Der neue deutsche Kapitalismus - Thomas Hanke - E-Book

Der neue deutsche Kapitalismus E-Book

Thomas Hanke

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Beschreibung

Das Land steht still, der Wandel bleibt aus, der Reformstau wächst – so unkt es allenthalben. Aber die Bürger erfahren es täglich ganz anders: Deutschland wandelt sich, und zwar schnell.

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LESEPROBE

Hanke, Thomas

Der neue deutsche Kapitalismus

Republik im Wandel

LESEPROBE

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Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2006. Campus Verlag GmbH

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E-Book ISBN: 978-3-593-40156-0

|5|Für meine Mutter.

Und für Carmen.

|9|Einleitung

Deutschland, das Land, das Veränderungen nicht hinbekommt, das den Anschluss verpasst hat: Wie haben wir uns an diese Darstellung gewöhnt. Zahllose Ökonomen, Talkmaster, Politiker und Autoren haben sie uns so lange vorgehalten, bis wir uns und unser Land darin wiederzuerkennen glaubten.

Dabei ist es das falsche Bild – auch wenn die Rentenreform noch nicht weit genug gegangen ist, auch wenn die Krankenversicherung nicht mehr trägt, auch wenn die Arbeitsmarktpolitik Milliarden in falsche Maßnahmen und sich selbst verwaltende Bürokratien leitet. Die Bundesrepublik, das haben wir in den vergangenen Jahren vergessen, besteht nicht nur aus ihrem Sozialsystem, sie hat auch eine der leistungsfähigsten Wirtschaften der Welt. Manche Ökonomen kommen zu einem bizarren Zirkelschluss: Man dürfe nicht so laut darüber reden, dass Deutschland der Exportweltmeister ist, das könne den Reformdruck mindern. Wer so argumentiert, wird vom nüchternen Analytiker zum belehrenden Mandarin, der um die Ecke denkt. Und er übersieht nebenbei, dass die Bundesrepublik seit den neunziger Jahren im permanenten Umbruch steckt.

Die Veränderungen, die das Land erschüttern, gehen an kaum einem Teil der Gesellschaft vorbei. Sie betreffen das Finanzsystem ebenso wie die Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, das Verhältnis von Inländern und Zuwanderern ebenso wie die Außenpolitik. Deutschland mag in einer Krise stecken, was seine ökonomischen und politischen Strukturen angeht – aber es ist keine Stagnationskrise, sondern eine Wachstumskrise.

|10|Selten sind in diesem Land innerhalb so kurzer Zeit so viele Gewissheiten, vertraute Institutionen, Werte und Verhaltensmuster in Frage gestellt, verworfen oder durch neue ersetzt worden wie in den vergangenen acht bis zehn Jahren. In mancher Beziehung ist das Land in dieser Zeit gerade erwachsen geworden. Das gilt bis hin zu den Werten, mit deren Hilfe wir uns als Deutsche identifizieren. Mangels anderer Alternativen waren es in der Nachkriegszeit der Mythos vom Wirtschaftswunder und die D-Mark. Als Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher Kurs auf die Einführung des Euro nahmen, empfanden nicht nur konservative Deutsche das als Angriff auf die eigene Identität.

Die D-Mark als ebenso solide wie unverdächtige Bezugsgröße hat mit der Europäischen Währungsunion ausgedient. Das Land hat es erstaunlich leicht weggesteckt. Die Bundesbank, jahrzehntelang ein über den politischen Niederungen schwebender unantastbarer nationaler Rat der Weisen, ist in kürzester Zeit auf Normalmaß gebracht worden. Das haben nicht zuletzt die einschlägigen Spesen- und Immobilienskandale bewirkt, die uns Deutschen dabei helfen, uns der Fehlerhaftigkeit herausgehobener Funktionsträger zu vergewissern.

Trotz dieser Welle an Veränderungen lähmt einer verbreiteten Analyse zufolge eine irgendwie typisch deutsche Furcht vor Wandel das Land. Ich bezweifele diese simple Erklärung schon deshalb, weil sich die deutsche Marktwirtschaft und mit ihr die Politik seit einigen Jahren in einer so vielseitigen Transformation befinden. Eine tiefe Skepsis oder die Ablehnung von Reformen gründen sicherlich auf der immer vorhandenen Befürchtung, man werde eher zu den Verlierern als zu den Gewinnern des Prozesses zählen. Beide Einstellungen können aber darüber hinaus einen ganz rationalen Kern haben: »Reformer« und das breite Publikum reden aneinander vorbei wie zwei Funker, die nicht dieselbe Frequenz benutzen.

Die »Reformer« scheinen nicht wahrzunehmen, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit der Bundesrepublik seit Jahren im Umbruch ist. So kommen bei denen, die selber diese Umbrüche erleben|11|, Zweifel an der Realitätsnähe von Reformprogrammen auf, selbst wenn sie durchaus vernünftig sein mögen. Es ist wie bei einer Wanderung: Wer als Scout offensichtlich die ihn umgebende Landschaft nicht erkennt, dem traut man gewiss nicht die Führung der Gruppe zu, auch wenn er perfekt erklären kann, wie ein Kompass funktioniert.

Damit aber stehen wir vor einem viel fundamentaleren Problem als der oft diagnostizierten Empfindung breiter Schichten, es gehe nicht mehr gerecht zu: Viele Menschen müssen das Gefühl haben, es gehe nicht mehr realistisch zu.

Wer das feststellt, erntet schnell spöttische Blicke und die vorwurfsvolle Bemerkung: »Dann meinen Sie also, alles komme schon von selbst in Ordnung und wir müssten uns nicht mehr anstrengen.« Weit gefehlt. Dies ist kein Plädoyer gegen Reformen. Es ist der Versuch, endlich ein wenig Realismus einkehren zu lassen. Das könnte so manchem die Augen öffnen: Deutschland ist kein Brachland, das seit Jahren vom Wind des Wandels nicht mehr erreicht wird und vor sich hinwelkt. Das Land wandelt sich mit hohem Tempo. Es wird marktwirtschaftlicher und profitiert von dieser Umwandlung. Wenn es sich der Veränderungen bewusst würde, könnte es noch gezielter vorangehen, Orientierung und damit Vertrauen gewinnen und besser die Früchte des Wandels ernten.

