Der Oboist - Wilhelm Lutz - E-Book

Der Oboist E-Book

Wilhelm Lutz

4,9

Beschreibung

Ein außergewöhnlich kaltblütiger Kriminalfall beschäftigt Hauptkommissar Peter Dallmayr und sein Team, Kommissarin Eva Melzer und Kommissar von Hautzenberg. Die Ehefrau des in der oberbayerischen Gemeinde Dietramszell lebenden Musikers David Kleber wird tot im Schlafzimmer aufgefunden. Auf unfassbar mysteriöse Art ermordet. David Kleber wendet sich an seinen Freund Dallmayr, um von ihm Hilfe bei der Aufklärung zu bekommen und gerät dabei selbst in Verdacht, seine Frau ermordet zu haben.

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

1

Das Portal der Aussegnungshalle öffnete sich, die noch tief stehende Sonne zwängte ihre Strahlen durch die Öffnung in das Innere dieses zum Abschiednehmen imposanten und ehrwürdigen Bauwerkes. Der Trauerzug setzte sich behäbig in Bewegung, hinausbegleitet von den letzten Klängen des Liedes »So nimm mich bei den Händen und führe mich«, gespielt von einer jungen Violinistin. Die hinter dem Sarg hergehenden Trauernden wischten sich die nicht versiegen wollenden Tränen von ihren Gesichtern. Der Ehemann der Verstorbenen wurde von seinem Freund, Hauptkommissar Dallmair, im Rollstuhl chauffiert, begleitet von seinen drei kleinen Kindern, starrte er unentwegt auf den vor ihm fahrenden Sarg, geschmückt mit einem Bukett unzähliger roter Rosen. Eltern, Schwiegereltern und nächste Verwandte konnten ihren tiefen Trauerschmerz nicht verbergen. Am hinteren Ende des Trauerzuges folgten Menschen, die ihre Anteilnahme dadurch bekundeten, dass sie sich über den plötzlichen Tod der Verstorbenen unterhielten und sich auch nicht von den gesprochenen Gebeten davon abhalten ließen. So ein jäher Tod, hast du gesehen, ihr Mann vergoss keine Tränen, die haben sich doch manchmal gestritten, so eine junge Frau, ob da alles mit rechten Dingen zugegangen ist, ich sah ihn einmal mit einer anderen, sie war doch so gesund.

Ja, Christina Kleber war gesund, sprühte vor Lebensfreude und verbreitete stets gute Laune, wo immer sie anwesend war. Inmitten ihrer Familie fühlte sie sich besonders geborgen. Ihr Ehemann David, Oboist im Impressionismus Symphonieorchester, ihre Kinder, Maria, 6 Jahre, Daniel, 5 Jahre, und die Jüngste, Julia, mit 3 Jahren liebten und verehrten ihre Mutter beziehungsweise Ehefrau. Jeder, der diese Familie näher erlebte, war fasziniert von dieser Herzlichkeit und Harmonie, die Christina, David und ihre drei Kinder ausstrahlten. Sie bewohnten ein schmuckes Haus auf einer kleinen Anhöhe bei Dietramszell mit Panoramablick zu den Bayrischen Bergen. Dann kam der Tag, der das traute Leben dieser Familie veränderte. Bereits am Morgen des 12. Februars besuchte die Mutter von David Kleber ihre Schwiegertochter, um zwei ihrer Kinder abzuholen, denn sie hatten vor, am Nachmittag einen kleinen Zirkus auf der grünen Wiese aufzusuchen. David, ihr Mann, fuhr wie fast jeden Tag zur Orchesterprobe nach München. Die sechsjährige Maria besuchte zu dieser Zeit bereits die erste Klasse. Schon seit Wochen hatte sich Christina Kleber vorgenommen, die Fenster zu reinigen, diese Arbeit konnte sie nun in Ruhe, ohne auf die Kinder achten zu müssen, ausführen. Die sechs Erdgeschossfenster hatte sie, flink, wie sie war, bald gesäubert, nun folgten noch die im ersten Stock. Hier wurde ihr die Arbeit erleichtert, da das Haus einen umlaufenden Balkon besaß und alle Fenster dadurch zugänglich waren. Ein kurzer Augenblick der Unaufmerksamkeit, in dem sie sich rückwärts bewegte, über den Putzeimer stolperte, sich nicht mehr aufrecht halten konnte und rücklings auf den Stein des Sonnenschirmständers fiel, war der Beginn ihrer Leidensgeschichte. Der Versuch, sich zu erheben, misslang, bewegungslos harrte sie einige Minuten aus, bemühte sich abermals, wälzte sich von dem Stein und erhob sich mühsam. Wahnsinnige Schmerzen an der Stelle des Aufpralls der Wirbelsäule verhinderten, dass sie sich ins Haus bewegen konnte. Abgestützt am Geländer des Balkons, wartete sie auf Linderung ihrer Schmerzen und auf nachbarschaftlichen Beistand, indem Christina Kleber Hilferufe in Richtung der umliegenden Anwesen schrie. Ihre Nachbarin traf als Erste ein, bestellte sofort den Notarzt, der Christina Kleber wegen Verdachts auf Wirbelbruch in die Orthopädische Klinik nach Bad Tölz fuhr. Eiligst wurde eine Kernspintomographie erstellt, deren Auswertung zum Glück nur eine mittelschwere Wirbelprellung ergab. Der behandelnde Arzt verabreichte Frau Kleber eine schmerzstillende Spritze, gab ihr ein entzündungshemmendes Medikament und empfahl, nach einem zehntägigen Klinikaufenthalt eine Orthopädie-Praxis aufzusuchen, um den Heilungsverlauf zu gewährleisten. Die Prellung und die damit verbundenen Schmerzen würden sicherlich drei bis sechs Wochen anhalten, vermutete der Arzt. Nach vier Wochen empfand Frau Kleber kaum noch Schmerzen, konnte auch wieder ihren Haushalt selbstständig versorgen, jedoch verspürte sie in immer kürzeren Abständen den Zustand der Erschöpfung und der Ermüdung. Bei wiederholten Untersuchungen bei ihrem Hausarzt, Internisten und Krankenhausaufenthalten wurde ihr stets mitgeteilt, es seien keine Anzeichen einer organischen Erkrankung festzustellen. Beim letzten Klinikbesuch empfahl der Arzt, einen Psychiater aufzusuchen, was Frau und Herrn Kleber derartig erzürnte, dass sie sich an einen von Freunden empfohlenen Heilpraktiker mit Praxis im Allgäu in einer Ortschaft nahe Lindenberg wandten. Bereits beim ersten Besuch bekam sie die schockierende Diagnose, dass sie an einer Blutkrankheit leide. Dieser Heilpraktiker untersuchte das Blut von Frau Kleber mittels einer Dunkelblutdiagnostik. Schon 15 Minuten nach Blutabnahme ist das Resultat, dank dieser Anwendung, auf einem Bildschirm in mehr als tausendfacher Vergrößerung sichtbar und dadurch diagnostizierbar. Da der Heilpraktiker keine durch Viren oder Bakterien ausgelöste Ursache erkannte, vertrat er die Meinung, eine zu hohe radioaktive Bestrahlungsdosis könnte auf Frau Klebers Körper eingewirkt haben. Mit dem Hinweis, sich an eine ärztliche Gutachterkommission zu wenden, um sicherzugehen, dass ein Behandlungsfehler vorliegt, machten sich Frau und Herr Kleber wieder auf den Weg nach Dietramszell. Unterwegs besprach das Ehepaar das weitere Vorgehen, wurde jedoch immer wieder von plötzlichen Weinkrämpfen und traurigen Zukunftsgedanken eingeholt. Als seine Frau übermüdet einschlief, dachte Herr Kleber intensiv darüber nach, welche Maßnahmen er als Nächstes ergreifen sollte, dabei kam ihm sein Freund Peter in den Sinn, der in Bad Tölz als Hauptkommissar bei der Kripo tätig ist. Sie besuchten beide zusammen das Gymnasium, musizierten im Schulorchester, später gründeten sie eine Jazz-Band, Peter spielte auf der Klarinette, David Trompete. Die Berufswahl war ausschlaggebend, dass sie sich aus den Augen verloren. Peter trat in den Polizeidienst ein, David besuchte das Musikkonservatorium.

