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"Schlechten Menschen geht es immer gut" – mit diesem Motto und anderen zynischen Sprüchen hat sich der Erzähler zum bewunderten und verhassten Mittelpunkt einer gelangweilten Oberschichtclique gemacht. Keiner weiß, dass er von schlecht bezahlten Minijobs und einer außergewöhnlichen Gabe lebt: Alkohol macht ihn zum Gedankenleser. Ein Hochstapler, der die Dummheit der oberflächlichen Hipsterbande ausnützt, aber auch ein unwiderstehlicher Improvisationskünstler, der in der glamourösen Tarán seine Liebe findet und sich aus schierer Not in ein immer aberwitzigeres Lügennetzwerk verstrickt, in dem tätowierte Mafiabosse und wilde Verfolgungsjagden zum Alltag gehören. Dieser Drahtseilakt geht jedoch nur solange gut, bis der Neubauer auftaucht…
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Seitenzahl: 276
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Cordula Simon
Roman
Wir danken für die Unterstützung
Die Autorin bedankt sich bei der Literar-Mechana für die finanzielle Unterstützung der Arbeit an dem vorliegenden Roman.
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
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© 2018 Residenz Verlag GmbHSalzburg – Wien
Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.Keine unerlaubte Vervielfältigung!
Umschlaggestaltung: BoutiqueBrutal.comTypografische Gestaltung, Satz: Lanz, WienLektorat: Jessica Beer
ISBN ePub978 3 7017 4569 2
ISBN Printausgabe978 3 7017 1685 2
Kapitel 0
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Vom Neubauer habe ich zum ersten Mal gehört, kurz nachdem ich rausgeworfen wurde. »Junger Mann«, hatte es zuvor neben mir gesagt, während ich mich hinter dem Pappständer versteckte. Die Frau sprach mit mir.
Marlies zog gemächlich ein Produkt nach dem anderen über den Scanner. Sie wippte mit dem Fuß. Man hatte Zeit, auf Marlies zu warten, Marlies war freundlich.
Neben mir aber stand eine alte Frau im braunen Mantel, die sich an ihr kleines Beutelchen von einem Portemonnaie klammerte, und fragte nach der Gelatine. Ich hatte gerade Backpulver und Vanillezucker ins Regal geräumt. Sie verschwand beinahe im Kragen ihres braunen Filzmantels und fragte schon zum dritten Mal nach den Dörrzwetschken, obwohl sie direkt vor dem Pappregal stand, auf dem die Dörrzwetschken zu finden waren. Die alten Frauen fragen immer nach allem, damit sich jemand mit ihnen unterhält. Beim Einräumen hatte ich mich noch gefragt, wer so viele Dörrzwetschken benötigt. Aber alte Frauen brauchen Dörrzwetschken, sobald die weihnachtliche Saison beginnt, und sie stehen direkt davor und sie fragen. Vor lauter traurig und allein fragen sie. Mit dem einzigen Zweck, sich zu unterhalten.
Ich war müde, ich war am Vorabend mit Wiesner unterwegs gewesen. Ich wünschte, die Frau würde zur Kassa gehen und sich mit Marlies unterhalten. Marlies machte das gerne. Marlies lächelte für alle. Dann spielte sie wieder unsicher mit ihren Piercings. Ich rieb mir die Augen.
Da sah ich jemanden durch die Tür kommen, der mir bekannt vorkam. Hinter dem Mann eine Frau, die mir auch nicht völlig fremd schien, mit einem schreienden Kind an der Hand. Gestern! Ich duckte mich hinter den Pappständer. Sie waren gestern dabei gewesen! Nicht das Kind, nur die beiden. Sie durften nicht an mir vorbeigehen. Sie durften mich nicht sehen. Wiesner würde es sonst erfahren. Sie würden es Wiesner sicher erzählen. Ich schlich um den Pappständer herum, während sie durch die Gemüseabteilung gingen, die alte Frau im braunen Mantel rutschte mit ihren ebenso braunen Schuhen hinter mir her: »Junger Mann, wo finde ich die Gelatine?« Ich griff nach vorne und reichte ihr eine Packung, kam hinter dem Pappständer aber nicht hervor, das Risiko, gesehen zu werden, war zu groß. Das Kind schrie immer noch, und die Eltern hatten offenbar Schwierigkeiten, sich auf ihren Einkauf zu konzentrieren. Die kleine Familie war an mir vorbeispaziert. Vielmehr wurde das Kind von der Mutter vorbeigezerrt. Ich rührte mich nicht.
Die alte Dame bedankte sich, da hörte ich ein Klirren: Ich senkte den Kopf – bitte nicht! Aber doch: Ich wurde zur Kassa gerufen. Ich rührte mich nicht. Waren es Bekannte von Wiesner? Bekannte der Tarán? Wir hatten viel getrunken gestern und sie waren mir irrelevant erschienen. Die meisten Leute haben gar kein Gesicht und die meisten Leute sind irrelevant. Sie standen noch an der Kasse. Ich klammerte mich an den Pappständer. Noch einmal wurde ich zur Kasse gerufen. Ich tat keinen Atemzug. Da klingelte mein Telefon. Marlies würde meinen Klingelton erkennen. Ich bemühte mich, es lautlos zu stellen. Ich hätte es im Spind lassen sollen. Das war Wiesner. Wiesner rief immer zum unpassendsten Zeitpunkt an. Ich hörte von der Kasse her noch: »Du hast die Rechnung falsch gefaltet«, dann verließ die Familie den Supermarkt. Dieses Klingeln war es, das das Fass zum Überlaufen brachte, das war der Kündigungsgrund. Morgen würde ich nicht mehr kommen müssen.
