Wie man schlafen soll - Cordula Simon - E-Book

Wie man schlafen soll E-Book

Cordula Simon

4,6

Beschreibung

Mit abgründiger Komik und kühler Schönheit erzählt Cordula Simon über nichts weniger als die düstere Zukunft, die uns allen bevorsteht. In einer namenlosen Steppe blinken die Lichter von Lightraff, einer künstlichen Stadt, die rund um eine Raffinerie aus dem Boden geschossen ist und Arbeit in einer von Klimakatastrophen verwüsteten Welt verspricht: Koslov, Barkeeper im Darkraff, sucht hier sein Glück, genauso wie der ehemalige Landwirt Schreiber und der aalglatte Haye, der Arbeit in der Stadtverwaltung gefunden hat. Doch die drei teilen nicht nur den Glauben an Lightraff, sondern im Schichtbetrieb auch ihr Bett, das jedem für genau acht Stunden gehört. Als die Ölquellen versiegen und das straff organisierte Gefüge der Stadt zu zerbröckeln beginnt, treffen die drei Bettgeher erstmals aufeinander. Das aber kann eigentlich nur böse enden...

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Cordula SimonWie man schlafen soll

Cordula Simon

Wie man schlafen soll

Roman

Residenz Verlag

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation inder Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2016 Residenz Verlag GmbHSalzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.Keine unerlaubte Vervielfältigung!

Umschlaggestaltung: BoutiqueBrutal.comTypografische Gestaltung, Satz: Lanz, WienLektorat: Jessica Beer

ISBN ePub:978 3 7017 4533 3

ISBN Printausgabe:978 3 7017 1668 5

Nacht:

der Zeitraum zwischen jenen Zeitpunkten,

in denen sich die Mitte der Sonnenscheibe

am Abend und am Morgen sechs Grad unter dem Horizont befindet.

(VERORDNUNG DER BUNDESMINISTERIN FÜR VERKEHR, INNOVATION UND TECHNOLOGIE SOWIE DES BUNDESMINISTERS FÜR LANDESVERTEIDIGUNG UND SPORT ÜBER DIE REGELUNG DES LUFTVERKEHRS 2010 LUFTVERKEHRSREGELN 2010 – LVR 2010 § 2 NR. 45)

00

Sie würden die Leiche wegschaffen müssen. Das wussten sie beide, sogar Rob wusste es vermutlich, und es war anzunehmen, dass sogar die Leiche es wissen musste.

»Aber wie?«

»Die Bettdecke, den Körper in die Bettdecke wickeln.« Die weiche Kunstfederdecke war groß genug, um die Leiche vollständig einzuhüllen.

»Jetzt ist es gut, jetzt ist es günstig, die Stadt ist wie ausgestorben, alle schauen sich den Meteoroiden an.« Das Ereignis würde sie retten, das Ereignis würde sie alle retten, der Meteoroid und seine Eventhaftigkeit waren der Messias, den sie benötigten. Fast war es wie früher, als in Lightraff noch überall rund um die Uhr gearbeitet wurde.

»Die nächsten Mülltonnen sind auf der anderen Straßenseite, in der kleinen namenlosen Gasse.« Vielleicht hatte die Gasse sogar einen Namen, aber niemand kannte ihn, an den Hausecken waren jedenfalls keine metallenen Beschilderungen angenagelt. Allein, dass die Gasse so winzig, so unbedeutend war, dass sie keinen Namen benötigte, schien das ganze Vorhaben sicherer zu machen.

»Nein, auf der anderen Seite der Grünfläche hinter dem Haus.«

»Sicher?«

»Ja, sicher.«

»Ich meine: Sicher, dass wir die Leiche nicht einfach anzünden sollen?«

»Erst in die Mülltonne, dann die Mülltonne anzünden.« Die Mülltonne und vor allem die Bettdecke würden wunderbar brennen.

»Vielleicht bringen wir alles zum Schlachthaus. Werfen es in eine der Maschinen.« Schreibers früherer Arbeitsplatz. In Koslovs Bar oder in Hayes Büro gab es die Möglichkeit nicht, einen Leichnam einfach zu Gelatine werden zu lassen.

