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Eine ermordete junge Frau in der Nähe der JVA Dieburg, ein verdächtiger Freigänger und Ungereimtheiten innerhalb der Gefängnismauern veranlassen die Justizvollzugsbeamtin Maria Saletti Nachforschungen anzustellen. Als sie plötzlich selbst in den Fokus von Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gerät, setzt Maria alles daran, ihre Unschuld zu beweisen. Unterstützung erhält sie von Alexander Neubert vom LKA. Hat Maria etwa in ein Wespennest gestochen - und steckt viel mehr dahinter?
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Seitenzahl: 397
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Esther Copia
Hinter hessischen Gittern
Kriminalroman
Unberechenbar Nichts ist mehr, wie es war. Nach einer folgenschweren Geiselnahme innerhalb der JVA Dieburg ist das Leben der Justizvollzugsbeamtin Maria Saletti ein anderes. Ihr Freund trennt sich von ihr, Angst und Unsicherheit bestimmen ihren Alltag. Als im Aje-See, in der Nähe von Dieburg, die Leiche einer unbekannten jungen Frau gefunden wird, übernimmt das Landeskriminalamt Wiesbaden den Fall, da es sich möglicherweise um einen Serientäter handelt. Kommissar Alexander Neubert überprüft alle Freigänger der JVA Dieburg und lernt auf diesem Weg Maria kennen. Beide sind sofort voneinander fasziniert. Die Überprüfung eines einschlägig vorbestraften Freigängers bringt kein Ergebnis, da sich der Häftling zum Tatzeitpunkt in der JVA Dieburg befand. Nur Maria ist sich sicher, dass hier ein Fehler vorliegt. Bei ihren Ermittlungen stößt die Justizvollzugsbeamtin auf Widerstände und wird plötzlich selbst mehrerer Straftaten bezichtigt. Hat sie in ein Wespennest gestochen – und steckt am Ende viel mehr dahinter?
Esther Copia wurde 1964 in München geboren und wuchs in der hessischen Kleinstadt Dieburg auf. Nach absolvierter Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin arbeitete sie mehrere Jahre in ihrem Beruf und zog nach dem Fall der Mauer nach Greifswald, wo sie als Gastronomin einige Jahre erfolgreich war. Aus Liebe zu ihrer Heimat kehrte sie nach Dieburg zurück und begann in der dortigen JVA im Aufsichtsdienst zu arbeiten, genauso wie Maria Saletti, die Heldin ihrer Kriminalromane. Durch die jahrelange Erfahrung innerhalb der Mauern eines Männergefängnisses gelingt es ihr, erdachte Geschichten wirklichkeitsnah zu schildern.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Cmon / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-6920-6
Für Mario
Zellenkontrolle, eine Aufgabe im täglichen Einerlei als Justizvollzugsbeamtin. Maria zog ihre Handschuhe an und betrat die Zelle II515. Die Gefangenen waren beim Sport, niemand würde sie stören. Schon beim Betreten des Raumes nahm sie den Alkoholgeruch wahr. Das Zellenfenster war mit der braunen Wolldecke, die jeder Insasse beim Einzug erhielt, verhängt. Nicht ungewöhnlich bei Außentemperaturen von 35 Grad Celsius, jedoch war hier etwas anders, sie spürte Gefahr. Sie ging auf das Fenster zu, um die Decke abzunehmen, da sah sie ihn, den zerbrochenen Einwegrasierer, aus dem die Klinge entfernt worden war. Augenblicklich war sie in Alarmbereitschaft. Sie spürte etwas ganz nah hinter sich, fuhr herum und musste den Kopf in den Nacken legen. Sergej Supulev starrte ihr direkt in die Augen.
»Warum bist du nicht beim Sport?«, sagte sie leise. Der Kahlköpfige mit den eingefallenen Wangen stand direkt vor ihr, in blauer Knastarbeitshose und weißem Feinrippunterhemd. Eine riesige Spinne war vom Schlüsselbein über den Hals bis zum Ohr tätowiert.