Ich wankte am Abend mit einer Tasche voller Bier durch die automatische Tür. An sich durfte man Abgelaufenes nur im Supermarkt konsumieren, aber Marlies sagte: Scheiß drauf. Marlies, die gute Seele. Was sollen sie schon tun?, hat sie gesagt, dich noch einmal rauswerfen? Dann hat sie gelächelt. Da waren schon zu viele Verwarnungen gewesen, weil ich während der Arbeit telefoniert hatte. Schockstarre war keine Ausrede, wir sind hier ja nicht an der Uni. Hier bekommt man einen Rauswurf statt eines Therapiehundes und Play-Doh.
Auf dem Parkplatz habe ich noch ein paar Dosen verschenkt: Ein kleiner Typ im Trainingsanzug zählte sein Geld und es würde nicht reichen. Er solle Bier zur Party mitnehmen. Mich hat kein Geld zu haben auch noch nie davon abgehalten, Party zu machen.
In meiner Wohnung legte ich die Dosen in die Schreibtischschublade neben den Billigwodka und die alte Weinflasche, die ich neu befüllt und versiegelt hatte, nur drei Dosen stellte ich auf den Boden, dann bereitete ich das Bett vor, schob den Drehsessel eng an den Tisch, zog die quietschende Klappcouch aus. Für dieses Mal war es vorbei. Ich hatte mich finanziell verausgabt. Wie immer, denn nur der richtige Eindruck zählt. Der Mietrückstand war zu groß und ohne den Job im Supermarkt gab es keine Möglichkeit mehr, die Zahlung hinauszuzögern. Übermorgen war der Monatserste. Morgen würde ich also beginnen zu packen. Das Kommende mochte unangenehm sein, aber ich hatte in meinem Leben schon Schlimmeres ertragen. Schlimmeres als Wiesner. Ich setzte mich auf das metallisch knirschende Bett und öffnete eine Dose.
Man gehe in eine möglichst teure Bar. So habe ich Wiesner gefunden. Die kleine Schildkröte. Er sieht immer aus, als würde er den Kopf einziehen. Wenn man Glück hat, kommt man nach dem Tod in eine Bar, in der man niemanden kennt. Oder noch wichtiger: in der man nicht erkannt wird. Eine Bar ist essenziell. Alkohol ist essentiell für einen Menschen mit meinen Fähigkeiten. Wiesner ist jedenfalls eine Schildkröte. Eine Schildkröte, die mit erstaunlich weicher Stimme einen Old fashioned bestellte. Man kann nicht danebenliegen, wenn man jemanden anspricht, der einen Old fashioned bestellt. Wiesner hat bezahlt, seine Freunde haben bezahlt, niemand hat bemerkt, dass meine Runde ausfiel. Auch wenn ich damals nicht so blank war wie jetzt. Wiesner: Das ist jemand, der versucht, mit allen Mitteln classy zu sein. Das richtige Näseln, die richtige Nonchalance.
Auf alle Fälle war der Mensch schwer zu enttäuschen, was wohl daran lag, dass er trotz seiner dreißig Jahre ein Würstchen geblieben war, das einen Erwachsenen anrufen möchte, wenn ihm die Nudeln anbrennen.
Wiesner gefunden zu haben, sollte sich als Glück erweisen. Gerade in der aktuellen Situation. Das ist das erste Mal, dass ich mit einer Reisetasche in der Hand an Wiesners Tür klingle. Ich habe vorher nicht angerufen. Das ist auch wichtig. Ein Notfall ist erst ein Notfall, wenn man zeigt, dass die Konventionen außer Kraft sind. Dass man auf die Annehmlichkeiten des einundzwanzigsten Jahrhunderts scheißen musste. Jawohl: musste. Schließlich ist es vonnöten, die Situation zu verkaufen. Keine schwarzen Löcher. Keine Lücken in den Erzählungen. Wiesner ist also unvorbereitet. Ich nicht minder. Die Tür geht auf und Wiesner ist überrascht. Wiesner öffnet die Tür und zieht den Kopf ein. Schildkröte, sag ich doch. Quelle surprise! Erst Freude, mich zu sehen. Die kleine Schildkröte freut sich immer, mich zu sehen. Dann der Blick auf die Reisetasche. Sie ist aus Leder, selbstverständlich. Sie sieht teuer aus. Was man zeigt, muss teuer aussehen und billig sein und keinesfalls umgekehrt. Kopf einziehen. Jaja, Wiesner eben. Kann ich hier schlafen? Ein paar Tage? Es ist ein Notfall. Wiesner stutzt kurz: Was ist passiert? Frag nicht. Damit sind wir hier auch schon fertig. Ich kenne Wiesner ausreichend lange, um sicher zu sein, dass er keine Fragen stellt. Ich hatte auch keine Zeit, mir eine Geschichte auszudenken. Vertrauen nennt man das. Wiesner vertraut darauf, dass ich wohl schon Gründe haben müsste. Das ist ausreichend. Ich habe Gründe. Voilà. Schließlich kann ich Wiesner ja wohl kaum erzählen, dass ich obdachlos bin. Das ist nicht die Welt, in der ich lebe. Das also nur so entre nous. Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten. Jedoch auch nichts zu sagen. Wiesner tritt zur Seite, ich betrete die Wohnung.