»Spinnst du? Das ist auf der anderen Stadtseite. Und wie kommen wir dort hinein? Und überhaupt hätte das alles nicht passieren dürfen.«

»Was alles? Dass das hier nicht hätte passieren dürfen, ist klar, aber wieso alles?«

»Lightraff.«

Das alles eben.

I

»Das macht also meine Seele aus?«, fragte Koslov und zog wenig begeistert die Augenbrauen hoch und zugleich die Hand zurück, während der Gast auf der anderen Seite der Theke am Fusel nippte. Koslov konnte es nicht besonders leiden, wenn Menschen Körperkontakt suchten, aber hier in Lightraff schien niemand genug davon bekommen zu können, und die Hand des Gastes war beständig näher gerückt. Nun klopfte er mit nervösen Fingern auf dem Holz herum. Der Tag war lange genug gewesen. Erst vor ein paar Stunden hatte Koslov die Tische abgewischt, sich kurz gestreckt, beide Arme weit vom Körper weg, und ein anderer Gast, der die Bar mittlerweile hurtig verlassen hatte, hatte es als Aufforderung zur Umarmung betrachtet, bis Koslov ihn grob zurückgestoßen hatte.

Vielleicht war den Gästen aber auch nicht mehr klar, wen sie vor sich hatten, und dass derartige Interaktionen in der Bar ohnehin unerwünscht waren. Vielleicht hatten sie Koslov alle nicht erkannt, denn dieser hatte sich am Vortag die langen Haare schneiden lassen und war mit einem sauberen Haarschnitt zur Arbeit zurückgekehrt. Der Vorgesetzte hatte sofort losgeflucht, als er Koslov erblickte: »Schon wieder so ein scheiß-neuer Praktikant. Na gut, was soll’s. Gratisarbeitskräfte nimmt man eben. Der langhaarige Idiot, der aussieht wie ein Mädchen, erklärt dir alles.« Er wollte sich offensichtlich zu Koslov umdrehen, und sagte ins Leere: »Sieh zu, dass der Neue nichts durcheinanderbringt.« Vielleicht unterlief den Gästen gerade permanent der gleiche Fehler. Der mit der Umarmung war immerhin ein Stammgast gewesen. Das musste knapp nach acht gewesen sein. Die Leute kommen so schrecklich früh, um zu trinken, und sind dann schrecklich anhänglich. Das war es wohl, was die Schichtarbeit aus allen machte: anhängliche Trinker, die einen nächtlichen Ort suchten, um sich zu verkriechen. Hier in der Bar war immer Nacht. Die Bar hatte ihren Namen verdient: Darkraff. Man wollte ja international klingen, darum musste der Ort Lightraff heißen und auch die Bar einen solchen Namen tragen. Alle zwei Wochen gab es eine Party, die drei 8-Stunden-Schichten lang dauerte, damit alle Arbeiter und Angestellten die Gelegenheit hatten zu feiern.

Koslov rieb sich die Augen, überlegte, ob er vor die Tür gehen sollte, um zu rauchen oder immerhin so zu tun als ob, aber grelles Sonnenlicht war auch keine Lösung. Das nächtliche Leuchten der Raffinerie am Rande der Stadt löste das gleiche Unwohlsein aus. Verkriechen müsste man sich können. Koslov hielt schon seit Monaten immer die gleiche Zigarette zwischen den Fingern. Raucher wurden in Lightraff schief angesehen. Der Gast an der Theke fragte, ob Koslov einen Lightraff-Account hätte, und Koslov nickte – man konnte das Anlegen eines Accounts verhindern, hatte dann aber keinen Zutritt zu den meisten Annehmlichkeiten Lightraffs. Nicht einmal ins Schwimmbad konnte man gehen. Der Gast erklärte, dass die Augen brannten, wenn man zu lange vor dem Computer säße, was bei Koslov ein Kopfschütteln auslöste, das wiederum ein kaltes Gefühl im Nacken verursachte, weil seine Haare nun kurz waren. Koslov war seit einer halben Ewigkeit nicht im Internetcafé gewesen. Und der Gast meinte, dass es gut sei, nicht zu viel Zeit vor dem Computer zu verbringen, und schlecht, überhaupt einen Account zu haben, denn die Firma wüsste dann ja ständig, wann man wo wäre, auch wenn man selbstverständlich nichts zu verbergen hätte – das sagte der Gast lauter –, ginge es die Firma nichts an, und Koslov ärgerte sich, dass gerade jemand die Toilette aufgesucht hatte, denn das war die letzte Fluchtmöglichkeit vor solchen Gästen. Eine Bastion. Niemand wusste die Momente des Alleinseins in der Bar so zu schätzen, wie Koslov es tat. Die Firma wusste ohnehin immer, wo man war: in Lightraff. Auch die Lightraff-Card informierte die Stadtverwaltung ständig darüber, wenn man sie benutzte.

