einhorn schießen«, stellte sie fest.

»Sieht wohl so aus«, entgegnete Kelsen.

Der Gesichtsausdruck der Frau veränderte sich nur minim, doch genug, dass Kelsen wusste, dass seine Situation sich zusehends verschlechterte.

»Ich habe den Auftrag dazu bekommen«, führte er etwas weiter aus. »Ich selbst habe kein Interesse daran, aber ich werde bezahlt dafür, dass ich das Einhorn finde und es töte. Das hat mit deinen Angelegenheiten nichts zu tun.«

»Dennoch solltest du mir in diesem Fall danken.«

Kelsen zog die Augenbrauen hoch.

»Danken, wofür? Dass du mir die Beute verjagt und mich um ein Haar umgebracht hast?«

Wieder diese winzige Veränderung im Gesicht, die diesmal deutliche Verachtung ausdrückte. »Dafür, dass ich dich davon abgehalten habe zu schießen. Hätte ich es nicht getan, hättest du nicht viel Zeit gehabt, dich an deiner Beute zu erfreuen: Einhörner sind die unschuldigsten und reinsten Geschöpfe, die es gibt. Sie zu töten bedeutet, ein furchtbares Verbrechen zu begehen. Die Götter hätten dich verflucht, ebenso wie alle anderen Kreaturen dieser Welt. Wahnsinn und Tod wären die Folge gewesen, ein ziemlich schlimmer Tod, soweit ich das beurteilen kann. Ich habe einmal dabei zugesehen, wie jemand starb, der eins erlegt hatte. Sehr unschön.«

Unwillkürlich zog sich Kelsens Magen zusammen, doch er zeigte keine Regung.

»Dumme Geschichten. Es gibt keine Flüche.«

»Genau so wenig wie es Einhörner und Kobolde gibt.«

Kelsen fühlte sich allmählich in die Enge getrieben, ganz besonders, weil dieses Weib noch immer keine Anstalten machte, den Bogen von seinem Gesicht zu nehmen.

»Und du bist einer von den Kobolden, ja? Oder was treibst du sonst hier?«

»Ich lebe hier. Und ich sage dir nur noch einmal, dass du von hier verschwinden sollst. Ich will in diesem Wald keine Wilderer.«

Langsam stand Kelsen auf. »Ich bin kein Wilderer.«

Das war nur halb gelogen; er hatte in seinem Leben schon sehr oft gewildert, aber dieser Wald gehörte seines Wissens niemandem. »Ich bin Jäger, und ich kann mir nicht vorstellen, dass der Bogen in deiner Hand da nur dazu da ist, den Boden zu durchlöchern.«

Die Frau ließ langsam die Waffe sinken, ohne ihn jedoch aus den Augen zu lassen. »Sei froh, dass ich nicht dich damit durchlöchert habe.«

Kelsen schnaubte und sammelte seine Habseligkeiten ein. Er hatte gesehen, in welche Richtung das Einhorn gelaufen war, und unauffällig begann er, den Boden nach seinen Spuren abzusuchen.

»Bemüh dich nicht«, unterbrach die Frau seine Gedanken. »Du wirst es nicht erwischen. Einhörner laufen so leicht, dass ihre Füße den Boden kaum berühren. Außerdem sind sie schneller als ein Gedanke, selbst wenn du ein Jahr danach suchst, wirst du es nicht wiederfinden.«

Kelsen funkelte sie wütend an, aber gleichzeitig war ihm, als würde sich ein kleiner, unangenehmer Knoten in seiner Brust lösen.

»Wer hat dich dazu angehalten, das Einhorn zu jagen?«, fragte sie und sah ihm dabei so eindringlich ins Gesicht, als wollte sie sich vergewissern, dass in seinen Augen eine Seele flackerte.

»Ein Edler«, erwiderte Kelsen knapp. »Er tötet gern, aber dieses eine Tier war selbst ihm zu schwierig zu fangen. Also hat er mich geschickt.«

Die Frau musterte ihn nachdenklich. »Erstaunlich, dass du es gefunden hast. Wesen, die so alt sind wie dieses, haben ihre eigenen Wege, Feinden aus dem Weg zu gehen.«

Es klang, als ob noch weitere Worte folgen sollten, doch dann schien sie es sich anders zu überlegen.