Zu lügen war gerade nicht notwendig. Wiesner selbst war kein guter Lügner. Er erlitt durch aufkeimendes Lachen dabei immer sofort Schiffbruch. Ich hatte meinen Mantel auf die Garderobe gehängt. Dieser verfluchte Winter würde endlich zu Ende gehen. Der naive Tropf. Niemals passiert etwas »einfach so«. Ja, klar, sicher. Ich habe Wiesner erforscht. Das ist recht einfach: Es gibt Mitspieler und es gibt Spielzeug. Wiesner ist Spielzeug. Wabbliges, schildkrötenhalsiges, schwammiges Spielzeug, das man sich schwer außerhalb einer Badewanne vorstellen kann. Zumindest, was das Soziale betrifft. Wiesners Fähigkeiten in anderen Bereichen sind nicht gering zu schätzen. Geldverlegenheiten waren ihm fremd.
Wiesner also zunächst in der Bar. Das sollte ich erklären. Es war so, dass das elende österreichische Proletenpack um ihn herum, alberner kleinstädtischer Landadel, mich einen Piefke nannte. Ihr habt ja keine Ahnung, wie ich mich ohne antrainiertes Hochdeutsch anhören würde. Aber man muss ja nur die richtigen Vorurteile haben. Alle Menschen mit bundesdeutschem Akzent sind Nazis, zum Beispiel. Und in Diskussionen nennt man Menschen, die einem widersprechen, prinzipiell Hitler.
»Wer einen Old fashioned trinkt, muss ein grässlicher Mensch sein.« Damit hatte ich ihn. Er lachte. Die Reaktion war vorhersehbar, obwohl ich noch nicht genug getrunken hatte, um alles vorherzusehen. Ich war nicht zum ersten Mal in der Bar. Man muss schon die Geduld haben, auf den richtigen Menschen zu warten. Auf eine Gruppe ekliger, sich kultiviert fühlender Mittzwanziger. Der Barkeeper fragte nach meinem Befinden. Schlechten Menschen geht es immer gut. Wiesner lachte wieder. Ich habe einen Old fashioned bestellt. Der Rattenschwanz an Oberschichtskiddies hielt das Maul. Wiesner war der Alphaschwan. Nur zu mir blickte er auf. Ich bin auch ein Stück größer als er. Ich habe ein wesentlich kräftigeres Kinn. Wiesner war eine graue Gestalt. Graue Augen, aschige Haare. Mein Haupthaar war auch dichter und wechselte, ebenso wie meine Augen, mit dem Lichteinfall die Farbe, ohne aber jemals fahl zu wirken. Ich könnte jeder sein. Wiesner war nur einer. Wiesners Haare hatten schon begonnen, am Kopf auszufallen und auf den Schultern wieder festzuwachsen. Wiesner hatte mit der Kreditkarte gewedelt.
Wenn man jemand um einen Gefallen bittet, suggeriert man, dass es ein Naheverhältnis gibt. Die Idee echter Freundschaft. Man legt nahe, dass derlei Gefälligkeiten auch umgekehrt möglich wären, dass man um etwas bitten, mehr noch, auf jemanden zählen könnte. Daher war es gut, auf Wiesners Couch zu sitzen. Das offensichtlich nicht kostengünstige Exemplar eines Weekenders neben mir. Es gäbe ein Problem. Und er, Wiesner, würde mir schrecklich zu Hilfe sein. Wiesner mochte den Eindruck, den wir in den beiden Jahren unserer Bekanntschaft in der Öffentlichkeit gemacht hatten. Oh you glorious shitlords! Die kleine Schildkröte würde diesen Eindruck um jeden Preis aufrechterhalten wollen. Es gäbe also ein Problem. Wiesner machte ein besorgtes Gesicht, und ich hoffte auf Whisky, um zu wissen, was in seinem Kopf vorging. Es sei besser für ihn, Wiesner, wenn er nicht wüsste, worum es geht. Ich jedenfalls müsste eine Zeitlang untertauchen. Sieh doch, kleine Schildkröte, wie ich auf dich achtgebe. Keine Gefahr für dich. Nur Kismet. Nichts sonst. Wiesner nickte langsam. Hast du Hunger? Ein Nicken meinerseits. Ich stellte meine treue alte Weinflasche auf den Tisch. Wiesner betrachtete das Etikett. Stellte sie auf ein Regal.
Wiesner ließ mich allein im Wohnzimmer sitzen. Wie geht es dir sonst? Abgesehen von dem nicht zu Beredenden? Ich machte, obwohl er mich nicht sehen konnte, die gleiche abwehrende Handbewegung wie immer: Schlechten Menschen geht es immer gut. Die Handbewegung eine Gewohnheit. Gewohnheiten dieser Art müssen gepflegt werden. Du siehst müde aus. Das war die höfliche Art zu sagen: Du siehst scheiße aus.