Im Oktober 2005 schrieb der Economist: »Das Land hat keine Revolution erlebt, und auch nicht die ‚Schocktherapie’, die Margaret Thatcher in den achtziger Jahren in Großbritannien verfolgt hat oder die einige mitteleuropäische Länder in den neunziger Jahren versuchten. Dies wird auch künftig wahrscheinlich nicht geschehen. Denn dies ist kein Land der Revolutionen, sondern eher eines, das einen bestimmten Kurs getreu und stetig verfolgt, wenn es sich dazu entschlossen hat. Das vergangene Jahrzehnt war eines der graduellen Reformen, auch wenn die Herangehensweise an die wichtigsten makroökonomischen und finanziellen Sorgen eher eine des Durchwurschtelns war. Es gibt neue Verhaltensmaßstäbe. Viele kleinere Veränderungen kommen zusammen – einige in der Politik, aber |12|auch in der Regulierung der Finanzmärkte, im Gesellschaftsrecht, in der öffentlichen Meinung, bei den Kapitalmärkten und im Verhalten der Unternehmen … Stück für Stück, Schritt für Schritt, hat sich eine Menge verändert, und im Rückblick könnte dies wie eine verkappte Revolution wirken.«1 Die Aussagen beziehen sich auf Deutschland? Nein, hier ist Japan gemeint. Sie könnten aber auf Deutschland gemünzt sein. Nur sind die Veränderungen in Deutschland wohl tiefer als in dem fernöstlichen Land, das wegen seiner Konsensorientierung so oft mit Deutschland verglichen wird.

Unser Land erneuert sich, es durchleidet fast 60 Jahre nach der Währungsreform aber auch eine späte Midlife-Crisis. Es sucht seinen Weg, die eigene Ausprägung von Marktwirtschaft à jour zu bringen, ohne gleich alle gewohnten Mechanismen des Ausgleichs aufzugeben. Nicht nur in polemischen politischen Auseinandersetzungen wie der in der EU nach dem Scheitern der französischen und niederländischen Verfassungsreferenden wird von der Wahl zwischen dem »gemäßigten« kontinentaleuropäischen und dem viel stärker am Markt orientierten angelsächsischen Kapitalismus gesprochen. Die Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, die Verflechtung der großen Unternehmen untereinander, das Investitionsverhalten, die Rolle der Banken, das Zusammenspiel von Wirtschaft und Politik, all diese Gewissheiten scheinen zur Disposition zu stehen. Das löst Unsicherheiten aus: vor allem, aber längst nicht allein bei den Arbeitnehmerorganisationen, die nicht genau wissen, wie sie künftig am besten die Interessen ihrer Mitglieder vertreten, und die teilweise das Gefühl haben, erpressbar zu werden. Und auch die großen Volksparteien fragen sich, wie sie unter den neuen Bedingungen die klassischen bundesdeutschen Ziele Wachstum und Interessenausgleich verfolgen sollen.

Die multiple Schlüsselrolle der Banken als Kreditgeber, Aufsichtsräte, Anteilseigner und Wahrnehmer von Depotstimmrechten bei den großen börsennotierten Aktiengesellschaften gibt es in weiten Teilen so nicht mehr. Damit hat die deutsche Spielart der Marktwirtschaft ein Merkmal verloren, das sie von anderen unterschied. |13|Die Scharnierfunktion der Banken, die durch ihre Kreditvergabe und ihre Position in den Leitungsgremien der größten Unternehmen letztlich deren Geschicke mitgestalteten, sie aber gleichzeitig gegen Einfluss aus dem Ausland abschirmten, existiert nur noch rudimentär. Die direkte Finanzierung über den Kapitalmarkt ist wichtiger geworden. Die Kapitalmärkte entscheiden auch darüber, ob ein Unternehmen notfalls durch eine feindliche Übernahme an einen neuen Eigner übergeht. Was noch beim Angebot von Vodafone für Mannesmann als Angriff auf nationale Traditionen verfemt wurde, ist heute fast zur Selbstverständlichkeit geworden: Auch Großunternehmen werden von ausländischen Investoren gekauft.

Die Unternehmensleitungen selbst sind im Umbruch, vor allem was die Aufsichtsräte angeht. Bedingt durch die größere Bedeutung der Börse und weil große Unternehmen sich den Spielregeln einer modernen Corporate Governance anpassen, müssen sie über ihre Führungsstrukturen und die Bezüge ihrer Vorstände Rechenschaft ablegen. Das intransparente, behäbige und kritikfreie Zusammenspiel von Aufsichtsrat und Vorstand akzeptieren die Aktionäre als die eigentlichen Eigentümer immer weniger.

Was hier geschieht, geht aber weit über die Ebenen von Management und Finanzmärkten hinaus. Die Arbeitsbedingungen der deutschen Arbeitnehmer ändern sich: Der Korporatismus, also die für Deutschland typische starke Beteiligung der Verbände an den politischen Entscheidungsprozessen, funktioniert nicht mehr wie früher. Konsens ist nicht mehr das Maß aller Dinge. Die Gewerkschaften sind in die Defensive geraten, Arbeitszeitverkürzungen und übertarifliche Zusatzleistungen werden zurückgedreht. Oft werden auch Tarifbestimmungen außer Kraft gesetzt.

Vor allem aber gilt: Die Arbeitnehmer bekommen den verschärften Wettbewerb mittlerweile ganz unmittelbar, am eigenen Arbeitsplatz, zu spüren. Konkurrenz wird in die Werke importiert. Was noch vor wenigen Jahren undenkbar war, ist heute gängige Praxis: Der Wettbewerb findet nicht mehr nur zwischen Unternehmen statt, sondern auch innerhalb ein und desselben Unternehmens zwischen |14|verschiedenen Fabrikationsstätten. Egal, ob Auto- oder Elektronikkonzern: Werke und Belegschaften aus verschiedenen Regionen Europas und der Welt müssen im Wettlauf um den Zuschlag für eine wichtige Produktion mit möglichst niedrigen Kosten gegeneinander antreten. In zahlreichen deutschen Werken schaut so die Globalisierung den Arbeitnehmern über die Schulter.