Sie prüfte seinen Blick, um zu erkennen, ob er gerade auf Heroin war. Jahrelange Arbeit mit süchtigen Gefangenen hatte ihre Wahrnehmung geschult. Maria erfasste die Situation sofort, er war betrunken, die Alkoholfahne schlug ihr ins Gesicht, seine Feindseligkeit war spürbar, sie strömte geradezu aus seinen Poren, doch da war es schon zu spät. Ohne Vorwarnung griff Supulev nach ihrem Zopf und riss brutal ihren Kopf nach hinten. Sie verlor das Gleichgewicht und taumelte zur Seite. Mit ihrer rechten Hand konnte sie sich auf dem Bett abfangen, mit der linken schaffte sie es, das Funkgerät aus der Halterung an ihrem Gürtel herauszuziehen. Schnell warf sie es unter das Bett. Supulev hatte sie derweil von hinten umklammert. Sein linker Arm umfasste ihren Oberkörper. Dabei drückte er so fest zu, dass Maria einen stechenden Schmerz in den Brüsten verspürte. In seiner rechten Hand befand sich eine Zahnbürste. Die Borsten waren abgeflammt, und stattdessen klemmte im Plastik die Rasierklinge aus dem Einwegrasierer. Sie konnte das Wort HASS auf seinen Fingern eintätowiert lesen. Langsam näherte sich diese Hand ihren Augen, um dann blitzschnell nach unten zu verschwinden. Er drückte ihr die Klinge an den Hals. Sein fürchterlicher Atem, eine Mischung aus Zigaretten, Alkohol und verfaulten Zähnen, drang in Marias Nase. Der Gestank in Verbindung mit seinem Körpergeruch war kaum zu ertragen. Bilder einer Vergewaltigung jagten durch ihren Kopf. Nur nicht panisch werden, ruhig bleiben. Sie atmete bewusst tief durch und entspannte ihren Körper. Gegenwehr war eindeutig zwecklos.
»Hey, Supulev, was ist los mit dir?« Sie versuchte, freundlich zu klingen und ihn abzulenken.
Sie spürte seinen feuchten Atem an ihrem Hals. Heiser keuchte er ihr ins Ohr: »Ich bin kein Verräter.«
Maria war bewusst, dass ein Russe womöglich dem Tod geweiht war, wenn er von seinen Landsleuten als Verräter beschimpft wurde.
Maria sprach langsam, um ihn zu beruhigen. Sie zwang sich, locker zu wirken und zählte innerlich die Sekunden, bis die Zentrale sie anfunken würde.
»Mann, Supulev, jeder weiß: Du bist niemand, der mit uns Beamten reden würde. Wo ist dein Problem?«
»Heute in Freistunde hat Kollege gesagt, ich würde mit euch reden. Du weißt, was passiert mit Verrätern bei uns? Sie machen mich tot.
Endlich versuchte die Zentrale, Maria zu erreichen.
»Burg 48 für Burg.« Burg 48, das war Maria. Burg war der Funkname der Zentrale.
Supulev begriff nicht, was gerade ablief.
»Beruhige dich, das können wir klarstellen. Wenn du willst, verlegen wir dich in einen anderen Knast.«
»Was soll das bringen? Du weißt, Saletti, Russenfunk geht von Knast zu Knast. Ich bin noch nicht dort, und alle wissen, Verräter kommt.« Maria wusste das, aber sie hatte gehofft, ihn so zu beruhigen.
»Burg 48 für Burg.« Rolf Kleins Stimme wurde nachdrücklicher.
Maria flehte: »Komm, Supulev, wir beide hatten nie Stress miteinander. Lass uns reden.«
Supulev entspannte sich ein wenig, aber sie spürte weiterhin die Klinge an ihrem Hals.
Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte sie Rolf Klein durch das Funkgerät rufen: »Alarm auf Station II5. An alle: Alarm auf Station II5!« Ein Ruck durchfuhr Supulevs Körper. Er hatte die Situation erfasst.
»Das ist Scheiße, Saletti. Wenn kommen deine Kollegen, ich mach dich tot.« Mit diesen Worten drückte er die Rasierklinge noch fester an Marias Hals, doch noch ehe er weitermachen konnte, hörten sie hinter sich die Stimme von Jan Gerber. Der Sicherheitsdienstleiter muss sich in der Nähe der Station aufgehalten haben, als der Alarm ausgelöst wurde.