»Hier Kriminalpolizei Bad Tölz, Kommissarin Eva Melzer am Apparat.« »Mein Name ist David Kleber, bitte verbinden Sie mich mit Herrn Dallmair.« »Herr Hauptkommissar Dallmair befindet sich außer Haus, kann er Sie zurückrufen, oder versuchen Sie es später noch einmal?« »Seien Sie doch so freundlich und richten Sie ihm aus, David Kleber möchte ihn sehr dringend sprechen, meine Telefonnummer sehen Sie ja auf Ihrem Display.« Als Herr Kleber das Gespräch beendete, kamen ihm Zweifel über sein Handeln, jedoch im Nachhinein war er doch überzeugt, das Richtige unternommen zu haben. Wenn nicht sein langjähriger Freund Peter, wer sonst würde ihm zuhören und ihn über seine weitere Vorgehensweise beraten? Nach drei Stunden überlegte sich Herr Kleber, nochmals anzurufen, musste er doch in einer halben Stunde zu einer Konzertaufführung nach München und seine Frau Christina sollte noch nicht erfahren, dass er ihretwegen Beistand bei seinem Freund suchte. Fünfzehn Minuten vor der Abfahrt traf der ersehnte Anruf ein. »Hallo, David, verzeih mir, dass ich mich verspätet melde, komme soeben von einem Einsatz zurück und fand deine Telefonnummer auf meinem Schreibtisch. Es muss ja etwas sehr Wichtiges sein, dass du mit mir sprechen möchtest.« »Mensch, Peter, meiner Frau ist etwas Schreckliches zugestoßen, brauche dringend deine Hilfe, stehe jetzt aber kurz vor der Abfahrt nach München. Können wir uns morgen irgendwo treffen?« »Selbstverständlich, bei dir zu Hause oder in einem Café?« »Café ist gut, um 15 Uhr im Café Kaiserkrone, wenn’s dir recht ist.«

Kurz vor 15 Uhr betrat Hauptkommissar Dallmair die Konditorei Kaiserkrone, die mit ihren erlesenen Erzeugnissen und exquisiter Kuchenauswahl eine führende Rolle im oberbayrischen Voralpenland einnimmt. Dallmair blickte suchend durch das Lokal und erspähte David im hinteren Bereich, der ihm auffordernd zuwinkte. Sie begrüßten sich mit einer stürmischen Umarmung und Freudenschlägen auf die Schultern. Kurz tauschten die Freunde Erinnerungen aus, erzählten von ihrem beruflichen Werdegang, um dann den Anlass ihres Treffens zu besprechen. Ausführlich vertraute David Peter seine Befürchtung an, Christina könnte mutwillig oder fahrlässig mit einer hohen Dosis radioaktiven Strahlen in Berührung gekommen sein. Hier ging Peter dazwischen, um Davids wahre Absicht zu erfahren, weswegen er gerade ihm damit vertraute.

»Als dein Freund unterstütze ich dich natürlich beratend und bin dir auch bei Nachforschungen behilflich, jedoch solltest du die Absicht haben, dass ich als Kripobeamter ermitteln sollte, so muss ich dir das ausreden. Ohne jeden Verdacht nur über spekulative Vermutungen darf ich nicht recherchieren. Haben du und deine Frau schon darüber nachgedacht, einen Privatdetektiv heranzuziehen? Könnte euch eine sehr erfolgreiche Kanzlei vermitteln, die ein ehemaliger Kripokollege betreibt.« Dallmair bemerkte, wie der zuvor so hoffnungsvolle Ausdruck aus Davids Gesicht wich und stattdessen bei ihm Resignation, ja sogar Enttäuschung einkehrte. David hätte sicher eine größere Portion Rückhalt von ihm erwartet, überlegte sich Dallmair. Natürlich wollte er David seine Hilfe nicht verweigern, konnte er sich doch in ihn hineinversetzen, was für eine Dramatik in David vorging. Peter versuchte auf ein anderes Thema überzuwechseln und gab sich wieder einen Ruck, das Gespräch fortzusetzen.

»Viel wichtiger, als wer die Verstrahlung verursachte, wäre doch die sofortige medizinische Behandlung von Christina. In meinem Bekanntenkreis befindet sich eine Professorin für Radiologie, die seit Jahrzehnten auf diesem Gebiet Hervorragendes leistet. Sie wird als Kapazität und Expertin zu nationalen und auch internationalen Kongressen eingeladen. Sie leitet die radiologische Abteilung in der Klinik Großhadern, ihr Name ist Marika Köster. Wenn du einverstanden bist, so spreche ich mit ihr.«

David starrte auf sein Tortenstück, stocherte mit der Kuchengabel durch die Marzipandecke, auch seine Kaffeetasse ließ erkennen, dass noch kein Schluck entnommen wurde. Plötzlich sprang er auf, schlüpfte in sein Jackett und verließ das Café mit den Worten: »Auf deine Ratschläge pfeif ich, solche bekomme ich von jedermann auf der Straße, ich hatte so fest damit gerechnet, dass du als mein Freund auf meinen Hilferuf eingehst. Freundschaft stirbt wohl nach ein paar Jahren.«

2

Konsterniert blieb Dallmair wie ein begossener Pudel am Tisch sitzen, verschlang den Rest des Kuchens, schlürfte an seinem inzwischen erkalteten Cappuccino, zog sich die Torte von David herüber und verputzte sie bis zum letzten Krümel. Auf dem Weg zum Kommissariat ließ er seine Gedanken nochmals um das fehlgeschlagene Gespräch mit seinem Freund David kreisen. Jetzt da er etwas Abstand von dem schroffen und beleidigenden Verhalten ihm gegenüber gewann, verspürte er sogar ein wenig Bedauern über seine Vorgehensweise. Aber wieso, er hatte seinem Freund doch nichts angetan, da bittet dieser ihn nach über 15 Jahren um eine Unterredung, steht auf und rennt davon wie ein erschrecktes Rhinozeros und blamiert ihn vor allen Gästen. »Nein, das muss ich mir nicht gefallen lassen«, ging es ihm durch sein Gehirn, sogar sein Herz nickte ihm zu, um im nächsten Augenblick eine Brise Mitgefühl durch die Adern zu pumpen. »Na gut«, dachte sich Dallmair, »ein bisschen ermitteln könnte ja nicht schaden.« Er betrat das Kommissariat, eilte zum Dienstzimmer, aus dem soeben Kommissar von Hautzenberg, in Begleitung von Kommissarin Eva Melzer, den Heimweg antreten wollte.