Ich kenne dieses Wohnzimmer schon zu gut von Partys. Die Bilder an den Wänden und die Skulpturen haben die Eltern für Wiesner gekauft. Da stand sogar eine mittelalterliche Maria auf einem Sockel. Geradezu ekelhaft das Teil. Rissiges Holz. Passt überhaupt nicht zu dem modernen, nüchternen Stil der restlichen Wohnung. Ebenso der Dekordildo aus Glas. Man wollte mit dem Kauf angeblich einen lokalen Künstler unterstützen. Wertanlage. Hatte Wiesner gesagt. Er traf diesbezüglich keine Entscheidungen selbst.
Wiesner war das typische Arztkind. Früher, als Ärzte noch übermäßig verdienten. Wiesner behauptete stets, verschreibungspflichtige Arzneimittel für jeden besorgen zu können. Aber bewiesen hatte er diese Fähigkeit nie. Seine Eltern bezahlten die Wohnung. Jedoch keine Mietwohnung, sondern Eigentum. Davon besaßen sie gewiss noch mehr. Sie bewohnten das Dachgeschoß eines Hauses in der Innenstadt, groß genug für sie und für Wiesner als Einzelkind. Er zeigte auch den für Einzelkinder typischen Egoismus. Für sein Studium wäre es eigentlich nicht notwendig gewesen, auszuziehen. Die Dachgeschoßwohnung war auch nicht weiter von der Geisteswissenschaftlichen Fakultät entfernt als diese hier. Die Einrichtung der Wohnung hatte ich Wiesner zu Anfang noch zugetraut, er kleidete sich auch zweifelsohne geschmackvoll, jedoch beschlich mich immer mehr der Gedanke, dass dies alles seiner Mutter zuzuschreiben war.
Die helle Wohnung hatte eine eigenartige Raumaufteilung. Am Ende der Rückwand des Wohnzimmers fand sich ein Durchgang zum Schlafzimmer, da beides an der Glasfront lag, und beide Räume hatten eine Tür zum Bad. Man musste also beide Badezimmertüren abschließen, wenn man nicht alleine in der Wohnung war und nicht beim Scheißen gestört werden wollte. Wiesner kam mit zwei Tellern zurück in den Raum. Kellnerische Fähigkeiten, beide Teller mit einer Hand zu tragen, hatte er selbstverständlich keine. Er stellte einen Teller vor mir auf den Wohnzimmertisch. Nur mit einer Gabel, keine Serviette. Nudelauflauf. Gelber, käsiger Nudelauflauf. Bei Wiesners Partys gab es immer Käseplatte mit verschiedenen Weinen. Und nun: Nudelauflauf, offensichtlich in der Mikrowelle aufgewärmt. Seine Mutter hätte ihn gebracht, sagte Wiesner, und ich erinnerte mich dunkel, dass ich einmal, bei einer dieser Partys, Wodka aus Wiesners Gefrierschrank geholt und gesehen hatte, dass die Fächer gefüllt waren mit Tupperboxen. Wiesners Mutter sorgte gut für ihn. Ihre Haushälterin kochte. Wiesner sprang auf und verließ das Zimmer, er kam wieder mit einer Flasche Schnaps. Irgendein überkandideltes Biozeug. Aber der Schnaps würde seine Wirkung tun und mir würde leichter sein. Die meisten Leute waren nüchtern nicht zu ertragen.
Wobei es nicht wirklich notwendig war, herauszufinden, was Wiesner dachte, es ging nur darum, sicherzugehen, dass er sich nicht ausgiebig mit den »bedrohlichen Gegebenheiten« befasste, dass er einfach hinnahm, dass ich seine Hilfe brauchte, und ich ihm als Freund so gut war, dass er keine Fragen stellen würde. Ich musste mich darauf verlassen, dass Wiesners Egozentrismus so weit ging, dass er sich als typisches Arschloch seiner Generation nur für seine eigenen Probleme interessierte. Diese waren allesamt in seiner simplen Erste-Welt-Perspektive angesiedelt, à la: Ich hatte zwischen meinen Auslandsreisen gar nicht die Zeit, meine Bilder zu ordnen. Ich durfte mich nur nicht zu lange bei ihm einnisten. Die Lage durfte sich nicht hinziehen.
Wie seine ganze Entourage an Bekannten war auch Wiesner ein Langzeitstudent, der seinen Platz in der Wirtschaft oder Politik sah und glaubte, schon einen Einstieg zu finden, wenn er nur genügend Zeit in die Hochschülerschaft investierte. Nicht, dass er sich im Studium je mit Wirtschaft oder Politik befasst hätte. Allerdings ließ er nie eine Gelegenheit aus, sich durch die angeblich erfolgreiche Firma seines Vaters hervorzutun. Ein kleines Tochterunternehmen hatte dieser ihm vor einiger Zeit überlassen, das Wiesner so schnell wie möglich gegen die Wand gefahren hatte. So macht man aus einem Laster einen Mini Cooper. Ich kippte den Kurzen hinunter. Wir stocherten im Nudelauflauf. In der Mitte war er noch gefroren. Ich war noch nie so auf jemanden angewiesen gewesen. Wiesner griff in ein Fach unter dem Wohnzimmertisch und hielt mir einen Serviettenspender vor die Nase. Üblicherweise ignorierte er seine Erziehung erfolgreich, sobald ich anwesend war. Was soll ich sagen: Der Mann liebt mich. Er hat einen Narren an mir gefressen, was das auch immer heißen mochte. Den Serviettenspender hatte wohl auch Mami für ihn gekauft. So, zufrieden, Mutter? Hab ich das Scheißding benutzt. Kannst du meine Freunde fragen.