»Jetzt, Maria!«
Das war der Startschuss zur Befreiung. Gerber schlug mit einem Schlagstock exakt auf den Nacken von Supulev. Gleichzeitig konnte Maria ihren rechten Ellenbogen in Supulevs Rippen schlagen und gekonnt nach unten wegtauchen. Sie war der Umklammerung entkommen. Jan ergriff blitzschnell Supulevs rechten Arm, drehte ihn auf den Rücken und drückte ihn nach oben. Supulev schrie vor Schmerz auf, ließ die Zahnbürste fallen, zeigte aber keinerlei Gegenwehr. Maria atmete auf. Die Anspannung wich langsam aus ihrem Körper. Wie konnte das passieren? Wieso war er nicht beim Sport? Hatte er sich beim Ausrücken zur Sporthalle irgendwo versteckt? Das würde sie klären müssen, damit so etwas nie wieder vorkam. Sie hatte das Gefühl, als wiche all ihre Kraft aus ihrem Körper. Schnell hielt sie sich am Stuhl in der Zelle fest. Sekunden später waren im Stationsflur etwa zehn Kollegen aus der Schicht versammelt. Die Schmerzensschreie nutzten Supulev nichts. Gerber und zwei weitere Beamte nahmen ihn in die Mitte und drückten ihn zu Boden. Er wurde peinlich genau abgetastet, und erst nachdem sichergestellt war, dass er nicht noch weitere gefährliche Gegenstände bei sich trug, sagte Jan Gerber:
»Ab mit ihm in die B-Zelle. Und ruft sofort einen Notarzt, die Kollegin ist verletzt.«
Erst da bemerkte Maria, dass ihr Diensthemd blutverschmiert war. Sie stellte sich vor den Spiegel in der Zelle. Aus einer kleinen Wunde an ihrem Hals sickerte Blut. Sofort kam Panik in ihr auf. Wenn die Klinge schmutzig war, hatte sie zwar den Angriff überstanden, aber sich vielleicht mit einer todbringenden Krankheit angesteckt.
Irgendetwas störte sie. Ein Geräusch, das nicht in die Ereignisse passte. Maria driftete langsam in die Wirklichkeit. Gerade eben noch war sie in der Zelle des Geiselnehmers, sie spürte noch den feuchten, ekelhaften Atem an ihrem Hals. Diese Angst, die sie fast lähmte. Sie versuchte, Luft zu bekommen, aber sie atmete so schwer, als würde etwas auf ihrem Brustkorb liegen. Wieder und wieder vernahm sie das sonore Brummen des Weckers. Sie hatte nur geträumt, Gott sei Dank. Sie zwang sich, ihre Augen zu öffnen und nahm die letzten Gedanken des Traums mit in die Wirklichkeit. Ihre Hand ertastete den leeren Platz neben sich im Bett. Da war sie sofort wieder, die Traurigkeit und Leere, wenn sie an ihren Ex-Freund David dachte. Mühsam richtete sie sich auf. Bleiplatten schienen auf ihren Schultern zu lasten. Er hatte ihr nach dem Angriff im Gefängnis unmissverständlich klargemacht, dass er mit ihr nur zusammenbleiben konnte, wenn sie diese Arbeit aufgab. Er sagte, er könne die Angst, die er täglich hatte, wenn sie in der JVA war, nicht länger ertragen. Maria liebte David, sie konnte seine Befürchtungen auch verstehen, aber sie wollte ihre Arbeit nicht aufgeben. Nicht, dass sie die Arbeit in der JVA besonders liebte. Sie hatte schon einige brenzlige Situationen erlebt und empfand bei manchen Gefangenen echte Abscheu, aber sie hatte so für diese Arbeit gekämpft und war auch ein wenig stolz, dass sie es als Tochter von italienischen Einwanderern geschafft hatte, Beamtin zu werden. Diese Anstellung machte sie finanziell unabhängig, eine Tatsache, die für Maria sehr wichtig war. Sie hatte erlebt, wie sehr ihre Mutter nach der Trennung von ihrem Vater hatte kämpfen müssen. Keinesfalls wollte sie jemals von einem Mann abhängig sein. Beamtin zu sein, war für sie der Inbegriff der finanziellen Sicherheit, außerdem hätte sie umschulen müssen. Welchen neuen Beruf wollte sie denn erlernen? Nein, eine berufliche Veränderung kam für sie nicht infrage. So hatten sie die Beziehung nach fast sechs Jahren, in denen sie mehr oder weniger glücklich miteinander gewesen waren, beendet.
Wie sehr sie diese Trennung schmerzen würde, hatte Maria unterschätzt. Es verging keine Stunde, in der sie nicht an David dachte. Ihre gemeinsamen Abende, an denen sie gekocht und von einer glücklichen Zukunft mit Kindern geträumt hatten, fehlten ihr sehr. Sie vermisste ihn mehr, als sie vor sich selbst zugeben wollte. Erschwerend kam hinzu, dass sie nicht wusste, wo sie einen anderen Mann kennenlernen sollte. Im Knast ganz sicher nicht. Sie war schüchtern und hatte es schon früher nicht geschafft, einen Mann anzusprechen. Online Dating war für sie nichts, da sie befürchtete, an einen ehemaligen Gefangenen zu geraten. Alleine ihr Profilbild in solchen Dating Portalen konnte ihr im Job das Leben schwer machen.
Sie zwang sich, die Gedanken zu verscheuchen. Energisch schlug sie die Decke zurück.
Seit einem Jahr musste sie wieder und wieder die furchtbare Situation in der Gefängniszelle durchleben. Eine posttraumatische Belastungsstörung löste sich nicht so schnell auf. Ihr Psychologe, den sie seit dem Angriff alle zwei Wochen aufsuchte, war zuversichtlich, dass es mit der Zeit besser würde.
