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Zwei Männer werden in Darmstadt auf offener Straße erschossen. Camorra Boss Esposito wird als Kronzeuge der Staatsanwaltschaft in die JVA gebracht. Er will umfänglich aussagen, wenn er Frau und Kinder in Sicherheit weiß. Justizvollzugsbeamtin Maria Saletti wird durch Esposito an den unaufgeklärten Mord an ihrer Cousine Anna erinnert. Als er verspricht, ihr für einen Gefallen den Schuldigen zu liefern, fliegt sie verbotenerweise nach Neapel - doch die Camorra ist ihr bereits auf den Fersen …
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Seitenzahl: 501
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Esther Copia
Der Pate von Darmstadt
Kriminalroman
Gefährliche Nähe Als ihre Cousine 1998 tot im Hafenbecken von Neapel gefunden wurde, änderte sich das Leben von Maria Saletti auf einen Schlag. Ein Teil der Familie gab ihr die Mitschuld an Annas Tod, Maria war nicht länger in Neapel willkommen. Über 20 Jahre später wird ein Camorra-Boss, Luigi Esposito, nach einem Attentat in Darmstadt in das Gefängnis gebracht, in dem Maria als Justizvollzugsbeamtin arbeitet. Nur wenige wissen innerhalb der Anstalt, dass Esposito in Gefahr ist. Unbedacht erzählt Maria ihm vom Mord an ihrer Cousine. Esposito verspricht, ihr Annas Mörder zu nennen, wenn sie ihm einen Gefallen tut und seine Frau in Neapel ausfindig macht, um deren Leben er fürchtet. Marias Freund, der LKA-Beamte Alex, kann sie nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Sie fliegt verbotenerweise in die Metropole der Kriminalität – und wird bald von der Camorra gejagt. Wird Maria es schaffen, Espositos Frau zu finden, ihren Verfolgern zu entkommen und den Mörder ihrer Cousine zu entlarven?
Esther Copia wurde in München geboren und wuchs in der hessischen Kleinstadt Dieburg auf. Nach absolvierter Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin arbeitete sie mehrere Jahre in ihrem Beruf und zog nach dem Fall der Mauer nach Greifswald, wo sie als Gastronomin einige Jahre erfolgreich war. Aus Liebe zu ihrer Heimat kehrte sie nach Dieburg zurück und begann in der dortigen JVA im Aufsichtsdienst zu arbeiten, genauso wie Maria Saletti, die Heldin ihrer Kriminalromane. Durch die jahrelange Erfahrung innerhalb der Mauern eines Männergefängnisses gelingt es ihr, erdachte Geschichten wirklichkeitsnah zu schildern.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Volker Rauch / shutterstock.com
ISBN 978-3-8392-7530-6
Für Astrid Lutze, meine wunderbare Freundin.
Der gellende Schrei durchschnitt die Nacht. Er veränderte das Leben aller Anwesenden in einem Augenblick. Aus banger Angst und Ungewissheit, die eine Nacht und einen ganzen Tag wie ein Damoklesschwert über allen geschwebt hatte, wurde grausame Gewissheit. In den darauffolgenden Sekunden der Stille hörte sie die leise Stimme ihrer Tante Rosanna:
»Nein, das ist nicht wahr. Nein, sagt, dass das nicht wahr ist.« Dann kam der Satz, der Marias Herz einen Moment stillstehen ließ: »Anna ist tot.« Rosanna Savone verlor das Bewusstsein, und die beiden Carabinieri, welche die grausame Nachricht überbracht hatten, trugen sie in das Wohnzimmer und legten sie vorsichtig auf dem Sofa ab. In die allgemeine Bestürzung, in das Weinen und Bedauern sprach einer der Anwesenden den Satz aus, der ab diesem Tag Maria brandmarkte: »Maria, du bist schuld. Warum hast du Anna gestern alleine im Park gelassen.« Wer diesen Satz ausgesprochen hatte, daran konnte sie sich nicht erinnern. Nur, dass alle Anwesenden auf der Stelle verstummten. Es war so still, dass sie in diesem Moment das Sirren des Kühlschranks vernahm. Niemand widersprach, und dadurch wurde dieser Satz zur Wahrheit. Sie war schuld am Tod von Anna, ihrer Cousine und besten Freundin. Schon am Abend zuvor, als die Erwachsenen ausgeschwärmt waren, das junge Mädchen zu suchen, hatte sich Maria Vorwürfe gemacht. Sie wollte doch nur einmal kurz mit Pino auf dem Roller eine kleine Runde drehen. Anna hatte sie noch bestärkt und gesagt, sie würde im Park auf sie warten. Als Pino dann mit Maria weiter wegfuhr und sie mitten in Neapel stehen ließ, weil sie ihm nicht das gab, was er wollte, brauchte sie fast zwei Stunden, um wieder zu dem Park zu gelangen. Da war Anna bereits verschwunden.
Nachdem auch Gennaro Savone, Annas Vater, zu Hause eingetroffen war, fuhren alle gemeinsam zum Hafen von Torre del Greco. Zum Fundort der Leiche. Maria konnte die grausame Tatsache nicht begreifen und saß bleich auf dem Rücksitz eines Autos, welches ihr Onkel Domenico fuhr. Er und ein weiterer Verwandter sagten kein einziges Wort. Sie weinten nicht, sie klagten nicht, sie fuhren mit ihr zu der Stelle, an der die Carabinieri Anna aus dem Wasser gezogen hatten.
Es war, obwohl schon nach Mitternacht, unvorstellbar heiß und drückend. Das ganze Hafengebiet war schmutzig, einige weiße Plastiktüten wehten auf den Straßen umher. Im Vorbeifahren sah sie Bauruinen aus Beton, illegale Müllabladeplätze, ausgebrannte Autos, und in einer kleinen Gasse standen Prostituierte in Netzstrümpfen und hochhackigen Schuhen. Das Fahrzeug bog ab in Richtung Hafen, und von weitem schon sah sie die blauen zuckenden Lichter der Alfa Romeos den Nachthimmel erleuchten. Die Zufahrt zum Hafenbecken war nur notdürftig abgesperrt, und einige Schaulustige hatten sich so nah wie möglich an die Stelle, an der Anna tot auf dem Beton lag, herangepirscht. Eine dünne weiße Plastikplane bedeckte den Leichnam, die Plane hob sich bei jeder kleinen Windbö an und gab ihren nackten toten Körper zur Ansicht aller frei.
Die wenigen Passanten hörten exakt zwei Schüsse. Sekunden später brachen die jungen Männer auf einem kleinen Platz in Darmstadt in der Mauerstraße zusammen. Ein Motor heulte auf, und ein schwarzer Mercedes jagte in Richtung Dieburger Straße davon. Elisabeth Vollmer fühlte sich augenblicklich in die Kriegsjahre, als sie ein kleines Kind war, zurückversetzt. Sie ließ ihren Rollator mitsamt ihrer Handtasche stehen und schleppte sich schneller, als sie es selbst für möglich gehalten hätte, in den nächstliegenden Hauseingang. Dort drückte sie sich in die hinterste Ecke. Zwei Jungen im Alter von etwa zwölf bis dreizehn Jahren blieben zunächst auf dem Bürgersteig wie angewurzelt stehen und starrten auf den Platz. Der kleinere von beiden kam mit einem beherzten Sprung ebenfalls in den Hauseingang und stellte sich neben Elisabeth. Der andere Junge zog sein Smartphone hervor und wollte Fotos machen. Die alte Frau, kurz starr vor Angst, wagte sich einige Schritte nach vorne und zog den Jungen an seiner Jacke nach hinten.
»Bist du verrückt, wenn das einer mitbekommt, werden sie dich auch umbringen«, zischte sie. Augenblicklich kreidebleich, sah er sie erschrocken an und ließ das Smartphone schnell in seiner Hosentasche verschwinden. Dann drückte auch er sich in den Hausflur. Auf einige Sekunden gespenstischer Stille folgte kurz darauf das Heulen der Sirenen. Minuten später war die gesamte Mauerstraße mit Fahrzeugen von Polizei und Rettungsdienst übersät. Das Blaulicht der vielen Fahrzeuge wurde von den Wänden der Mehrfamilienhäuser zurückgeworfen, sodass die gesamte Straße blau ausgeleuchtet war. Elisabeth Vollmer blieb wie angewurzelt in dem Hauseingang stehen. Sie konnte sich einfach nicht bewegen. Ein Polizist mittleren Alters entdeckte sie, ging zu ihr und half ihr, sich auf ihren Rollator zu setzen.
»Kommen Sie, setzen Sie sich mal. Sie sind ja kreidebleich«, sagte er einfühlsam. »Haben Sie den oder die Täter gesehen?«
Elisabeth konnte nicht antworten, sie war wie versteinert, und erst als ihr ein Sanitäter den Blutdruck maß, sagte sie leise:
»Nein, gesehen habe ich wirklich nichts. Ich habe nur gehört, wie ein Auto schnell davonfuhr.«
Die beiden Jungen versuchten, Fotos von den Männern aufzunehmen, die, auf dem Rücken liegend, jede Menge Blut verloren, doch ein Polizist schob beide sanft nach hinten. Das Blut der beiden Opfer breitete sich auf dem Sandboden aus, wo es langsam versickerte.
Die beiden Fahrer standen schon eine ganze Weile in der Ausfahrt des Alice-Hospitals, jedoch konnten sie durch den nicht abreißen wollenden Verkehr nicht in die Dieburger Straße einbiegen.