Koslov griff nach dem Tablett, um die Tische abzuräumen, und fühlte nun etwas Kaltes am Bein hinabkriechen. Er sprang, erschrocken nach dem kalten Etwas fassend, dabei das Tablett natürlich fallen lassend, einen Schritt zurück, doch das kalte Etwas hatte seinen Weg durch die Hosenröhre schon beendet: Es war eine Münze. Koslov hatte ein Loch in der Hosentasche. Wie lange sie schon in der Hosentasche gewesen war, war schwer zu sagen. Sie musste noch aus der Zeit stammen, in der die Großmutter am Friedhof warmen Wein und Schnaps verkauft hatte. Dort wurde noch mit richtigem Metall bezahlt. Zumindest, als Koslov wegzog. Koslov hätte nicht einmal sagen können, wie lange das her war. »Noch einen Schluck Tee, Frau Manenko?« Koslov wusste noch aus der Zeit am Friedhof, wie man mit Kunden umging. Ein Tag war wie der andere. Ob Monate oder Jahre machte kaum einen Unterschied.

Der Vorgesetzte betrat just in diesem Moment wieder die Bar, und Koslov fragte sich häufig, was er den ganzen Tag so trieb, wann er schlief und wo er sich aufhielt, denn er kam zu allen möglichen Uhrzeiten vorbei, kontrollierte manchmal die Buchhaltung, meist aber nur die Mitarbeiter, und es war gleich, ob Koslov von acht Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags arbeitete, oder von vier Uhr nachmittags bis zwölf Uhr nachts oder von Mitternacht bis zum Morgen, der Vorgesetzte tauchte immer wieder auf. Koslov richtete sich auf und entschied, auch später nach der weitergerollten Münze suchen zu können. Ein Relikt.

Der Vorgesetzte wies seine Mitarbeiter, sie waren wie immer zu zweit, darauf hin, dass die Happy Hour bald beginnen würde. Happy Hour war dreimal täglich und bezeichnete nicht eine Zeit, in der es verbilligte Getränke gab, sondern einen Zeitraum, in dem Arbeiter aus Lightraff, die gerade freihatten, in größerer Menge in die Bar kamen, um sich zu betrinken. Er betonte diesmal, dass sie besser achtgeben sollten, wann die Kunden zu viel hätten, und dass sie ihnen dann nichts mehr geben, sondern sie nach Hause schicken sollten. Nur ein lebendiger Trinker war ein guter Trinker. Meyer, die heute mit Koslov arbeitete, fragte ihn, woran sie denn erkennen könne, wann es Zeit wäre, und der Vorgesetzte zeigte auf Koslov: »Wenn sie anfangen, die da anzugraben, ist es so weit.« Dann warnte er Koslov noch, er solle endlich aufhören, die Stammkunden zu beleidigen, und zeigte auf die dicke Mensenchefin, die jeden Tag nach ihrer Schicht hierherkam. Außer dem Darkraff, dem Internetcafé und der Mensa gab es in Lightraff nichts, wohin man gehen konnte, und Alkohol wurde nur hier ausgeschenkt. Koslov verstand erst nicht, was er meinte, da der Vorgesetzte noch am Vortag gesagt hatte: »Hört auf, der fetten Schlampe gratis Kostproben von allem zu geben.« Die Mensenchefin bat immer darum, alles probieren zu dürfen, gab dann vor, Entscheidungsschwierigkeiten zu haben, und hatte schließlich schon zwanzig halbe Schnäpse intus, bevor sie bestellte. Der Vorgesetzte behauptete, niemals etwas Derartiges gesagt zu haben. Koslov schluckte und der Vorgesetzte fragte noch: »Koslov, wie wird das Wetter nächste Woche?«, während er sich die Jacke anzog. Koslov antwortete: »Laut Bericht schön.« Koslov hörte immer den Wetterbericht, denn ohne Sonne kann man in ihrem Schein nicht sitzen. Der Vorgesetzte machte sich auf, hob auf dem Weg nach draußen noch die Münze vom Fliesenboden auf und zog zufrieden ab. Die Happy Hour konnte beginnen, und sie kamen, sie kamen in Massen, wie Koslov und Meyer es kannten. Auch Haye betrat das Darkraff.

