Der nützliche Freund - Ulrich Wickert - E-Book
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Ulrich Wickert

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Beschreibung

Jacques Ricou, der grimmig-charmante Pariser Richter, untersucht den Tod von Marc Leroc, einer Schlüsselfigur im größten Korruptionsfall der deutsch-französischen Geschichte. Unvermittelt gerät Jacques in einen Sumpf aus Verrat und politischen Intrigen – in dem auch das Leben seiner Freundin Margaux auf dem Spiel steht. Ulrich Wickert glänzt als Kenner französischer Lebensart und zeigt sich einmal mehr als brillanter Krimiautor.

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Für Julia

ISBN 978-3-492-97423-3 Dezember 2015 © Piper Verlag GmbH, München 2008 Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München Covermotiv: age fotostock/LOOK-foto Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck  

Café crème mit Margaux

Ein oder zwei Café crème und ein oder zwei Croissants, mehr brauchte er morgens nicht. Margaux hatte das Wochenende bei ihm in seiner neuen Wohnung in der Rue de Belleville verbracht, und nun frühstückten sie im altehrwürdigen Bistro Aux Folies, das der auvergnatische Bistrowirt Gaston gerade übernommen hatte.

»Das hätte man auch ein bisschen präziser aufbereiten können.« Margaux regte sich über den Artikel in Libération auf, in dem von der Pressekonferenz des Verlages mit Marc Leroc berichtet wurde. Sie knüllte die Zeitung zusammen und warf sie auf den leeren Bistrostuhl neben sich.

»Worum geht’s denn?«, fragte Jacques, ließ seine Zeitung sinken und nahm einen Schluck aus der Tasse vor ihm.

»Es geht nur um eine Geschichte, hinter der auch ich gerade her bin«, sagte Margaux, die über andere Journalisten häufig sehr streng, manchmal gar abfällig urteilte. Mach dir nichts draus, hatte sie Jacques einmal gesagt. Wir Journalisten sind so. Und da Margaux unter den Zeitungsleuten in Paris einen guten Ruf als harte Rechercheurin mit Stil hatte, konnte sie sich manch bösen Kommentar über schlechte Artikel anderer erlauben.

»Wenn du hinter etwas her bist, dann ist das meist mehr als irgendeine Geschichte. Zeig mal!«

»Ist jetzt nicht so wichtig. Es geht noch mal um die schwarzen Kassen von France-Oil und die Frage, wer daraus Geld empfangen hat. Mich interessiert besonders die deutsche Komponente. Wenn du so willst, handelt es sich im weitesten Sinn um Korruption bei internationalen Geschäften. Natürlich kann das eine ganz große Geschichte werden. Und ich sitze als Einzige an der Quelle, glaube ich. Ein heißes Thema! Vielleicht das heißeste, das ich je angefasst habe.«

»Also doch! Ist da was für einen Untersuchungsrichter drin?«, fragte Jacques.

»Noch nicht. Ich sage dir schon rechtzeitig, wenn’s so weit ist. Aber diese Pressekonferenz vom Verlag ist gut gelaufen.«

»Woher weißt du das denn?«

»Vom Autor persönlich. Der ist allerdings am Anfang sehr nervös gewesen und schon bei der Antwort auf die erste Frage ins Stocken geraten. Zum Glück hat sein Verleger dann gleich die Gesprächsführung übernommen.«

»Und wie lautete diese erste Frage?«

»Es ging um den Beweis dafür, dass der deutsche Bundeskanzler im Auftrag des französischen Präsidenten von France-Oil mit einigen Millionen bestochen worden ist. Und der Verleger hat schlicht geantwortet, dass in Lerocs spannendem Lebensbericht bewiesen wird, was der deutsche Bundeskanzler bekommen hat.«

»Damit haben sich deine Kollegen doch hoffentlich nicht zufrieden gegeben?« Jacques sah sie fragend an.