Also schulterte Kelsen sein Zeug, wobei er darauf achtete, den Bogen griffbereit zu haben; auch wenn der der Frau scheinbar harmlos an ihrer Seite herabhing, traute er ihr keinesfalls über den Weg.

»Ich kann dir den Weg zurück zeigen«, bot sie an.

Kelsen grummelte etwas Unverständliches und folgte ihr.

»Warte«, unterbrach sie und kehrte noch einmal an die Stelle zurück, wo Kelsen gekniet hatte. Mit geübten Fingern zog sie ihren Pfeil aus der Erde und reinigte die Spitze, bevor sie ihn wieder im Köcher verstaute.

Erst jetzt bemerkte sie Kelsens Blick. »Was ist?«

Kelsen sagte nichts, doch seine Augen hingen noch immer wie gebannt an dem Pfeil: Der Schaft war aus leichter Fichte und die Befiederung schimmerte in einem hellen, durchdringenden Grün.

Der grüngefiederte Pfeil

»Was sind das für Federn?«, fragte er.

»Wieso«, erwiderte die Frau, »Willst du diese Tiere auch schießen?«

Kelsen erwiderte nichts; verwirrt fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht und versuchte erfolglos, die Bilder niederzukämpfen, die beim Anblick des Pfeils wieder in ihm aufgestiegen waren.

Die Waage, ihr Befehl, der Auftrag …

»Olàntu-Vögel«, beantwortete sie Kelsens Frage. »Von denen gibt es viele in den jüngeren Teilen des Waldes. Sie reißen sich ihre Federn aus, um ihre Nester auszupolstern. Manchmal jage ich sie auch.«

»Du tötest sie? Wie schrecklich«, meinte Kelsen voller Spott.

Die Augen der Frau verengten sich. »Ich gebe dem Wald und der Wald gibt mir etwas zurück. So funktioniert das Gleichgewicht.«

»Und was gibst du dem Wald? Außer dass du herumpatrouillierst und darauf wartest, alle hundert Jahre einen zu erwischen, der gerade dabei ist, einen Mythos zu erschießen?«

»Ich hüte ihn. Indem er mich toleriert, verhindert er das Eindringen dutzender anderer Jäger und Fallensteller, Holzfäller und Abenteurer, die darauf aus sind, sich mit Ywìths und Dunkelelfen und Wurzeltrollen zu messen. Ich sorge dafür, dass die Natur und das Zwielicht ihre Ruhe haben. Und die Dummköpfe, die sich mit ihnen anlegen wollten, am Leben bleiben.«

»Also willst du sagen, du lebst … du lebst wirklich hier? Hier im Wald?«

»Ja.«

»Aber du bist nicht hier geboren.« Kelsen kannte einige Waldmenschen, Marschbewohner und sonstige Wildlinge, und sie gehörte ganz bestimmt nicht dazu; abgesehen davon, dass sie noch alle Zähne hatte und man ihre ursprüngliche Hautfarbe sehen konnte, stank sie nicht ansatzweise genug.

»Nein«, bestätigte die Frau und schob einen herunterhängenden Ast aus dem Weg, wobei sie sich nicht darum scherte, ob Kelsen, der hinter ihr ging, ebenfalls ausweichen konnte. »Ich bin in einem Dorf in den Heidelanden aufgewachsen. Und irgendwann habe ich erkannt, dass Tiere mir weitaus lieber sind als Menschen. Sie lügen nicht, betrügen nicht und sind nicht grausam. Also bin ich hierhergekommen, um über sie zu wachen. Sie zu behüten vor Leuten wie dir.«

»Wie lange ist das her?«

Die Frau zog die Nase kraus, als überlegte sie. »Ich weiß es nicht genau. Sechs oder sieben Jahre vielleicht.«

Kelsen konnte nicht anders, als widerwillig beeindruckt zu sein. »Ein Wunder, dass du so lange überlebt hast.«

»Wenn du den Wald und seine Bewohner respektierst, respektieren sie auch dich«, erwiderte die Frau mit einem Anflug von Hochmut.