Fröhliches Vogelgezwitscher drang an ihr Ohr, und die Kirchturmuhr mahnte sie zur Eile. Sie schlüpfte aus dem Bett. Das Morgenrot kündigte die aufgehende Sonne an.
Mit ihren Gedanken war sie schon in der Anstalt. Die letzten Monate hatten sie sehr angestrengt. Sie arbeitete in der JVA Dieburg, einem Männergefängnis, welches sich inmitten der Altstadt von Dieburg befand. Ein Job, der sie jeden Tag vor neue Herausforderungen stellte. Die unterschiedlichen Gefangenen machten die Arbeit spannend. Da gab es die Betrüger, die täglich bewiesen, dass sie studierten Psychologen in nichts nachstanden. Sie erkannten die Schwachstellen der Beamten sofort und verhielten sich bei jedem ein wenig anders, gerade so, wie es die Situation erforderte. Oder auch die gewaltbereiten Gefangenen, die, wenn ihnen die Worte fehlten, einfach zuschlugen. Da gab es diejenigen, die aufgrund ihrer Drogensucht und der damit verbundenen Beschaffungskriminalität einsaßen, und deren Gedanken den ganzen Tag nur um Drogen kreisten und wie sie diese in den Knast schaffen konnten. Und natürlich waren da die Unschuldigen, die aufgrund eines fürchterlichen Justizirrtums verurteilt waren. Viele Knackis erzählten dies so überzeugend, dass Maria manchmal wirklich an den Urteilen zweifelte. Bei genauerem Lesen der Akten erkannte sie jedoch schnell, dass viele Täter die Tat nur vor sich selbst verdrängten, weil sie so schlimm war, dass sie ihr eigenes Handeln nicht begreifen konnten. Dass nicht sein durfte, was nicht sein konnte.
Maria drehte den Wasserhahn auf und trat unter die Dusche, wie immer morgens, ein Wettlauf gegen die Zeit. Nach 20 Minuten war sie soweit. Noch ein kurzer Blick in den Spiegel. In der Uniform gefiel sie sich ganz gut. Die dunkelblaue Hose in Kombination mit der taillierten weißen Bluse brachte ihren durchtrainierten Körper zur Geltung. Sie war schlank, obwohl sie von ihrer Mutter immer noch mit Pasta verwöhnt wurde. Das wöchentliche Karatetraining und auch das tägliche Treppenlaufen in der JVA mit ihren fünf Stockwerken hielten die Figur in Form.
Als sie vor die Haustür trat, lugte gerade die Sonne über die Dächer der Kleinstadt. Sie liebte es, früh aufzustehen und so den Tag zu beginnen. Die Luft war frisch, und die Stadt war noch in ein warmes Licht getaucht. In wenigen Stunden würde es wieder sehr heiß sein, aber um die Uhrzeit war es noch angenehm kühl. Sie hörte die Amseln, die ihr Morgenlied anstimmten, als wollte der eine oder andere Vogel ihr einen schönen Tag wünschen. Den Rucksack gefüllt mit einem Thunfischsandwich und einer großen Flasche Wasser, lief sie die Straße zur JVA entlang. Sie ging mit großen Schritten, denn sie wollte auf keinen Fall zu spät kommen. Sie stoppte. Von Weitem sah sie eine schwarze Katze, die von links nach rechts über die Straße schlich, als Maria die Groß-Umstädter-Straße entlang ging. Oh nein, nun durfte sie auf keinen Fall weiterlaufen. Pech konnte sie in ihrem Beruf nicht gebrauchen. Sie wartete einige Sekunden, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen. Endlich fuhr ein Auto an ihr vorbei und nahm den Unglücksfluch mit sich.
Als sie die Anstalt betrat, blickte sie in übernächtigte Gesichter. Die Kollegen der Nachtschicht waren bereits in der Pforte versammelt und warteten auf sie und die anderen Kollegen der Frühschicht. Sie durften erst nach Hause gehen, wenn ein Großteil der neuen Schicht anwesend war.
Vor ihrem Schlüsselfach stand Markus Müller, der sie müde ansah und ihr einige Infos gab.
»Guten Morgen, Maria, du hast wieder auf der II5 Dienst. Der Hattinger geht ab heute in die Schule, er darf um 6.30 Uhr die Anstalt verlassen, damit er seinen Bus erreicht. Er beginnt eine Ausbildung zum Fachinformatiker in Darmstadt.« Müller gähnte.