»Oh, schon 17 Uhr«, sagte Dallmair mit naivem Unterton. »Wenn ich euch heute noch für eine halbe Stunde zum Hierbleiben überreden könnte, so fahren wir morgen zusammen zum Lengrieser Hof, selbstverständlich dürft ihr das als Einladung sehen.« Die Mimik der beiden zeigte überdeutlich, dass sein Verführungsangebot nicht überzeugte, und er besserte nach.

»Also gut, ihr zwei Halsabschneider, ich lege noch einen Besuch im Café Kaiserkrone dazu. Sollte euch mein Angebot nicht zusagen, so wünsche ich einen angenehmen Feierabend.« Die sechs zuletzt gesprochenen Worte kratzten wohl am Ehrgefühl von Eva und Detlev, denn sie schlichen wieder ins Dienstzimmer zurück und warteten gespannt, was Peter in der Rückhand verbarg.

Er berichtete von dem Treffen mit David und versuchte dabei, Eva und Detlev zu bewegen, mit ihm außerdienstliche Nachforschungen zu betreiben, um möglicherweise auf bereits vorhandene Fälle wie von Davids Ehefrau zu stoßen. Er wandte sich zu Eva: »Du durchkämmst die Kliniken in unserem Bezirk nach radioaktiven Verstrahlungen von Patienten. Detlev sieht in medizinischen Webseiten nach, ob vielleicht in Foren darüber gesprochen wird, und ich gehe die Strafanzeigen der vergangenen Jahre durch, die ärztliche Behandlungsfehler beinhalten. Nach einer halben Stunde brechen wir ab und gehen nach Hause.«

Eineinhalb Stunden später wühlten sie sich immer noch durchs Internet, vergaßen Zeit und Hunger, ja sogar das Umfeld ging ihnen dabei verloren. Als Erster schreckte, durch den Blick auf die Uhr, Peter von der besessenen Suche nach Erfolg empor und befahl unverzüglich die Laptops zu schließen. Er verabschiedete die beiden und bedauerte, ihnen mit dem ergebnislosen Suchen den Abend verdorben zu haben. Daraufhin Detlev zu Peter: »Lass gut sein, dann stöbern wir eben morgen weiter, und wenn es sich hier wirklich um eine Straftat handeln sollte, dann ermitteln wir dienstlich und weiten unsere Nachforschungen aus.«

Auf dem Nachhauseweg setzte sich wieder das unbeherrschte Verhalten von David in Dallmaiers Gedanken fest. Er hinterfragte sich: »Hätte ich mich geschickter ausdrücken sollen, oder wäre ich als sein Freund verpflichtet gewesen, ihm Hoffnung zu vermitteln?« Er entschloss sich, zu Hause David anzurufen und sich bei ihm zu entschuldigen, obwohl er eigentlich keinen Anlass sah. Zu seiner Überraschung hatte bereits David auf seinem Anrufbeantworter eine Nachricht hinterlassen. »Peter, mir war es furchtbar peinlich, dass ich dich so grob abblitzen ließ. Verzeih mir mein schlechtes Benehmen, und es läge mir sehr viel daran, wenn du meine unüberlegten Worte vergessen könntest. Melde mich wieder.« »Na, ist mein Freund der Musik doch kein solcher Rüpel«, murmelte Peter, griff zum Telefon und wählte Davids Nummer.

»Hier bei Kleber«, meldete sich eine matte Frauenstimme. »Peter Dallmair, spreche ich mit Frau Kleber?« Nach einer kurzen Denkpause kam die Antwort. »Ach ja, Sie sind Peter, der Freund meines Mannes. David hat mir den schrecklichen Vorfall heute im Café gebeichtet, er befindet sich zurzeit in einer schwierigen Verfassung. Bitte entschuldigen Sie sein ungebührliches Auftreten, er schämte sich dermaßen, deshalb versuchte er Sie zu erreichen.« Durch das Telefon vernahm Dallmair den schweren Atem und die geschwächte Stimme von Davids Frau. Im Hintergrund verschiedene Kinderstimmen, die andauernd nach Mama verlangten, sowie eine von einem größeren Kind, das die anderen mit »Pst, Mama ist doch krank, Mama muss telefonieren« zu beruhigen versuchte. Dallmair tat sich schwer, das Gespräch fortzusetzen, wollte er Frau Kleber doch nicht allzu sehr mit seinem Reden strapazieren. Deshalb versuchte er sich zu verabschieden und wollte sich ein anderes Mal melden, was wiederum Frau Kleber ablehnte und sich äußerte. »Herr Dallmair, unterhalten wir uns noch weiter, es wäre ein Geschenk für mich, mich endlich wieder mit Menschen zu unterhalten, die nicht immer denken, ich würde bereits bald im Jenseits sein. Diese Rücksicht und rührende Anteilnahme bringt mich noch schneller ins Grab.« »Gut, dass sie so offen über sich spricht, hätte mich ebenfalls beinahe zu dieser Mitleidsphrase hinreißen lassen«, wurde Dallmair bewusst und er überließ seinem zweiten Ich, dem Hauptkommissar, das Wort. »So wie ich Sie in den drei Minuten erleben durfte, steckt in Ihnen eine sehr tapfere und mutige Person, die mir bestimmt auf direkte Fragen die Antwort nicht verweigert. Wir begannen heute trotz meiner Bedenken mit Nachforschungen über eventuelle parallel verlaufende Erkrankungen in Kliniken. Konnten jedoch noch keine betreffenden Fälle ausfindig machen, was aber nicht heißen soll, dass wir unsere Ermittlung einstellen. Sind Sie davon überzeugt, dass Sie im Krankenhaus mit überdosierter radioaktiver Substanz geschädigt wurden, oder besteht Verdacht, dass Sie in Arztpraxen oder arztähnlichen Instituten damit in Berührung gekommen sind?« Nach längerem Schweigen antwortete Frau Kleber: »Je länger ich nachdenke, desto eindeutiger ist meine Überzeugung, dass ich an der hiesigen orthopädischen Klinik durch eine Infusion vor der Kernspinuntersuchung mit diesem Zeug abgefüllt wurde. Eine andere Möglichkeit ziehe ich nach meinem Dafürhalten nicht in Betracht.« Dallmair zögerte, weiter Fragen an Frau Kleber zu stellen, ihre Stimme wurde hörbar schwächer, doch eines wollte er noch in Erfahrung bringen. »Sind Sie dazu bereit, eine Strafanzeige gegen Unbekannt zu unterschreiben, so hätten wir eine sehr viel größere Handhabe, Vernehmungen durchzuführen. Dazu benötigen Sie allerdings ein ärztliches Attest mit genauen Werten und auch die bereits geschädigten Körperregionen. Ich rate Ihnen dringendst, dafür das Klinikum Großhadern aufzusuchen. David empfahl ich die dort leitende Professorin Dr. Marika Köster. Ich bemerke, dass Sie das Gespräch sehr erschöpft, deswegen verabschiede ich mich und wünsche Ihnen, soweit es geht, eine ruhige Nacht. Wenn David vom Konzert nach Hause kommt, soll er sich nicht scheuen mich heute noch anzurufen.« Anschließend veränderten Frau Klebers dankende Worte Dallmairs Gefühlsempfinden. »Herr Dallmair, jetzt verstehe ich auch, dass ihr beide Freunde wart und sicher wieder dahin zurückfindet. Herzlichen Dank, jetzt geht es mir sehr viel besser. Darf ich zu Ihnen Peter sagen?« Zum ersten Mal seit dem tragischen Tod seiner Frau verspürte er wieder Tränen über sein Gesicht kullern. Schon am Morgen beim Frühstücken meldete sich David, versuchte sich zu entschuldigen, was Peter sofort mit einer Frage abwürgte. »Seid ihr zu dem Entschluss gekommen, Strafanzeige zu stellen und Christina bei Frau Prof. Köster untersuchen zu lassen?« Die Antwort erfolgte schneller, als Peter dachte. »Ja, Peter, heute noch kommen wir zu dir aufs Kommissariat und nachher fahren wir zu dieser Radiologin nach München. Wie hast du das eigentlich angestellt, dass Christina so euphorisch von dir sprach, sie ist total verändert?«