Kelsen schnaubte verächtlich. »Wenn ein Nrêk deine Augen fressen will, interessiert es ihn nicht, ob du ihn respektierst.«

»Nun ja«, erwiderte die Frau leichthin und tätschelte dabei das Messer an ihrer Seite, »Meinen eigenen Tod nehme ich nur für den Schutz des Waldes in Kauf, nicht für den vollen Magen einer Ausgeburt des Zwielichts. Es haben schon einige bereut, mich für einen hilflosen Ausreißer gehalten zu haben. Ich schätze, das hat sich herumgesprochen – ich erlebe immer seltener Belästigungen dieser Art.«

Während sie marschierten, erkannte Kelsen einige Landmarken wieder, die er sich auf seinem gestrigen Weg hierher gemerkt hatte.

»Wie heißt du eigentlich?«, fragte er.

»Riona. Aber alle nennen mich Rìa.«

»Alle«, wiederholte Kelsen.

Rìa ruckte unwirsch mit dem Kopf. »Naja, alle, die ich früher einmal gekannt habe.«

Eine Weile wanderten sie schweigend weiter, während der sich immer wieder ungebeten die Erinnerungen an die fremdartige Lichtung in Kelsens Kopf drängten.

»Was ist mit deinem Bein passiert?«

Kelsen schreckte hoch; seit gestern Abend war der Schmerz in seinem Fuß etwas abgeklungen, sodass er das Humpeln nur noch als lästige Nebensächlichkeit ansah. Er hätte nicht gedacht, dass sie es überhaupt bemerkte.

»Bin hingefallen«, brummte er; eben war ihm aufgefallen, dass sie ihn nicht nach seinem Namen gefragt hatte. Vermutlich hielt sie sich für feiner als ihn, der ein wertloser Wilderer war wie alle anderen, die ihren kostbaren Wald ruinieren wollten.

Als ob das verfluchte Ding ihr gehörte.

»Das ist eine Lüge«, erklärte Rìa gelassen und kletterte ihm voran über eine gewaltige Baumwurzel.

»Was geht es dich denn an?«, fauchte Kelsen, doppelt verärgert, weil er mit seinem Humpelbein zwei Anläufe brauchte, um die Wurzel zu überwinden.

»Es ist nur, dass ich in der Zeit, in der ich hier bin, gelernt habe, die Menschen zu durchschauen, die sich hier herumtreiben. Einige sind hochmütig und überschätzen sich, andere hartherzig und kalt, manche sogar grausam. Du bist nichts von alledem.«

»Du weißt ja verflucht viel über mich, in den zwei Herzschlägen, in denen du mich kennst.«

Er taumelte; sie war so ruckartig stehengeblieben, dass er beinahe in sie hineingelaufen wäre. Ohne zu blinzeln schaute sie aus ihren stählernen Augen zu ihm hoch und sagte leise: »Ich weiß sogar noch etwas über dich.«

»Ach ja?« Es entging ihm nicht, wie feindselig seine eigene Stimme klang.

»Ja.« Und dann, das erste Anzeichen von etwas, das mit ein wenig Mühe vielleicht als Anflug eines Lächelns gedeutet werden konnte: »Du hättest nicht geschossen.«

Damit drehte sie sich um und marschierte weiter.

Kelsen versuchte irgendetwas zu erwidern, aber ihm fiel nichts ein. Er erinnerte sich zu gut an die seltsame Unsicherheit, die Schweißausbrüche, die Zweifel, die er gehabt hatte, als er das Einhorn fixierte. War er so leicht zu durchschauen gewesen?

»Natürlich hätte ich geschossen«, log er viel zu spät.

»Nein, hättest du nicht. Ich war mir sicher, als ich deine Augen sah.«

Kelsen schwieg.

»Du bist kein Mörder. Du tötest, wenn du musst, um zu überleben, aber nicht aus Gier und auch nicht aus Freude am Tod.«

Ihre Stimme klang freundlicher als zuvor, aber seltsamerweise ärgerte das Kelsen noch mehr; sie redete mit ihm wie mit einem dieser weichlichen Stadtbewohner, die schon in Ohnmacht fielen, wenn sie einen Nachtmahr von weitem sahen.