II

Jeder, der Haye auch nur ein wenig kannte, wusste, er war kein Mann für die Ehe. Ausgenommen seine Freundin, Valentina, die diesbezüglich anderer Meinung war. Valentina, der man durchgehen ließ, dass sie sich in Lightraff ohne Familiennamen eintrug. »Valentina, wie Madonna«, hatte sie bei der Anmeldung in Lightraff erklärt, und Haye bereute, diesen Moment nicht miterlebt und die Reaktion des für die Anmeldung in diesem Moment Zuständigen nicht gesehen zu haben. Muss auch ein dummes Arschloch gewesen sein, dachte er. Er hätte mehr Informationen aus ihr herausgelockt. Aber zugegeben, viel mehr wusste auch er bis heute nicht. Für Haye jedenfalls waren schon Versprechen an sich eine schwer verständliche Sache, geschweige denn eines, das sich bis ans Lebensende ziehen sollte. Er selbst hatte jedenfalls kaum ein Versprechen in Erinnerung, das er gehalten hätte. Scheiß drauf, dachte er. Man kann immer noch umziehen. Valentina hingegen schaffte es immer wieder, ihn dazu zu bringen, das eine oder andere Versprechen zu machen, weil er mit ihr schlafen wollte, um am Ende die Einlösung weniger genau zu nehmen. Das Ergebnis waren theaterhafte Spektakel für die Bevölkerung von Lightraff: wütende Szenen in der Öffentlichkeit. Ihm war sehr wohl klar, dass es Gemunkel darüber gab, dass er ein typischer Taugenichts sei, der sein Mädchen schlagen würde, und dass sie ihn selbstverständlich schütze. Aber ihm war der Eindruck, den er beim Publikum derartiger Schauspiele hinterließ, vollkommen egal, da er sich immer in der überlegenen Position fühlte, schon alleine deshalb, weil er einen administrativen Job hatte, und die Firma auf ihn angewiesen war. Meinte er immerhin. Er gehörte nicht zu denen, die mit Muskelarbeit in der Raffinerie ihr Geld verdienen mussten. Er sprach drei Sprachen fließend und noch drei weitere angeblich fließend, in Wahrheit jedoch gebrochen, was allerdings nie auf die Probe gestellt wurde. Der »Organisatorische Apparat«, wie sich sein Fachbereich nannte, war zentral für das Funktionieren der Stadt. Die Sache mit Valentina hielt er zumeist für ein Spiel der erotischen Provokation, womit er in manchen Fällen recht haben mochte. Er zog Frauen, die gelegentlich mit Geschirr nach ihm warfen, um ihn dann doch gekonnt zu verfehlen, den langweiligen Exemplaren vor. Je mehr Energie sie in ihren Zorn investierten, umso grauenhafter verhielt er sich. Nun hatte Valentina gerade ein neues Zimmer in der Stadt gemietet, um nicht mehr mit ihren Kolleginnen die Schlafräume hinter der Wäscherei teilen zu müssen. Sie hatte sich genug zusammengespart, um die Kaution aufbringen zu können, woran Haye einen wesentlichen Anteil hatte, denn wenn sie ausgingen, ließ sie ihn immer für beide bezahlen. Haye war auch sicher, dass jemand im Referat für Wohnraum des »Organisatorischen Apparates« einen Fehler gemacht haben musste, da so etwas wie das Vermieten von Wohnungen doch Stadtsache war. Alle Immobilien gehörten doch eigentlich der Stadt. Dieses Zimmer war nun aber erst beziehbar, wenn es frisch ausgemalt war, und Haye hatte ihr in einem schwachen oder eher gleichgültigen Moment versprochen, ihr beim Ausmalen zu helfen. Natürlich hatte er das bereits vergessen gehabt, als er ihre neue Wohnstätte das erste Mal betreten hatte, und war dementsprechend erstaunt gewesen, als sie ihm eine Farbwalze in die Hand drückte. Für Valentina bedeutete, Haye würde ihr helfen, nämlich, dass Haye die Arbeit alleine zu erledigen hatte. Farbwalzen waren zudem eigentlich eine Angelegenheit der Reparaturabteilung. Die Bürger Lightraffs sollten sich doch nicht die Hände schmutzig machen müssen. Haye hielt ihr die Weinflasche unter die Nase und fragte: »Wo ist das Bett?«, was sie dazu veranlasste, ihm zu sagen, dass er wohl Gedanken lesen könnte, denn auch das Bett musste noch in die Wohnung geschleppt werden. Auch wenn sie kein Bett, sondern eine Klappcouch meinte, die sie einer Kollegin, die die Stadt verlassen wollte, aber doch nirgendwo hingegangen war und nun vermutlich auf dem Boden schlief, billig abgelöst hatte. Billig und auch noch in innerstädtischer Währung. Nein, die Kollegin verzog bestimmt nicht. Haye entledigte sich also widerwillig seines Sakkos, auf dem sich sofort eine schwarzweiß gefleckte Katze niederließ, um sich den Hintern zu lecken.