Wieder machte sich diese nie mehr da gewesene Rührung in Dallmair bemerkbar und er konnte nur eines darauf antworten. »Ich gratuliere dir zu dieser tapferen und einzigartigen Frau und wünsche euch von Herzen, dass ihr noch sehr lange, so Gott es will, miteinander leben dürft.«

Am nächsten Morgen, Dallmair näherte sich soeben dem Kommissariat, als Polizeikräfte hastig aus dem Gebäude stürmten, zu ihren Einsatzfahrzeugen eilten und mit Blaulicht davonrasten. Am Eingang teilte ihm ein Polizeibeamter mit, dass ein Notruf eingegangen sei, in dem ein Überfall auf eine männliche Person gemeldet wurde. In seinem Dienstzimmer angekommen, wurde er bereits von Eva und Detlev mit der Nachricht erwartet, in einer Wohnung in der Herzogstandstraße 38 befinde sich eine männliche Leiche. Dallmaier schüttelte den Kopf und ließ seinem Unmut darüber freien Lauf.

»Stets zum falschen Zeitpunkt, nachmittags wär’s passender gewesen. So müsst ihr dort ermitteln, mein Freund und seine Frau erscheinen in Kürze, um Strafanzeige gegen Unbekannt aufzugeben. Also los, worauf wartet ihr noch?« Dallmair bewegte sich zu seinem Schreibtisch, legte das Strafanzeigeformular zurecht und hoffte darauf, dass das Ehepaar frühzeitig erscheinen würde. Mürrisch blickte er zu Eva und Detlev, die sich immer noch im Büro aufhielten, und wiederholte seine Aufforderung.

»Soll ich euch etwa einen schriftlichen Auftrag aushändigen, die Spurenermittler sind bestimmt schon vor Ort.« Beim Verlassen des Dienstzimmers drehte sich Detlev nochmals zu Peter um und rief ihm ironisch zu: »Bis jetzt haben sich die Leichen stets Zeit genommen und auf unser Eintreffen gewartet.«

Dallmair vertrieb sich das Warten, um im Internet nach ähnlichen Hergängen wie bei Christina zu suchen, diesmal nahm er Kliniken in Großstädten von Oberbayern unter die Lupe. Zwischendurch kam ihm die Idee, seine Nachforschungen auf abhandengekommenes radioaktives Material auszudehnen. Mit einem geraunten »Wahnsinn!« äußerte sich Dallmair, als er die Berichte durchforstete, die dieses Thema behandelten. Die Mehrzahl der nachweislich entwendeten Problemabfälle meldeten Krankenhäuser und dies auf dem Weg per LKW zur Wiederaufbereitung. Er lehnte sich in seinen Bürostuhl zurück, ließ diese Meldungen von seinem Gehirn bearbeiten und kam zu der Überlegung, hier könnte das Geheimnis verborgen liegen. Die Zeitanzeige des Bildschirms rüttelte Dallmair aus dem zeitaufreibenden Forschen im Netz. »11 Uhr und die Hex ist noch nicht da«, mit diesem etwas abwegigen Vergleich dachte er an seinen Freund und seine Frau. Er hatte es ihm doch so überzeugend versprochen, sofort am frühen Vormittag die Sache mit der Strafanzeige zu erledigen. Er wählte die Nummer von David, belegt, wiederholte, belegt. Versuchte es nach 15 Minuten, immer noch belegt. Bei einem Kriminalbeamten verdichten sich da sofort detektivische Gedanken, jedoch gab es tausenderlei Gründe, verhindert zu sein, wäre da nicht das blockierte Telefon. »Wenn nicht dieser aufgefundene Tote wäre, würde ich nach Dietramszell zu seiner Wohnung fahren«, besann sich Dallmair. Ein Anruf Evas vom Fundort der Leiche ließ ihn wieder auf andere Gedanken kommen.