»Ob wir hier heute noch mal wegkommen?« Sven Bieber sah immer wieder die Straße hinauf und hinunter, aber es war zu gefährlich, einfach rauszufahren. Wie oft hatten sie schon erlebt, dass die Autofahrer mit überhöhter Geschwindigkeit durch die Straße fuhren.
»Was soll’s, wir werden auch jetzt bezahlt«, sagte sein Kollege Michael tiefenentspannt. In diesem Moment hörten sie einen Knall und sahen, wie eine schwarze Mercedeslimousine aus der Mauerstraße in die Dieburger Straße einbog und dabei ein am rechten Rand geparktes Fahrzeug streifte. Der Fahrer blieb nicht stehen, obwohl er den Schlag sicherlich mitbekommen hatte. Nein, er raste mit überhöhter Geschwindigkeit in Richtung Dieburg davon. Michael notierte sich schnell das Kennzeichen, dann gab er die Info über Funk an seine Zentrale. Einfach ein Auto zu beschädigen und dann davonzufahren, das war wirklich das Allerletzte.
»Trägst du die Post von allen Gefangenen der JVA Dieburg auf dem Arm?« Jan sah Maria verwundert an, als sie die Stufen zu ihrer Gefangenenstation im fünften Stock nach oben lief. Sie hatte im wahrsten Sinne des Wortes alle Hände voll zu tun und balancierte den großen Stapel Briefe wie ein Tablett auf ihrer linken Hand, während sie versuchte, mit der rechten die Gittertüren auf- und wieder zuzuschließen.
»Ich weiß auch nicht, warum ich heute so viel Briefe für meine Station habe.« Maria runzelte die Stirn und behielt die Umschläge im Auge. »Jedenfalls bin ich jetzt eine ganze Zeit lang beschäftigt.«
»Bis du die alle geöffnet und kontrolliert hast, vergeht eine Weile.« Jan grinste schadenfroh, was Maria mit einem Seufzen kommentierte. Dann nahm sie die letzten Stufen nach oben. Beim Öffnen des verglasten Stationsbüros schlug ihr abgestandene Luft entgegen, sie ließ den Stapel Briefe auf ihren Schreibtisch fallen, öffnete weit das vergitterte Fenster und sah auf ihre Armbanduhr. Es war bereits 11.15 Uhr, Zeit, mit dem Hausarbeiter in der Küche das Mittagessen für die Gefangenen der Station zu holen. Pawel Nowak stand schon im Stationsflur und wartete auf sie.
»Frau Saletti, wir sind spät«, sagte er mit tiefer Stimme und blickte dabei demonstrativ auf die große Stationsuhr, die im Flur angebracht war.
»Ja, sind wir, aber keiner wird verhungern, Herr Nowak«, erwiderte Maria lächelnd.
»Sie kennen ruhig Pawel zu mir sagen«, flüsterte Nowak und setzte sein schönstes Lächeln auf. Der große Mann mit Händen wie Schaufeln näherte sich Maria und legte eine Pranke auf ihre Schulter. »Sie sind so scheene Frau.« Maria schüttelte die Hand blitzschnell von der Schulter und fuhr ihn an:
»Nie wieder anfassen, Nowak. Ist das klar? Nie wieder!« Ihr Gesichtsausdruck und die schnelle Reaktion ließen Nowak zurückschrecken. Marias Blick und ihre angespannte Körperhaltung waren eindeutig, sie würde einer Auseinandersetzung nicht aus dem Wege gehen.
»Entschuldigung«, stotterte Nowak, blickte nach unten und trottete schuldbewusst neben Maria her, die die hintere Gittertür der Station aufschloss, um mit ihm gemeinsam die fünf Stockwerke nach unten zu laufen.
Je näher sie der Küche kamen, umso deutlicher vernahmen sie das Schimpfen einiger Hausarbeiter.
»Was für ein Drecksfraß ist denn das heute.«
»So etwas gibt man nur den Schweinen.«
»Das Essen ist hier drin die größte Strafe«, hörte sie, als sie mit Nowak den Küchenvorraum, in dem die Essenswagen bereitstanden, betrat. Einer der Hausarbeiter hielt den Deckel eines Kübels in der Hand. Beim Blick in den Kübel konnte Maria den Unmut der Gefangenen nachvollziehen. Auch die anderen Beamten, die mit ihren Hausarbeitern die Wagen abholen wollten, waren sprachlos. Im Kübel sah man eine Wassersuppe mit wenigen Fettaugen, und ab und zu schwamm ein wenig Gemüse an die Oberfläche. Maria blickte in Richtung Küche, aber der Küchenleiter hatte sich wohlweislich in sein Büro verzogen.
»Und Sie haben gesagt, keiner wird verhungern«, bemerkte Nowak leise. »Ich bin mir nix sicher.« Kopfschüttelnd zog er den Essenswagen der Station II/5 hinter sich her und rumpelte damit über den Hof. Maria folgte ihm und wusste bereits, dass es bei dieser Essensausgabe jede Menge Diskussionen geben würde.
»Hast du die Post verteilt?« Jan kam mit einem breiten Grinsen in Marias Büro und setzte sich auf einen der alten Holzstühle, die an einem kleinen Tisch vor dem Fenster standen.
»Ja, habe ich, und du wirst nicht glauben, wer so viel Post erhalten hat.«
»Bestimmt ein Betrüger«, sagte Jan schnell.
»Bingo, Karl-Heinz Burger. In seinem Wahrnehmungsbogen steht Strafmaß zwei Jahre wegen Betrug.«
»Was steht denn in den Briefen?«
»Er hatte scheinbar eine Anzeige im Darmstädter Echo aufgegeben, dass er sich zurzeit in Haft befindet und einsam ist. Den genauen Wortlaut weiß ich leider nicht, aber das konnte ich aus den Antworten der Damen entnehmen. Ich bin fassungslos, was diese Frauen so alles bei einem ersten Brief von sich preisgeben, und natürlich würden sie ihn fast alle gerne besuchen.«
»Ja, einige Frauen finden es sehr spannend, Kontakt mit einem Straftäter aufzunehmen. Noch größer ist allerdings die Aufmerksamkeit bei einem durch die Presse bekannten Mörder. Da brauchst du dann einen Wäschekorb, um die Post zu holen.« Jan lachte, zwinkerte Maria zu und sagte: »Verstehe einer die Frauen.«
»Da hast du wohl recht. Das kann ich auch kein bisschen begreifen.« Jan stand auf und sah aus dem Fenster, die ersten Schwalben waren wieder da und zogen an den Wänden der Hafthäuser ihre Kreise. Das leise »Fiep, Fiep, Fiep« war etwas Vertrautes, das immer im Mai begann.
»Bevor ich es vergesse, Jan, heute wurde mir der Hausarbeiter Nowak ein wenig zu vertraulich. Er legte mir schon ganz freundschaftlich die Hand auf die Schulter. Und flüsterte mir ins Ohr, ich sei eine ›scheeeene Frau‹.« Maria wiederholte sein polnisches Deutsch. Jan drehte sich um.
»Ich nehme an, du hast ihn auf deine direkte Art sofort zurechtgewiesen?«
»Da kannst du sicher sein, und ich glaube, das hat er auch begriffen, aber ich habe Bedenken, ob er seine Finger von den anderen weiblichen Bediensteten lässt. Seit Anfang des Monats sind zwei junge Anwärterinnen hier bei uns. Noch laufen sie nicht alleine über die Stationen, aber in ein paar Wochen …«, sie sprach nicht weiter.