Viele Bundesbürger müssen sich in ihrer Arbeit fast ohne Atempause an andere Leistungsbemessungen und Qualitätsanforderungen, neue Formen der Gruppenarbeit und permanentes Benchmarking gewöhnen. Oft auch an neue Eigentümer. Die wirtschaftlichen Veränderungen haben das alte Beziehungsgeflecht zerreißen lassen, das Wirtschaft, Staat und Landesbanken verband und der Politik einen enormen Einfluss auf das unternehmerische Geschehen eröffnete.

Wir erleben nicht nur graduelle Modifikationen des Wirtschaftslebens. Seit den neunziger Jahren ändert sich im Zusammenspiel von internationalem Wettbewerbsdruck und unternehmerischer Reorganisation Grundsätzliches an der Art von Marktwirtschaft, die sich über viele Jahrzehnte hinweg in Deutschland etabliert hat. Sieht man die zahlreichen Veränderungen nicht mehr bruchstückhaft, sondern betrachtet sie in ihrem Zusammenhang, dann zeichnet sich ein Muster ab: Ein neuer deutscher Kapitalismus ist im Entstehen begriffen.

Worauf läuft das hinaus: auf einen angelsächsisch geprägten Einheitskapitalismus? Oder werden wir auch künftig in einer Marktwirtschaft leben, die sich trotz aller Anpassungen durch ihre Unternehmensverfassung, ihre Arbeitsbeziehungen und das Zusammenwirken von Wirtschaft und Politik vom britischen ebenso wie von anderen national geprägten Formen des Kapitalismus unterscheidet? Deutschland hat die Chance – auch das zeigen die bisherigen Veränderungen –, die nötige und sinnvolle Entstaatlichung und Privatisierung, den größeren Spielraum für Märkte mit dem Zusammenwirken von organisiertem Kapital und organisierter Arbeit zu verbinden, das für das deutsche Modell typisch ist.

|15|Meist dringt das Neue nur als Splitter in unser Bewusstsein, der beunruhigt und jeden optimistischen Blick auf marktwirtschaftliche Transformationen hoffnungslos naiv erscheinen lässt: Viele Bundesbürger glauben, der scheinselbstständige Schlachter aus Osteuropa dränge deutsche Arbeitnehmer in die Erwerbslosigkeit. Jobs, die nicht zu den besonders anspruchsvollen zählen, würden reihenweise nach Osteuropa oder Asien »outgesourct«. Sind nicht alle Deutschen existenziell bedroht, die von einfachen Tätigkeiten leben, weil sich ihr Schicksal zwischen zwei gleich fatalen Alternativen entscheidet: Entweder üben hierzulande künftig genügsamere Bürger der neuen EU-Staaten ihre Jobs aus oder die Unternehmen verlagern sie gleich ganz in Niedriglohnländer? Sogar ein emblematisches Hochtechnologieprodukt wie ein Porsche wird nur noch teilweise tatsächlich in Deutschland hergestellt. Verlieren wir über kurz oder lang die meisten Industriearbeitsplätze an das kostengünstigere Ausland? Ein britischer Hedge-Fonds, also ein hochspekulatives und mit hohen Risiken arbeitendes Anlagevehikel, zwingt den Chef und den Aufsichtsratsvorsitzenden der Deutschen Börse zum Rücktritt. Haben nicht längst auch bei deutschen Unternehmen internationale Investoren das Kommando übernommen?

Die »linke« oder globalisierungskritische Haltung, die sich in diesen Fragen widerspiegelt, liegt in ihrer schicksalhaften Ergebenheit manchmal erstaunlich nahe an einer »rechten« Sicht, die Deutschland ebenfalls im Niedergang und die Internationalisierung auch als Gefahr sieht. Nur der Begründungszusammenhang ist ein anderer: Während sich rings um uns herum die Welt in rasendem Tempo verändere, Länder ihre politischen Strukturen, Steuer- und Sozialsysteme modernisierten, schaffe die Bundesrepublik bestenfalls marginale Anpassungen an den neuen internationalen Einheitsstandard der Wettbewerbsfähigkeit.

Diese Interpretation missversteht die Globalisierung letztlich als ein Nullsummenspiel: Die wettbewerbsfähigere Volkswirtschaft schlägt die schwächere. Diese Sicht ignoriert die liberale Theorie der komparativen Vorteile. Derzufolge ziehen alle Länder Vorteile aus |16|der internationalen Zusammenarbeit, weil sie einen höheren Wohlstand erreichen, als sie es in einer geschlossenen Volkswirtschaft könnten.

Die engstirnige Interpretation der Globalisierung sieht statt der Chancen nur Gefahren: »So hat man den Sophismus geprägt, wonach die reichen und solidarischen Gesellschaften im Rennen um Wettbewerbsfähigkeit benachteiligt seien, eben weil sie reich und solidarisch sind«, schreibt der französische Ökonom Jean-Paul Fitoussi.2 Diesen Fehlschluss kennt man aus der deutschen Debatte: Demnach quetschen uns aggressive neue Wettbewerber in die Ecke, indem sie die gleiche Qualität wie die Deutschen zu Bruchteilen der hiesigen Kosten böten. Statt unsere Kosten möglichst schnell zu senken, reagierten wir allergisch vor allem auf die dynamischen neuen Mitglieder der EU, versuchten wie verfettete Ex-Champions, die jungen Tiger durch ein überholtes Verständnis von EU-Integration zu disziplinieren und domestizieren.

