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Zwei Monde stehen am Himmel und reißen an den Meeren, und wir alle glauben nicht das, was wir sehen, sondern sehen, was wir ohnehin schon glauben. Dies ist die Geschichte einer Bekanntschaft dreier Menschen von schier unwiderstehlicher Anziehungskraft: Irina strebt eine Kunstkarriere als Bildhauerin an, und Jevgenij plant eine Revolution, während unser beobachtendes Subjekt angezogen wird von den seltsamen Begebenheiten, Geschichten von Wolpertingern, Anglerfischen, Entführungen und Illusionen dieser beiden, die sich lange wissenschaftlich wegerklären lassen. Doch auch als die Erklärungen ausbleiben, ist es nicht mehr möglich, sich dem Sog aus Geheimnissen zu entziehen: Irina kann keinen Stein behauen, vielmehr ist es der Teich im Garten, der alles versteinert, was hineinfällt. Jevgenij ist nicht nur in die Revolution involviert, sondern verrät diese, um sich zu bereichern, und wer ist dieser Scharfschütze, der sein Unwesen treibt? Geheimnisse, die bewahrt werden müssen bis in den Tod oder zumindest, bis unser Subjekt sich die Zunge abbeißt und sich für tot hält, um sowohl Krieg als auch Gesellschaftsabende mit Kunstkennern, Katzen, Ärzten und Journalisten schweigend zu ertragen auf dem Weg zur (Beinahe-)Selbsterkenntnis.
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Seitenzahl: 200
Cover
Impressum
Autorin und Klappentext
Titelseite
Buchanfang
Wie Sie dieses Buch benutzen
1 – Der Tintenfleck
2 – Musik
3 – Der Geist
4 – Anglerfische
5 – Ein Geweih
6 – Der Schatten
7 – Lebendige Kunst
8 – Lebensfreude
9 – Ein Jahrmarkt
10 – Nachtmahre
11 – Die Leere
12 – Eine Ausstellung
13 – Amphitheater
14 – Vorstellungen
15 – Forschung
16 – Spiegel aus Fleisch und Blut
17 – Fachausdrücke
18 – Schmetterlinge
19 – Die Hörner des Mondes
20 – Kieselsäure
21 – Ein entflogenes Wort
22 – Blaue Nächte
23 – Krähen
24 – Klopfklopf
25 – Ein Kind einer Zeit
26 – Marionetten
27 – Bluthunde
28 – Vanta
29 – Hitze
30 – Stille
31 – Katakomben
32 – Sirenen
33 – Siegesfassaden
34 – Spott
35 – Diagnosen
36 – Trippeln und Trappeln
37 – Ein Gesunder
38 – Der gelassene Himmel
© 2024, Septime Verlag, Wien
Alle Rechte vorbehalten.
Lektorat: Teresa Profanter
Cover; Jürgen Schütz
Coverbild: Narre Tod mein Spielgesell, Franz Fiedler, 1921
EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer
ISBN: 978-3-99120-051-2
Printversion: Hardcover
ISBN: 978-3-99120-045-1
www.septime-verlag.at
www.facebook.com/septimeverlag
www.instagram.com/septimeverlag
Cordula Simon
CORDULA SIMON wurde 1986 in Graz geboren, wo sie nach einem längeren Aufenthalt in Odessa (UKR) wieder lebt. Neben Studien zur deutschen und russischen Philologie sowie Gender Studies gehören Medienlinguistik, mediale Literarizität und Radikalisierungsprävention zu ihren wissenschaftlichen Arbeitsschwerpunkten. Sie ist Mitglied der GAV und leitet Workshops für die Jugend-Literatur-Werkstatt Graz. Für ihre Literatur wurde sie mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet.