»Ich lasse mich anheuern«, erklärte er, während er mit seinem Jagdmesser auf herunterhängende Zweige einhieb. »Ich werde bezahlt, Tiere, Dämonen und Biester zu jagen und sie anzubringen, damit verdiene ich mein Geld. Aber diesmal werde ich dank dir leer ausgehen. Ist wohl besser, ich gehe gar nicht erst zurück; wenn man mich für tot hält, wird man mir wenigstens nicht den Arsch aufreißen, weil ich das Vieh nicht getötet habe. Obwohl«, fügte er mit einem halben Lachen hinzu, »ich habe ja schon einen neuen, noch größeren Auftrag bekommen. Wenn ich für das Einhorn dreihundert Goldstücke bekommen sollte, frage ich mich, was ich erst dafür kriege.«

Rìa sah ihn interessiert an; sie ging aufrecht und sicher neben ihm her, die Hand nie weit von ihrem Jagddolch entfernt. »Was für ein Auftrag?«

»Ach«, winkte Kelsen ab und wischte sich Schweiß aus dem Nacken, »Nichts weiter. Gestern bin ich irgendwo hingefallen und muss mir den Schädel angehauen haben … ein komischer Traum, von der Waage und einem Wasserfall und …«

Rìa blieb wie angewurzelt stehen.

»Was hast du gesagt?«

Kelsen brummte verärgert; er wusste nicht, warum er es überhaupt erwähnt hatte, er hatte nicht vorgehabt, diesem Weib irgendetwas zu erzählen. Was war nur los mit ihm?

»Nichts«, wiederholte er, ohne sie anzusehen. »Ich verbringe zu viel Zeit im Wald, das ist es.« Als sie ihn weiterhin unverwandt ansah, fügte er widerwillig hinzu: »Ich bin im Mahlsand eingesunken, in Ordnung? Irgendwie hab‘ ich mich befreien können, aber ich muss wohl kurz vor dem Ersticken gewesen sein, jedenfalls habe ich eine Lichtung gesehen und einen Wasserfall. Und die Göttin Waage ist auch vorgekommen und so eine komische Schale mit …«

»Du warst dort?«, unterbrach ihn Rìa, ihre Stimme nicht mehr als ein Flüstern. »Am Teich der Götter?«

Kelsen erwiderte ihren Blick verunsichert. Von einem Augenblick auf den anderen strahlten ihre Augen wie von einem inneren Feuer erleuchtet.

»Du kennst diesen Ort?«

»Ich habe davon gehört«, erwiderte Rìa, deren Gesicht sich aufhellte, als ob ein Sonnenstrahl es getroffen hätte. »Es ist ein verborgener Platz, nicht ganz hier und nicht ganz dort. Man kommt nur hin, wenn man gerufen wird, und es heißt, es sei so schön dort, dass alle, die dort sind, lieber sterben, als zurückzukehren. Die Götter wohnen dort«, schloss sie etwas matt.

Bei ihren Worten kam Kelsen der Wasserfall in den Sinn, und er fragte sich, was er wohl zu sehen bekommen hätte, hätte er einen Blick dahinter werfen können.

»Und du warst wirklich dort?« Es fehlte nicht viel, und sie hätte sich an seinem Kragen festgeklammert.

»Ich … keine Ahnung. Ich dachte, es wäre eine Täuschung gewesen. Eine Vision, ein Dämonenstreich, so etwas.«

»Was hast du gesehen?«

Kelsen hatte eigentlich keine Lust, ihr noch mehr zu erzählen, dennoch tat er es. Es fühlte sich überraschend gut an, jemandem davon zu berichten, vor allem, weil sie ihn offenbar nicht für verflucht oder verrückt hielt.

Als er geendet hatte, schaute sie ihn aus ihren unergründlichen Augen an.

»Das Blut des Erben … was ist damit gemeint? Was für ein Erbe?«

Kelsen zuckte die Schultern. »Keine Ahnung.«

»Dann musst du es herausfinden. Du musst tun, was die Göttin dir aufgetragen hat«, sagte sie in einem Tonfall, als könne sie nicht verstehen, warum Kelsen sich nicht schon längst auf den Weg gemacht hatte.

»Tun? Was? Mir ein Schwert holen und einen Mythos damit erstechen?«

Rìa sah ihn todernst an. »Du hast einen Auftrag bekommen. Du bist auserwählt. Die wenigsten Menschen erfahren jemals eine solche Ehre.«

Kelsen schnaubte. »Eine Ehre? Hingehen und einen der alten Dämonen erlegen? Schau mich doch mal an! Wer bin ich denn? Ein Magier? Ein Held? Wohl kaum!«

»Und doch musst du es tun«, sagte Rìa einfach.