Es ist eine Begleiterscheinung der Globalisierungsdiskussion, wie sie hierzulande geführt wird, dass in der Bundesrepublik eher die negativen Seiten der Veränderungen gesehen werden. Wir reden viel darüber, dass ständig neue Wettbewerber nach Europa drängen, die billiger arbeiten und genau so gut ausgebildet sind wie wir. Aber wenig hört man darüber, dass deutsche Unternehmen trotz der verschärften Konkurrenz ihre Marktanteile weltweit gehalten oder sogar ausgebaut haben. Wir klagen über Betonköpfe in den Gewerkschaften und die starren Verhältnisse in den Betrieben, die das Anpassungstempo verzögerten. Wenn dann aber Tausende von betrieblichen Bündnissen für Flexibilität sorgen, schreibt eine große deutsche Wochenzeitung: »Lohnkürzung, Nullrunde, Mehrarbeit. Die Republik erlebt in diesen Monaten einen in ihrer Geschichte beispiellosen Prozess: die Entmachtung der Arbeiter.«3

Die verbreitete Unsicherheit, die auch die Mittelschichten erfasst, ist gerade kein Zeichen des Stillstandes. Sie ist eine Begleiterscheinung des tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandels, den die Politik noch nicht auf den Begriff bringt und der sie selber verunsichert. |17|Der neue deutsche Kapitalismus, der sich in Umrissen abzeichnet, ist nicht mehr das Modell Deutschland, mit dem in den siebziger Jahren Wahlkampf gemacht wurde. Damals funktionierte die Deutschland AG noch, regierten machtvolle Verbände mit, musste die Politik sich wenig um globale Märkte scheren.

Er ist aber auch nicht der oft beschworene entfesselte Raubtierkapitalismus. Der Gesellschaftsvertrag hält, auch wenn sich vieles an den ökonomischen Grundlagen radikal verändert. Nach dem Stillstand der späten achtziger und frühen neunziger Jahre haben die Unternehmen sich erfolgreich an die Globalisierung angepasst. Der neue deutsche Kapitalismus ist die noch unfertige Antwort auf den weltweiten Wandel: Die Republik ist in Bewegung.

|18|Kapitel 1

Deutschland AG (in Abwicklung)

Ulli Wickert ist in Hochform. Freundlich lächelnd wirft der Tagesthemen-Moderator dem Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Rolf Breuer, glatten Verrat vor: Auf der einen Seite sitze die Bank im Aufsichtsrat des Stahlriesen Thyssen, auf der anderen berate sie den kleineren Krupp-Konzern beim Versuch einer feindlichen Übernahme von Thyssen. Breuer versucht, sich von oben herab zu verteidigen, indem er den offensichtlichen Interessenkonflikt wegdefiniert: Man komme nicht darum herum, immer wieder solch schwierige Situationen zu bewältigen. Wickert lässt ihn kühl auflaufen: »Aber viele Leute bezweifeln ja gerade, dass Sie das können, Herr Breuer.« Der mächtige Vorstandssprecher stiert wie auf frischer Tat ertappt in die Kamera und wird von Wickert mit dem hämischen Hinweis entlassen, die Bank dürfe sich ja wohl nicht dem Vorwurf des Doppelspiels aussetzen: »Danke für das Gespräch, Herr Breuer.« »Gerne, Herr Wickert«, schnaubt der Banker, der nur mühsam die Fassung bewahrt.

Das ungewohnt heftige Interview lässt auch Jahre später noch viel von den Emotionen erahnen, die das von Krupp-Chef Gerhard Cromme und der Deutschen Bank im März 1997 eröffnete Übernahmegefecht auslöste. Es ging nicht nur um die Frage, wer künftig auf dem Stahlmarkt das Sagen haben würde. Die feindliche Übernahmeofferte war ein Einschnitt in der deutschen Wirtschaftsgeschichte.

Oberflächlich gesehen ging es »nur« um die guten Sitten, die in der Bundesrepublik im Umgang der großen deutschen Unternehmen |19|galten. Im Grunde aber stellte die Attacke ein Funktionsprinzip der deutschen Marktwirtschaft infrage. Die Konzerne verbanden sich gerade deshalb durch Mitglieder in ihren Aufsichtsräten, weil sie über die Marktkonkurrenz hinweg die Abstimmung und den Schutz gegen mögliche Übernahmen suchten. Crommes von der Deutschen Bank gedeckter Vorstoß stellte dieses Prinzip auf den Kopf und verstieß gegen den Comment, und das gleich mehrfach. Es gehörte sich schon nicht, gegen den Wunsch des Managements zu versuchen, die Kontrolle über ein anderes Unternehmen zu erringen. In diesem Fall versuchte auch noch der Kleinere, den Größeren zu schlucken, und das mit Hilfe einer Bank, die mit einem ihrer Vorstandsmitglieder – Ulrich Cartellieri – im Aufsichtsrat der »angegriffenen« Gesellschaft vertreten war. Und diese Bank war eben nicht irgendeine, sondern die Deutsche: das Institut, das wie kein anderes für das Geflecht aus Kapital- und Personenbeziehungen stand, mit dem sich die großen bundesdeutschen Unternehmen bis zu diesem Zeitpunkt so erfolgreich vor Eindringlingen geschützt hatten.

Im Nachhinein kann man feststellen: Die Auseinandersetzung war einer der wichtigsten Momente in der Auflösung dessen, was landläufig die Deutschland AG genannt wird. Auch wenn die Attacke abgeblasen werden musste und in eine gütliche Einigung mündete: Wahrscheinlich war der Fall Thyssen von größerer Tragweite für die Entflechtung des Netzes aus Banken und Konzernen als die viel stärker beachtete und kommentierte Übernahme von Mannesmann durch Vodafone zwei Jahre später.