Klappentext:
Zwei Monde stehen am Himmel und reißen an den Meeren, und wir alle glauben nicht das, was wir sehen, sondern sehen, was wir ohnehin schon glauben. Dies ist die Geschichte einer Bekanntschaft dreier Menschen von schier unwiderstehlicher Anziehungskraft: Irina strebt eine Kunstkarriere als Bildhauerin an, und Jevgenij plant eine Revolution, während unser beobachtendes Subjekt angezogen wird von den seltsamen Begebenheiten, Geschichten von Wolpertingern, Anglerfischen, Entführungen und Illusionen dieser beiden, die sich lange wissenschaftlich wegerklären lassen. Doch auch als die Erklärungen ausbleiben, ist es nicht mehr möglich, sich dem Sog aus Geheimnissen zu entziehen: Irina kann keinen Stein behauen, vielmehr ist es der Teich im Garten, der alles versteinert, was hineinfällt. Jevgenij ist nicht nur in die Revolution involviert, sondern verrät diese, um sich zu bereichern, und wer ist dieser Scharfschütze, der sein Unwesen treibt? Geheimnisse, die bewahrt werden müssen bis in den Tod oder zumindest, bis unser Subjekt sich die Zunge abbeißt und sich für tot hält, um sowohl Krieg als auch Gesellschaftsabende mit Kunstkennern, Katzen, Ärzten und Journalisten schweigend zu ertragen auf dem Weg zur (Beinahe-)Selbsterkenntnis.
Cordula Simon
Mondkälber
Roman | Septime Verlag
Mein Auge will da ein bestimmtes Grün.
Mein Verstand prüft die Situation und erklärt dieses Grün durch sein Gedächtnis. Er schließt auf einen Baum.
Ich mache da einen Baum.
Paul Valéry
Wie Sie dieses Buch benutzen:
Nehmen Sie ein Fußbad, setzen Sie sich in die Badewanne, an die Vogeltränke, an den Springbrunnen, an die Wasserkunst, an den Tugendbrunnen, an einen Steg. Wagen Sie nicht, mit diesem Buch an einem Schreibtisch zu sitzen. Dies ist keine wissenschaftliche Abhandlung.
Dr. Weintraub
[Hierbei handelt es sich um eine freie Interpretation des Subjektes. Anmerkung: Dr. Weintraub, der sich nur auf die nötigsten Kommentare beschränken wird.]
1 – Der Tintenfleck
Wir rannten wie die Kinder, dabei war doch gerade das der Punkt, dass wir keine Kinder mehr waren oder sein sollten, dass wir nach Leben gierten, nach dem Geld und den Aussichten, mit denen das Institut gewunken hatte: in die olympischen Ränge aufgenommen zu werden, keine Anfängerkurse machen zu müssen und die Besten von uns dürften sich ohne Umschweife Künstler nennen. Wir rannten die Treppe hinauf, wo das Bewerbungsverfahren stattfinden würde. Die breite, glatte, alte Treppe eines imperialistischen Altbaus mit seinen hohen Decken. Immer wieder rutschten mir die Füße weg. »Da rennen wir, weil man hier 400.000 im Monat bekommt«, rief Mona, deren Tasche sich im Rhythmus ihres Galopps immer wieder um ihre Hüfte warf; man wollte die besten Plätze. [Offensichtlich handelt es sich hier um den Zeitraum vor der großen Inflation. Anmerkung: Dr. Weintraub]
»Bekommen kann! Bis zu!«, rief die eine fröhlich, Irina, von der ich noch nicht wusste, dass sie Irina war, die beim Laufen die dunklen, dichten Locken aus ihrem Gesicht werfen musste und das dunkle Sommerkleid festhalten, wo alle anderen nur ernsthafte Kostüme trugen. Mit einem Lachen fügte sie hinzu: »Noch bekommen wir gar nichts«, und wir strömten in den Saal, wo die hölzernen Bänke standen, griffen nach den Formularen am Pult vorne, jeder eines, und suchten uns Plätze. Doch die dicke Frau mit der strengen Frisur ermahnte uns zu Geduld und begann sofort damit, einige von uns umzusetzen. Geschummelt würde hier nicht, wer einander kannte, würde schummeln wollen, doch wir müssten begreifen, dass wir hier nicht Freunde, sondern Konkurrenten waren. Mona tauschte mit der Frau einen bedeutungsvollen Blick, der mir verdächtig war. Betrog Mona? Half die dicke Frau ihr zu betrügen?
So wurde Mona weit weg von mir platziert und ich kam gegenüber von Irina zu sitzen, die auf den Stuhl fiel, als hätte ein Gedanke sie niedergerissen. Es war uns erlaubt, unsere Namen auf die Formulare zu schreiben, und dann sollten wir still sitzen, bis die Uhr uns das Kommando geben würde, mit dem Ausfüllen zu beginnen. Ich trug also – so wie alle – meinen Namen ein.