»Du hast eine Katze?«, fragte er. »Seit wann hast du eine Katze?« Aber Valentina antwortete nicht auf seine Frage, denn sie hatte inzwischen schon genug Zeit gehabt, sich in die Vorstellung hineinzusteigern, dass er wirklich Gedanken lesen konnte, obwohl er meinte, er sei einfach gut im Raten, wie auch Illusionisten gut im Raten wären, und die Unterhaltung endete damit, dass sie kreischte, er solle aufhören, ihr etwas vorzumachen und so zu tun, als wäre es nicht so, und wenn er nicht endlich zugäbe, dass er ihre Gedanken lesen könnte, würde sie ihm im Schlaf die Kehle durchschneiden, und Haye erwiderte, dass es doch beruhigend war, dass sie nie gemeinsam schliefen, sondern nur vögelten. Er lachte. Was sie wiederum dazu bewegte, in den Farbeimer zu greifen und ihn mit weißer Farbe zu bewerfen. Sie reagierte verlässlich auf seinen Spott. Haye schüttelte nur den Kopf mit der ihm natürlichen Gelassenheit, die sie immer häufiger versuchte, ihm auszutreiben, und nannte sie das vielleicht verrückteste Weibsbild, das er je kennen gelernt hatte. Jedoch nur »vielleicht«. Worauf sie rief: »Herausforderung angenommen!« Sie wollte nach draußen rennen, er fasste sie jedoch noch rechtzeitig bei den Schultern, schüttelte sie, als rüttelte er an einer Tür, und küsste sie auf den Hals, während sie ihr Gesicht wegdrehte. Darauf beruhigte sie sich wieder, und Haye schlug vor, dass sie sich doch auch nützlich machen und sich umziehen könnte, um mitzumalen. Worauf Valentina verschwand, um sich umzuziehen, jedoch nicht, so wie Haye erwartet hatte, in einem ausgebleichten Shirt wiederkam – er wusste gar nicht, ob sie etwas Derartiges besaß, denn er hatte sie immer nur gut gekleidet oder nackt erlebt, auch wenn sie dazu neigte, ihr adrettes Outfit während ihren Szenen zu zerstören, um dann von ihm eine finanzielle Entschädigung zu verlangen. Sie betrat das Zimmer in einem Hochzeitskleid, und während Haye sich noch wunderte, wo sie wohl das Geld dafür herhaben mochte, warf sie sich darin auf den Boden und erklärte heulend und schreiend, dass sie dieses Kleid nun, wo er sich so verhielt, niemals für ihn anziehen würde, eher stürbe sie. Oder besser wäre noch, er stürbe, und sie würde endlich die Pistole benutzen, die ihr Vater ihr gegeben hatte, als sie auszog, und dann rannte sie im Raum herum, als suchte sie nach der Pistole, doch Haye fing sie ab und zwang sie, während sie noch schluchzte, zu Boden mit den Worten: »Ehefrauen, die ihren Mann erschießen, haben nach bundesgesetzlicher Entscheidung keinen Anspruch auf Witwenrente.«