»Natürlich nicht. Jeder von uns weiß doch über die Einzelheiten des Leuna-Deals Bescheid, also auch darüber, dass France-Oil ein paar Milliarden an die Treuhandgesellschaft gezahlt hat, an diese Behörde, die von der deutschen Regierung eingesetzt worden war, um staatliches Eigentum der DDR zu verhökern. Aber Leroc hat schließlich erklärt, er könne und werde beweisen, wo heute noch Geld, das damals veruntreut wurde, aus schwarzen Kassen fließt.«

Margaux nahm die Zeitung wieder vom Stuhl und schlug sie auf. »Hier sind ein paar der wichtigsten Fragen und Antworten zitiert. Gegen Ende des Geplänkels wurde es sogar ziemlich interessant. ›Sind Sie nicht selber in diesem Fall zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden? Wenn ich mich nicht täusche: wegen Untreue? Über Sie sind die Schmiergelder gelaufen. Warum haben Sie das alles in Ihrem Prozess nicht offengelegt?‹ Leroc antwortete: ›Weil ich in dem Prozess zum Sündenbock erklärt worden bin. Sie kennen ja die französische Justiz. Die Topmanager haben alle Schuld auf mich abgeschoben. Die wurden dann zwar auch verurteilt, sogar zu Gefängnis und Millionen an Geldstrafen. Aber von den Strafen hat keiner von ihnen auch nur einen Tag abgesessen, geschweige denn einen Centime gezahlt.‹«

Jacques wollte ihr die Zeitung aus der Hand nehmen. »Wenn das wirklich stimmt, was dieser Leroc sagt …«

Aber Margaux unterbrach ihn: »Hör doch erst mal zu, wie es weitergeht.«

Jacques nickte.

»Leroc hat gesagt: ›Durch meinen Bericht wird das politische System in Deutschland ins Wanken kommen. Ich werde eine bisher unbekannte Geldquelle aufdecken.‹ Darauf fragt ein Journalist: ›Was heißt Geldquelle?‹ Und die Antwort: ›Millionen, die auf einem Konto bei einer Bank in einer Steueroase liegen und für politische Zwecke abberufen werden. Meist in bar.‹ Nächste Frage: ›Warum kommen Sie damit jetzt erst raus?‹ Leroc: ›Die meisten Beweise habe ich erst nach mühseliger Arbeit zusammenstellen können. Und ein zusätzlicher Zeuge wird spätestens beim Erscheinen meines Buches öffentlich aussagen.‹ Frage: ›Wer ist dieser Zeuge? Hat er einen Namen? Wie ist er in die Sache verwickelt? Und: Weshalb trauen Sie ihm?‹ Lerocs Antwort: ›Wir haben viel zusammen gearbeitet. Ich würde sagen, er ist sogar ein Freund.‹« Margaux sah von der Zeitung auf. »Jetzt kommt sozusagen der letzte Satz, der natürlich von einer Journalistin stammte: ›In diesem Fall wohl ein nützlicher Freund.‹ Danach hat der Verleger die Pressekonferenz abgebrochen und auf das Erscheinen des Buches in zehn Wochen verwiesen.« Margaux stand auf. »So, das war’s.«

»He, du kannst doch jetzt nicht gehen. Erzähl mir erst, was du über den nützlichen Freund zusätzlich herausgefunden hast«, entrüstete sich Jacques.

»Nix. Das muss dir jetzt erst mal reichen«, sagte Margaux und raffte ihre Tasche und den dünnen Mantel zusammen. »Ich muss jetzt los.«

Sie gab Jacques einen Abschiedskuss auf den Mund.

Gaston beobachtete sie aus einem Augenwinkel und fragte: »Kommst du heute Abend, ich gebe doch hier meinen Einstand?«

»Natürlich komme ich. Jacques hat es mir schon gesagt. Es wird vielleicht ein bisschen später. Ich habe um sieben noch einen Termin.«

Gaston schaute ihr hinterher, bewunderte ihre sportliche Figur und den energischen Gang, mit dem sie die Rue de Belleville hinuntereilte und im Eingang zur Métro verschwand.