Was die Deutschland AG ist oder war, erweist sich beim näheren Hinsehen als weniger eindeutig, als der häufige und selbstverständliche Gebrauch des Begriffes vermuten lässt. Im engeren Sinn ist mit Deutschland AG die enge Verbindung von Privatbanken und Industrieunternehmen gemeint. Die Banken hielten umfangreiche Beteiligungen an den größten deutschen Konzernen; sie entsandten ihre Vorstandsmitglieder in deren Aufsichtsräte; sie wirkten als Hausbanken und übten nicht zuletzt über das Depotstimmrecht, also |20|über die Anteile von Aktionären, die ihr Stimmrecht nicht selber wahrnahmen, Einfluss aus. »So kam es, dass sich in den Aufsichtsräten der deutschen Aktiengesellschaften immer wieder dieselben Manager trafen – die Deutschland AG kontrollierte sich selbst, was vor allem angelsächsischen Investoren nicht passte.«1

Andere Definitionen fassen die Deutschland AG dagegen viel weiter. Wolfgang Streeck vom Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung interpretiert sie als für die Bundesrepublik typische gesellschaftliche Einbettung der Unternehmen: »Die Organisiertheit des deutschen Kapitalismus war politisch gestützt und ermöglichte es, Marktteilnehmer für politische Zwecke in die Verantwortung zu nehmen.«2 Diese Aussage ermöglicht auch den Umkehrschluss: Wenn einzelne Elemente des deutschen Modells oder des »Rheinischen Kapitalismus« – all diese Begriffe werden meist als Synonyme verwendet – sich ändern oder entfallen, ist es um das gesamte Modell, ja um die gesellschaftliche Einbindung der Unternehmen geschehen. Zu der »Organisiertheit« zählt Streeck neben den bereits genannten Beteiligungen, die durch das Steuerrecht ermuntert und stabilisiert wurden, die gesamte Form der deutschen Unternehmenskontrolle bis hin zur Mitbestimmung. Auch scheinbar technische Bestimmungen wie das Aktienrecht mit Höchst- und Mehrfachstimmrechten gehören dazu, das dem Prinzip »eine Aktie – eine Stimme« zuwiderlief und die Möglichkeit ausschloss, durch Aktienkauf eine Stimmenmehrheit zu erwerben. Zusammen mit Bilanzierungsvorschriften, die es erlaubten, stille Reserven vor den Augen möglicherweise übernahmeinteressierter Investoren zu verstecken, habe dies die deutschen Unternehmen »vor dem Zugriff des Kapitalmarkts« geschützt, so Streeck. Knotenpunkte des Verflechtungsnetzwerks der Deutschland AG waren ihm zufolge »die Finanzunternehmen, die strukturpolitische Handlungsfähigkeit nach innen und die Bereitschaft und Fähigkeit zur Verteidigung gegen Angriffe von außen aufwiesen – als handle es sich bei der Gesamtheit der deutschen Großunternehmen um eine staatsähnliche Organisation und nicht um konkurrierende Einzelbetriebe.«3

|21|Insgesamt seien »Verflechtung, Intransparenz und Abschottung nach außen« Besonderheiten der Deutschland AG gewesen,4 die es ihren Industrieunternehmen ermöglicht hätten, neue Arbeitsplätze zu schaffen und auf den Produktmärkten und bei der Befriedigung der verschiedenen Interessengruppen erfolgreich zu sein. Lediglich mit Blick auf die Durchschnittsprofitabilität habe dieses Modell nicht so gut abgeschnitten. Die Auflösung der Deutschland AG bedeutet für Streeck und viele andere nicht nur, dass die Banken ihre Industriebeteiligungen aufgeben. Für ihn handelt es sich um die »zielbewusste Abkehr« von der Denkweise, dass Großunternehmen in ein Netzwerk auch nichtkommerzieller Interessen eingebunden sein sollten: »Die Desorganisation des deutschen organisierten Kapitalismus verschiebt die Balance zwischen betriebswirtschaftlichen und an Unternehmen herangetragenen öffentlichen Zielen zugunsten der Ersteren.«5 Damit aber werde »der politische Charakter der Wirtschaftsordnung der Nachkriegszeit grundlegend revidiert«6 . Streeck steht mit dieser Interpretation, dass die Entflechtung der Deutschland AG das Ende der gesellschaftlichen Einbindung von Unternehmen sei, nicht allein.

Es ist eine recht weitverbreitete Ansicht, dass Deutschland vor dem auf kurzfristige Gewinne ausgerichteten Shareholder-Value-Denken angelsächsischer Investoren in die Knie gegangen sei und sein bewährtes Modell des Interessenausgleichs aufgegeben habe – und damit zugleich die Möglichkeit, große Unternehmen zu gesellschaftlich verantwortlichem Verhalten zu bewegen. Die »komplementären Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit« seien bedroht durch den »beträchtlichen Druck, ein stärker marktorientiertes System wie in den USA anzunehmen«, schreibt etwa Christian Kellermann von der Uni Kassel.7 Deutlich dramatischer heißt es in der Zeit: »Die soziale Marktwirtschaft war der letzte funktionierende Gesellschaftsvertrag. Er hat lange gehalten und die Gesellschaft befriedet. Nun ist er am Ende.«8

Ob dieses Urteil trägt, werden wir später klären. Zunächst wollen wir nachprüfen, welche Bestandteile der Deutschland AG überhaupt |22|verschwunden sind oder sich grundlegend gewandelt haben. Erst dann können Aussagen darüber getroffen werden, ob die deutsche »Wirtschaftsordnung der Nachkriegszeit« fortbesteht oder ihr Ende tatsächlich besiegelt ist.

Gehen wir zum Kern der Deutschland AG, zu den kapitalmäßigen und personellen Verflechtungen von Industrieunternehmen und Banken. Das Handelsblatt hat 2005 auf Grundlage einer Arbeit von Lothar Krempel vom MPI Köln die Beteiligungen der 100 größten Unternehmen aus Finanzwirtschaft und Industrie untereinander sowie zwischen Finanzwirtschaft und Industrie grafisch dargestellt. Verglichen werden die Situation 1996 und 2005.9 Für 1996 zeigt sich noch ein Bild, das an mehrere übereinander liegende, dichte Spinnennetze erinnert, mit Allianz, Deutscher Bank, Münchner Rück sowie Dresdner Bank im jeweiligen Zentrum. 60 der 100 größten Unternehmen sind in einer komplizierten Struktur verwoben, die meisten sind mit mehr als nur einem anderen verbunden. Insgesamt zählen Höpner und Krempel für das Jahr 1996 nicht weniger als 168 Kapitalbeteiligungen unter den 100 Größten.10

Die Grafik für 2005 erinnert dagegen an ein zerfetztes Gewebe, bei dem die einzelnen Kettfäden kaum noch miteinander verbunden sind. Allein die Allianz, die als einziges Großunternehmen noch eine größere Zahl an Beteiligungen hält, wirkt wie eine einsame Radnabe mit ein paar Speichen, von einem Netz kann nicht mehr die Rede sein. Was ist geschehen?