Er spürte ihren Atem heiß an seinem Ohr: »Dann werde ich mich selbst töten.« Danach küsste sie ihn, immer noch unter Tränen, und er war froh, das Unheil abgewendet zu haben, zog ihr den Schlüpfer von den Hüften, und während sie seine Hose öffnete und ihre Hand schon darin versank, fragte sie: »Also wirst du mich wirklich heiraten?« Und er antwortete atemlos: »Aber ja doch.« Valentinas Katze, deren Fell auch weiße Farbe abbekommen hatte, schlich um die beiden herum und schien sich, im Unterschied zum Rest von Lightraff, nicht darüber zu wundern, dass Haye nun verlobt war.

III

Schreiber kroch ins Bett. Atmete tief ein und wieder aus. Er konnte Koslovs Wärme noch fühlen. Hörte noch das Abstellen der Kaffeetasse in der Spüle. Hörte, wie Koslov die Wohnung verließ. Früher hätte er sich vor dieser Bettwärme fremder Menschen geekelt. Er war aber so müde. Es war ihm bereits vollkommen egal. Langsam, träge, stopfte er sich die Ohrstöpsel in den Gehörgang. Am Land war es stiller. Glaubte er zumindest. Koslov hatte den Geschirrspüler eingeschaltet, war dann zur Arbeit aufgebrochen. Hatte er den Tricof ausgeschaltet? Wenigstens war er jetzt allein. Nur einmal hatte jemand während Schreibers Bettzeit die Wohnung betreten. Damals hatte Schreiber sich gezwungen, die Augen nicht zu öffnen. Obwohl er kein Geräusch hörte. Geschützt durch die Ohrstöpsel. Er wusste, dass jemand im Zimmer war. Er glaubte, dass es Haye gewesen sein musste. Koslov würde nie die Ruhe anderer Leute stören. Das ist es nämlich: störend, wenn sich im Raum etwas bewegt. An Rob hatte sich Schreiber mittlerweile gewöhnt. Rob war so gleichmäßig in all seinen Bewegungen. Er störte nicht. Ein Mensch dagegen würde ihn immer stören. Nur Robs Geräusch war ihm unvertraut geblieben. Ein gleichmäßiges Surren, alle paar Minuten, wie man es von Wühlmausabschreckern am Land kannte. Eine Plage, die Viecher. Schreiber dachte noch an die Schmutzwäsche, bevor er einschlief. Er würde die Kiste morgen zum Automaten bringen. Eine praktische Einrichtung. Schade, dass sie so etwas am Land nicht hatten. Man fütterte das Gerät mit schmutziger Wäsche, saubere kam heraus. Ein Laken für ein Laken, ein Pullover für einen Pullover. Er zählte Kleidungsstücke, um einzuschlafen. Hose in die Klappe, Hose aus der Klappe. Shirt in die Klappe, Shirt aus der Klappe. Ein Privileg der Arbeiter in Lightraff. Dann könnte er am nächsten Tag im frisch bezogenen Bett schlafen. Darauf hatte er früher keinen Wert gelegt. Die anderen legten auch keinen Wert darauf. Oder hatten zu wenig Zeit, sich darum zu kümmern. Schreiber wusste gar nicht, was Koslov tat. Welcher Tätigkeit Koslov wohl nachging? Bei Haye war er sich sicher, dem war es völlig egal, ob das Bett einmal in der Woche oder einmal im Jahr frisch überzogen wurde. Ilse würde Haye nicht mögen. Schreiber hatte Haye nicht oft getroffen. Aber ausreichend. Das alles dachte er in den wenigen Momenten, bevor er einschlief. Dann wieder an den Automaten, der seine Wäsche entgegennahm. Lightraff bot trotz der harten Arbeit in der Metzgerei zahlreiche Annehmlichkeiten. Schreiber mochte Sauberkeit. Er verschüttete auch nie etwas. Schreiber hatte