»Hallo, Peter, bei dem Toten handelt es sich um einen Ludwig Löw, Alter 42, Beruf Physiotherapeut in der orthopädischen Klinik. Todeszeitpunkt etwa 23 bis 24 Uhr, vermutliche Todesursache Sturz mit Schädel auf Glastisch. Die Spurenermittler sind noch in der Wohnung, bis zum jetzigen Zeitpunkt negativ. Wir sind hier fertig und fahren zurück.«

Sollte der Tote in Zusammenhang mit Christina Kleber stehen, folgerte Dallmair, sie wurde mehrmals in der orthopädischen Klinik behandelt und er arbeitete zufällig dort. »Zufall oder Verknüpfung, Dussel oder Verbindung, das kannst du dir nun aussuchen, Hauptkommissar Dallmair, dieses Rätsel musst du lösen«, sprach er zu sich. Doch bevor er damit begann, wählte er zum wiederholten Mal den Anschluss von David. Weiterhin ertönte das Belegtzeichen. Er sprang auf, eilte die Treppe hinab, rannte zum Dienstwagen, setzte das Blaulicht aufs Dach und raste in Richtung Dietramszell. Mit waghalsigen Überholmanövern preschte er auf der kurvenreichen durch Wälder führenden Staatsstraße 2368 seinem Ziel entgegen. In der Ortsmitte vor dem Salesianer Kloster, einem von den Fernstraßen abgelegenen Barockjuwel, hielt er an, bat einen Einheimischen um Auskunft, um die Adresse der Familie Kleber zu erfahren. »Ja mei, des is ja unsa Musika, dea spuit a im Klosterorchesta. Do miassns no a Stickal weida fahn, bis zum Oatsende, dann sengs des geibe Haus rechts am Hang om, do wohnan de Klebers.« Mit quietschenden Reifen bog Dallmair von der Straße ab, raste den steilen Hang hinauf, hielt am Garagenvorplatz an und rannte zum Haus. Auch nach viermaligem Betätigen der Hausklingel blieb es ruhig hinter der verschlossenen Eingangstür. Er hetzte rüber zur Garage, blickte durchs Fenster und entdeckte zwei PKWs. Er jagte abermals zum Haus, lief um das Gebäude, rüttelte an Fenstern und Verandatüren, versuchte in das Innere zu sehen, alles ruhig und nichts Außergewöhnliches. Plötzlich schrie eine Kinderstimme: »Was suchen Sie auf unserem Grundstück?« In einiger Entfernung stand ein Mädchen mit einem Schulranzen auf dem Rücken und sah Dallmair fragend an. Erst als er der Kleinen ausführlich erklärte, wer er sei und weswegen er komme, näherte sie sich ihm, prüfte seinen Dienstausweis, forderte ihn auf, zur Haustür mitzukommen. Mit gemischten Gefühlen beobachtete Dallmair, wie das Mädchen die Hausschlüssel aus der Jackentasche zog, den passenden Schlüssel ins Schloss steckte und aufzusperren versuchte. Dallmairs Gedanken hetzten umher, wie er das Kind davon abbringen konnte, das Haus zu betreten. Er lenkte die Kleine ab, indem er sie fragte, ob die Eltern keine Warnung ausgesprochen hätten, Fremde in die Wohnung zu lassen, und versuchte Folgendes in Erfahrung zu bringen, um eine Spur Misstrauen aufkeimen zu lassen.