Derlei höfliches Getue hatte es bislang zwischen uns nicht gegeben. Ich nahm noch einen Schnaps, um Wiesners Gedanken klarer zu machen. Da hörte ich, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte.
In Gedanken war ich noch bei Wiesners Mutter, aber die Frau, die den Raum betrat, war Moni. Moni war schon seit mehreren Wochen mit Wiesner zusammen und hatte offenbar recht schnell einen Zweitschlüssel aus ihm herausgeleiert. Niemand sollte mit irgendjemandem zusammenwohnen müssen, das führt nur zu Begleitpflanzenelend, aber Wiesner war der Typ Mensch, der sich wie ein Kind darauf verlässt, an die Hand genommen zu werden. Zum Beispiel von mir. Oder von Moni. Auch mit Moni hatte ich schon getrunken, seitdem wusste ich: Moni war ein widerliches Exemplar von einem Weibsbild, in ihr war keinerlei Zuneigung für Wiesner und sie hatte sich nur aus Mangel an Möglichkeiten und einer Seele auf ihn eingelassen: Sie brauchte eine Wohnung, und da ihre Eltern fern der Stadt lebten, hätte sie diese selbst suchen müssen, und knapp bevor ihr alter Mietvertrag auslief, hatte ich es deutlich hören können: Ich könnte doch zu dem ziehen. Attraktiv ist er nicht, aber die Wohnung ist doch schön. Ihr Problem war nicht Geldmangel, sondern Faulheit. Wohnungen zu besichtigen, war zu viel verlangt. Moni ließ sich alles gefallen, bekam sie dafür Luxus. Berufswunsch Trophäenfrau. Ihr Blick streifte den Dekordildo, als sei er heute schon in ihrem Arsch gewesen. Erkenntnis kann etwas Ekelhaftes sein. Nicht einmal ich war aus so opportunistischen Gründen hierhergekommen. Ich hatte mich an Wiesner gewandt, da er trotz all der Dinge, die er nicht von mir wusste, mein engster Vertrauter war. Wiesner stellte seinen leeren Teller auf den Tisch und verließ wieder den Raum. Er holte Bettwäsche.
Ich war mit Moni allein. Ich hatte mit Moni nicht gerechnet. Wiesner, du Eunuch! Ich hatte sie einfach vergessen. Moni trank einen Kurzen. Hattest du Streit mit ihr? Natürlich, Moni, das Klatschweib. Skandalgeile Bitterfotze. Klatsch ist viel einfacher als Interaktion. Sie witterte überall Beziehungsprobleme. Sie brauchte sie, um sich daran zu belustigen, schließlich hatte sie selbst vorerst keine. Keine Gefühle, kein Drama. Ich schüttelte den Kopf. Sie sollte mehr trinken. Wiesner legte Bettwäsche auf das Sofa. Sie sah neu aus. Die Couch gehört ganz dir. Jetzt nicken. Nicht einmal ein Gästezimmer hat die Bude. Schon schwach. Moni sah Wiesner fragend an und er sagte nur knapp: Er bleibt für ein paar Tage. Sie spielte mit der Knopfleiste seines Hemdes: Warum? Das ist gerade ganz schlecht heute, ich hatte eine Überraschung für dich. Aber ich wusste: Moni war klar, dass Wiesner mich nicht wegschicken würde, und so blieb ihr der Koitus mit jemandem, den sie nicht attraktiv – und bei einer Frau wie Moni bedeutete das »abstoßend« – fand, erspart. Die Wände waren nicht allzu dick. Wiesner wäre das gleich gewesen. Sie machte einen Schmollmund. Sie trug immer roten Lippenstift. Ein Klischee von blondem Gift. Manche bemühen sich, Klischees zu sein. Wiesner war durchaus nicht hässlich, aber Moni war eine derartig aufgetakelte Prinzessin, dass man nicht umhin konnte, ihn neben ihr für eine aufgeblasene Kröte zu halten. Wiesner zog den Kopf ein. Einem unbeteiligten Dritten boten die beiden ein schauerliches Bild. Ein Naivling, der Mann. Moni fragte mich noch einmal: Hattest du Streit mit ihr? Sie zog ein mitleidiges Gesicht auf. Heuchelei. Sie setzte sich neben mich.
Aber nein, um die Tarán geht es hier nicht. Ist ja nicht so, als hätte ich mich bei ihr eingenistet. Hätten Wiesner und die Mademoiselle mich nicht ständig untertags angerufen, wäre ich auch gar nicht in der Situation, sondern hätte meine Arbeit im Supermarkt und meine Wohnung noch.