gelernt, ordentlich zu sein, denn nur so war es möglich, nicht mit anderen in Konflikt zu geraten. Das hatte er von Ilse gelernt. Ilse hatte ihm beigebracht, wie man sich verhalten sollte, und Schreiber hoffte instinktiv, dass auch die anderen derartige Unterweisungen bekommen hatten. Schreiber akzeptierte auch Rob nur als etwas, das zur Ordnung gehörte. So wie die Blutwischer in der Metzgerei. Er rügte sich. Hatte sich vorgenommen, vor dem Einschlafen nicht an die Arbeit zu denken. Ein schöner Gedanke musste her. Schreiber konzentrierte sich darauf, dass er die Wärme und den Geruch des Bettes am Morgen in der Dusche abwaschen konnte. In Lightraff gab es immer warmes Wasser. Da störte es ihn gar nicht, dass die Wohnung keine Badewanne hatte. Badewannen waren doch überbewertet. Wenn er bei Ilse am Land in der Badewanne eingeschlafen war, war er oft hochgeschreckt. Die Angst, eine Riesenkrake würde ihn gleich unter Wasser ziehen. Das Wasser war dann meereskalt. Wenn das Wasser noch warm war, wachte er manchmal von der gleichen Befürchtung auf. Besonders, wenn Ilse zu ihm in die Wanne stieg. Morgen würde er die Notizfolie mitnehmen. Wenn er die Wohnung verließ. Er würde nachrechnen, wie viel Geld er gespart hatte. Ilse würde sich freuen, wenn sie nicht mehr die alte Kleidung ihrer Schwestern auftragen musste. Ilse liebte Mode. Mode war veränderlich. Er könnte ihr einen neuen Hut kaufen. Die Lightraff-Automaten waren modeimmun. Wenn er seine Wunschziffer für die erste Etappe erreicht hätte, könnte er ihr diesmal etwas Erfreuliches erzählen. Im Internetcafé. Als er an Ilse und den Chatroom dachte, schlief er endlich ein. Sofort wachte er wieder auf. Haye stolperte zur Tür herein. Schreiber zwang sich, die Augen zuzulassen. Haye schälte sich aus dem Hemd, baute sich vor der Küchenzeile am anderen Ende des Raumes auf und begann lautstark mit der Mikrowelle zu diskutieren. Schreibers Ohrstöpsel konnten nichts mehr ausrichten. Schreiber setzte sich auf, löste die Kunststoffmasse aus seinen Ohren. Haye richtete seine Wut auf ihn, grölte betrunken auf Schreiber ein, wie zuvor auf die Mikrowelle, warum er die Katze nicht gefüttert hatte. Schreiber brauchte einige Minuten, um Haye klarzumachen, dass sie keine Katze hatten. Eine Katze, das hätte uns gerade noch gefehlt. Haye trat nun an das Bett heran, tätschelte Schreiber den Kopf, sagte: »Mein Bett«, und ließ sich neben Schreiber fallen. Schreiber war empört. So eine unangebrachte intime Geste. Er wollte es Haye vorwerfen. Das ist noch lange nicht dein Bett, Genosse. Da fiel sein Blick jedoch auf den Wecker am Nachttisch. Schreiber hatte offenbar vergessen, ihn zu stellen. Er wurde rot. Haye hatte recht, es war bereits sein Bett. Schreiber schämte sich. Er bemühte sich immer, korrekt zu sein. Nicht der Dummkopf vom Land. Er kroch unter der Bettdecke hervor. Das erwies sich als mühsam, da Haye sie beschwerte. Haye kuschelte sich an das Kopfkissen. Schreiber schlich so leise wie möglich ins Bad. Der Tag war trüb gewesen, dachte Schreiber beim Blick in den Spiegel. Der Blick aus dem Fenster bestätigte diesen Eindruck: Er sah von schmutzigen Nebeln verqualmtes Abendlicht.