»Okay, ich werde mal schnell auf der Zentrale mein Funkgerät holen und dann den Hattinger wecken.« Maria öffnete ihr kleines Schlüsselfach und holte den Anstaltsschlüssel heraus. Danach begab sie sich zur hinteren Pfortentür, die zum Anstaltshof führte. Alle Eingangstüren und Tore in der JVA hatten eine Schleusenfunktion und konnten nur durch einen Kollegen in der Pforte per Knopfdruck entriegelt werden. Sie hörte den Summer und konnte die Anstalt betreten. Mit wenigen Schritten überquerte sie den Hof und öffnete die alte Holztür zur Verwaltung. Jede Tür musste sie zuerst auf- und, nachdem sie durchgegangen war, auch wieder zuschließen. Vor der Zentrale angekommen, wartete Maria auf den Einlass, denn auch diese Türen waren mit Schleusenfunktion versehen.
»Guten Morgen, Rolf.« Maria zwinkerte ihm zu. Seit dem Zwischenfall ein Jahr zuvor verstanden sich die beiden bestens. Kein anderer Zentralist hätte so schnell reagiert wie Rolf Klein damals. Dies hatte Maria das Leben gerettet.
»Guten Morgen, heute auch wieder gut gelaunt. Wie machst du das nur?« Rolf war ein Kollege mit über 20 Jahren Diensterfahrung.
»Das ist meine italienische Natur, da kann man nicht anders.« Maria zuckte mit den Schultern.
»Beneidenswert. Ich brauche ungefähr drei Liter Kaffee, um diesem Tag etwas Positives abzugewinnen.« Er nahm das Funkgerät 48 aus der Ladestation und übergab es Maria.
»Und weil es dir so gut geht, hast du heute wieder die Ehre, im Zirkus Maximus die Dompteuse zu spielen. Die ganze Station II5 nur für dich.« Klein grinste sie an.
»Zu gütig. In letzter Zeit bekomme ich immer die Superstars der Anstalt. Bin ich irgendjemandem, ohne es zu wissen, auf die Füße getreten?« Maria sah aus dem Fenster der Zentrale auf den Anstaltshof. Nichts als Tristesse und Beton. Das einzig Farbige war der rote Kunststoffboden in der Mitte des Hofes, der als Fußballplatz diente.
»Ich glaube nicht, aber jeder andere hier drin hat 1.000 Erklärungen, warum er auf einer anderen Station arbeiten möchte.«
Die Station II5 war zweifelsfrei die schwierigste Station der gesamten Anstalt, und obwohl sie die Katastrophe vor einem Jahr hatte erleben müssen, wurde sie fast immer genau da zum Dienst eingeteilt. Nicht nur Frank Hattinger, ein verurteilter Mörder, sondern auch die Chefs der Russenmafia sowie ein ehrenwertes Mitglied der Hells Angels waren hier untergebracht.
»Na, dann werde ich mal loslegen. Nicht, dass Herr Hattinger noch Grund zur Klage hat, weil ich ihm zu spät aufschließe.« Maria schnappte sich das Funkgerät und ihren Rucksack, während Rolf Klein die Schleusentür entriegelte. Mittlerweile stand die Sonne höher, und der hässliche Bau erstrahlte im Morgenrot. Maria blickte auf ihre Armbanduhr: 5.40 Uhr. Sie musste sich beeilen. Der Geruch, der ihr im Gefangenenhaus entgegenschlug, war bei solchen Außentemperaturen im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend. Wo so viele Menschen auf einem Haufen lebten, entstanden Gerüche wie sonst nirgends. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, stieg sie die Treppe bis in den fünften Stock hinauf und schloss die Tür zum Stationsbüro II5 auf. Ein verglastes Büro mit uralten Holzschreibtischen und einem Computer. Der Bezug und die Armlehnen des Stuhls waren abgewetzt. Durch das vergitterte Bürofenster drang die Morgensonne, und Maria konnte den Staub in der Luft tanzen sehen. In einer Ecke befanden sich ein altes Waschbecken und davor noch ein kleiner Tisch, auf den Maria ihren Rucksack warf. Sie machte das Fenster weit auf und nahm einen tiefen Atemzug, dann schaltete sie die Notrufanlage ein, sodass ihre Durchsage in jeder Zelle dieser Station gehört werden konnte. Die Notrufanlage war für die Gefangenen die einzige Möglichkeit, mit einem Beamten Kontakt aufzunehmen, wenn sie unter Verschluss waren. Ebenso konnte der diensthabende Beamte vom Büro aus Kontakt mit einem oder allen Gefangenen über die Notrufanlage herstellen.