»Ja, das ist richtig. Haben wir einen anderen, der ein guter Hausarbeiter wäre?«
»Ich habe so weit noch nicht darüber nachgedacht. Ich würde ihn auch ungern ablösen. Endlich ist der Flur sauber, und mein Büro erstrahlt in neuem Glanz. Vielleicht war es ja nur ein Ausrutscher.«
»Wollen wir es mal hoffen. Denn so manch einer der Herren dreht bei weiblichen Bediensteten etwas durch.«
»Ja, wenn man als Frau hier drin nicht sofort die richtigen Signale sendet und vielleicht ein wenig unsicher ist, ist man für den einen oder anderen ein gefundenes Fressen.« Sie sah Jan nachdenklich an, dann sagte sie: »Fressen, das war genau das Stichwort. Fast hätte ich es vergessen. Das Mittagessen heute war echt unterirdisch. Kann man denn diesen furchtbaren Küchenleiter nicht woanders einsetzen? In anderen Anstalten, in denen ich schon war, war das Essen weitaus besser. Also heute taten die Gefangenen mir leid.«
»Ich habe es schon mitbekommen, die Beschwerdeanliegen an die Küche stapeln sich im Postfach. Ich muss mit dem Anstaltsleiter sprechen, das muss sich ändern.«
»Durch halbwegs ordentliches Essen haben wir hier in der Anstalt mehr Ruhe, so habe ich jeden Mittag bei der Essensausgabe Diskussionen. Und ich muss den Knackis recht geben. Das kann man echt nicht essen. Wenn weiter bei jeder Essensausgabe so ein Kram verteilt wird, warte ich nur darauf, bis der Erste den Essenkübel auf die Station schüttet.«
Die Luft war auch in den Abendstunden bereits angenehm warm. Maria hatte ihre Balkontür weit geöffnet und den kleinen Esstisch in ihrem Wohnzimmer hübsch gedeckt. In etwa einer Stunde würde die Sonne langsam am Horizont verschwinden und alles in ein warmes Licht tauchen. Sie war voller Vorfreude. Alex würde zum Abendessen kommen und sicherlich auch die ganze Nacht bleiben. Noch immer hatte sie Schmetterlinge im Bauch, wenn sie an ihn dachte. Sie waren jetzt fast neun Monate zusammen. Durch die furchtbaren Ereignisse in der JVA vergangenen September hatten sie sich kennen und schnell lieben gelernt. Alexander Neubert war als ermittelnder LKA-Beamter zu einer Befragung in die JVA Dieburg gekommen, und beide waren vom ersten Moment an voneinander fasziniert gewesen. Nach kurzer Zeit stand für sie fest, sie waren füreinander bestimmt. Solang sie jedoch keine gemeinsame Wohnung gefunden hatten, in Dieburg und Umgebung war es ein fast aussichtsloses Unterfangen, etwas Passendes zu finden, blieb er tageweise in Wiesbaden. Das hübsche Apartment in der Thomas-Edison-Straße war für beide auf Dauer zu klein. Maria träumte von einem gemeinsamen Leben. Bei diesem Mann hatte sie endlich das Gefühl, angekommen zu sein. Er liebte sie so, wie sie war, wollte sie nicht ändern und nahm ihre Marotten, wie ständig an ihr Kruzifix zu fassen und im Stillen mit ihrer Großmutter zu sprechen, lächelnd hin. Noch nie hatte sie sich mit einem Menschen auf Anhieb so gut verstanden. Auch wenn sie hin und wieder anderer Meinung waren, kam es nie zum Streit. Alex hatte die Gabe, Meinungsverschiedenheiten diplomatisch zu lösen. Etwas, was, wie Maria vor sich selbst zugeben musste, nicht gerade ihre Stärke war. Ihr italienisches Temperament ging manchmal mit ihr durch. In Gedanken bei Alex und seiner charmanten Art, hörte sie, wie ihre Wohnungstür aufgeschlossen wurde, und Sekunden später stand ein strahlender Alexander Neubert im Türrahmen der kleinen Wohnung. Marias Herz machte einen Sprung, als er sie anlächelte und dann liebevoll in seine muskulösen Arme nahm. Bei ihm konnte sie loslassen, bei ihm musste sie nicht stark sein. Hier konnte sie die Maria sein, die kaum jemand kannte. In ihrem Job oder in Gesellschaft war sie immer sehr diszipliniert und kontrolliert. Alex jedoch kannte sie auch schwach und verletzlich. Sie küssten sich leidenschaftlich, dann sagte er:
»Na, mein Liebling. Du hast ja bereits den Tisch gedeckt. Dann gibt es für mich wieder nichts zu tun.«
»Doch, Amore, du musst die Teller aus der Küche holen und darfst den Wein einschenken. Ich mache den Rest.« Er nahm sein Handy, schaltete es aus und legte es auf den Wohnzimmertisch. Er wollte auf keinen Fall gestört werden. Die Flasche Brunello stand entkorkt mit zwei großen Rotweingläsern auf dem Tisch, und Maria hatte einige leckere Vorspeisen vorbereitet, die sie nun aus der Küche holte. Ein romantisches Windlicht zauberte eine schöne Atmosphäre. Maria setzte sich an den Tisch, und auch Alex kam mit dem Brotkorb in der Hand dazu. Wenn sie ihn so ansah, konnte sie ihr Glück kaum fassen.
»Wie war dein Tag?« Maria legte dabei einige Vorspeisen auf seinen Teller.
»Spannend wie so oft«, bei diesen Worten lächelte er und nahm sich eine Scheibe Brot. »Am Vormittag wurden in Darmstadt auf offener Straße zwei junge Männer erschossen. Das LKA hat die Ermittlungen aufgenommen, da vermutet wird, dass es sich um eine Auseinandersetzung unter Clans der Organisierten Kriminalität handelt.« Er machte eine kurze Pause und sah sie verschwörerisch an. »Sehr wahrscheinlich haben die Morde etwas mit der italienischen Mafia zu tun.« Maria, die gerade einen Schluck Wein getrunken hatte, stellte ihr Glas beiseite und sah ihn an.
»Welche Mafia? Die Cosa Nostra, die ’Ndrangheta oder die Camorra?«
»Es handelte sich bei den Getöteten um zwei junge Männer aus Neapel. Seit längerem wissen wir, dass die Camorra in Hessen und anderen südlichen Bundesländern weit verbreitet ist. Wenn du dich an die Morde in Duisburg im Jahr 2007 erinnerst, da wurde durch die Ermittlungen erstmals bekannt, wie stark die ’Ndrangheta aus Kalabrien Deutschland bereits unterwandert hatte. Die Kollegen von der Organisierten Kriminalität haben Informationen vorliegen, dass auch die Camorra sich hier in Deutschland gut organisiert hat. Anders als in Italien selbst, da gibt es wohl nicht wirklich organisierte Strukturen.« Maria aß ein Stück Weißbrot und sah Alex an.
»In Neapel gibt es einen Camorra-Boss, den kennen alle und nennen ihn ›Professor‹. Er zieht wohl nach wie vor aus dem Knast heraus die Strippen. Hat es vielleicht mit ihm zu tun?«
»Nein, ich glaube nicht. Wir wissen durch die Aussagen von Geschädigten, wie ein Camorra-Clan, in diesem Fall der Volpe-Clan, der hier im Rhein-Main-Gebiet aktiv ist, vorgeht. Zunächst kommen einige Herren in ein Lokal und fragen höflich nach, ob der Besitzer gute Tomaten, Nudeln und Wein von seinem bisherigen Lebensmittelhändler erhält. Sollte der Inhaber des Restaurants das bejahen, wird ihm eine Probe von Erzeugnissen aus Kampanien dagelassen, mit der Bitte, doch einmal diese Erzeugnisse zu probieren. Nach einigen Tagen kommen die Herren wieder und machen ein Angebot, das der Inhaber nicht ablehnen kann.«
»Sie sagen, du kaufst unsere Tomaten, oder dein Laden geht in Flammen auf. So in etwa?« Maria sah Alex fragend an.
»Genau so. Die Lebensmittel, die ab sofort gekauft werden müssen, sind total überteuert, in etwa 30 - 40 Prozent teurer als normal. Aber die Inhaber der Lokale haben natürlich Angst und fügen sich.«
»Das ist mal clever, so haben sie gleich sauberes Geld, weil sie es in Deutschland versteuern. Die Herren haben dazugelernt. Früher haben sie wöchentlich irgendwie Bargeld abgeholt. Habt ihr schon eine Ahnung, um wie viele Lokale es sich handelt?«
»Nein, leider nicht. Wir haben Kontakt zu den Carabinieri in Neapel und Rom aufgenommen. Sehr wahrscheinlich hat der Volpe-Clan hier noch andere Geschäfte, in denen sie ihr Geld waschen können. Noch sind wir am Beobachten und Infos sammeln.«
Alex nahm einen großen Schluck Primitivo und lehnte sich zurück. »Kurz nach den Schüssen auf die zwei jungen Männer konnten die Kollegen der Darmstädter Polizei ein Fahrzeug stoppen, das direkt danach mit hoher Geschwindigkeit vom Tatort wegfuhr und dabei ein parkendes Fahrzeug streifte. Zwei aufmerksame Sanitäter haben die Karambolage beobachtet und das Kennzeichen der Polizei durchgegeben. Der Fahrer ist in Richtung Dieburg geflüchtet, konnte aber durch einen Streifenwagen, von Messel kommend, und anderen, die die Verfolgung von Darmstadt aus aufgenommen hatten, an der Kreuzung nach Messel gestoppt werden. Sehr wahrscheinlich wollte er zur Autobahn 661. Aber das ist nur eine Vermutung von mir.«
»Oh, eine Verfolgungsjagd wie in Chicago.« Maria sah ihn mit großen Augen an. Alex nickte und fuhr fort:
»Über Funk wurde den verfolgenden Kollegen mitgeteilt, dass das Fahrzeug von dem Tatort in Darmstadt in der Mauerstraße geflüchtet und der Fahrer bewaffnet ist. Du kannst dir vorstellen, wie der Zugriff an der Kreuzung im Wald erfolgt ist. Die Kollegen sind mit gezogenen Pistolen auf das stehende Fahrzeug zugelaufen. Das war dann wohl wirklich wie in den USA.«
»Woher weißt du das?«
»Ein Fahrradfahrer, der von Dieburg kommend nach Darmstadt fuhr, kam genau in diesem Moment vorbei. Er hatte nichts Besseres zu tun, als sein Handy zu zücken und alles aufzunehmen. Das Video kursiert bereits im Netz. Es hatte in den ersten Stunden mehr als 100.000 Klicks. Rate mal, welche Kommentare man darunter findet?«
»Polizeigewalt, unverhältnismäßig, so was in der Art?«
»Ja, leider. Als der Fahrer dann aus dem Auto stieg und die Kollegen das Fahrzeug durchsuchten, fanden sie eine Waffe im Handschuhfach.«
»Die Tatwaffe?«
»Nein, aus der Waffe ist lange nicht geschossen worden.«
»Wo hat er die Tatwaffe gelassen?«
»Das haben wir uns zunächst auch gefragt und bereits eine Hundertschaft angefordert, um das Waldstück zwischen Kreuzung Messel und Darmstadt abzusuchen. Aus dem fahrenden Auto heraus hätte er die Waffe in den Wald werfen können.«
»Und dann?«
»Die KTU hat kurz darauf festgestellt, dass der Fahrer keinerlei Schmauchspuren an seinen Händen hatte.«
»Okay, also er hat die beiden jungen Männer nicht erschossen. Warum ist er dann geflüchtet? Ich nehme an, er hatte Angst, auch erschossen zu werden?«
»Ja, und er hat uns signalisiert, dass er umfänglich aussagen wird, wenn er in das Zeugenschutzprogramm aufgenommen wird und wir dafür sorgen, dass seine Frau und seine beiden Kinder in Sicherheit sind.«
»Und gibt es da eine Möglichkeit?«
»Unsere Kollegen von der Organisierten Kriminalität sind skeptisch. Sie wissen nicht, ob sie ihm trauen können. Denn es gab für ihn einen Haftbefehl. Er hätte im März eine Haftstrafe antreten sollen. Er wurde im Januar zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Bei einer Razzia in seinem Lager – er ist der Geschäftsführer eines Lebensmittelgroßhandels – wurden zwei Kilogramm Kokain gefunden. Er hat die Haftstrafe nicht angetreten und hat sich jetzt als Kronzeuge angeboten.«
»Irgendwas ist seltsam. Er ist der Geschäftsführer eines Großhandels, und man findet dort ein paar Kilo Koks. Welcher Capo ist so blöd?« Alex sah Maria fragend an.