Irina öffnete ihren Füller und setzte ihn auf das Papier. Anstatt, dass das Papier nun ihr, mir, dem Institut sagte, dass sie Irina Vorachkova hieß, bildete sich ein dunkler Fleck auf dem Blatt. Sie wischte den Zettel vom Holz, drehte sich zum Pult und bat, das Papier austauschen zu dürfen. »Die Formulare sind nummeriert. Das ist leider nicht möglich«, sagte die Frau, die sich bereits in dieser Situation nicht weniger streng als ihre Frisur erwies. Mit derselben Strenge in der Stimme, den Spott konnte man im ganzen Raum fühlen, erläuterte sie, dass wer seinen Namen nicht schreiben könne, am Institut ohnehin nichts zu suchen habe.
Zu Irinas Glück betrat ein großer blonder Mann in einem grauen Anzug, schlaksig, doch nicht schmalschultrig, den Raum. Jevgenij, von dem ich zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, dass er Jevgenij war, der Irina um einen, die strenge Dicke aber gar um zwei Köpfe überragte. Er zupfte Irina das Papier aus der Hand, las die Nummer vor, blickte auf den Stapel: »Ist ohnehin die letzte auf Deutsch«, sagte er und griff nach einem Formular auf dem zweiten Stapel, reichte es ihr und nahm selbst eines an sich. »Von den englischen Formularen wurde noch gar keines genommen. Wir nehmen einfach eines von denen.« Dies missfiel der Beisitzenden, die wohl mehr eine Aufseherin als sonst etwas war, sie protestierte und wies ihn zurecht mit den Worten: »Sie sind ohnehin zu spät.« Er jedoch deutete seelenruhig auf die Uhr. Er hatte sogar noch eine Minute. Irina fiel wieder, diesmal noch viel schwerer, auf den Stuhl mir gegenüber.
Die Glocke gab ihren grellen Ton von sich und wir begannen mit dem Ausfüllen. Irina hatte diesmal zu einem Stift gegriffen. Aus einem der Säle in der näheren Umgebung dröhnte Musik mit einem harten Rhythmus, der die Tische in eine leichte Vibration versetzte, und es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren. Erst später war mir klar, dass dies Absicht gewesen sein musste, dass dies nur dazu diente, uns zusätzlichem Stress auszusetzen. Dass selbst die Anwesenheit der Aufseherin keinen anderen Zweck hatte. Überhaupt staune ich gerade über all das, was ich nicht begriff. [Bei jener Bewerbung handelte es sich um ein Auswahlverfahren, das nicht nur dazu diente, künstlerisch Begabten die langwierige Ausbildung zu ersparen, sondern auch ihre psychische Konstitution testete. Die Geschichte hat schließlich gezeigt, was passierte, als ein gewisser Jemand mit einer gewissen Konstitution an einer gewissen Kunstakademie abgelehnt wurde und einen gewissen Kontinent in Schutt und Asche legte. Die psychologischen Untersuchungen wurden gesammelt Dr. Weintraub zur Einschätzung vorgelegt. Dies stellt den Erstkontakt zwischen dem Subjekt und Dr. Weintraub dar. Anmerkung: Dr. Weintraub]
Zwischendurch ging die dicke Frau durch die Reihen, atmete lautstark zu unseren Nacken hinab. Als sie neben Irina zu stehen kam, raunte sie ihr zu, dass sie in Zukunft nicht stets von irgendwelchen dahergelaufenen Männern gerettet werden könne, dass dies nun enden würde. Aber Irina schrieb weiter, kritzelte winzige Buchstaben auf das Formular, als hätte sie sie nicht gehört. Beinahe war ich dankbar, dass ihre abscheulichen Bemühungen sich auf Irina konzentrierten.
Als die Glocke wieder ihren Ton von sich gab, verkündete die Aufseherin, dass wir nun fünfzehn Minuten Pause hätten, doch offenbar galt das nicht für alle Mühen an diesem Tag. Irina und Jevgenij teilten einen Blick und ich begriff, dass er nicht einfach jemand war, der einer zufälligen Begegnung zur Seite gestanden war. Vielleicht sind sie Geschwister, dachte ich.
Als die Pause vorbei war, ging die dicke Frau noch einige Male an Irina vorbei, schnaubte ihr in den Nacken oder streifte ihre Kleidung. Irina kritzelte weiter, starrte stur auf das Papier, Jevgenij hustete manchmal grässlich laut und künstlich, was die Aufseherin jedes Mal dazu bewegte, sich von Irina zu entfernen.