Aus vielerlei Gründen haben die deutschen Finanzinstitute das Interesse an Industriebeteiligungen verloren und sie abgestoßen. So hat etwa die Deutsche Bank ihre Beteiligungen an Buderus, Continental, HeidelbergCement und MG Technologies komplett verkauft und ihre Anteile an DaimlerChrysler zum Teil. Was das größte deutsche Geldhaus aus den Regalen zog, ist teilweise höchst verblüffend: Anfang 2005 veräußerte die Bank den Rest ihres Anteils an der Südzucker, der einmal 11 Prozent betragen hatte und auf das neunzehnte Jahrhundert zurückgeht.

Die Bank hat ihren Aktienbesitz nicht kontinuierlich über Jahrzehnte |23|hinweg, sondern schlagartig in wenigen Jahren zurückgefahren. Nach Angaben der Börsenzeitung waren Anfang 2000 in der Spitze rund 20 Prozent des Kapitals der Bank durch Beteiligungen gebunden. Bis 2004 hatte sich diese Quote bereits auf 3,9 Prozent verringert. Zu diesem Zeitpunkt standen die direkten Industriebeteiligungen nur noch mit 600 Millionen Euro in den Büchern, während es nur zwei Jahre zuvor noch 3,5 Milliarden Euro waren. Auch an der Mitarbeiterzahl der Bank zeigt sich, wie rasch sie ihren Anteilsbesitz abgebaut hat: 2002 waren knapp 700 Personen mit dessen Verwaltung und der Suche nach günstigen Gelegenheiten zum Verkauf beschäftigt, zwei Jahre später nur noch rund 70.11

Die Entflechtung der Deutschland AG hat allerdings nicht nur dazu geführt, dass die Banken ihre Industriebeteiligungen abgaben. Auch die Beziehungen zwischen Banken und Versicherern wurden neu geordnet, nicht immer nur durch Desinvestitionen: So hat die Allianz 2001 die Dresdner Bank übernommen und die Münchener Rück im Gegenzug eine Sperrminorität an der HypoVereinsbank (HVB). Die Deutsche Bank hat ihre Beteiligungen an den Münchener Versicherern abgestoßen, und diese haben ihre gegenseitigen Beteiligungen von jeweils 25 Prozent zurückgeführt. Die Allianz hat auch ihre Anteile an der HypoVereinsbank, der Commerzbank, der Deutschen Börse und der AMB Generali abgegeben und gemeinsam mit den beiden anderen Großaktionären Münchener Rück und Commerzbank die Beteiligung am MAN-Konzern verkauft.

Auch Großunternehmen der Industrie haben, wenn auch aus anderen Gründen, ihren Beteiligungsbesitz teilweise stark reduziert. Der Versorger Eon hat nach und nach seine Beteiligungen am Aluminiumhersteller VAW, an der Spedition Stinnes und am Verpackungskonzern Schmalbach-Lubeca aufgegeben. Allerdings nutzte das Unternehmen die Erlöse für neue Zukäufe und für die internationale Expansion innerhalb seines Kerngeschäfts. Anders als bei den Banken steht bei den Industrieunternehmen das Interesse im Vordergrund, sich von Randaktivitäten zu trennen.

Als Auslöser für die Verkaufswelle bei den Banken gilt nicht etwa |24|ein Konservativer, sondern ein Sozialdemokrat: Hans Eichel, der als Finanzminister während der ersten rot-grünen Koalition eine Steuerreform durchsetzte, die Veräußerungsgewinne steuerfrei stellte. Die Steuerpflicht hatte bis dahin wie ein Riegel gewirkt. Kein Institut war daran interessiert, Beteiligungen zu verkaufen, wenn es anschließend einen großen Teil seines Erlöses an den Staat abführen musste. Die andere wesentliche steuerliche Norm, die den Beteiligungsbesitz begünstigt hat, war schon früher gefallen – das Schachtelprivileg. Es sah vor, dass bei Beteiligungen von über 25 Prozent Dividendenzahlungen nicht besteuert wurden.

Mit der rot-grünen Steuerreform bestand für die Banken kein Motiv mehr, noch länger an Kapitalengagements festzuhalten, deren wirtschaftlichen Nutzen sie teilweise schon länger nicht mehr sahen. Andere Geschäfte waren interessanter geworden. Das wachsende Interesse an Investment-Banking war wahrscheinlich einer der wichtigsten Gründe für die veränderte Einstellung der Banken zu Unternehmensbeteiligungen. Das aktive Eingreifen der Deutschen Bank in die Auseinandersetzung zwischen Krupp und Thyssen zeigt genau das. Rolf Breuer äußerte damals, seine Bank wolle »Investment-Banking am Hochreck« demonstrieren: »Mir liegt sehr daran, dass dieser erste große Fall am Finanzplatz ein Exempel setzt.«12

Die deutschen Banken begannen, ihre seit Jahrzehnten gepflegten Interessen neu zu definieren. Mit der Hilfestellung für Cromme ging die Deutsche Bank das Risiko ein, die Position ihrer Vorstandsmitglieder in den Aufsichtsräten und ihre Stellung als Hausbank von Thyssen zu verlieren. Das größte private Kreditinstitut Deutschlands hielt die Möglichkeit, über eigene Mandate Einfluss ausüben zu können, mittlerweile aber für weniger wichtig als die Gelegenheit, sich als moderne Investmentbank zu profilieren.