»Noch einen Crème, Monsieur le juge?«, fragte der Bistrowirt, als Jacques kurz von seiner Lektüre aufschaute.

»Habe ich schon zwei?«

»Nein, du hattest erst einen Crème und ein Croissant.«

»Dann bring mir noch mal beides.«

»Herrlich warmer Frühling«, plauderte Gaston weiter, »schön, dass man schon draußen sitzen kann.«

Als Jacques nichts sagte, zwirbelte Gaston an seinem auvergnatischen Bart, der nach rechts und links außen und an den Enden nach vorn gezwirbelt wurde, und ging.

»Voilà, Monsieur le juge.« Ein paar Minuten später stellte er die Tasse und den Teller vor Jacques ab, nahm das benutzte Geschirr hoch und fragte: »Seid ihr eigentlich wieder zusammen?«

Jacques seufzte, schüttelte den Kopf, weil er nicht antworten wollte, sagte dann aber doch: »Ach, das ist mal so, mal so.«

Ein guter Wirt weiß, wann er zu schweigen hat. Gaston stellte sich an die Tür zu seinem Bistro und schaute sich das zunehmende Gewimmel auf der Straße an.

Als Jacques bezahlte, erinnerte Gaston auch ihn an die Fete am Abend: »Du gehörst doch zu den Stammgästen aus dem alten Bistro. Du musst kommen!«

»Und ob ich komme, ich bringe vielleicht noch ein paar Leute mit. Aber bei mir wird es wohl auch ein bisschen später, neun, halb zehn. Bei Gericht gibt’s heute eine Coupe de Champagne, Marie Gastaud wird in ihr neues Amt eingeführt. Und da sie mich mitgenommen hat, gehört sich ein Act de présence.«

»Im Palais de justice?«

»Auf der Ile de la Cité. Die alten Büros sind zwar ein bisschen dunkler als die modernen am Gericht in Créteil, aber ich brauche jetzt kaum zehn Minuten mit der Métro.«

»Nimmst du nicht deinen Dienstwagen?«

»Hier finde ich sowieso keinen Parkplatz, also lasse ich ihn meist in der Dienstgarage.«

Bisher war Marie Gastaud Präsidentin des Gerichts von Créteil gewesen, an dem sich auch Jacques Ricou als Untersuchungsrichter seit vier Jahren durch allerhand skandalöse Fälle gewühlt hatte. Jedes Mal, wenn sie ihn zu sich rief, ging er mit gemischten Gefühlen in ihr Büro. Sie wirkte mit ihrer Betonfrisur und den langweiligen, aber teuren Seidenkleidern wie die Ehefrau eines erfolgreichen Bourgeois, der die ererbte Porzellanmanufaktur seiner Familie in Limoges in alter Tradition weiterführt. Aber Jacques hatte immer wieder festgestellt, dass sie mehr war als nur eine strenge Mutter von zwei Kindern, die die Aufnahmeprüfung in die ENA geschafft hatten, und die Ehefrau eines hohen Beamten. Marie Gastaud leitete ihr Gericht immer so unabhängig, wie es unter dem jeweiligen Justizminister möglich war. Jacques schätzte ihr feines juristisches Gespür und ihre schützende Hand.

Und die konnte er immer wieder brauchen. Denn unter französischen Politikern galt er als ein unerträglich harter Hund. In der Öffentlichkeit dagegen wirkte er wie ein Vorbild für Mut. Besonders für Mut vor dem Herrscherthron.