»Capo?«
»Chef, Capo nennt man den Boss.«
»Ja, komisch. Wir werden sehen, was er uns die nächsten Tage erzählt. So, mein Liebling, jetzt genießen wir beide den Abend, und kein Wort mehr über Knast, Verbrecher und die Mafia, okay?« Er lehnte sich über den Tisch und gab Maria einen Kuss.
»Ich hatte heute Morgen, bevor wir nach Darmstadt gerufen wurden, im Netz eine Wohnung gefunden. Wie ich aus der Anzeige entnehmen konnte, wunderschön und genau das Richtige für uns.« Er lächelte verschmitzt.
»Wirklich? Wahrscheinlich ist sie schon weg«, sagte Maria und machte einen Schmollmund. In den vergangenen Monaten hatten sie beide kein Glück bei der Wohnungssuche gehabt.
»Nein, mein Schatz, wir haben morgen Nachmittag einen Besichtigungstermin. Du hast doch Frühdienst morgen?« Maria war total verblüfft.
»Ja, habe ich. Das ist ja toll, können wir uns die Anzeige gleich nach dem Essen einmal ansehen?«
»Ja, ich bin mir sicher, du wirst begeistert sein.«
»Frau Saletti, bitte können Sie bei mir nicht ein wenig die Zelle offen lassen?« Marc Bauer, ein Kleinkrimineller, der von Taschendiebstahl und Verkauf von kleineren Mengen Drogen jahrelang sein Dasein bestritten hatte, schaute Maria an wie ein waidwundes Reh. Seine Körpersprache drückte absolute Unterwürfigkeit aus.
»Nein, Herr Bauer, wenn Ihnen die Zelle zu eng ist, empfehle ich Ihnen, sich hier für einen Arbeitsplatz zu bewerben, da geht der Tag schneller vorbei«, sagte Maria und verschloss die Zellentür. Die restlichen Gefangenen bis auf Hausarbeiter Nowak, der im Flur die Wäsche sortierte, waren an ihrem Arbeitsplatz in den Werkbetrieben der JVA. Spannende Arbeiten wie Kugelschreiber zusammenstecken oder sonstige einfache Tätigkeiten konnten von den Insassen erledigt werden. So verdienten sie sich ein wenig Geld für den monatlichen Einkauf innerhalb der JVA. Maria schritt über den Flur, Nowak war in seine Arbeit vertieft, da sah Maria eine junge Kollegin die Treppe nach oben kommen.
»Maria, hast du einen Moment Zeit für mich?« Sabine Herzmann stand vor Marias Büro und sah sie fragend an.
»Klar, geh nur rein, ich komme sofort.« Maria wandte sich an Hausarbeiter Nowak.
»Bitte zählen Sie alles genau, damit es nachher, wenn wir in die Kleiderkammer zum Wäschetausch gehen, keine Diskussionen gibt.«
»Sie kennen sich auf mich verlassen«, sagte Nowak in seinem polnischen Dialekt und zählte konzentriert weiter. Maria rümpfte die Nase, als sie auf die Schmutzwäsche sah, die vor ihr auf dem Boden lag. Ein unbeschreiblicher Gestank hatte sich binnen kurzer Zeit im Stationsflur ausgebreitet. Stinkende Socken, Unterhemden und Unterhosen mit Spuren, bei denen Maria annahm, dass der Träger den Gebrauch von Toilettenpapier nicht kannte. Den Würgereiz unterdrückend, drehte sie sich um und begab sich zu ihrem Stationsbüro.
»Na, Sabine, wo drückt der Schuh?«, sagte Maria, ging zum Waschbecken und wusch sich akribisch die Hände. Dann nahm sie die Kaffeekanne aus der Maschine und goss sich eine Tasse ein. »Möchtest du auch einen Kaffee?« Sabine nickte, nahm Maria die Tasse ab und setzte sich auf einen der alten Holzstühle.
»Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll, es ist ein wenig delikat. Auf keinen Fall will ich hier jemanden in Verruf bringen.«
»Was wir hier besprechen, bleibt erst einmal unter uns. Du kannst sicher sein, dass ich nicht durch die Anstalt laufe und irgendwas, was du mir erzählst, weiterplaudere.«
»Genau deshalb bin ich hier, weil ich weiß, du bist verschwiegen und man kann sich auf dich verlassen.« Sabine atmete kurz durch, dann begann sie:
»Ich habe auf meiner Station einen Gefangenen, der eigentlich sehr verträglich ist. Er sitzt ein wegen Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz und war über ein Jahr lang vollkommen unauffällig. In letzter Zeit wollte er für meinen Geschmack etwas zu oft zum Krankenrevier. Bestimmt zweimal pro Woche, das fand ich schon sehr merkwürdig.« Maria hatte ebenfalls Platz genommen und sah Sabine erwartungsvoll an.
»Zu den häufigen Besuchen des Reviers kommt eine Veränderung des Gefangenen, die ich mir nur mit Drogenkonsum erklären kann. Immer, wenn er von dort zurückkommt, sind seine Pupillen stark geweitet und er ist tiefenentspannt. Vor den Revierbesuchen ist er von Mal zu Mal nervöser.«
»Das hört sich nicht gut an. Hast du ihn mal gefragt, warum er ständig zum Revier muss?«
»Darauf erhalte ich nur ausweichende Antworten. Mal hat er Magenschmerzen, das nächste Mal Rückenschmerzen und so weiter.« Maria sah aus dem vergitterten Bürofenster in den tristen Anstaltshof. Die drei kleinen Ahornbäume am Rande des roten Sportplatzes waren das einzig Natürliche inmitten von Asphalt und Gummimatten. Rechts und links vom Sportplatz befanden sich die Hafthäuser in Sägezahnbauweise.
»Weißt du, welche Krankenschwester oder welcher Pfleger an diesen Tagen Dienst hatte?« Maria sah ihre Kollegin fragend an.
»Darauf habe ich, ehrlich gesagt, am Anfang nicht geachtet. Die beiden letzten Male Pfleger Seibert.« Maria überlegte eine Weile, dann wandte sie sich an Sabine:
»Nun gut, wir beide alleine kommen da nicht dahinter. Es sei denn, der Gefangene vertraut sich dir an. Was meinst du, wenn er in Not ist, würde er sich an dich wenden?«
»Ich bin mir nicht sicher, möglich wäre es. Was willst du machen?«
»Ich möchte das Ganze erst einmal mit Jan Gerber besprechen.« Sabine riss die Augen ängstlich auf.
»Muss das sein? Am Ende heißt es im Flurfunk, ich hätte den Seibert angeschwärzt«, sagte Sabine leise.
»Nein, keine Angst. Gerber ist zum einen hier der Sicherheitsdienstleiter, und zum anderen ist er hier drin hinter den Drogen her wie der Teufel hinter der armen Seele. Was er am allermeisten hasst, ist, wenn Bedienstete hier auch noch Geschäfte mit Drogen machen. Wir beide können die Sache nicht aufdecken, außerdem ist es wichtig, dass ein Vorgesetzter von dir davon Kenntnis erhält, ansonsten drehen sie dir noch einen Strick draus, wenn der Knacki vielleicht mal zu viel von dem Zeug nimmt und das Zeitliche segnet.« Maria sah Sabine durchdringend an, und sie nickte zustimmend.
»Davor habe ich auch Angst, deshalb bin ich hier. Ich wollte drüben im Haus meinem Bereichsleiter nichts sagen. Mit dem kann ich nicht gut.« Maria nickte.
»Wenn du in dieser Angelegenheit mit dem Falschen sprichst, macht dieser Verdacht hier schnell die Runde, und der oder die Täter sind gewarnt. Ich werde Gerber informieren, und er entscheidet, wie man am besten weiter vorgeht. Demjenigen, der die Medikamente verkauft, muss schnellstmöglich das Handwerk gelegt werden.«
Etwa 80 Gefangene bewegten sich wie eine blaue Masse langsam die fünf Stockwerke nach oben. Einige wenige hatten ihre blaue Arbeitsjacke über die Schulter geworfen und schlenderten im weißen Feinrippunterhemd an ihr vorbei. Es war bereits sehr warm, und der fünfte Stock des Hafthauses heizte sich erstaunlich schnell auf. Karl-Heinz Burger hatte offensichtlich noch mehr Elan als seine Mithäftlinge und lief grinsend auf Maria zu.