»Guten Morgen, es ist 5.45 Uhr, bitte aufstehen. Aufschluss zur Arbeit um 6.30 Uhr.« Sie ging zur Stationsgittertür, öffnete diese und begab sich zur Zelle des Hausarbeiters. Dragan Savic, ein freundlicher Zeitgenosse, war als Hausarbeiter einstimmig von allen Kollegen auf dieser Station eingesetzt worden. Ein Serbe, etwa einen Meter 90 groß und schlank. Er verbüßte eine Strafe von drei Jahren wegen Einbruchdiebstahl.
»Guten Morgen, Herr Savic.« Ein Blick in die kleine Zelle genügte für Maria, um zu erkennen, dass Savic schon wieder seit Stunden wach war. Alles war picobello aufgeräumt und sauber, das Bett gemacht, gelüftet, auf dem Boden war kein Krümel zu entdecken. Der Serbe stürmte mit großen Schritten aus der Zelle und rieb sich dabei mit beiden Händen über sein Gesicht.
»Oh Mann, Frau Saletti, der Knast macht mich fertig. Ich kann keine Nacht schlafen. Diese Wahnsinnshitze.« Gemeinsam liefen sie die fünf Etagen nach unten, dann über den Anstaltshof, um den Essenswagen aus der Gefängnisküche abzuholen. Savic war redselig und wusste immer was zu erzählen. Eine echte Frohnatur.
»Na, Frau Saletti, heute so schnell zu Fuß, haben Sie Angst, Sie verpassen den Bus?« Er lachte laut über seinen eigenen Witz.
»Nein, aber ich muss um 6.20 Uhr dem Hattinger aufschließen, damit er pünktlich um 6.30 Uhr an der Pforte steht. Auf geht’s, haide, haide, wir haben keine Zeit.«
»Ihr Serbisch ist heute wieder akzentfrei! Wie Sie jede Sprache doch so schnell lernen, echt der Hammer.« Savic versuchte, ihr ins Gesicht zu sehen und ihr ein Lächeln zu entlocken, aber Maria rannte geradezu über den Hof.
»Savic, hör auf, mir zu schmeicheln, du willst doch nur wieder für eine halbe Stunde in den Sportraum heute Morgen, oder? Ich kenne deine Tricks schon, vergiss es, schnapp dir den Wagen und los.«
»Oh, Frau Saletti, warum sind Sie so hart zu mir? Geben Sie Ihrem Herzen einen Stoß. Ich brauche Sport, sonst bin ich hier drin nicht ausgelastet.« Maria hatte mittlerweile die Küchentür aufgeschlossen, Savic trabte zum Essenswagen der Station II5. Auch andere Hausarbeiter trafen mit den Beamten ein und holten ihre Wägen ab. Einige Kollegen standen mit müden Gesichtern in der Küche und zählten die Marmeladengläser, die an diesem Tag an die Gefangenen verteilt werden sollten.
»Na, Maria, warst du nicht brav? Oder warum musst du schon wieder bei den Kaputten Dienst machen?« Oliver Schmidt, ein Kollege mittleren Alters, immer Solarium gebräunt und peinlich auf sein Äußeres bedacht, der ganz offensichtlich keine Lust mehr verspürte, sich täglich mit schwierigen Gefangenen herumzuärgern, sah Maria spöttisch an.
»Nein, ich wollte auf die II5, da ist die Aussicht schöner.« Maria lächelte eisig zurück. Auf diese blöden Sprüche hatte sie um diese Uhrzeit keine Lust.
Savic, der den schweren Küchenwagen über den Hof rollte, sah sie an:
»Ist schlecht drauf Ihr Kollege?«
»Ja, Frust gibt es nicht nur bei euch Gefangenen. Wundert mich aber nicht, wann erlebt man im Dienst mal was Positives? Der eine oder andere Gefangene ist hier zum dritten oder vierten Mal. Wie soll man da noch glauben, dass man mit engagierter Arbeit bei euch eine erfolgreiche Resozialisierung erreichen kann?« Savic senkte den Kopf, auch er war zum dritten Mal in Haft.