Einmal hatte er sogar – wenn auch vergeblich – den Staatspräsidenten vorgeladen, um ihn wegen einer Untersuchung von politischer Korruption der konservativen Partei zu befragen. Schließlich war der Präsident zur Zeit der finanziellen Unregelmäßigkeiten Parteivorsitzender gewesen. Zwar hatte Marie Gastaud Jacques damals vorgeworfen, das sei eine Schnapsidee, denn der Präsident werde nicht aussagen, stattdessen würde ihn solch eine Ladung in der Öffentlichkeit belasten. Aber Jacques hatte ihr geantwortet, man müsse allen, auch den unmöglichen, Spuren nachgehen. So laute nun einmal sein Arbeitsethos, das er immer noch für ein richtiges Prinzip halte, schließlich habe es ihm Erfolg gebracht. Dafür werde er gefürchtet. Und darauf sei er stolz.

Sein letzter Fall, in den Jacques persönlich fast tragisch verwickelt war, hatte ihm viel Anerkennung eingetragen und großes Aufsehen erregt, weil daraufhin der Innenminister und einige seiner Vertrauten ins Gefängnis wanderten.

Geschickt taktierend hielt ihm die Gerichtspräsidentin immer wieder den Rücken frei, wenn der Druck aus der Politik zu groß wurde. Und jetzt hatte sie ihn vom Gericht aus Créteil mitgenommen ins Palais de justice ins Zentrum von Paris auf die Ile de la Cité und auch noch befördern lassen.

GoldGenève

Sogar die Tribune de Genève hatte einen kleinen Zweispalter über die Pressekonferenz in Paris gebracht. Aber in diesem Blatt, wie in der gesamten französischen und deutschen Presse, wurde Marc Leroc nicht allzu ernst genommen. Der etwas hämische Artikel in der Tribune bereitete ihm trotzdem Sorgen.

G stand von seinem modernen Holzschreibtisch auf und drückte auf einen versteckten Knopf an der Wand neben einem Bild von Mark Rothko, das er in den Achtzigerjahren für gerade mal dreihunderttausend Dollar bei einer Galerie in Liechtenstein gekauft hatte. Ein großes orangefarbenes Rechteck verlor sich in dunkelgrün.

Heute würde er dafür einige Millionen bei Sotheby’s bekommen.

Der Knopfdruck öffnete eine verborgene Tapetentür, und G trat durch einen kurzen Gang in das Büro des anderen G aus dem Namen GG – GoldGenève.

Die Bank hatten einst ihre Großväter als GG gegründet, weil beider Nachnamen zufällig mit dem siebten Buchstaben des Alphabets begannen. Die Enkel hatten sich später nur einmal darum gestritten, wer das erste und wer das zweite Schriftzeichen darstellte. Angefangen hatten die Großväter mit kleinen Wechselstuben an den Grenzen zu Frankreich, Italien und Deutschland. Am meisten hatten sie in Brissago am Lago Maggiore verdient, wo sie nur hundert Meter hinter dem Grenzbaum von Italienern Millionensummen an Bargeld einnahmen, die jene zu Zeiten harter Devisenbeschränkungen in ihren Alfa Romeos mit großen Taschen anschleppten und so vor der Steuer retteten. Lange Zeit half ihnen auch die Angst italienischer Millionäre vor den Kommunisten im eigenen Land, von denen sie Enteignung befürchteten.

Nach elf Jahren zogen die GGs in ein neu erworbenes Genfer Palais und verkauften die Wechselstuben für viele Millionen an einen Italiener.

Während des Zweiten Weltkriegs lagerte auch manche deutsche Familie ihr Vermögen bei GG ein. Und nach 1945 konnten sich viele nicht mehr melden, um es wieder abzuholen. Von der Zeit an gab sich GG äußerst seriös.

Der Mann aus dem Büro mit dem Rothko-Bild war vor neunundsechzig Jahren drei Tage nach seinem Partner geboren worden. Darüber hatten die Eltern damals laut gelacht und einen dreißig Jahre alten Champagner aufgemacht.

Im Büro von G dem Älteren hing etwas vollkommen anderes: ein Bild von Antoine Watteau, gemalt um 1714. Ein Satyr nähert sich einer Nymphe. Natürlich sind beide nackt.