IV

Der Regen stürzte aus dem Himmel, als hätte es dieser viel zu gut gemeint. Koslov schüttelte die Nässe bei Betreten des Darkraff von der Windjacke. Draußen vor der Tür saß eine durchweichte Katze, die die nassen Augenbrauen, so Katzen welche haben, traurig hochzog, weil man sie nicht mit nach drinnen nahm, um sie trocken zu rubbeln. Dabei war Lightraff eine weitgehend tierlose Stadt. Es gab auch keine Streuner, keine Straßenkünstler, keine Bettler und keine Obdachlosen. Nicht im sauberen, weiß glänzenden Lightraff. Eine Kehrmaschine umrundete die Katze. Die Kehrmaschine hatte sie wohl als festgewurzelt wahrgenommen. Koslov sah auf die Uhr: gerade noch pünktlich. Denn jeder wusste, wenn man eingetragen war, mit Winter zu arbeiten, standen die Chancen gut, dass man bei Zuspätkommen verpfiffen wurde. Winter hielt Koslov die Tasse unter die Nase, die er in Händen hatte. Koslov schrie auf. Darin saß eine riesige Spinne, die Winter gerade erst gefangen hatte. Er lachte: »Du kreischst wie die kleine Schulz. Hätte ich mir bei dir nicht gedacht.« Er erklärte Koslov, dass die Spinne Betsy hieße und hier lebe und er dem Vorgesetzten sagen würde, dass Koslov zu spät gekommen sei, wenn der Spinne auch nur ein dickes, schwarzes Härchen am dicken, schwarzen Beinchen gekrümmt würde, wogegen Koslov protestierte und meinte, gewiss nicht zu spät gekommen zu sein, Winter lachte aber auch darüber nur. Koslov band sich die Schürze um und begann, die Theke abzuwischen, während Winter ein Zwiegespräch mit der Spinne führte, das der Spinne wohl darlegen sollte, wie der Hase hier im Darkraff lief. Koslov ärgerte sich auch hierüber, denn das Gespräch dauerte lange, so lange, bis Koslov die Gläser trocken gewischt und eingeordnet, die Zapfhähne poliert, die übrigen Gläser im Lokal eingesammelt und in den Geschirrspüler gesteckt und den Eingangsbereich gewischt hatte. Gerade als Winter endlich den Eindruck machte, mit seiner Arbeit beginnen zu wollen, betrat der Vorgesetzte das Darkraff. Er schritt einige Male die Theke im Lokal auf und ab und sagte schließlich streng und laut: »Koslov.« Koslov bejahte und wunderte sich, denn ein derartiger Auftritt des Vorgesetzten schien höchst ungewöhnlich. Was nun folgte, war die Entlassung Koslovs mit der Begründung, dass Koslov ihm, dem Vorgesetzten, Fehlinformationen zugetragen hatte und daher gefeuert werden müsse. Bei näherem Nachfragen stellte sich heraus, dass die Fehlinformation darin bestanden hatte, dass Koslov den Wetterbericht weitergegeben und dieser sich nicht entsprechend den Erwartungen bewahrheitet hatte. Koslov schüttelte den Kopf und drückte die zur Situation passende Ungläubigkeit aus, aber der Vorgesetzte blieb hart und sagte, dass in Zeiten der Personaleinsparung eben alle Mitarbeiter gut achtgeben müssten, welches Verhalten sie an den Tag legten. Koslov solle heimgehen, befahl er. Während der Vorgesetzte also Koslovs Schürze entgegennahm, beging Winter bereits Verrat an Betsy, indem er sie in die Spüle warf, Seife und eine Unmenge Wasser hinterherkippend. Der einzige Gast im Darkraff, jener, der zuletzt versucht hatte, Koslovs Seele zu analysieren, nahm einen Schluck Bier und schaute Koslov jetzt gerade ins Gesicht. Zuvor hatte er wohl nicht auffallen wollen, indem er sich verhielt, als bemerke er nichts von der Situation. Als Koslov sich die nasse Jacke wieder überstreifte, sagte er: »Um dich mach ich mir keine Sorgen. Ich würd mir eher Sorgen machen, wenn’s Schulz träfe. Die fällt zwar auch immer auf die Füße, aber na ja, nicht auf alle beide, eher auf alle vier.«

Koslov sollte nach Hause gehen. Das war übrig geblieben von diesem Tag. Koslov hatte nur in Lightraff zu arbeiten begonnen, weil sein früherer Job eine Anfahrt erfordert hatte, die nicht mehr leistbar gewesen war, seit die Kosten für den Sprit, um zur Arbeit zu kommen, höher geworden waren als das, was Koslov bezahlt bekommen hatte. In Lightraff könnte man sich eine Wohnung in nächster Nähe von dem Ort, an dem man arbeitete, teilen, und Arbeitsplätze gäbe es genug. So hatte es in der Broschüre gestanden.