Es war kurz nach 6 Uhr, als Susanne Herzberg die Tageszeitung aufschlug und genüsslich in ihr Brötchen biss. Katie, ihre braune Labradorhündin, lag zu ihren Füßen und ruhte sich nach der anstrengenden Joggingrunde am Morgen aus. Susanne war mit sich und der Welt zufrieden. In den Jahren, die seit dem Tod ihrer Eltern vergangen waren, hatte sie es geschafft, ein neues Leben zu beginnen. Die ersten Monate nach dem Autounfall, bei dem beide Eltern das Leben verloren hatten, waren schwierig gewesen, aber die Zeit heilte wirklich langsam die Wunden. Die Liebe ihres Mannes hatte ihr damals geholfen, gegen ihre Ängste und Depressionen anzukämpfen. Ihr Bruder war ihr leider keine Hilfe gewesen. Der Tod der Eltern hatte ihn nicht sonderlich berührt. Ihr Blick wanderte durch das große Wohnzimmer und den herrlichen Garten. Der angrenzende Wald ließ das Grundstück noch größer erscheinen. Die Ruhe in dieser noblen Wohngegend in Darmstadt-Eberstadt war traumhaft. In ihren kühnsten Träumen hätte sie nicht daran geglaubt, jemals hier zu wohnen. Sie war erfolgreich. Viele Jahre der Mühe und Entbehrung waren nötig gewesen, aber durch ihren Fleiß und ihr Gespür, was die Kundinnen heute wollten, konnte sie sich auf dem Markt etablieren. Anfangs stand ihr Unternehmen zweimal auf der Kippe, jedoch seit etwa vier Jahren machte sie mit ihrem Kosmetik-Onlinehandel Millionenumsätze. Katie hob den Kopf und wedelte ein wenig mit dem Schwanz, als ihr Mann Dirk das Esszimmer betrat.
»Guten Morgen, meine Schöne«, sagte er und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Wie war deine Joggingrunde?« Er nahm sich im Vorbeigehen ein Brötchen aus dem Korb und setzte sich zu Susanne an den Frühstückstisch.
»Es war heute besonders schön. Die frische Luft am Morgen tut nach so einer Tropennacht gut. Erst ab 5 Uhr kühlt es ein wenig ab, und wenn man dann so gegen 6.30 Uhr durch den Wald läuft, ist es, als würde man eine erfrischende Dusche nehmen.« Sie strahlte ihn an.
»Ich kann dem morgendlichen Gerenne nichts abgewinnen, tut mir leid. Da gehe ich doch lieber Golf spielen.« Sein Blick war leer, er sah deprimiert aus.
»Da wir hier so nahe am Wald wohnen, wäre es eine Schande, wenn ich das mit Katie nicht nutzen würde.« Sie sah ihre Hündin an, die sich mittlerweile in ihren Hundekorb neben dem Kamin verzogen hatte. »Wie kommst du mit der Klage gegen JAJK Investment voran?« Maria fragte vorsichtig, da sie wusste, mit JAJK Investment traf sie bei ihrem Mann einen wunden Punkt. Er blickte sie verloren an und erwiderte:
»JAJK Investment ist wahrscheinlich nicht beizukommen. Ich habe heute Nacht noch mit Anlegern aus den USA geskypt, auch sie sind betrogen worden. Wir werden eine Sammelklage in den USA einreichen. Was wir jedoch damit erreichen werden, ist fraglich.«
Maria schlug mit ihrem großen Schlüsselbund kurz an die Zellentür 525. Eine freundliche Geste ihrerseits, damit der Gefangene, falls er nackt war oder auf der Toilette saß, vorgewarnt war. Gerade in dem Moment, als sie aufschließen wollte, hört sie über Funk den Alarm.
»Alarm auf Station II3, Alarm Station II3.« Blitzschnell zog Maria den Schlüssel aus dem Schloss und rannte die zwei Stockwerke hinunter zur Station II3. Sie und zwei andere Kollegen kamen zeitgleich dazu, als ein offensichtlich verwirrter Gefangener die Schöpfkelle um sich herumschleuderte und schrie:
»Kommt nur her, dann ziehe ich euch das Ding über den Schädel.« Er blickte wirr um sich und tanzte über den Stationsflur. Einige andere Insassen, die die Szene amüsiert beobachteten, lachten ihn aus. Maria zog ihre schnittfesten Sicherheitshandschuhe an, die sie immer am Gürtel trug, und machte sich bereit. Andere Kollegen, die zwischenzeitlich eingetroffen waren, gaben sich ein stilles Zeichen, welches bedeutete, dass sie von der anderen Seite der Station an den Gefangenen gelangen wollten. Der junge Mann tanzte wie vom Teufel besessen über den Flur und schlug dabei immer wieder mit der Kelle an die noch verschlossenen Zellentüren. Er hatte offensichtlich den großen Teebehälter vom Essenswagen gerissen, und einige Liter Tee überschwemmten den Flur. Maria sah sich im Geiste schon mit ihm kämpfen. Da kam ihr eine Idee. Sie nickte ihren Kollegen zu und ging dann völlig unbeeindruckt und entspannt den langen Flur auf den Gefangenen zu. Von einigen Diensten, die sie auf dieser Station hatte, kannte sie seinen Namen.
»Guten Morgen, Herr Meier, ich wusste gar nicht, dass Sie so gut tanzen können.« Marias Kollegen verstanden, dass sie damit den Gefangenen nur ablenken wollte. Die Beamten, die im Rücken zu ihm standen, schlichen langsam auf ihn zu, während Maria versuchte, ihn in ein Gespräch zu verwickeln.