Ihre Kunden teilten G der Ältere und G der Jüngere nach ihrem Kunstgeschmack auf. Die verfügten natürlich immer über viel Geld, aber nicht immer über die Geduld, sich nach vorgegebenen Regeln zu verhalten. Für diese besonderen Kunden boten die GGs eine Reihe sicherer Notwehrprogramme an. Notwehr vor dem Gesetz, das für Steuerhinterziehung oder Geldwäsche Strafen vorsieht.

Bisher war noch nie ein Verdacht auf die GGs gefallen, die mächtigen und honorigsten Privatbanker von Genf. Keiner ihrer Kunden verfügte über eine Einlage unter zehn Millionen Schweizer Franken. Hier konnten selbst Millionäre nicht so einfach ein Konto eröffnen. GG suchte sich seine Kunden aus und hielt ihre Beziehungen geheim.

Einen neureichen Russen mit Gasprom-Millionen würde GG wohl abweisen, aber nicht einen afrikanischen Diktator, der eine Milliarde aus Entwicklungs- oder Bestechungsgeldern mitbringt.

Der Russe würde mit seinem Geld protzen und die Bank in ein schlechtes Licht rücken.

Der Potentat aber würde seine Einlage geheim halten. Und ein Umsturz könnte neben dem Diktator auch die wenigen Lakaien beseitigen, die von dem Konto wussten. Ein Risiko, das GoldGenève gern einging. Denn verwaistes Geld würde den Millionenhaufen, der keinem Eigentümer mehr zuzuordnen war, nur noch vergrößern.

So hatte zum Beispiel der liberianische Rebellenführer Samuel Doe Blutdiamanten gegen Waffen und Dollars getauscht. Mit den Waffen eroberte er an der Seite von Charles Taylor die Macht in Liberia, die Diamantendollars – zig Millionen – gab er bei GG in Verwahrung.

Zwar beendete Samuel Doe als achtundzwanzigjähriger Armeefeldwebel die neokoloniale Ära Liberias und ließ gemeinsam mit Charles Taylor die bisherigen Kabinettsmitglieder erschießen, doch schon kurze Zeit später wurde er selbst von Taylors Kumpanen ermordet: Videoaufnahmen zeigten, wie Doe nach stundenlangen Folterungen seine eigenen Ohren aufaß.

Von nun an sammelte Taylor die Blutdiamanten und Millionensummen aus der liberianischen Staatskasse ein – und füllte so sein Konto in Genf. Er wählte dafür ebenso die diskrete GG. Doch dann wurde auch er gestürzt. Und als Taylor in Sierra Leone verhaftet und wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor dem internationalen Strafgerichtshof in Den Haag angeklagt wurde, berief er sich darauf, mittellos zu sein. Um Taylors Anwälte bezahlen zu können, hunderttausend Dollar im Monat, musste das Gericht sein Budget verdoppeln lassen. Selbst für seine Verteidigung hätte Taylor nie die geheimen Konten bei GG preisgegeben. Er wurde allerdings auch im Prozess nicht danach gefragt.

Die Hoffnung bleibt des Menschen Triebfeder.

Von dem Gerichtshof in Den Haag drohte Taylor höchstens eine lebenslange Strafe, aber nicht der Strang. So blieb ihm die Erwartung, doch einmal von dem geraubten Schatz leben zu können.

Hoffnung nehmen Despoten mit ins Grab.

G der Jüngere legte G dem Älteren den Artikel aus der Tribune auf den Tisch.

»Hast du das gelesen?«

G der Ältere rückte den Stuhl zurück, trat ans Fenster mit dem Blick auf die Berge und sagte: »Ja. Und heute bin ich froh, dass ich wirklich niemandem traue. Ich habe vorgesorgt. Ich glaube, hier handelt es sich wieder einmal um eine Zeitungsente. Dieses Buch wird nie erscheinen.«

G der Jüngere drehte sich lächelnd um, ging wieder in sein Büro, und G der Ältere drückte auf die Kurzwahltaste, die ihn mit Horni verband, so kürzte er den Nachnamen seiner Haushälterin Elfie Hornecker ab.