Kelsen antwortete nicht; seit er aus dem Mahlsand aufgetaucht war, lag ein beklemmendes Gewicht auf ihm, das sich einfach nicht abschütteln lassen wollte. Er hatte vorgehabt, die Weisung zu ignorieren, aber irgendwie war das jetzt, da er sie ausgesprochen hatte, bei weitem nicht mehr so einfach.

»Aber wie? Ich weiß ja nicht mal, wo das Ding sich überhaupt herumtreibt. Wo es ‘träumt’, wie sie sagt. Und dann die Sache mit dem ‘Einen Schwert’. Was beim Schatten bedeutet das?«

Ein leichtes Rumpeln ging durch den Boden unter ihnen und Rìa legte ihm die Hand auf den Mund.

»Sei vorsichtig«, warnte sie ihn leise. »In den älteren Teilen der Welt spricht man solche Namen nicht leichtfertig aus.«

Einen Moment lang standen sie schweigend und mit klopfendem Herzen da und horchten. Nichts war zu hören außer dem zunehmenden Zwitschern der Vögel, und irgendwann atmeten beide erleichtert aus.

»Also gut«, murrte Kelsen, »Ich bin ja bereit, an Götter und Weisungen und Dämonen zu glauben, es gibt mehr als genug Geschichten über sie. Aber das sagt mir immer noch nicht, wo ich überhaupt mit der Suche anfangen soll.«

»Zuerst einmal«, sagte Rìa und setzte sich erneut in Bewegung, »sollten wir aus dem Wald herauskommen. Vom Waldrand aus gesehen gibt es eine kleine Stadt, zwei Tagesmärsche in östlicher Richtung. Dort werden wir uns erkundigen können.«

Kelsen blieb stehen. »Moment mal! ‘Wir’? Ich habe nie gesagt, dass ich dich mitnehme!«

Rìa hielt nicht inne, sondern wandte ihm im Gehen ihr Profil zu. »Ich habe auch nie gesagt, dass ich dich um Erlaubnis frage.«

Einige Herzschläge lang starrte ihr Kelsen mit offenem Mund nach, während ihre Gestalt auf dem Weg vor ihm immer kleiner wurde. Irgendwann raffte er sich auf, fluchte lauthals und beeilte sich, wieder zu ihr aufzuschließen.

***

Rìa hatte Kelsen erklärt, dass sie vor ihrem Aufbruch erst noch ein paar Sachen abholen müsse. Kelsen mochte kurz überlegt haben, ob er nicht einfach abhauen sollte, sobald sie ihm den Rücken zudrehte, aber irgendetwas hielt ihn zurück. War es die Tatsache, dass sie als Jägerin und Fährtenleserin vermutlich nicht weniger begabt war als er selbst? Sie würde keine Mühe haben, ihn wiederzufinden, nicht mit seinem verstauchten Knöchel.

Nein, wenn er ehrlich war, wusste Kelsen, warum er sich schwertat, sie zurückzulassen: Die Worte der Göttin, er solle dem grüngefiederten Pfeil folgen, hatten sich tief in ihm festgesetzt und ließen sich nicht verdrängen. Bis dahin mochte er sich eingeredet haben, dass das Ganze nur ein Traum gewesen war, aber seit er Rìas Pfeile gesehen hatte, wusste er, dass es nicht stimmte.

Es war wirklich gewesen. Er war an diesem Ort gewesen, den die Waldläuferin ‘Teich der Götter’ genannt hatte.

Also schlurfte er ihr missvergnügt hinterher, als sie ihn zu ihrem Versteck lotste. Er überlegte, ob sie sich ein Erdloch gegraben oder eine andere Höhle als Wohnsitz gefunden hatte und war daher sehr überrascht, als sie nach längerer Zeit zu einer Art Baumhaus kamen, so gut im Blätterwerk einer Buche versteckt, dass selbst Kelsens scharfe Jägeraugen es auf den ersten Blick nicht entdeckten. Die unteren Äste waren abgeholzt worden, um zu verhindern, dass sich jemand allzu leicht Zugang verschaffte. Dafür hing eine dünne Schnur herab, die mit einem raffinierten Mechanismus mit einer Strickleiter verbunden war. Sobald Rìa daran zog, rollte die Leiter sich ab und erlaubte Kelsen, der Waldbewohnerin in ihre Behausung zu folgen.