»Also, wie ich so alt war wie du, verboten mir meine Eltern, Unbekannte in die Wohnung zu lassen. Hast du keine Bedenken, du kennst mich überhaupt nicht?« Offenbar kam ihr die Mahnung wieder in den Sinn, sie zog den Schlüssel aus dem Schloss, steckte den Bund blitzschnell in die Jackentasche und entfernte sich einige Schritte von Dallmair. Hilfesuchend blickte sie zu den Nachbarhäusern, entdeckte Frau Wagner auf ihrem Balkon, die das Geschehen bereits einige Zeit beobachtete. Diese winkte ihr zu und rief vom Balkon: »Maria, brauchst du Hilfe? Ich komme sofort hinüber, geh schon mal zum Gartentor.« Erleichtert wartete Dallmair auf das Eintreffen von Frau Wagner, die ihn sofort mit Fragen bombardierte. Erst als Dallmair sich auswies, sie zur Seite zog und sein Dasein begründete, zeigte sie Vertrauen. Er bat die kleine Maria um die Hausschlüssel und Frau Wagner, mit dem Mädchen im Garten zu warten, bis er seine Einwilligung gäbe, das Wohnhaus zu betreten. Noch ehe Hauptkommissar Dallmair den Schlüssel umdrehte, überlegte er die Spurensicherung zu verständigen, jedoch sah er es nicht als erforderlich, da nur eine Vermutung vorlag, was sich hinter der Tür verbarg. Vorsichtig trat er in die Wohnung, durchschritt den Eingangsbereich, öffnete die Schiebetür zur Besuchertoilette, die Tür zur Küche stand offen, peinlichste Sauberkeit strahlte ihm entgegen. Der nächste Raum, das Speisezimmer, ausgestattet mit feinsten Möbeln, so als wäre es für Aufnahmen eines hochpreisigen Einrichtungskatalogs inszeniert. In das riesige, geschmackvoll möblierte Wohnzimmer durchschreitet man eine zweiflügelige aus Sprossenfenstern bestehende Schwingtür. Diese Ordnung und faszinierende Reinlichkeit trotz eines Fünfpersonenhaushaltes versetzten Dallmair dermaßen in Erstaunen, dass er für einen Moment den Grund seiner Anwesenheit vergaß. Vom Wohnzimmer schlängelte sich eine ausladende weiße Marmortreppe in den oberen Bereich. Zwei Kinderzimmer, wie die anderen Räume wertvoll möbliert, zwei Badezimmer, prächtig ausstaffiert. Dallmair näherte sich jetzt dem Elternschlafzimmer, drückte die Klinke, öffnete die weiß lackierte, mit erhabenem umlaufenden Dekor besetzte Tür. Als Erstes überraschten ihn zwei raffiniert eingeplante Ankleideräume, die links und rechts vom Durchgang in das Schlafgemach getrennt waren. Er betrat nun das eigentliche Schlafzimmer. Eine überdimensionierte Schlaflandschaft mit ebenso gigantisch überhängendem azurblauen Baldachin vereinnahmte beinahe den gesamten Raum. Auch hier pure Ordnung, die glatt gestrichene blutorangenfarbige Seidenbettwäsche empfand Dallmair fürs Auge dann doch als zu aufdringlich, wobei - exakt hier vor dieser imposanten Kulisse würde eine attraktive Frauenleiche ein sehr dekoratives Gesamtbild ergeben. Er ließ seine Augen nochmals durch das protzige Gemach wandern, dabei fiel ihm bei der Rückwand des Bekleidungszimmers ein mit einem Spiegel verkleideter eingebauter Schrank auf. »Um einen Öffnungsmechanismus ausfindig zu machen, fehlt mir wohl die nötige technische Eingebung«, murmelte er ärgerlich. Er strich mit den Händen drum herum, drückte unbeabsichtigt gegen den Spiegel, klack und die Tür bewegte sich. Er versuchte sie ganz zu öffnen, als Frau Wagner vom Parterre zu ihm nach oben rief: »Herr Hauptkommissar, wir kommen jetzt hinein, Maria muss dringend auf die Toilette.« Hastig schob er die Spiegeltür wieder ins Schloss, eilte zum Aufgang und wartete so lange, bis Maria fertig war und beide die Wohnung wieder verließen. Nach dem wiederholten Klack öffnete er die Spiegeltür bis zum Anschlag … selbst für einen abgebrühten Kripo-Kommissar war dieser Anblick grauenvoll. Zusammengekauert und mit grässlichen Verletzungen an Kopf und Rumpf lag Frau Kleber blutüberströmt am rot gefärbten Boden. Die Beleuchtung, die beim Öffnen den kleinen Raum erhellte, bestrahlte den leblosen Körper, deswegen schlich sich bei ihm der Gedanke ein, einer geplanten Inszenierung beizuwohnen. Nach und nach löste sich sein Blick vom Opfer und ihm wurde bewusst, welchen Nutzen dieser verborgene begehbare Schrank für das Ehepaar Kleber hatte. Regale, gefüllt mit diversen Pornofilmen, Bücher und Schriften, luststeigernde Spielzeuge, ja beinahe wie ein Mini-Erotik-Shop. Wo befindet sich David, liegt er ebenso hier im Haus versteckt? Dieser Gedanke leitete endlich die Maschinerie der Kripo ein. Dallmair lief die Treppen hinab, eilte zu der wartenden Frau Wagner und der kleinen Maria, flüsterte der Nachbarin seine schreckliche Entdeckung ins Ohr, die daraufhin Maria emporhob und ganz fest an sich drückte. »Was ist mit Mama, ich will zu meiner Mama.« Als wenn sie ahnte, dass etwas Furchtbares vorgefallen war. Dallmair versuchte sie mit Fragen über den Verbleib ihrer Geschwister abzulenken, schluchzend erzählte Maria, dass die beiden gestern zu Oma und Opa gebracht wurden. Über den Verbleib von Papa konnte sie zuerst keine Auskunft geben, fügte aber hinzu, er habe sie morgens zur Schule gebracht, und sagte noch, er fahre zur Orchesterprobe nach München. Aber so früh war er noch nie weggefahren. Frau Wagner begriff, was jetzt zu tun war, mit Maria am Arm ging sie zu ihrem Haus und gab Dallmair ein deutliches Handzeichen, das bedeuten sollte, dass sie die Großeltern benachrichtigt. Ungeduldig auf das Eintreffen der Einsatzkräfte wartend, stand Dallmair vor Davids schmuckem Einfamilienhaus und war der Versuchung nahe, die Kellerräume zu inspizieren, den Gedanken, in seinem Freund David den Mörder zu sehen, verdrängte er. Eher vermutete er ihn gefangen, wenn nicht ermordet, im Untergeschoss. Mit einem Rückblick hielt er fest, was sich in der letzten Stunde ereignet hatte. Das Haus hatte er verschlossen vorgefunden, keine Spuren eines gewaltsamen Eindringens, die Kleine kam etwa um 12:30 Uhr alleine von der Schule, er beobachtete, wie Maria den Schüssel in das Schloss steckte und ihn zweimal rumdrehte. Die Nachbarin Frau Wagner hatte schon länger das Geschehen vor der Haustür verfolgt, warum war sie Maria nicht früher zu Hilfe gekommen? Beide Autos, ein schwarzer Mini mit Verdeck und ein metallicbrauner VW Touran, parkten in der Garage. Warum fuhr David sein Fahrzeug hinein, wenn er beabsichtigte, am Morgen auf dem Kommissariat zu erscheinen? Als sehr ungewöhnlich empfand er, dass bei diesem großen Blutverlust keine Blutspuren außerhalb der Erotikbibliothek zu sehen waren. Das rechts angrenzende Grundstück fiel durch seinen ungepflegten Garten auf. Das Wohnhaus verbarg sich hinter ausgewachsenen Sträuchern, denen ein radikaler Rückschnitt sehr gutgetan hätte. Aus einer anderen Blickrichtung bekam Dallmair mehr Einsicht auf das Haus, halb vom Vorhang verdeckt, erkannte er eine männliche Person, die ihn bestimmt schon länger im Visier hatte. Dallmair gab diesem Mann ein Zeichen mit der Hand, dass er rüberkommen sollte, doch dieser fuhr erschrocken zurück und entfernte sich von seinem Aussichtspunkt. »Na, dich werden wir uns auch vornehmen«, raunte Dallmair in die Richtung. »Die vollführen wieder ein Spektakel«, presste er durch die Lippen, als er die Signalsirenen von weitem vernahm. Es hörte sich an, als wenn sämtliche Polizeieinsatzfahrzeuge des Freistaates auf Dietramszell zurasten. »Als Nächstes werden wir von einer Invasion von Neugierigen niedergetrampelt«, schimpfte Dallmair und beorderte die zuerst Ankommenden, die vorbeiführende Staatsstraße vollkommen zu sperren. Dem Einsatzkommando der Spurensicherung unter Leitung von Alois Siedler rief Dallmair den Fundort der Leiche zu, denn auf mehr ging dieser Wichtigtuer vor Beginn seiner Arbeit sowieso nicht ein. Jetzt wimmelte es von Polizeibeamten und Notärzten. »Weswegen stets so eine große Heerschar in Bewegung gesetzt wird, bleibt mir ein Rätsel, der Großteil steht nur so rum und wärmt sich die Hände in den ausgebeulten Hosentaschen«, wunderte sich Dallmair kopfschüttelnd, immer noch mürrisch und grantig auch darüber, dass seine Kollegen sich so verspäteten. Endlich erblickte er sie, wie die beiden gemächlich auf ihn zukamen mit Schnitzelsemmeln und drei Bechern Kaffee in der Hand. Seiner bereits eingeplanten Schimpfkanonade entfernte Dallmair beim Anblick seiner Lieblingsbrotzeit den Zündstoff. Mampfend berichtete er Eva und Detlev von der grausigen Entdeckung sowie seinen bisherigen Eindrücken und Vermutungen.

»Aber warum befinden sich beide Fahrzeuge in der Garage?«, fragte Eva irritiert. »Die einzige Möglichkeit wäre, die Klebers besitzen noch ein drittes und mit diesem befindet er sich auf der Flucht.«

»Oder Herr Kleber liegt gefangen oder ermordet im Keller«, war Detlevs Meinung.

»Vielleicht fuhr David, nachdem er seine Tochter an der Schule abgesetzt hatte, doch zur Orchesterprobe und, wie Eva vermutet, mit dem dritten Auto«, spekulierte Dallmair und plante die ersten Ermittlungsschritte.

»Detlev, du übernimmst den rechten Nachbarn, gib bei der Befragung Gas, er hat meiner Ansicht nach bestimmt Beobachtungen gemacht. Eva besucht Frau Wagner, du informierst dich, wie viele Fahrzeuge die Klebers besitzen, die Möglichkeit, dass es sich um einen Leihwagen handelt, musst du mit einbeziehen.« Ich erkundige mich bei der Philharmonie in München über die Anwesenheit von David. Noch eins, Eva, Frau Wagner verständigte die Großeltern, bei Eintreffen die Zeit bei Frau Wagner zu verbringen, bis sie von uns benachrichtigt werden.«

»Phülhamonie Münchn, Holzapfl am Abarat.« »Wieder so ein bajuwarischer Oberpförtner und das an einer der klassischen Musik zugwandten Institution«, dachte sich Dallmair.