»Horni«, fragte er, »hat Ihr Bruder endlich wieder Chlöpfer geschickt?«

Was er mit Chlöpfer bezeichnete, kannte Horni als Servila, so hieß die Cervelawurst in Zürich. Aber manchmal benutzte sie auch den Begriff Stumpen, wie die Leute in Sankt Gallen die Schweizer Nationalwurst nannten. In Sankt Gallen hatte sie immerhin zehn Jahre in einer Metzgerei gearbeitet, bevor sie in die Dienste von G dem Älteren trat.

»Mein Bruder hat heute früh welche gestopft«, antwortete Horni, »und ein Paket einem Bekannten mitgegeben. Es kommt heute Nachmittag noch an. Wie soll ich sie denn heute Abend zubereiten?«

Ihr Bruder betrieb die Metzgerei Hornecker in Zürich und stellte die beste Cervela in der Schweiz her. Der Gourmetkritiker Wolfram Siebeck hatte in der NZZ sogar darüber geschrieben, die dezente Duftnote, der feine fleischige Brät in dem brasilianischen Darm machten Horneckers Wurst zu einer wahren Delikatesse. Seit G als Pfadfinder die Cervela auf angespitzten Ästen über dem Lagerfeuer gebraten hatte, gehörte sie zu seinen Lieblingsspeisen.

»Ach, da läuft mir jetzt schon das Wasser im Mund zusammen. Wie wär’s im Schlafrock?«, sagte G.

»Mit Gruyère?«

»Und Schnittlauch und Basilikum!«

»Mein Bruder sagt, es wird sie bald nicht mehr geben.«

»Was wird es bald nicht mehr geben?«

»Die Cervela.«

»Unsinn. Warum sollte es sie bald nicht mehr geben?«

»Weil die Einfuhr der Wurstpelle verboten wurde. Bald geht meinem Bruder der Vorrat aus, und er bekommt nirgendwo Ersatz.«

»So’n Schwachsinn! Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich ruf Ihren Bruder mal an, wenn ich Zeit habe«, sagte G der Ältere und machte sich mit Bleistift eine Notiz. »Hornecker wegen Chlöpfer.«

Agent Marc Leroc

Dich zu erinnern, das kannst du lernen, hatte ihm Colonel Claude Courdon vor zwanzig Jahren eingetrichtert, als er ihn zum Agenten ausbildete. Musst du lernen. Ist lebenswichtig, überlebenswichtig.

Erinnerung hat mit Biologie und Psyche zu tun.

Du musst also körperlich genauso fit sein wie seelisch.

Daran hatte Marc Leroc sich gehalten.

Zwei kurze Trompetenstöße ertönten an der Wohnungstür.

Margaux klingelte.

Wie verabredet um sieben Uhr.

Marc blickte auf den Monitor.

Ihm fiel auf, dass die Journalistin sich immer ein wenig flirtend in Pose stellte, wenn sie wusste, dass sie beobachtet wurde. Sie hatte eine neue Frisur. So wirkte sie zwar sportlich, aber ein bisschen eleganter als vorher. Marc drückte auf den Türöffner, ohne ein Wort in die Gegensprechanlage zu sagen. Das Bild des Monitors zeigte, dass sie unten in die Lobby trat. Marc fuhr sich unbewusst mit den Fingerrücken der linken Hand über den Kiefer. Die Bartstoppeln waren kaum fühlbar nachgewachsen. Am Morgen hatte er zweieinhalb Stunden im Fitnessstudio in der untersten Etage seines Hochhauses an Geräten gearbeitet, sich einen kräftigen Adrenalinstoß geholt und erst nach dem leichten Mittagessen rasiert. Er fühlte sich wohl.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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