»Frau Saletti, ist Post für mich gekommen?« Maria, die diesen Typen vom ersten Tag an nicht besonders mochte, schaute ihn erstaunt an und sagte lächelnd:
»Post für Sie? Ich glaube nicht.« Der Gesichtsausdruck von Burger sprach Bände. Er glaubte ihr nicht. Maria spürte, dass er über ein Selbstbewusstsein verfügte, das seinesgleichen suchte. Sie verabscheute Betrüger. Menschen um ihr Erspartes zu bringen und ihre Gutgläubigkeit auszunutzen, Firmen in den Ruin zu stürzen oder, noch schlimmer, Frauen Liebe vorzuheucheln und sie dann auszunehmen, machte sie wütend. In Gesprächen mit dem einen oder anderen im Laufe der Jahre merkte Maria, dass diese Männer über keinerlei Unrechtsbewusstsein verfügten. Im Gegenteil, oftmals fanden sie ihre Strafe ungerecht und haderten mit ihrem Schicksal. Um die Spannung ein wenig zu erhöhen, sagte sie:
»Ich habe die Post aber noch nicht kontrolliert. Ich bin noch zwei Stunden im Dienst, vielleicht schaffe ich es ja noch.« Burger lächelte siegessicher, straffte seine Schultern und schritt in seine Zelle, die Maria hinter ihm verriegelte. Nachdem alle Gefangenen in ihren Hafträumen waren, wurde das Mittagessen ausgeteilt. Auch an diesem Tag verspürte Maria wirklich Mitleid. Kleine Stücke weißes Fleisch ohne jegliche Deko schwammen im Wasser auf einer Aluminiumplatte. Schon dieser traurige Anblick in Verbindung mit einem Kartoffelsalat, der anscheinend nur aus Kartoffeln und Öl zu bestehen schien, verdarb einigen Häftlingen den Appetit. Die entsetzten Gesichter der Insassen sprachen für sich. Hier und da vernahm sie ein mürrisches Brummen, und einer der Gefangenen sagte zu Maria:
»Das ist schlimmer als alles, was ich in meinem Leben je zu essen bekommen habe.«
Als Maria eine halbe Stunde später wieder in ihrem Büro saß, nahm sie den Stapel Post zur Hand und fand abermals einen dicken DIN-A4-Umschlag mit dem Absender vom Darmstädter Echo. Viele Frauen hatten Karl-Heinz Burger auf seine Kontaktanzeige geantwortet. Maria schüttelte den Kopf und öffnete jeden der Briefe, um etwaige verbotene Einlagen herauszunehmen. Und wie vermutet, sie hatte das schon öfter erlebt, befand sich in einem DIN-A4-Umschlag mehr als nur ein Brief. Maria zog sich sicherheitshalber ein paar Einweghandschuhe an. Sie öffnete den Briefumschlag und zog eine Briefseite, welche mit einem billigen Parfüm besprüht war, heraus. Der Geruch erinnerte Maria stark an Toilettenseife. Sie griff erneut hinein und hatte einen Damenslip, eindeutig getragen, in der Hand. Kopfschüttelnd nahm sie aus ihrer Schublade eine kleine Plastiktüte, schrieb den Namen Karl-Heinz Burger darauf und steckte dann angewidert den Damenslip hinein. Sie legte ihren Fund beiseite und überflog die Zeilen jedes Briefes. Arme Seelen, die von der großen Liebe träumten und ein gefundenes Fressen für solche Aasgeier waren. Maria verspürte Mitleid, als sie Worte wie »Treue« und »wahre Liebe« las. Lebten diese Frauen in einer Traumwelt? Als sie den letzten Brief geöffnet hatte, stand Jan vor ihr.
»Na, wieder Fanpost?«, sagte er lächelnd und setzte sich auf einen der Stühle am Fenster. Maria hob, ohne sich umzudrehen, die Plastiktüte in die Luft und sagte süffisant:
»Ich glaube, ich werde Männer nie verstehen.« Dann lachte sie laut und drehte sich um.
»Du kannst die Männer nicht verstehen?«, fragte Jan lachend. »Aber den Slip hat doch eine Frau geschickt.«
»Da hast du allerdings recht, ich glaube, die Dame hat Erfahrung mit Männern hinter Gittern.«
»Das mag sein. Gab es hier irgendwas Wichtiges?«, fragte Jan, hoffend, er könne sich ohne weitere Vorkommnisse in den wohlverdienten Feierabend verabschieden.
»Gut, dass du fragst«, sagte Maria, stand auf und schloss die Bürotür, die sie wegen der Hitze offen gelassen hatte.
»Kollegin Herzmann war heute Vormittag bei mir. Sie hat den Verdacht geäußert, dass jemand vom Krankenrevier Drogen oder Medikamente an die Knackis verkauft. Wahrscheinlich Pfleger Seibert«, flüsterte Maria. Auf keinen Fall wollte sie, dass ihr Gespräch von jemandem gehört wurde. Jan rieb sich den Bart und sah aus dem Fenster. Dann drehte er sich zu Maria um und sagte:
»Wenn der Gefangene bereit ist, gegen die Person vom Krankenrevier auszusagen, werden wir sie schnappen. Wenn nicht, wird es schwer, das nachzuweisen.«
»Ja, aber so kann es doch nicht weitergehen.«
»Sicher nicht. Ich werde mit dem Arzt sprechen, dass er einmal eine Inventur der Medikamente macht. Der Diebstahl von Diazepam, Valium, Tavor oder weiß der Teufel was für Zeug müsste ja auffallen.«
Alex lief die Treppe zu dem Besprechungsraum im Hessischen Landeskriminalamt, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, in den zweiten Stock hoch. Es herrschte reges Treiben. Schüsse auf offener Straße bedeuteten unter Umständen einen Bandenkrieg, den man auf alle Fälle verhindern musste. Man ging zum jetzigen Zeitpunkt davon aus, dass es sich um einen Racheakt im Milieu oder zwischen zwei rivalisierenden Banden handelte. So viel hatte er im Flurfunk bereits erfahren. Er betrat als Letzter den großen, lichtdurchfluteten Raum. Alle anderen Kollegen und Kolleginnen waren bereits anwesend. In der Ecke befand sich ein großes Flipchart, und Heike Bender, Kriminalrätin und Leiterin der Abteilung 4 – Schwere und Organisierte Kriminalität – stand davor und wartete, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte.
»Gut, dass ihr schon da seid, dann können wir gleich beginnen«, sagte sie und nahm ihre Aufzeichnungen zur Hand. »Gestern gegen 10 Uhr wurden zwei junge Männer, Alberto, 28 Jahre, und Tomaso Vasile, 27 Jahre alt, in der Nähe ihrer Unterkunft in Darmstadt in der Mauerstraße erschossen. Zunächst wurde vermutet, dass der Schütze der Fahrer des Mercedes sei, der sich Sekunden später mit hoher Geschwindigkeit vom Tatort entfernte. Man konnte ihn, nachdem er festgenommen worden war, als Täter definitiv ausschließen. Er hatte zwar eine Waffe im Fahrzeug, jedoch wurde diese Waffe, eine Beretta neun Millimeter, schon längere Zeit nicht mehr benutzt. Weiters konnte man an seinen Händen und der Kleidung keinerlei Schmauchspuren sicherstellen.« Heike machte eine kurze Pause und sah in die fragenden Gesichter der Anwesenden. »Seit gestern Abend wissen wir nach den ersten Auswertungen der Gerichtsmedizin, dass die beiden jungen Männer aus einer größeren Entfernung erschossen wurden. Der Eintrittswinkel der Kugeln deutet darauf hin, dass der Schütze im Haus gegenüber aus einem Fenster im zweiten Stock die tödlichen Schüsse abgegeben haben musste. Die dafür infrage kommende Wohnung ist bewohnt. Der Bewohner ist ein alter Mann. Jakob Rosenstein, 93 Jahre alt. Er ist dement und scheidet als Schütze definitiv aus. Hier muss sofort ermittelt werden, wer Zutritt zu dieser Wohnung hat. Oder wer und wie sich jemand Zutritt verschafft hat.« Heike sah in die Runde. »Heimann und die Kriminaltechnik, ihr schaut, was ihr an Spuren sichern könnt.« Alex hob daraufhin die Hand, und Heike notierte seinen Namen auf dem Flipchart hinter dem Stichwort »Zutritt Wohnung Schütze«. Dann fuhr sie fort: »Außerdem ist es rätselhaft, warum zwei junge Italiener, die hier in Deutschland nicht gemeldet sind, auf offener Straße erschossen wurden. Wir wissen nur, dass beide aus Neapel kommen. Der Rest ist völlig im Dunkeln.« Heike Bender ging zum Flipchart und schrieb die Namen der beiden Opfer mit einem Fragezeichen dahinter, dann sah sie in die Runde, wartete auf ein Handzeichen und notierte, welcher der Anwesenden diese Info recherchieren sollte, dann sprach sie weiter:
»Es gibt drei Zeugen, die sich auf dem Bürgersteig schräg gegenüber der Stelle befanden, an der die beiden Jungen erschossen wurden. Wer möchte die drei befragen?« Sie notierte das Wort »Zeugen«, und eine Kollegin hob die Hand. »Weiterhin müssen wir alles über den Aufenthalt der beiden Italiener in Deutschland in Erfahrung bringen.« Wieder hob sich eine Hand, und Heike Bender notierte den Namen des Beamten auf dem Flipchart. »Bitte, Alex, versuche, auch den Fluchtweg des oder der Täter zu ermitteln. Bis jetzt wissen wir nicht genau, wie der oder die Täter sich vom Tatort entfernt haben. Da hat vielleicht jemand der Anwohner etwas beobachtet.« Heike schaute fragend in die Runde. »Ist etwas unklar? Ihr könnt mich auf jeden Fall bis 22 Uhr heute hier im LKA erreichen. Dann wieder morgen früh ab 6 Uhr. Viel Erfolg. In Ausnahmefällen bitte auch nachts anrufen. Danke.«
Maria war sehr nervös. Nachts hatte sie kaum geschlafen. Würden sie wirklich zusammenziehen? Ein wenig Angst vor diesem Schritt hatte sie schon. Was, wenn sie beide sich das Zusammenleben zu rosig ausgemalt hätten und es nicht funktionierte? Beide würden ihre schönen Wohnungen aufgeben. Dann wieder eine passende Wohnung in Dieburg zu finden, wäre ein beinahe aussichtsloses Unterfangen. Sie grübelte die halbe Nacht und fiel in den frühen Morgenstunden, kurz bevor sie aufstehen musste, in einen traumlosen Schlaf. Als der Wecker klingelte, dachte sie, ein Bus hätte sie überrollt, so kaputt war sie. Die Wohnung, die sie sich am Abend zuvor im Internet angesehen hatten, entsprach genau ihren Vorstellungen. Sie war zwar nicht in Dieburg, was Maria ein wenig bedauerte, da sie so jeden Tag zur Arbeit pendeln musste. Jedoch waren 15 Kilometer überschaubar, und die Wohnung befand sich in Darmstadt im Herdweg. Sie konnte von dort schnell auf die B26 in Richtung Dieburg fahren, zum Joggen war sie in wenigen Minuten im Grünen. Entweder an der Lichtwiese oder auch am Böllenfalltor. Das ganze Paulusviertel mit alten Villen galt als angenehm und ruhig. Der Frühdienst verging wie im Flug, so viel hatte sie zu erledigen, und als sie sich gerade zu Hause umzog, erreichte sie ein Anruf von Alex:
»Schatz, es kann sein, dass ich ein wenig später komme. Der Verkehr hier ist wieder einmal eine Katastrophe. Irgendwas muss passiert sein. Nichts geht mehr.«
»Kein Problem. Ich hoffe, ich werde nicht in zwei Minuten abgefertigt. Vielleicht schaffst du es ja noch.«
»Gut, bis gleich.« Alex hatte aufgelegt.