»Kriminalpolizei Bad Tölz, Hauptkommissar Dallmair, verbinden Sie mich bitte rasch mit dem Impressionismus Orchester.«

»Do muass i east nochschaun, ob de heid do san, wardns a bissal.«

»Hoffentlich dauert ›des bissal‹ nicht den ganzen Nachmittag«, murmelte ungeduldig Dallmair. Zu seiner Freude meldete sich Holzapfel umgehend.

»Ja, de probm heit im Orffsaal, mid wem mächdns sprecha?«

»Am liebsten mit Herrn Kleber, dem Oboisten.«

»Wia hoasd dea jetzt, Kleber oder Oboist, a bissal genaua brauch i des scho.«

»Der Mann heisst Kleber und spielt auf einer Oboe, ist denn das so schwer zu begreifen?«, rief Dallmair erzürnt in sein Handy. Die Antwort kam prompt, da Holzapfel die Lautsprechermuschel zu spät abdeckte. »Leck mich doch …« Anstatt einen Wutschrei loszulassen, brüllte Dallmair hellauf los und konnte sein Lachen auch nicht beenden, als Herr Holzapfel sich wieder meldete.

»Bei eich muass ja lustig zuageh, zuerst schimpfas me und nacha lachas wia a grupfte Suppenhenna. Aiso, i vabind Eana jetzt mit dem Kleber-Oboisten.«

»Kleber, was gibt es so Wichtiges, dass Sie mich aus der Probe holen lassen?«

»Peinlich«, dachte sich Dallmair, »hoffentlich bemerkt David meine momentane Verfassung nicht.« Doch ausschlaggebend war die Tatsache, dass David Gott sei Dank nicht mit dem Mord an seiner Frau in Verbindung gebracht werden konnte. Er bemühte sich, so ernst wie möglich zu sprechen.

»Peter hier, David, bitte brich die Probe ab und komm sofort nach Hause, es gab einen Unglücksfall, Genaueres erfährst du später, lass dir Zeit und rase nicht.«

»Wie soll ich mir da Zeit lassen, wenn ich hier sofort alles abbrechen soll? Ist Christina oder den Kindern etwas zugestoßen? Mach schon deinen Mund auf und sag mir die Wahrheit, was vorgefallen ist.«

Manchmal ist es leichter, am Telefon eine solche Trauernachricht zu überbringen. Dallmair wurde hin- und hergerissen, wie er sich verhalten sollte, sah nun ein, dass es vorrangig war, David auf der Stelle die Wahrheit zu offenbaren.

»Das Unglück, das ich ansprach, ist deiner Frau zugestoßen. Da ihr nicht auf dem Kommissariat erschienen seid, fuhr ich zu euch nach Dietramszell. Das Haus hatte den Anschein, dass sich in ihm niemand befand. Als deine Tochter Maria von der Schule heimkam, händigte sie mir die Hausschlüssel aus. Ich betrat die Wohnung, begab mich ins obere Stockwerk, sah in jedes Zimmer. Im Schlafzimmer fand ich Christina ermordet in dem kleinen Raum hinter der Spiegeltür.« Als Dallmair zu Ende gesprochen hatte, herrschte beklemmende Stille, kein Schluchzen, kein Aufschrei, kein Stammeln, nur Schweigen. Diese Gefasstheit, oder war es der Schmerz, der nicht nach außen dringen konnte, veranlasste Dallmair, gefühlvoll auf David einzureden.

»Bist du überhaupt in der Verfassung, selbst zu fahren, soll ich dich abholen oder von einem Münchner Kollegen bringen lassen?« Statt einer Antwort sprach David nur dieses eine Wort.

»Warum, warum, warum?«

Für Dallmair zu wenig, um abzuwägen, ob es echte oder theatralische Gefühle waren, mit denen David dieses fragende Wort aussprach. Bei der Überbringung einer Todesmeldung erweckt oft der erste Eindruck der Mimik und des Gesprochenen einen Anfangsverdacht. »Blöd, dass ich ihm den Tod seiner Frau bereits am Telefon mitteilte, Auge in Auge verrät ein Gesicht mehr«, ärgerte sich Dallmair während dieser Denkpause. Sollte David nicht bald ins Gespräch zurückfinden und Fragen über den Hergang stellen, was normal und üblich wäre, würde sich Dallmair Gedanken über seine Unschuld machen. Stattdessen sagte er nur: »Ich fahr jetzt los.«

»Hallo, Peter«, rief Eva ihm aus dem Grundstück von Frau Wagner zu. »Klebers Tochter erzählte, dass ihr Papa seit zwei Tagen einen Vorführwagen vom Autohaus Miller fährt. Es handelt sich um einen Audi Q7 und er zeigt bereits Kaufinteresse.«

Das Erstaunen über Davids Villa mit dieser kostspieligen Ausstattung und dazu noch diesem Fuhrpark veranlasste Dallmair, über das monatliche Einkommen eines Musikers nachzudenken und sich darüber zu informieren. Als an der Haustür Siedler, der stets griesgrämige Spurenermittler, auftauchte, fragte er ihn übermäßig freundlich, die Kellerräume betreten zu dürfen. Das Echo war immer dasselbe, ob liebenswürdig oder grob gefragt.

»Wie lange bist du jetzt bereits bei diesem Verein? Mit deiner Intelligenz müsstest du den Ablauf inzwischen kapiert haben.«

»Entschuldige, ich wusste schon seit langem, dass du der Klügere von uns beiden bist, doch du verbirgst deine Klugheit hinter deinem miesen Charakter, mit dem du uns bald zur Weißglut treibst. Wundere dich nicht, wenn deine Mitarbeiter zu deiner Ermordung gerufen werden.« Dallmair drehte sich um und entfernte sich von dem nach Luft schnappenden Siedler. Aus Neugierde und um der Langeweile entgegenzutreten, schlenderte Hauptkommissar Dallmair nochmals hinter das Gebäude und nahm jetzt erst den riesigen Garten wahr. Dieser musste von einem Gartenarchitekten angelegt sein, wurde ihm klar, denn diese Symmetrie der Bepflanzung, der Wege und Blumenbeete ließ keine andere Möglichkeit zu. Dazwischen eingebettet ein piekfeiner Swimmingpool mit eigenem Sprungbrett Marke Luxus. Am Grundstücksende ein etwas zu groß geratener verglaster weißer Pavillon. Dallmair stieg bei diesem Anblick ein leicht protziger Geschmack hoch und er gab dem Ganzen den Namen König Ludwig von Dietramszell.