Zum Abschluss des ersten Bewerbungstages wurde ein filmisches Dokument vorgeführt. Der Direktor, der über die letzten Wochen die Erstgespräche, lange Interviews, geführt hatte, präsentierte einen Ausschnitt von jeder Gesprächsaufnahme. Insgesamt über hundert Menschen in etwa eineinhalb Stunden. Er hatte das ausgewählt, was ihm am relevantesten erschienen war, denn wir würden die nächsten beiden Wochen miteinander verbringen und sollten einander kennenlernen. Die Stärken und Schwächen der anderen, damit wir uns selbst einordnen konnten. Jevgenijs Abschnitt war kurz: »Ich kann alles«, sagte er mit einem Grinsen in die Kamera.
Mona durfte etwas über ihre organisatorischen Stärken von sich geben und inwiefern Unpünktlichkeit Respektlosigkeit bedeute. Meinen Ausschnitt fand ich peinlich. Ich saß verlegen da und erzählte, dass ich bereits als Kind jedes Problem nur als Knobelspiel betrachtet hatte.
Dann kam endlich Irina. Als hätte man die Luft aus ihr herausgelassen, saß sie auf diesem Stuhl. Ich kann mich nicht erinnern, was der Direktor sie gefragt hatte. Vielleicht war die Frage auch weggeschnitten worden. »Gestern ist meine Mutter gestorben«, sagte sie und blickte zu Boden. »Trotzdem sind Sie hier«, sagte der Direktor und Irina schaute direkt in die Kamera, man konnte die Tränen auf ihrem Gesicht glitzern sehen, als hätte man sie mit Glitter bestreut. Sie nickte und es war ein Hauch von Stolz zu erkennen. Ich sah mich um, da saß Irina. Ja, man hatte die Luft aus ihr herausgelassen, aber von Stolz war nichts mehr zu sehen. Sie blickte links von sich auf den Boden, als suche sie etwas, als suche sie einen Punkt, den sie ansehen konnte, damit sie sich nicht schämen müsse.
Die Fröhlichkeit auf der Treppe vorhin war vollständig aus ihr herausgepresst worden. Irina schämte sich. Sie schämte sich vielleicht für die tote Mutter, vielleicht dafür, dass sie trotzdem hier war. Ihr Kopf war zwischen ihre hochgezogenen Schultern gesunken und sie suchte am Boden, suchte diesen Stolz, der auf den hellgrauen und schwarzen Fliesen allerdings nicht zu finden war. Ich war mir sicher, sie konnte all unsere mitleidigen Blicke fühlen, konnte fühlen, wie wir starrten, und schämte sich. Dabei sollten die sich schämen, der Direktor und die Aufseherin und wir, wir sollten uns schämen, so zu starren.
Irina sprang auf, stumm, und mir war klar, dass sie gerade ebenso stumm vor sich hin weinte wie in dem Video. Sie versuchte hinauszurennen, doch Jevgenij hielt sie auf, umklammerte sie, sie schluchzte einmal auf und schlug sich frei, befreite sich aus dem festen Griff dieses großen Menschen, der plötzlich noch viel breitschultriger wirkte, noch viel großgewachsener, dieses zusammengesackte Bündel Mensch festhaltend. Sie rannte aus der Tür und er – nun – hinterher? Nicht wirklich, denn sie hatte die Tür zugeschlagen, und im ersten Moment hatte ich geglaubt, sie hätte sie blockiert, mit einem Stuhl vielleicht, einem Besen, irgendetwas, doch sie hatte sich einfach mit aller Kraft dagegengestemmt. Schließlich brach Jevgenij durch die Tür und erst später verstand ich, hätte sie sie nicht freigegeben, hätte er ihr vielleicht den Rücken gebrochen, doch sie hatte nicht gewartet, bis dieser feste Trost sie packte. Irina hatte ihre Sachen einfach mitten vor der Tür fallen lassen. Das Papier mit dem Tintenfleck und das andere Formular, mit den winzigen geraden Buchstaben – die Aufseherin hatte sie so eingeschüchtert, dass sie es nicht einmal abgegeben hatte. Die Aufseherin stand davor, blickte stur auf die kleine Schrift zu ihren Füßen hinab, nur um nicht aufsehen zu müssen. Irina war weitergerannt, auf das offene Fenster an der anderen Gebäudeseite zu. Wir dachten vermutlich alle, sie sei aus dem Fenster gesprungen und er ihr einfach hinterher.