Maria hatte fünfzehn Minuten später den Herdweg in Darmstadt erreicht und fuhr langsam die Straße entlang. Die Gehwege waren hier nicht gepflastert, Zäune mit gepflegten Vorgärten gaben den großen alten Villen einen schönen Rahmen. Maria fuhr im Schritttempo und suchte am Straßenrand einen Parkplatz. Sie musste die Straße einmal komplett durchfahren, bis sie einen gefunden hatte, und kam nach einem kleinen Fußmarsch genau zur vereinbarten Zeit am Objekt an. Die Parkplatzsuche wäre für sie täglich schon einmal nicht so gut. An der derzeitigen Wohnung hatte sie einen eigenen Parkplatz. Sie besah sich das Haus noch einmal genau von außen. Es hatte wohl vor kurzem erst eine Renovierung erfahren und erstrahlte in neuem Glanz. Es gab genau zwei Klingelschilder. Eines davon war nicht beschriftet, auf dem anderen stand der Name des Vermieters ›SCHNEIDER‹. Maria klingelte und wartete einen Moment, bis sie an der Gegensprechanlage eine nette Frauenstimme vernahm.
»Ja bitte.«
»Guten Tag, mein Name ist Saletti. Ich habe jetzt einen Termin zur Wohnungsbesichtigung.«
»Ich habe einen Termin mit einem Herrn, warten Sie mal«, Maria hörte ein Knacken und kurz darauf, »Herrn Neubert.«
»Das ist richtig, das ist mein Lebensgefährte. Er verspätet sich ein klein wenig.«
»Ach so, warten Sie, ich mache Ihnen auf.« Im gleichen Moment hörte sie das sonore Schnarren am Türschloss und konnte die Gartentür nach innen öffnen. Der Vorgarten war sehr gepflegt, mehrere große Rhododendron-Büsche erstrahlten in den schönsten Farben. Maria ging die alte Steintreppe am Haus hinauf. Oben angekommen, öffnete ihr eine Frau Anfang 40, die sie freundlich anlächelte.
»Entschuldigen Sie, ich habe gerade gesehen. Herr Neubert hat Sie ja mit angekündigt. Frau Maria Saletti, richtig?«
»Ja, das ist richtig.«
»Kommen Sie. Ich hatte mir nur den Namen Neubert gemerkt.
Sie möchten hier zusammen einziehen?«
»Ja, im Moment wohne ich in Dieburg und Herr Neubert in Wiesbaden.« Frau Schneider nickte und nahm die gewendelte Holztreppe in den ersten Stock. Die Treppe wie auch das gesamte Treppenhaus hatte vor kurzem erst neue Farbe bekommen. Alles in allem machte das Haus auf Maria einen sehr gepflegten Eindruck. Nachdem Frau Schneider die Wohnung aufgeschlossen hatte, ließ sie Maria den Vortritt. Sie gingen durch einen Flur, von dem rechts und links Zimmer abgingen. Die Decken in diesem Haus waren bestimmt drei Meter hoch und die Fenster mit Rundbögen riesig, was die Räume noch heller strahlen ließ. Maria war auf den ersten Blick in die Wohnung verliebt. Das Bad war nagelneu. Es hatte sogar eine große Duschkabine mit Regendusche. Das Wohnzimmer war so geräumig, dass man einen Teil als Esszimmer nutzen konnte. Die Küche hatte eine Durchreiche. Marias Herz machte einen Sprung.
»Gefällt Ihnen die Wohnung?«, ergriff Frau Schneider nach einigen Minuten das Wort.
»Ja, sie ist sehr schön«, antwortete Maria. In dem Moment klingelte ihr Smartphone. »Entschuldigung. Ich sehe, das ist Herr Neubert, da muss ich drangehen«, entschuldigte sie sich und nahm das Gespräch an.
»Schatz, ich habe gerade einen Parkplatz gefunden. Bist du schon fertig?«
»Nein, du kommst gerade richtig.« Frau Schneider war bereits auf den Balkon getreten und gab ihm ein Zeichen. Maria legte auf.
Als sie eine Viertelstunde später mit Frau Schneider bei einer Tasse Kaffee saßen, konnten sie beide ihr Glück kaum fassen.
»Also, Sie sind beide Beamte. Das ist gut. Und Sie machen auf mich einen sehr netten Eindruck. Wenn sie Ihnen gefällt, können Sie die Wohnung haben. Ich bin eine Frau der schnellen Entscheidungen. Schlafen Sie eine Nacht darüber und schicken Sie mir per Mail Ihre Gehaltsnachweise.« Alex und Maria sahen sich an. So schnell hatte sie nicht mit einer Antwort gerechnet.
»Gut, wir schlafen eine Nacht darüber. Bis spätestens morgen Abend geben wir Ihnen eine Antwort«, sagte Alex und erhob sich.
»Das ist gut. Ich habe noch einige Interessenten, da vergebe ich aber erst neue Termine, wenn das mit uns nichts wird«, sagte Frau Schneider fröhlich. Sie verabschiedeten sich voneinander, und Alex und Maria traten vor das Haus. Alex zeigte in Richtung seines parkenden Autos. Was Maria sofort zum Anlass nahm, diesen Wermutstropfen anzusprechen.
»Die Wohnung und auch die Vermieterin sind echt super, aber keine Parkplätze hier. Das wird eine Umstellung.«
»Das stimmt, mein Schatz, lass uns eine Nacht darüber schlafen.«
Jan war in seine Arbeit vertieft, als sein Telefon klingelte. In Gedanken versunken, nahm er den Hörer ab und nannte abwesend seinen Namen.
»Gerber.«
»Herr Gerber, gut, dass ich Sie so schnell erreiche. Werner Schmidt vom Landeskriminalamt Wiesbaden.« Schlagartig war Jan bei der Sache.
»Herr Schmidt, was kann ich für Sie tun.«
»Sicherlich haben Sie von den Schüssen in Darmstadt auf zwei junge Männer gehört. Kurz darauf konnten wir einen Mann festnehmen, gegen den eine Ladung zum Strafantritt in der JVA Dieburg besteht. Sein Name ist Luigi Esposito, und er sollte sich bei Ihnen bereits im März zur Verbüßung einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten einfinden.«
»Die wird er jetzt antreten«, sagte Jan süffisant.
»Davon ist auszugehen. Herr Esposito hat uns gegenüber geäußert, dass er umfänglich aussagen könnte über Tätigkeiten der Camorra im Rhein-Main-Gebiet. Noch hat er keine wirklich relevanten Informationen geliefert. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass er das noch tun wird.«
»Wie kann ich Ihnen da helfen?«
»Es wäre gut, wenn Sie dafür sorgen könnten, dass wir jederzeit mit ihm Kontakt aufnehmen können und dass er uns über einen Verbindungsbeamten kontaktieren kann.«
»Das wird kein Problem sein.«
»Gut, es kommt nur darauf an, dass diese Kontaktaufnahme in der Anstalt nicht weiter auffällt.«
»Keine Sorge, das bekomme ich hin.«
»Wichtig wäre für uns, dass Sie einen Kollegen aussuchen, der als Verbindungsbeamter dem Gefangenen vorgestellt wird. Dieser Kollege von Ihnen muss absolut zuverlässig und integer sein, da das Leben dieses Esposito davon abhängt. Niemand, ich wiederhole, niemand außer Ihnen und diesem Beamten dürfen den wahren Hintergrund dieses Mannes erfahren.«
»Ich habe eine sehr zuverlässige Kollegin. Sie ist selbst Italienerin, somit von Vorteil, wenn der Mann etwas erzählen will, oder ist er hier aufgewachsen?«
»Nein, er ist erst vor einigen Jahren nach Deutschland gekommen. Ist diese Beamtin zuverlässig?«
»Ja, absolut.«
»Gut, Herr Gerber, dann verlasse ich mich darauf. Wir hören voneinander, wenn Herr Esposito bei Ihnen in der Anstalt eingetroffen ist.« Jan wollte noch etwas sagen, aber Schmidt hatte bereits aufgelegt.