Schau, Moni, ich mache das wie du, ich niste mich bei Wiesner ein. Sie sah mich an: Warum bist du dann hier? Vielleicht wollte sie nicht mit ihrer wabbeligen Schildkröte allein sein, aber mich wollte sie auch nicht sehen. Aber wenn Mademoiselle Tarán wüsste, wo das eigentliche Problem lag, sie hätte mich längst verlassen. Warum bist du dann nicht bei ihr? Ja, es gibt Mitspieler und Spielzeug, und Moni wollte mit mir »Woisserdenn?« spielen. Die Antwort für Moni musste sein: Ich ertrage sie nicht drei Tage hintereinander. Ich hätte mir vor Monaten ausdenken sollen, was ich sage. Keine schwarzen Löcher lassen. Schwarze Löcher waren immer schlecht. Wiesner musste nichts sagen. Der Schnaps war ein ausgezeichneter Zaubertrank. Ich wusste, was er dachte: Das hast du bei der letzten Schlampe auch gesagt.
Gestern war ich zuletzt bei ihr. Gestern, als ich beschlossen hatte, Wiesner vorläufig als Lösung zu betrachten.
Genau genommen, und das würde ich Moni nicht sagen, war Mademoiselle Tarán in diesem Moment nutzlos, sie war zu anstrengend und würde auch nicht aufhören, Fragen zu stellen. Frauen. Zweifelsohne war es besser, den Kontakt mit Wiesner zu intensivieren. Moni ging das nichts an. Und Wiesner wollte ja regelrecht benutzt werden. Sonst wäre ja auch Moni nicht hier. Trinken wir noch einen Schluck, Moni. Ich legte den Arm um ihre Schulter, das verunsicherte sie. Der Schnaps roch wie Nutella, er war ein klar gebrannter.
Mademoiselle Tarán würde ja liebend gerne tagelang an mir kleben. Zwar war sie nicht blond, aber Gift war sie allemal. Aber wer wäre ich, das Mademoiselle Tarán vorzuwerfen? Ach, die Welt ist schlecht, mein Mäuschen. Dabei hätte ihr jeder, und Wiesner zuerst, gesagt, dass ich für Beziehungen nicht tauge. Aber darum ging es nicht. Es ging um eine erzwungene Bindung auf Papier, und mehrere gemeinsame Tage am Stück hätten die Idee bei ihr verstärkt. Bei der Tarán hätte ich mich benehmen müssen. Bei Wiesner musste ich das üblicherweise nicht. Mademoiselle Tarán tat auch stets das Ihre, um Menschen wie Moni Hoffnung auf großes Theater zu machen. Eine wütende Szene und Moni würde sie allen Bekannten schildern und mit ihnen ausgiebig analysieren. Ihr einziges wahres Freizeitvergnügen. Moni sorgte dafür, dass es Gemunkel gab. Immer.
Mademoiselle Tarán provozierte eben gern. Wenn sie meine Sachen aus dem Fenster warf, würde ich am selben Tag noch in ihrem Bett liegen. Stellte sie sie geordnet vor die Tür, wäre es vorbei, aber das käme bei ihr niemals vor. Big Drama, Baby! Daraus war sie gemacht.
Vitus und Amadeus kommen noch vorbei. Ich nickte wieder. Ich war ja keine Aufmerksamkeitsnutte, wie Mademoiselle Tarán es beispielsweise war. Es war gut, dass sie herkamen. Das Thema, mein Thema, würde ruhen. Vitus und Amadeus. Die Kevins der Betuchten. Die beiden traten nur gemeinsam auf. Manche Menschen wachsen ja nahezu körperlich zusammen. Ein einziges, amöboides Wesen. Erst versuchen sie, sich voneinander loszureißen, ziehen dabei aber nur den anderen mit. Und wie bei deformierten Kindern sieht der Schädel aus, als sei der andere in ihm eingeschmolzen. Zwei Dummköpfe, die sich für elegant hielten, aber bereits beeindruckt waren, wenn jemand das Alphabet rückwärts konnte, zwei Idioten, die nie gelernt hatten, dass man nicht öffentlich staunte. Dabei war das Alphabet doch eine Leichtigkeit, hielt man nach jedem Buchstaben für einen Augenblick die Zeit an. Auch dafür war das Gesöff in diesem Schnapsglas gut. Eine ausgezeichnete Ablenkung. Moni würde das Maul halten müssen. So tun müssen, als hätte man sie ohnedies ins Vertrauen gezogen. Für ihr Ego. Ich hatte mich auch einmal gefragt, ob die beiden ein Paar waren, aber ehrlich gesagt war es mir scheißegal, solange sie mit mir nicht über Regenbogenpolitik diskutieren wollten. Vitus war vermutlich der biederste Rosettenkavalier, den ich je getroffen habe.
Niemand hier würde jemals mit körperlicher Arbeit sein Geld verdienen müssen. Auch meine Fähigkeiten stellte in diesem Umfeld niemand auf die Probe. Die beiden gewiss nicht. Wiesner war entweder ein Idiot oder zu intelligent. Entweder begriff er nicht, wie ekelhaft die beiden waren, oder er wusste etwas, das ich nicht wusste. Wiesner war nicht zu unterschätzen. Trink noch einen, Wiesner. Vielleicht bringen die den Neubauer mit, dachte Moni. Wer ist der Neubauer? Von dem hatte ich noch nie gehört. Ich sah Wiesner an: Aber sein Kopf war still. Wiesner schnaubte nur ein Lachen. Als hätte ich ihn nach dem Neubauer gefragt.