Wir stürzten auf die Fensterreihe zu, doch Irina war offenbar die Regenrinne hinuntergeschrammt, und da lief sie, auf der Wiese vor dem Universitätsgebäude. Jevgenij kletterte ebendiese Regenrinne gewandt hinunter, machte sich seine entsetzlich langen Beine zunutze, holte sie ein.
Da saßen sie nun, auf der Wiese, sie weinte und er hielt sie. Am nächsten Tag wagte kaum jemand, Irina und auch Jevgenij anzusehen. Irinas Hände waren bandagiert. Die schnellstmögliche Flucht über die Regenrinne hatte ihr dies zugefügt. Niemand von diesem Tag schaffte es in die engere Auswahl. Und wir blickten einander, als wir tags darauf davon erfuhren, nur betreten an. Doch das machte nichts, denn ich hatte diese beiden gefunden.
2 – Musik
Wo immer Irina auftauchte, begann auf magische Art eine Melodie zu erklingen. Wenn niemand zu sehen war, wenn die Straßen dunkel waren und das Lied von einer Gitarre begleitet aus einem Haus drang, oder ein alter Plattenspieler es wiedergab, wenn es jemand gedankenverloren im Dunkeln der Stadt zu summen anfing, begannen Jevgenij und Irina zu tanzen, als erzählten sie eine Geschichte. Das erste Mal sah ich dies, als wir trinkend durch die Gassen wankten, das Kopfsteinpflaster war nass vom Regen, der noch von den Blättern der Bäume im Stadtgarten triefte, während der Himmel mittlerweile aufgeklart war und die Sterne den Pflastersteinen nicht durchgehen lassen wollten, ihre Aufgabe auch nur für eine Nacht zu übernehmen.
Ein Fenster stand offen und dünne rosa Vorhänge wehten daraus hervor. Ich streckte mich und nahm noch einen Schluck Rotwein aus der Flasche, an der ich mich seit Beginn unseres Spazierganges festhielt. Ich sah eine Person, die mit einem Schnapsglas in der Hand am Tisch eingeschlafen war, und Nachtfalter, die vor dem Regen geflohen waren, beteten die warmlichtige Glühbirne der Küchenlampe an, als sei sie der Mond. Das Radio knackte, rauschte und eine Melodie ertönte, die ich in meinem Leben noch nie gehört hatte. Ich hielt sie in diesem Augenblick für die schönste Abfolge aus Tönen, die jemals erschaffen worden war, die mir sagen wollte: So flieg doch! Aber vielleicht war dies dem Rotwein geschuldet, mit dem die Gravitation gemeinsam Schabernack trieb, und ich stolperte, fing mich noch mit einer Hand auf den nassen Steinen. Erdenschwere, Feind aller Betrunkenen, Kinder und Kellner.
Doch als ich den Kopf hob, rauschte Irinas Mantel bereits an meinem Gesicht vorbei und sie und Jevgenij begannen ihren Tanz. Ich verstand nicht, wie man so grazile Bewegungen ausführen konnte, nach allem, was die beiden an diesem Abend getrunken hatten. Beide waren sie aufrecht und mit weit ausgebreiteten Armen führte Jevgenij Irina über die Bordsteinkante.
Zwischen ihnen war ein großer Abstand und Irinas Fingerspitzen ruhten wie schwerelos auf Jevgenijs Schulter und in seiner Handfläche. Ein Abstand, als hätten sie ein Geheimnis, oder als würden sie Raum lassen für einen Dritten, der unbedingt dazwischenpassen musste. Irina reckte den langen schlanken Hals, als müsste sie, um in Jevgenijs Augen blicken zu können, über diese Freiheit zwischen ihnen hinwegsehen. Ich hatte mich mühsam aufgerappelt und starrte, wie ein Kind seine Eltern anstarrt, wenn sie durch die Küche tanzen, und Irinas Stöckelschuhe klapperten über die Steine, hallten zwischen den Häusern mit dieser Leichtigkeit, als klapperten die Hufe von Kutschpferden in einer fremden Welt.