Durch Beratung bei einer spektakulären Übernahme wollte Breuer beweisen, dass sein Haus sich mit den angesehensten der internationalen Investmentbanken messen konnte. Hier war in Zukunft das große Geld zu verdienen: bei Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Privatisierung und dem Aufkauf von Unternehmen sowie |25|bei der Anbahnung von Fusionen. Auf diesem Feld ließ sich aber keine Reputation als über jeden Zweifel erhabener Berater aufbauen, wenn man gleichzeitig »den Schutz der heimischen Industrieunternehmen zu seinem Geschäftsziel machte«.13 Nicht nur Ulli Wickert rümpfte über diesen offensichtlichen Interessenkonflikt die Nase.

Mit diesem strategischen Schwenk der Bank ging eine Tradition zu Ende, die sehr weit zurückreicht. Die Autoren, die das Geflecht aus Banken und Unternehmen als einen Grundpfeiler der in der Nachkriegszeit entstandenen sozialen Marktwirtschaft interpretieren, irren sich. Schon seit Gründung des Deutschen Reichs 1871 waren die Banken fast immer dabei, wenn neue Industrieunternehmen gegründet, gefördert und gestützt oder schlicht vor dem Zusammenbruch bewahrt werden sollten. Dieser Charakterzug der Deutschland AG ist also wesentlich älter als die Bundesrepublik. Mit der auf Interessenausgleich zwischen Arbeit und Kapital gegründeten Wirtschaftsordnung der Nachkriegszeit hat das sehr wenig zu tun. Es ist wichtig, dies im Hinterkopf zu haben, wenn es um die Bewertung der Entflechtung geht.

Die 1870 gegründete Deutsche Bank, deren erster Vorstandssprecher Georg von Siemens war, engagierte sich von Anfang an aktiv als Aktionär in neu gegründeten Gesellschaften, genau wie die im selben Jahr entstandene Commerzbank. Beide behielten bei Neuemissionen öfters Aktien im Eigenbesitz, und das nicht nur dann, wenn eine von ihnen organisierte Platzierung nicht so gut lief, wie erhofft.

So stieg die Deutsche Bank bereits 1883 mit fast einem Viertel des Aktienkapitals bei der AEG ein – ein Engagement, das über Kriege und politische Wechsel hinweg bestehen bleiben sollte. Auch bei der Gründung von Mannesmann 1890 spielte die Deutsche Bank eine Rolle. Hinzu kamen nach der Krise 1873 bis 1879 Beteiligungen an Unternehmen, deren Kredite notleidend wurden und die in Eigenkapital umgewandelt wurden.

In dieser Zeit entwickelt sich auch die bestimmende Rolle des Netzwerks von Industrieunternehmen und Banken. Sie räumten |26|sich gegenseitig Beteiligungen und/oder Mandate in ihren Aufsichtsräten ein und vertrauten mehr auf kartellartige Abstimmung als auf den freien Wettbewerb. Die Elite des deutschen Kapitals stützte Bismarck bei seiner grundlegenden wirtschaftspolitischen Umorientierung, die von der freien Konkurrenz wegführte, hin zur Kooperation der größten Unternehmen und sogar zur direkten Einschränkung des Wettbewerbs über die Bildung von Kartellen. Die Spitzenverbände der deutschen Industrie setzten sich für Kartelle ein, die obersten deutschen Gerichte stützten diesen Kurs. Deutschlands Kapitalismus verlor seinen liberalen, weltoffenen Charakter und stärkte damit seine national-illiberalen Züge.

In einer historischen Einordnung der deutschen Wettbewerbspolitik schreibt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), der Think Tank der reichsten Industriestaaten: »Starkes Wirtschaftswachstum begleitete die Industrialisierung und Vereinigung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, unterlegt von einem starken Glauben an die Vorzüge des freien Marktes. Als die deutsche Volkswirtschaft begann, das Auf und Ab der Konjunkturzyklen zu spüren, wandelte sich die Einstellung zum Wettbewerb. Nun sollte er kontrolliert werden, und als Antwort auf die Krise begannen Unternehmen, zu kooperieren, indem sie Vereinbarungen über Produktion und Kapazitäten abschlossen. Um 1900 gab es bereits 400 etablierte Kartelle, die zu einem offenbar permanenten Charakteristikum der Wirtschaft geworden waren: größer, zahlreicher und dauerhafter als irgendwo sonst in der industrialisierten Welt. Die politische Führung widersetzte sich nicht, da ihrer Ansicht nach die Kartelle halfen, den frisch vereinten Staat zusammenzuhalten, und ökonomische Vordenker neigten dazu, die Kartellbewegung zu unterstützen, indem sie ihre angebliche Bedeutung für die Industrialisierung herausstellten. Kartelle erlaubten es demzufolge, schädliche Wirkungen der Marktprozesse auf die Produzenten abzuwenden. Ein Grundsatzurteil stellte 1897 fest, dass Kartelle zum allgemeinen Vorteil wirkten, da sie Unternehmen vor dem Ruin bewahrten und angemessene Preise ermöglichten. Als allgemeine |27|Regel galt danach, dass Kartellvereinbarungen gültig und einklagbar waren und nur Kartelle aufgelöst werden konnten, die ein Monopol errichten sollten.«14

Während der Weimarer Republik wurde das Netz der Banken und Unternehmen noch einmal enger geknüpft. Die Münchner Rück beteiligte sich mit 25 Prozent an der Allianz. Die Chemieunternehmen Bayer, BASF und Hoechst schlossen sich zur IG Farben zusammen. In den krisenhaften zwanziger und frühen dreißiger Jahren wurden zahlreiche Kredite der Banken in Industriebeteiligungen umgewandelt. Wie stark die industriepolitische Rolle der Banken war, zeigt die Entwicklung in der Autoindustrie: Auf Betreiben der Deutschen Bank hin schlossen sich 1926 Daimler und Benz zusammen, und wenn es nach dem Geldhaus gegangen wäre, hätte BMW sich auch noch beteiligt, um einen großen deutschen Autokonzern zu bilden.