Moni schaltete die Stereoanlage ein. Ein fröhliches Lied. Etwas, was im Kopf hängen blieb wie »Jede Zelle meines Körpers ist glücklich«. Sie tanzte nicht. Ich habe sie noch nie tanzen gesehen. Sie hielt vermutlich auch beim Ficken die Hüften steif. Erst recht mit Wiesner. Wiesner machte ein angewidertes Gesicht. Guter Mann. Jetzt würde ich die Zeit gewiss nicht stoppen. Der Kelch musste so schnell wie möglich an mir vorübergehen.
Da war es endlich, ein »Äääärrr«. Das Geräusch der Türklingel unterschied sich nicht von dem unerträglichen Ton, mit dem es in Plattenbauten läutete. Da machte man sich die Mühe, einen Altbau mit Stuckaturen und Fensterfronten zu versehen, und behielt dieses grässliche Geräusch. Moni sagte: Jetzt ist alles wieder gut, nicht? Sie sprach mit einer Topfpflanze. Sie glaubte wohl, dass dieses Verhalten liebenswert und süß sei. Verachtenswert. Schaut her, wie niedlich und verrückt ich bin. Aber: Ich verachte alles, schließlich soll sich niemand unfair behandelt fühlen. Nun kam das bohrende Geräusch von der Wohnungstür: »Äääärrr.«
Bevor ich in die Bar ging, wusste ich über Wiesner schon fast alles. Ich wusste, dass er gerne in dieser Bar war, ohne dass ich selbst je dort gewesen wäre. Denn dort herumzusitzen und bei überteuerten Cocktails auf das Glück zu warten, hätte sich ewig hinziehen können. Ich wusste, wie Wiesner sprach und wie er sich kleidete. Drykorn und Hugo Boss bevorzugte er, ich konnte die Anzüge auf den Fotos erkennen. Die sozialen Netzwerke haben es einfach gemacht, jemandem vorzuführen, dass man viel mit ihm gemeinsam hat und derjenige daher unbedingt mehr Zeit mit einem verbringen sollte. Und schau: Wir haben sogar schon drei gemeinsame Bekannte im großen Fratzenbuch. Und da war auch das kleine Sternchen und die Jahreszahl deiner Geburt, und ich bin jetzt auch im gleichen Jahr geboren, sogar in der gleichen Woche, dann können wir die Partys zusammenlegen. Als sei ein Stern aufgegangen, oder als sei es die Rosette deiner Mutter, die dich ausgeschissen hat. Aus dem Ich habe ich ein Wir gemacht. Wir sind von besonderem Schliff, wir sind unbesiegbar. Wir sind vom gleichen Schlag, schau dich an, kleine Kröte. Ich bin die bessere Version von dir, du möchtest sein wie ich. Als ich ihn gefunden habe, hatte ich den Nachmittag damit verbracht, die –50%-Aufkleber auszuschneiden. Marlies wusste das, nehme ich an. Aber es war ihr auch egal. Manchmal bonierte Marlies die –50% auch einfach so. Nicht nur bei mir. Es wäre aufgefallen, wären die Aufkleber im Geschäft verschwunden, und sie waren ohnehin so einfach nachzubauen. Ich brauchte mein Geld schließlich für Drykorn. Ich hatte sogar dafür –50%-Aufkleber. Nur Sonnenbrillen und Gürtel durften gefälscht sein, das fiel nicht auf. Aber ein gefälschter Anzug? Das konnte nicht gutgehen. Dafür habe ich nicht genug Vertrauen in die chinesischen Schneider. Gut angezogen zu sein, kostet immer. Vor allem kostet es Nerven. Verkäufer in Markengeschäften blicken auf einen herab und versuchen stets zu signalisieren, dass man sich ihre Klamotten sowieso nicht leisten könnte, damit man sie aus Trotz kauft. Ich kaufe aber nicht aus Trotz, ich kaufe aus Notwendigkeit, und der Anzug, den ich in der Bar trug, war das Ergebnis einer langen Online-Suche, an deren Ende Fortuna mit den Worten lächelte: »1x getragen, unbeschädigt«. Ich sah mich auf Wiesners Seite im Fratzenbuch um. Was wollte Wiesner? Wiesner wollte Frauen, die sich auf den Fotos von ihm weg bogen, als hätte er etwas Ansteckendes. Keine Sorge, Ladys, Hässlichkeit ist nicht ansteckend. Er wollte das schöne Leben und eine Karriere ohne allzu großen Aufwand. Und Wiesner kannte Leute. Alle möglichen Leute. Politikmenschen, Kunstmenschen, Forschungsmenschen. Das bot Wiesner. Und Wiesner spottete gerne, also lass uns gemeinsam spotten. Das Umfeld, in dem er sich bewegte, hatte für jemanden wie mich viel mehr zu bieten als für ihn selbst. So nuanciert wie er, war ich auch. Alleine, wie er ein Wasserglas hielt.