Auf den Pflastersteinen klebten nasse Flugzettel, die einen schauerlichen Jahrmarkt ankündigten. Vielleicht hat der Jahrmarkt eine Geisterbahn, dachte ich stolpernd. Ich mochte Geisterbahnen. Am nächsten Tag, als ich mit schwerem Kopf an diesem Haus vorbei nach Hause torkelte, mich an Hauswänden abstützend, vor Übelkeit gebeugt, sah ich den Leichenwagen kommen, der den Mann abholte, der sich aus dem Stuhl in der Küche nie mehr erhoben hatte. Die Hand hatte ich mir bei meinem Sturz in der vorangegangenen Nacht gebrochen und es würde drei Tage dauern, bis ich Irina und Jevgenij wiedersah. [An dieser Szene können wir nur bestätigen, dass korrelierend mit Beginn der Ankündigungen eines Jahrmarkts ein unter solchen Umständen Verstorbener, beschaut von Dr. Weintraub, zu verzeichnen war. Anmerkung: Dr. Weintraub]
3 – Der Geist
Irina war aus dem Süden zurückgekehrt, wo sich Mangofliegen in die Haut bohren wollen. Sie war dort allabendlich so betrunken gewesen, dass sie einerseits davon überzeugt war, in der Ferienwohnung würde es spuken, aber zugleich ausreichend benebelt, um sich andererseits nicht näher damit zu befassen. Erst als sie bereits wieder zu Hause und der Geist ihr gefolgt war, beschäftigte sie sich damit. Sie hatte sich die Hände eingecremt, den Seidenkimono über die Stuhllehne gehängt, sich ins Bett gelegt, das Licht ausgeschaltet und auf den Schlaf gewartet. Doch an seiner Stelle kam ein Rascheln. So leise erst, dass sie dachte, sie hätte es sich vielleicht eingebildet. Diese Geschichte, so erzählten Irina und Jevgenij später, trug sich zu, bevor sie das Haus gefunden hatten, als sie für einen begrenzten Zeitraum überzeugt waren, in getrennten Wohnungen leben zu müssen.
Beim zweiten Rascheln machte sie Licht, sah sich im Raum um, schloss die Schranktür, während sie die schmalen Lichtreflexe im Spiegel wahrnahm, die ein Autoscheinwerfer durch die geschlossenen Vorhänge auf die Decke zu werfen vermochte, und legte sich wieder ins Bett. Doch das Rascheln ertönte sofort erneut und es schien näher zu kommen. Sobald sie jedoch den Lichtschalter betätigte, kehrte vollständige Stille ein. Irina konnte bei Licht nicht schlafen, doch sie wollte auch nicht riskieren, dass der Geist näher kam, und so schaltete sie bis vier Uhr morgens immer und immer wieder das Licht aus und beim geringsten Geräusch wieder ein.
Es war kein Geräusch der Außenwelt, kein Blätterrascheln, es war näher, intimer, vielleicht sogar geradewegs unter ihrem Bett. Oft, wenn das Licht aus war, glaubte sie, eine Silhouette, die Bewegung eines kleinen verhutzelten Männleins in ihrem Zimmer zu sehen, einmal hier, einmal da, einmal blickte es aus dem Fenster und einmal sah es sie direkt an, sodass sie geradezu auf den Lichtschalter schlug, doch der Raum war leer.
Sie dachte an Exorzismen und um halb fünf rief sie Jevgenij endlich an, er solle kommen und ihr sagen, was sie machen solle, was tut man, wenn einen ein Geist verfolgte. Jevgenij wusste, dass sie diesbezüglich ernst zu nehmen war, sie hatte diesen Mann in ihrem Zimmer gesehen, also war er da. Er legte ihr den Seidenkimono um die Schultern, setzte ihr in der kleinen Küche ein Tasse Tee vor, schloss hinter sich die Tür und nach einer Weile ließ er sie in das Zimmer zurück, erklärte, es gäbe keinen Geist mehr, er habe ihn vertrieben, der Geist dürfe nicht mit ihr, Irina, reisen, er, Jevgenij, habe ihn zurück in den Süden geschickt und der Geist sei zum Fenster hinausgefahren. Irina ging im Morgengrauen zu Bett, hörte keinen Geist mehr und auch in den folgenden nervösen Nächten blieb es ruhig. [Selbstverständlich ist der geneigten Leserschaft an dieser Stelle, dass es keine Geister gibt. Anmerkung Dr. Weintraub]
Später würde mir Jevgenij im Vertrauen erzählen, dass Irina in ihrem Koffer einen Kakerlak mitgebracht hatte, der begonnen hatte, sich hinter den sich lösenden Tapetenrändern zu orientieren, vor Licht stets geflohen war und zwischen all den Gegenständen, Möbeln und Textilien, Vorhängen und Teppichen sein Rascheln nicht hätte verhindern können. Jevgenij würde Irina immer retten kommen, ganz gleich wovor.