Die junge Frau in Krankenschwesternkleidung mit dem Aufdruck ›Pflegedienst Kern‹ sah ihn argwöhnisch an.
»Guten Tag, mein Name ist Alexander Neubert, ich komme vom Landeskriminalamt.« Sein Gegenüber nahm ihm den Ausweis ab und besah ihn sich genau.
»Und was kann ich für Sie tun?«, fragte sie, während sie ihm das Dokument zurückgab.
»Sagen Sie mir doch bitte Ihren Namen, und dann würde ich mir gerne die Wohnung ansehen und den Raum, aus dem mutmaßlich geschossen wurde.«
»Ich bin Melanie Schumann.« Dabei lächelte sie ihn freundlich an. »Kommen Sie rein, Ihre Kollegen haben sich hier in den Räumen bereits ausgetobt.« Frau Schumann trat einen Schritt zurück, dann zeigte eine Handbewegung von ihr auf eine Zimmertür, an der er die Siegelmarke entdeckte. Alex ging zu dieser Tür, riss die Marke ab und betrat den Raum. Die Spurensicherung hatte ganze Arbeit geleistet, nahezu im gesamten Zimmer waren Spuren des Fingerabdruckpulvers zu sehen. Der weiße Fensterrahmen, von dem aus mit sehr großer Wahrscheinlichkeit geschossen worden war, war mehr schwarzgrau als weiß. Aber auch Kommoden, Stühle, ja selbst der Heizkörper waren mit dem Pulver verschmiert. Die Pflegerin blieb im Türrahmen stehen und sah verärgert auf die Möbel.
»Ich frage mich, wer diese Schweinerei wegmacht.«
»Hat denn Herr Rosenstein keine Putzfrau?«
»Nein, Herr Rosenstein hat weder eine Putzfrau noch sonst jemanden. Er ist der einsamste Mensch, den ich kenne.«
»Und wer organisiert die Pflege und alles andere?«, fragte Alex und trat an das Fenster.
»Wir als Pflegedienst kommen, wenn er zu Hause ist, dreimal am Tag. Wir kaufen auch für ihn ein. Was die Pflegekasse nicht bezahlt, wird von einem gesetzlichen Betreuer, einem Anwalt, bezahlt, der das Vermögen von Herrn Rosenstein verwaltet.«
»Herr Rosenstein ist vermögend?«, fragte Alex und sah sich in dem schäbigen Raum um. Ein paar alte Möbel, ein durchgelaufener Linoleumboden, am Fenster nicht einmal Gardinen. Die Tapeten stammten mit Sicherheit aus dem letzten Jahrhundert.
»Ich nehme an. Ich weiß nur so viel, dass ihm dieses Haus und noch andere Mietshäuser in Darmstadt gehören. Das hat er mir einmal im Vertrauen erzählt, als er noch halbwegs bei Verstand war.« Melanie Schumann sah Alex traurig an und fügte dann hinzu:
»Es ist nicht schön, den Verfall eines Menschen so mitzuerleben. Zumal wenn jemand so lieb ist wie Herr Rosenstein.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen«, sagte Alex mitfühlend. »Haben Sie eine Idee, wie sich jemand Zutritt zur Wohnung verschaffen konnte? Konnte Herr Rosenstein die Tür öffnen?« Melanie Schumann nickte.
»Er hätte sie öffnen können, jedoch war er an diesem Tag in der Tagespflege, also nicht zu Hause.«
»Hatte irgendjemand in der Vergangenheit die Möglichkeit, an den Wohnungsschlüssel zu kommen?« Melanie Schumann zögerte kurz, überlegte und sagte dann:
»Nein, wie denn. Nach dem Dienst gebe ich die Schlüssel immer bei unserer Chefin ab. Die Schlüssel sind bei uns Pflegekräften oder im Büro. Herr Rosenstein schließt seine Wohnung ab, wenn er von der Tagespflege abgeholt wird. Glaube ich zumindest.« Alex beobachtete sein Gegenüber genau.
»Er wird von der Tagespflege abgeholt und wieder zurückgebracht?«
»Ja, genau. Er geht jetzt bestimmt schon ein Jahr in die Tagespflege. Wobei ich denke, besser wäre es, wenn er in eine Seniorenresidenz ziehen würde. Der geistige Zustand hat sich sehr verschlechtert in der letzten Zeit.« Alex nickte.
»Hatten Sie an diesem Tag Dienst?«
»Ja, ich war gegen 7.30 Uhr hier und bin gegen 8.20 Uhr wieder weggefahren. Der Bus von der Tagespflege kommt so gegen 9.30 Uhr und holt Herrn Rosenstein ab.«
»Haben diese Leute einen Schlüssel?«
»Nein, Herr Rosenstein öffnet die Tür selbstständig. Da fällt mir ein, die Johanniter haben auch noch einen Schlüssel. Denn er trägt einen Notrufknopf am Handgelenk, so kann er, falls er fällt oder ihm nicht gut ist, direkt die Johanniter zu Hilfe rufen.«
Alex notierte die Angaben in einem kleinen Heft.
»Die Schüsse wurden um 14 Uhr abgegeben, da war er also in der Tagespflege. Ist er da täglich?«
»Bis auf freitags und am Wochenende, da ist er den ganzen Tag zu Hause.«
»Wie oft kommen Sie eigentlich zu Herrn Rosenstein?«
»An den Tagen, an denen er abgeholt wird, morgens gegen 7.30 Uhr, die Spätschicht dann gegen 18 Uhr. Genaue Zeiten kann Ihnen unsere Chefin geben. In der Zentrale sind die Daten genau festgehalten.«
»Wie das?«
»Wir haben GPS in den Autos. Sie wissen ja, Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.« Sie lächelte säuerlich.
»Ich würde gerne Herrn Rosenstein befragen.«
»Das haben Ihre Kollegen schon versucht. Sie können gerne zu ihm gehen, aber sprechen …«, sie machte eine Pause, »… er wird Ihnen viel erzählen, aber …«, Melanie Schumann ging vor Alex her durch den Flur und öffnete eine große zweiflügelige Tür. Auch diese Tür wie alle anderen in der großen Wohnung war mit Fingerabdruckpulver verschmiert. Direkt gegenüber saß ein kleiner alter Mann in einem großen grünen Ohrensessel. Sein mageres Gesicht war von Altersflecken übersät, er trug einen hellblauen Jogginganzug, der ihm eindeutig zu groß war. Dadurch wirkte er noch zierlicher, zerbrechlicher. Der Bezug des Ohrensessels war durchgewetzt, überhaupt sah der ganze Raum armselig und schäbig aus. Sein magerer Kopf drehte sich langsam, als Alex den Raum betrat.
»Herr Rosenstein, hören Sie, Sie haben Besuch«, sagte Frau Schumann etwas lauter, als es normal gewesen wäre. Der alte Mann schaute Alexander einen Moment lang genau an, dann erhellte sich sein Gesicht.
»David, wie schön, dass du mich einmal besuchen kommst.« Er strahlte Alex an und versuchte aufzustehen. Melanie Schumann eilte ihm zu Hilfe und schob ihm sogleich den Rollator hin, damit er sich darauf stützen konnte.
»Das ist nicht Ihr Neffe, Herr Rosenstein. Es ist ein LKA-Beamter. Wie war noch mal Ihr Name?«
»Neubert, Alexander Neubert«, erwiderte Alex lauter als beabsichtigt. Erneut sprach sie Herrn Rosenstein an, dieses Mal mit lauter Stimme:
»Herr Neubert möchte mit Ihnen sprechen.« Sie lächelte ihn gütig an und trat dann einen Schritt zurück. Alex schaute in die verwirrten Augen eines Mannes, der komplett die Orientierung in seinem Leben verloren hatte. Auf eine merkwürdige Art und Weise schien dieser Mann jedoch zufrieden zu sein. Hände und Arme wirkten, als wären sie nur noch mit Haut überzogen, die Knochen stachen heraus, über der rechten Schläfe verlief eine blaue Ader. Alex versuchte, den Blick des alten Mannes zu treffen. Herr Rosenstein dachte nach und das auf eine Weise, die einem fast leidtat. Vorsichtig trat Alex noch einen Schritt näher und stieß dabei mit seinem rechten Fuß an den Rollator. Erschrocken trat er sofort zurück und sah hilfesuchend Melanie Schumann an.
»Ist nix passiert«, sagte sie milde, dann erhob sie ihre Stimme:
»Herr Rosenstein, hatten Sie am Dienstag Besuch? War jemand vergangenen Dienstag bei Ihnen?« Jakob Rosenstein überlegte angestrengt, sagte dann traurig:
»Meine Frau ist schon lange tot, und dienstags habe ich immer meinen Skatabend. Aber der ist letztes Mal ausgefallen, weil der Artur nicht konnte.« Er sah Alex noch kurz an, dann schob er im Schneckentempo seinen Rollator zu einem alten Esstisch, auf dem ein Teller mit Haferbrei stand. Melanie Schumann schüttelte den Kopf:
»Sein Freund Artur ist vor zwei Jahren in einem Pflegeheim verstorben. Und die Skatabende sind schon lange her. Sie sehen ja, ihn zu befragen …« Sie sprach nicht weiter. Alex nickte, versuchte es dennoch. Etwas unbeholfen sprach er den alten Mann erneut laut an:
»Guten Tag, Herr Rosenstein, ich bin vom LKA. Wissen Sie, ob fremde Leute in Ihrer Wohnung waren?« Der Senior zeigte keine Reaktion und schlürfte seinen Haferbrei. Alex wandte sich ab.