Allerdings machten sich auch Sorgen über die Auswirkungen von Kartellen auf Verbraucher sowie Klein- und Mittelbetriebe breit. Nach dem Ersten Weltkrieg erließ die Regierung der Weimarer Republik Europas erstes Gesetz zum Schutz der Verbraucherinteressen und zur Missbrauchsbekämpfung. Die 1923 beschlossene Vorschrift gegen den Missbrauch wirtschaftlicher Machtpositionen war Teil von Bestrebungen, die Inflation durch größere Marktfreiheit einzudämmen. Gleichzeitig wurde eine Kartellbehörde eingerichtet. Umstritten ist allerdings, welche Auswirkungen diese Schritte hatten: Während die OECD sie als vorbildlich für ganz Europa würdigt,15 urteilen andere Autoren, das unter Gustav Stresemann erlassene Kartellgesetz habe weniger der Eindämmung und Bekämpfung von Kartellen gedient als vielmehr ihrem Schutz.16

Bemerkenswert ist, dass die Parteien der Linken die von den Spitzen der Industrie und der Banken gewünschte Ausschaltung des Marktes damals nicht kritisierten, sondern allgemein eher unterstützten. Anders als nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Linke sich unter dem Eindruck der willigen Zusammenarbeit vieler Banken und Großunternehmen mit den Nazis für die Entflechtung stark |28|machte, sah sie vorher den kartellmäßig organisierten Kapitalismus als dem der freien Konkurrenz überlegen an. Gerade die sozialistische Linke schloss sich diesen Vorstellungen an, weil sie glaubte, diese Form des Kapitalismus rücke die Gesellschaft näher an den Sozialismus heran. Dass durch diese Wettbewerbsbeschränkungen, welche Preise hoch halten und ausländische Wettbewerber schwächen sollten, eher die Konzerne den Staat für sich instrumentalisierten als umgekehrt, und dass hier nicht zuletzt auch antidemokratische Konzentrationen von Macht entstanden, verstand sie nicht richtig oder es störte sie nicht weiter. Der damals entstandene Irrglaube, eine Marktwirtschaft mit wenig Wettbewerb sei besser und gerechter, ist ein spezifisch deutsches Phänomen, das sich teilweise bis heute gehalten hat. Später werden wir noch näher darauf eingehen.

Während der Nazidiktatur ließen die braunen Herrscher ihrer gegen das »internationale Finanzkapital« gerichteten Rhetorik nur Taten folgen, wenn es um jüdische Banken ging. Die wurden rücksichtslos enteignet, »arisiert«. Ansonsten wurde zwar der Entscheidungsspielraum von Banken und Industrie eingeschränkt, wann immer Vorbereitung und Führung des Krieges es in den Augen der Herrschenden erforderlich machten, doch das Beteiligungsnetzwerk ließen sie bestehen, wenngleich radikale Strömungen in NSDAP und SS die Verstaatlichung verlangten.

In der Nachkriegszeit bauten Banken und Versicherer ihr Beteiligungsportefeuille teilweise noch aus. Die Politik sicherte diese Schritte ab. Aktionärsdemokratie blieb ein Fremdwort. Auch in der jungen Bonner Republik galt weiter die Sottise des Bankiers von Fürstenberg aus dem neunzehnten Jahrhundert: Aktionäre seien dumm und unverschämt. Dumm, weil sie ihr Geld den Aktiengesellschaften zur Verfügung stellten, und unverschämt, weil sie auch noch eine Dividende haben wollten.

Der Staat tat vieles dazu, Aktionäre auch weiterhin zu entmündigen und dafür zu sorgen, dass Unternehmensvorstände und einzelne Großaktionäre ungestört kungeln konnten. So wurden Höchst und Mehrfachstimmrechte erlaubt. Mehrfachstimmrechte privilegierten |29|bestimmte Aktionäre, denen mehr Stimmen zuerkannt wurden, als ihnen nach ihrem Anteil am Eigenkapital zugestanden hätten. Höchststimmrechte bewirkten, dass kein »fremder« Aktionär über die Börse ein Unternehmen in seine Verfügung bringen konnte: Selbst wenn er die Aktienmehrheit besaß, erhielt er nicht die Mehrheit der Stimmrechte.

Das steuerliche Schachtelprivileg bildete einen Anreiz, große Aktienblöcke zu kaufen, denn Anteile von mehr als 25 Prozent an einer Gesellschaft blieben bei der Dividendenausschüttung steuerfrei. Der Staat verlangte nicht einmal, dass große Beteiligungen publik gemacht wurden. Das kam den Banken sehr zupass, die keinen gesteigerten Wert darauf legten, dass ihr Beteiligungsportefeuille bekannt wurde. Der damalige Chef der Deutschen Bank, Hermann Josef Abs, wird mit der vorwurfsvollen Frage zitiert, ob die Banken ihre Unternehmensbeteiligungen denn etwa vom Dach herabschreien sollten.

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|43|Kapitel 2

Domestizierte Finanzhaie

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|50|Kapitel 3

Ausländisches Kapital wandert ein

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|61|Kapitel 4

New Economy: Der verdrängte Sprung nach vorn

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|70|Kapitel 5

Unternehmer der eigenen Arbeitskraft

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|79|Kapitel 6

Hochleistung am Arbeitsplatz

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|88|Kapitel 7

Stille Revolution in den Betrieben

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|101|Kapitel 8

Die schwindende Macht der Verbände

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|113|Kapitel 9

Der Staat weicht zurück, der Markt rückt vor

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|127|Kapitel 10

Zerbrochene Gewissheiten in der Außenpolitik

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|144|Kapitel 11

Die neuen Spielregeln der Geld- und Finanzpolitik

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|158|Kapitel 12

Die Angst der Politiker vor Machtverlust

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|173|Kapitel 13

Die neue Bürgergesellschaft

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|185|Kapitel 14

Saufen für den Regenwald: Unternehmer als gute Mitbürger

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|195|Kapitel 15

Spielarten des Kapitalismus

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|207|Kapitel 16

Deutsche Mythen

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|213|Anmerkungen

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|222|Register

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