4 – Anglerfische
Irinas Vater hatte sein Glück in Sibirien gemacht, unter speziellen Umständen, die mir bis heute noch nicht ganz klar sind. Auch weiß ich immer noch nicht, wie viel Geld Irina und Jevgenij in Wahrheit hatten, aber Sibirien schien der Grund zu sein, warum die beiden einander hatten: Ihr Vater war in dieses Städtchen nicht allzu weit entfernt vom Baikalsee gereist, das man nur mit dem Zug erreichen konnte, dem jedoch das Aussterben drohte, nachdem viele der Bewohner nach Irkutsk abgewandert waren. Außer Wald und großen brachen Flächen gab es um das Städtchen nicht viel und die häufigen Trockenperioden hielten mit ihrer Wasserknappheit den ganzen Ort fest in ihrer Gewalt.
So wurde das Städtchen langsam ausverkauft und Irinas Vater war hingefahren, mit ihr, dem kleinen Mädchen, als Begleitung. Immer wieder hatte sie ihn angebettelt, sie doch mitzunehmen, und er hatte sich stets geweigert. Dies jedoch sollte ein sowohl kurzer als auch langweiliger Ausflug werden. Sie würde ihn begleiten und nie mehr wieder etwas von seinen geschäftlichen Reisen wissen wollen. So hoffte er zumindest, jedoch hatte Irina bereits als Kind das Talent, in jeder Mauerritze ein Wunder zu sehen, und in einer halbverlassenen Stadt gab es von beidem genug.
Irinas Vater besah sich die ganze Stadt und geriet mit einem Deutschen ins Gespräch, der nichts anderes tat als Legenden nachzujagen: Ein Goldsucher, der in diesem traurigen, menschenleeren, geradezu gottverlassenen Nest einem Schatz nachjagte, den einer der Pioniere hier verborgen haben soll. Der Legende nach so offensichtlich, so mitten im prallen Leben, dass man ihn gerne übersah. Sein eigenes Udatschny sollte es werden, seine Glücksinsel im Schneemeer. Nun gab es in dem Ort nichts mehr, was von prallem Leben strotzte. Über leere Plätze schlenderten sie, über nassschottrigen Boden und weite Holzplatten, mit denen die Bewohner Pfützen abdeckten, die der Regen bildete, der sich dann nie gegen die Trockenheit behaupten mochte, sondern erst keinen Weg ins Erdreich fand. Vode nikuda, sagten die Leute, das Wasser hat kein Wohin, um sich schließlich in Luft aufzulösen. Irinas Vater hörte sich all die Geschichten über den ominösen Schatz an, die der Fremde von sich gab.
Der Deutsche selbst, der in Irinas Kopf ewig ein ungustiöser Grobian bleiben würde, meinte, er würde den Schatz heben, und Irina blieb vor dem eigentlichen Ziel der Reise, einer Markthalle, zurück, um ein kleines Kätzchen zu streicheln, das auf einer jener Holzplatten zusammengekauert saß und das der Deutsche treten wollte, weil es gar so jämmerlich schrie. So hockte Irina vor dem Kätzchen auf der Holzplatte, während sich die Schatzsucher wie Leichenfledderer des Städtchens in einer Prozession an ihr vorüberbewegten.
Die Markthalle hatte viele kleine Geschäftchen, alle geschlossen genug, um einzeln wahrgenommen zu werden, aber auch offen genug, dass man das Gefühl haben konnte, frei zwischen den Ständen zu fließen. Nachdem es außer der Markthalle im ganzen Ort nichts mehr gab, war es der letzte Ausverkauf von leeren Ständen, Geschäften und Restauranchiks. Die meisten Besucher gaben sich demonstrativ desinteressiert, doch schien das Demonstrative daran bald in echtes Desinteresse umzuschlagen und der Deutsche rieb sich bereits die Hände, würde er doch die ganze Halle äußerst billig ersteigern können.