»Ja, das ist sicherlich zwecklos. Sie wissen nicht, ob sonst noch Schlüssel von der Wohnung im Umlauf sind?«
»Nein, tut mir leid, wie gesagt: wir, die Johanniter und der Anwalt. Keine Ahnung, wie der heißt. Ich habe ihn bisher kein einziges Mal hier gesehen. Sie können das aber bei uns im Büro erfahren. Die haben dort alle Angaben.« Alex bedankte sich und verließ die Wohnung. Im Treppenhaus ging er zunächst nach oben. Das Haus, ein typischer Bau aus der Gründerzeit, die alten Holztreppen waren ausgetreten, der Handlauf abgegriffen. Ein zweiflügeliges morsches Holzfenster auf halber Treppe, dessen Farbe an vielen Stellen abgeblättert war und dessen Kitt sich bereits von der Scheibe löste, schien nicht verriegelt zu sein. Alex sah, dass die Kollegen auch hier das Pulver großzügig angebracht hatten. Er zog schnell ein Paar Handschuhe an und zog am Fenstergriff, das Fenster ließ sich nicht öffnen. Er blickte durch die trüben Scheiben, die seit Jahren keine Reinigung erfahren hatten, in den Hinterhof. Vor dem Fenster stand ein Kastanienbaum, der Hof darunter alter Asphaltboden mit Löchern übersät, dem Wildwuchs überlassen. Alex ging einige Stufen nach oben und stand vor der Treppe, die zum Dachboden führte. Auch hier hatten seine Kollegen bereits Fingerabdrücke genommen. Er war gespannt auf die Auswertung. Er stieg nach oben und öffnete die Tür. Durch den plötzlichen Luftzug aufgewirbelt flog ihm der Staub des letzten Jahrtausends entgegen, und Alex musste augenblicklich niesen. Der Dachboden war riesengroß, aber außer einigen alten Matratzen und Hinterlassenschaften von Tauben war er leer. Alex trat an das Dachausstiegsfenster und öffnete es. Sein Blick fiel sofort auf zwei beschädigte Ziegel, die Kanten vermittelten ihm den Eindruck, als wären sie erst vor kurzem zerbrochen. Sie wiesen weder Moos noch andere Verwitterungsspuren auf. Hier waren sicherlich der oder die Täter entkommen. Ein Blick über die angrenzenden Dächer gab ihm Gewissheit. Ein Haus weiter befand sich eine Feuertreppe, die nach unten führte.
Er betrat den Empfang des Pflegedienstes und wartete einen Moment. In einem der angrenzenden Zimmer telefonierte eine Dame und erteilte offensichtlich einer Mitarbeiterin klare Anweisungen.
»Nein, das machen Sie nicht, das bezahlt die Kasse nicht. Sie fahren jetzt zum nächsten Patienten. Danke.«
Alex machte sich bemerkbar:
»Hallo«, rief er freundlich, und die Stimme, die gerade noch in barschem Ton mit jemandem telefoniert hatte, ertönte glockenhell und zuckersüß.
»Ich komme gleich.« Sekunden später erschien eine ältere Frau etwa Mitte 50 hinter dem Empfangspult. Ihr strenges Gesicht und die großen blauen Augen erinnerten Alex an die Lehrerin in den Harry-Potter-Filmen, Minerva sowieso.
»Guten Tag, wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte die Frau und setzte dabei ihr professionelles Lächeln auf.
»Guten Tag, mein Name ist Alexander Neubert vom Landeskriminalamt.« Dabei hielt Alex ihr den Ausweis hin. »Wie Sie sicher wissen, sind die tödlichen Schüsse auf zwei junge Männer in der Mauerstraße aus der Wohnung von Herrn Rosenstein abgegeben worden.« Ihr aufgesetztes Lächeln verschwand mit einem Schlag. Die Frau zog leicht die rechte Augenbraue nach oben, sagte jedoch kein Wort.
»Wir müssen nun wissen, wer alles einen Schlüssel zu dieser Wohnung hat. Und ich brauche den Namen des gerichtlich bestellten Betreuers von Herrn Rosenstein.« Die Frau nestelte ein wenig verlegen an ihrem obersten Blusenknopf, dann sagte sie:
»Also soweit ich weiß, haben wir hier zwei Schlüssel, und der Rechtsanwalt hat einen und natürlich die Johanniter. Möglicherweise auch die Tagespflege, da sie ihn ja abholen. Da müssten Sie einmal nachfragen. Aber darf ich denn so einfach seine Adresse rausgeben? Sie wissen schon – Datenschutz.« Bei den letzten Worten lächelte sie säuerlich. Alex spürte eine große Abneigung gegen diese Frau und versuchte, sie so gut es ging zu kaschieren.
»Da es sich hier um ein Attentat handelt und ich vom Landeskriminalamt in Wiesbaden komme, versichere ich Ihnen, ist es rechtens, wenn Sie mir nun Namen und Adresse des Betreuers geben. Und wenn wir schon dabei sind, wie ist bitte Ihr Name?« Sein Ton war schärfer als beabsichtigt und zeigte Wirkung.
»Mein Name ist Elisabeth Kern, ich bin Pflegedienstleitung und Inhaberin in einer Person«, sagte sie und reckte dabei das Kinn ein wenig nach vorne. Alex nickte und wartete auf den Namen des Anwaltes. Widerwillig sagte sie kurz darauf:
»Rechtsanwalt Frank Wilk, Elisabethenstraße, Darmstadt.«
»Wie lange ist Herr Wilk bereits Betreuer von Herrn Rosenstein?«
»Schon einige Jahre, so genau kann ich Ihnen das nicht sagen. Er war es bereits, als wir die Pflege übernommen haben.«
»Wie viele Schlüssel gibt es von dieser Wohnung?«, fragte Alex ruhig.
»Ein Schlüssel ist im Umlauf, den nehmen die Pflegekräfte mit, und einen Schlüssel habe ich hier in Verwahrung, falls der erste Schlüssel verloren geht. Wie Sie vielleicht wissen, ist Herr Rosenstein ganz alleine und auf unsere Hilfe angewiesen.« Sie reckte stolz ihr Kinn nach vorne.
»Könnten Sie bitte nachsehen, ob der zweite Schlüssel da ist?« Elisabeth Kern drehte sich ohne ein Wort um und ging in das dahinterliegende Zimmer. Wenige Augenblicke später hörte Alex ihre Stimme in hoher Tonlage:
»Alles an seinem Platz, wie es sich gehört.« Mit siegessicherer Miene trat sie wieder hinter den Empfang und sagte spitz:
»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
»Ja, das können Sie. Ich brauche die Dienstpläne der letzten Wochen, in denen vermerkt ist, wer alles bei Herrn Rosenstein ein und aus ging.«
»Es wird ja wohl reichen, wenn ich Ihnen mitteile, wer bei Herrn Rosenstein eingesetzt war.«
»Nein, das reicht nicht.« Alex machte eine kurze Pause, sah Frau Kern in die Augen und fügte dann hinzu: »Ich möchte die Dienstpläne der letzten drei Monate.« Dann nahm er eine Visitenkarte aus seiner Jackentasche und legte sie auf den Tisch. »Sie können mir gerne die Pläne an diese E-Mail-Adresse senden. Danke schön.«
Elisabeth Kerns Miene gefror zu Eis. Sie antwortete nicht, nickte und blickte ihn stoisch an. Alex sah sich noch kurz um, kein Bild an der Wand, keine Pflanzen oder Blumen unterbrachen das Grau der Wände. Der Raum war kalt und unpersönlich. Ein Ebenbild der Inhaberin.
Karl-Heinz Burger hatte das Fenster weit geöffnet und sah in den tristen Himmel. Den ganzen Tag regnete es Bindfäden, und die Außentemperatur war merklich abgekühlt. In der Zelle jedoch stand die Luft, es war stickig. Er hatte seine Post, nicht ohne einen gewissen Stolz zu verspüren, gezählt. Mehr als 30 Briefe waren von Frauen eingegangen, die offensichtlich einsam und unglücklich waren. Oder warum sonst sollte ihm jemand schreiben. Menschen mit Familie und Angehörigen hatten dafür keine Zeit und würden von ihrem Umfeld genügend Warnungen hören, sollten sie auf die Idee kommen, mit einem Mann im Gefängnis Kontakt aufzunehmen. Er wusste, mit welchen Worten er ihre Herzen höherschlagen ließ, wie er sie für sich einnehmen konnte. Im Laufe seines Lebens hatte er eines begriffen: Man musste den Menschen nur das erzählen, was sie sich schon immer gewünscht hatten zu hören, und schon würden sie alles für einen tun. Selbstzufrieden zog er einen beliebigen Brief aus dem Stapel und überflog die Zeilen:
Lieber Unbekannter,
auch ich fühle mich einsam und freue mich, dir diese Zeilen schreiben zu können. Ich hoffe, die Haft ist nicht allzu schlimm für dich und ich kann dir die schwere Zeit ein wenig versüßen. Mein Name ist Susanne und bin seit einem Jahr geschieden, Kinder habe ich keine.