Es hatte nach dem ersten Treffen in der Bar keine zwei Tage gedauert, bis ich ihn zum ersten Mal um einen Gefallen gebeten habe. Damit würde er glauben, dass auch ich seine Zeit wert sei. Ich habe ihn um die Kopie eines Skriptums gebeten, das er von einer strebsamen Studienkollegin kopiert hatte. Schau, wir sind gleichermaßen faul. Und mir konnte die Lektüre gewiss nicht schaden. Ich habe noch immer alles gelesen, was nicht völlig nutzlos schien. Nur ein feministisches Werk über Skigebiete habe ich nach der Einleitung abgebrochen. Skigebiete seien zu maskulin, und ich dachte: Wen schert’s? Die Liftkarte kostet fünfzig Euro. Wenn ich nicht nach oben fahre, muss ich auch nicht gendergerecht hinunterrutschen. Jemanden um ein Buch zu bitten, ist ohnehin immer eine gute Idee. Wiesner glaubt sicher auch, dass ich den Dreck, den er zur Unterhaltung liest, gut finde. Aber er glaubt auch sonst, dass wir viel gemeinsam haben. Jede spezifische Information, die ich über ihn habe, habe ich als meine ausgegeben. Wir haben sogar das gleiche Leibgericht, auch wenn ich gerade vergessen habe, welches das ist. Täubchen à la Homburg sind es nicht. Je spezifischer die Information, umso besser. Ausgenommen tote Mütter natürlich, da großes Schweigen, das auch großes Leiden bedeutet. Wiesner musste der Eindruck gegeben werden, unverwundbar sein zu können, und ich musste interessiert wirken, das war alles. Warum sollte mir dieses Leben auch weniger zustehen als ihm? Was hat er schon dafür getan? Ich habe gleichermaßen das Recht auf diesen Lebensstil.
Cornflakes aus der Packung schmecken, als könnte man geradeso gut den Karton essen. Die Preise für Milch sind abartig. Für den Preis erwarte ich, dass jede einzelne Kuh einen Nippelorgasmus bekommen hat im Laufe des Melkvorganges.
An unserem ersten gemeinsamen Abend in der Bar hat Wiesner irgendwann begonnen, meine Zigaretten zu rauchen. Seither besitze ich ein Stopfgerät. Ich habe mich durch sämtliche preisgünstigen Tabaksorten getestet, um herauszufinden, welche seinen Gauloises am ähnlichsten waren. Wenn er betrunken ist, kann er den Unterschied nicht schmecken. Dieser erste Abend hat mich ein Vermögen gekostet. Aber bei dem, was die feine Gesellschaft so zu sich nimmt, fragt man sich ohnehin, ob sie noch schmecken kann. Wenn etwas ekelhaft ist, serviert man es mit dicker Soße und verpasst ihm einen französischen Namen: Cancrelat Rochefort zum Beispiel, und man kann den Irren geröstete Kakerlaken andrehen.
An den nächsten Abenden habe ich meinen Wodka statt mit Energydrinks mit billiger Orangeade aufgegossen. Ohne den Zucker hätte ich zu lange auf die Wirkung warten müssen. Wer hat schon die Geduld, sich gesittet zu betrinken? Irgendwann werde ich Wiesner um eine Niere bitten. Alles kein Problem.
»Äääärrr.« Vitus, Amadeus und eine Frau. Vielmehr ein Mädchen. Hello Girlie. Ein so unschuldiges Gesicht, dass man Schreckliches damit anstellen könnte. Kurzer Rock. Eine Saftschnecke. Vertrauenswürdig, etwas dümmlich. So wie man Kindern mit Downsyndrom nichts Schlechtes zutraut, bis man herausfindet, dass auch sie es faustdick hinter den Ohren haben. Schlank, knappes Kleidchen, erreichbar. Vitus’ Cousine. Meinetwegen. Sie folgte Vitus bei Fuß mit hündischer Ergebenheit. Kein Neubauer. Alles alter Adel, aber Adel gab es ja nicht mehr. Man konnte einfach behaupten, altem Adel zu entstammen. Die Abschaffung des Adels hat es dem Pöbel möglich gemacht, sich als historisch belastet auszugeben. Wollte man nicht gerade den Maltesern beitreten, war das gleichgültig. Aber wer wollte schon den wahren Inzestopfern die Ärsche auswischen? Eine Familie, die mit dem Kaiserhaus eng verbandelt gewesen war. Habt ihr noch Inzestschäden davongetragen? Das saß. Stille. Ihr liebt es, mich zu hassen. Vitus lachte. Da hatte jemand immerhin gelernt, sich nicht anmerken zu lassen, dass er beleidigt war. Vitus trug einen schlecht ausgewählten grauen Anzug, und man konnte sehen, dass er Socken und Krawatte aufeinander abgestimmt hatte. Rosa.
Amadeus’ Haare waren mittlerweile so lang, dass er sie mit einem Haarreifen aus dem Gesicht hielt, den er sich im Minutentakt neu aufsetzen musste. Als sei er ein Surfer unter südlicher Sonne, dabei war er ein mickriger, blasser Schreiberling mit vorhängenden Schultern, der sich geil vorkommen wollte. Wie schwul ist das denn? Und das meine ich jetzt nicht homophob, sondern ausschließlich als Beleidigung. Amadeus zog die letzte Silbe jedes Wortes stets dermaßen in die Länge, dass er immer genervt klang, als könnte er nicht fassen, dass er jetzt ausgerechnet damit belangt wurde, ganz gleich, worum es sich handelte, und dass er sich nun die Mühe machen musste, sich zu artikulieren. Und dann gehe ich zu dieser Lesuhng und ihr könnt gerne mitkommehn, danach vielleicht auf einen Drihnk.
Lasst mich wissen, was ihr denkt. Wiesner kippte einen: L’chaim