»Da bist du!«, rief Detlev, der seinen Chef bei Frau Wagner oder in Klebers Haus vermutete. »Sehr nobel, man fühlt sich wie in einem Schlosspark. Der scheue Nachbar Herr Hufnagl gab sich bei der Befragung sehr gesprächig und erzählte manch interessante Informationen. In letzter Zeit war bei den Klebers auffällig oft ein Mann mit Aktentasche zu Besuch. Die Kinder wurden immer öfter von den Großeltern abgeholt und gestern Nachmittag fuhr ein roter Golf vor, parkte allerdings vor seinem Grundstück. Eine junge Frau beobachtete mindestens zwei Stunden das Anwesen der Klebers, als der Hausherr vorfuhr, stürzte sich diese auf Herrn Kleber, umarmte ihn, jedoch er stieß sie von sich, dabei kam es zu einem heftigen Wortwechsel. Sie lief weinend zu ihrem Wagen, blieb noch kurz sitzen und brauste dann davon. Dich hielt Herr Hufnagl für einen Immobilienmakler oder Interessententen für das Haus, da du das Anwesen so ausführlich in Augenschein nahmst. Über Frau Kleber machte er sich Gedanken, denn allem Anschein nach musste sie an einer Erkrankung leiden, da sie von Woche zu Woche kraftloser und ermattender wirkte. Dann fügte er noch hinzu, als die Familie vor drei Jahren einzog, war es eine Augenweide, sie zu beobachten, jetzt sehe es danach aus, als wäre jede Art von Glück und Fröhlichkeit in Verdrossenheit und ja, fast schon Lieblosigkeit umgekippt.«

»Detlev, du darfst eines nicht übersehen«, entgegnete Dallmair, »Frau Klebers Gesundheitszustand belastet jeden Familienangehörigen. Bei dieser Aussichtslosigkeit auf Heilung schwinden sehr schnell Frohsinn und Lebensfreude. Weiterhelfen könnte uns, wenn wir die Frau mit dem roten Golf ausfindig machen oder Herrn Kleber selbst. Mach du dich mal auf den Weg und befrage die näheren Nachbarn, das Personal der ansässigen Geschäfte und Bürger auf der Straße. Die Klostergemeinschaft könnte uns auch noch Hinweise liefern, denn Kleber musizierte bei verschiedenen festlichen Anlässen in dieser Abtei.« In der Annahme, dass ein ankommendes Fahrzeug David sein könnte, eilte Dallmair zur Vorderseite des Hauses. Mit Verwunderung sah er, dass Gerichtsmediziner Professor Dr. Wolke sich sehr verspätet hatte. Wollte doch Dallmair nach dem nervenaufreibenden Warten endlich die Wohnräume betreten. Bevor er Prof. Dr. Wolke zur Rede stellen konnte, begründete dieser sein Zuspätkommen.

»Wurde während einer Vorlesung an der Uni in München benachrichtigt, machte mich sofort auf den Weg und musste wegen einer Vollsperrung der B 13 kurz nach Holzkirchen eine Ausweichstrecke fahren. Muss wohl ein größerer Verkehrsunfall stattgefunden haben.«

»Hoffentlich nicht David«, lief es Dallmair kalt über den Rücken, »noch so ein Unglück und die drei Kinder wären Vollwaisen. Der Zeitpunkt könnte hinkommen, doch es existieren auch noch andere Routen hierher.« Er vernahm das Geräusch eines herbeifahrenden Fahrzeugs, lief zur Straße, jedoch hielt dieses am Nachbarhaus bei Frau Wagner an, »die Großeltern«, dachte er sich. Aus dem Fahrzeug stürzten blitzartig ein kleiner Junge und ein jüngeres Mädchen, rannten, ohne auf die Rufe von Oma und Opa zu hören, direkt auf das Haus ihrer Familie zu. Mit ein paar schnellen Schritten verstellte Dallmair ihnen den Weg und redete auf sie ein.

»Na, ihr beiden Rennläufer, was gibt es denn gar so Dringendes, schaut mal, welche Angst eure Oma wegen euch aussteht.«

»Geh du uns aus dem Weg, wir möchten ganz schnell zu Mama, wir haben ihr so viel zu erzählen.«

Eiligst kamen die Großeltern dazu, nahmen die zwei sich wehrenden Enkelkinder an den Händen und fragten im Zurückgehen: »Sind Sie der Polizist, der Christina gefunden hat? Sie bleiben sicher noch hier und möchten uns vermutlich noch sprechen, wir haben Ihnen einiges zu sagen.« Ein Nicken und beide Fragen waren damit beantwortet. Natürlich wäre es Dallmairs Wunsch gewesen, sofort die Antwort über so viele Ungereimtheiten zu erhalten, also weiter warten. Kurz darauf näherte sich wiederum bedächtig ein Wagen und hielt vor Klebers Haus, der Totenwagen. Dallmair beschloss, nach dem Abtransport der toten Frau Kleber die Straße wieder freizugeben und nur noch eine Handvoll Polizeibeamte vor dem Haus zu belassen, revidierte jedoch augenblicklich seinen Entschluss, nachdem er an der Straßensperrung die riesige Menschenansammlung erblickt hatte. »Muss eine sehr interessante Familie sein, um eine so große Aufmerksamkeit von Neugierigen auszulösen«, raunte Dallmair. Das wäre jetzt der richtige Platz, um Neuigkeiten zu erfahren, inmitten dieser diskutierenden und schwatzenden Menge. Eine Seite seines Notizbuches war bereits gefüllt von ihm zugetragenen und selbst gemachten Erkenntnissen und Wahrnehmungen. Sechs Personen, die sich bis zum jetzigen Stand im unmittelbaren Bereich der Toten befanden, waren die Nachbarn Frau Wagner und Herr Hufnagl, die beiden Großeltern und natürlich Herr Kleber selbst. Die sechste Person, die junge Frau mit dem roten Golf, stand zwar noch etwas abseits, doch Dallmair reihte sie zu diesem Zeitpunkt bereits in die Rolle einer Schlüsselfigur ein. Hausangestellte, wie Reinemachefrau oder Gärtner, was bei diesem feudalen Besitz zur Plicht gehörte, setzte Dallmair ebenfalls in den engen Kreis der möglichen Verdächtigen.

»Was stehst du so untätig rum?«, rief Siedler, der Spurenermittlungschef, Dallmair zu. »Wenn du immer noch das Bedürfnis hast, mehr zu finden oder zu sehen als wir Profis, dann viel Vergnügen, wir haben unsere Hausaufgaben erledigt.« »Prima«, dachte sich Dallmair, »in mir hat sich sowieso so viel Frust aufgebaut, dann packen wir ihn mal in Worte.«

»Dass du eines der hässlichsten Arschlöcher bist, ist dir sicher nichts Neues, aber dann auch noch geistig minderbemittelt sein, da haben deine Artgenossen mit den roten Ärschen noch mehr in der Birne als du. Profi? Darüber kann ich nicht einmal lachen, jammerschade, dass es keine Preisverleihung für Profitrottel gibt, da würde kein Jahr vergehen, in dem du leer ausgehst.« Dallmair entfernte sich vom wie versteinerten Siedler und seinen sich gerade noch das Lachen verkneifenden Gehilfen und betrat das Wohnhaus. In der oberen Etage im Mordzimmer fand er Gerichts