»Ich heiße nicht Meier, Sie kennen mich doch. Mein Name ist Thomas Heckler.« Maria machte ein ungläubiges Gesicht und lächelte ihn an. Die Kollegen hinter ihm waren nur noch wenige Schritte entfernt.
»Thomas Heckler, wirklich? Also ich hätte schwören können …« Maria musste den Satz nicht vollenden. Zwei Kollegen ergriffen seine Arme und drehten sie auf den Rücken. Er ließ die Kelle fallen und schrie noch ein wenig herum, leistete aber keine größere Gegenwehr.
»Habt ihr ihn?« Maria zog die Handschuhe aus und befestigte sie wieder an ihrem Gürtel.
»Ja, danke, Maria. Gut gemacht. Er hat ganz sicher wieder seine vom Arzt verordneten Psychopharmaka einem Junkie überlassen. Es ist immer dasselbe. Er tut so, als hätte er die Medikamente eingenommen, hat sie aber unter der Zunge. Dann tauscht er die Pillen gegen ein paar Zigaretten.« Maria nickte ihren Kollegen kurz zu, nahm die Beine in die Hand und trabte zur Zelle 525. Stickige Luft schlug ihr entgegen, als sie die Zellentür öffnete.
»Guten Morgen.« Maria stand im Türrahmen und suchte Hattingers Blick. Er sah aus dem geschlossenen, vergitterten Fenster und schien sie zu ignorieren. Ein wirklich unangenehmer Zeitgenosse. Seine Feindseligkeit war geradezu greifbar.
»Es wird Zeit, dass Sie aufschließen«, knurrte er. »Ich muss um Punkt 6.30 Uhr die Anstalt verlassen, wenn ich den Bus erwischen will, und muss mich noch in der Kammer umziehen. Wie soll das gehen?« Hattinger wandte sich zu ihr um und sah sie mit zusammengekniffenen Augen an.
»Ganz einfach, mitkommen zur Kammer, umziehen und dann zur Pforte. So geht das.« Maria verzog keine Miene. Sie konnte die anmaßende Art dieses Typen nicht leiden. Hattinger war groß und sehr muskulös. Offensichtlich hatte er die letzten neun Jahre Knast in Schwalmstadt darauf verwendet, seinen Körper zu stählen. An seinen Manieren hatte er leider nicht gearbeitet. Eine ständige unterschwellige Aggression war ihm anzumerken, auf der Station ging er keiner Auseinandersetzung aus dem Weg. Provokante Sprüche und Pöbeleien den offenbar körperlich Unterlegenen gegenüber waren an der Tagesordnung. Kein anderer Häftling, soweit Maria es wusste, wollte mit ihm Kontakt haben. Nur Carlos Ribeiro, ein schmächtiger, blasser Knacki, der früher seine Drogensucht auf dem Straßenstrich in Frankfurt finanziert hatte, stand ab und zu mit ihm zusammen auf dem Stationsflur. Ribeiro saß wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz ein. Er war für die anderen Hardcoregefangenen das typische Opfer. Wahrscheinlich war er für Hattinger, der bekanntermaßen bisexuell war, ein gefügiger Sexpartner. Hattinger schritt stolz erhobenen Hauptes aus seiner Zelle, und Maria meinte, leise im Vorbeigehen das Wort »Weiber« vernommen zu haben. Sie verzog keine Miene, ließ sie sich doch von solchen Kommentaren schon lange nicht mehr provozieren. Sie verschloss seine Zellentür und ließ ihn vor sich herlaufen. Gemeinsam trabten sie durch das Treppenhaus, am Arztzimmer vorbei zur Kammer, und etwa drei Stahltüren und zwei Minuten später stand Hattinger bereits im Umkleideraum der Kleiderkammer und konnte sich umziehen. So ein Wichtigtuer. Sie holte den Ausgangsschein von der Zentrale, der es Hattinger ermöglichte, die Anstalt zu verlassen. Kurz darauf stand sie an der Kammer, um den Gefangenen an die Pforte zu bringen. Es war genau 6.30 Uhr, als sie dort eintrafen und Maria ihm sein Handy gab, welches ihr zuvor von einem Kammerbeamten ausgehändigt worden war.
»Herr Hattinger, Sie müssen pünktlich um 17 Uhr wieder in der Anstalt sein.« Sie stand vor ihm und blickte direkt in seine kalten, wässrig blauen Augen. Hattinger bedachte sie mit einem abwertenden Blick, nickte, blieb stoisch stehen und wartete, bis Maria ihm den Weg freigab. Der Summer der Türentriegelung ertönte, und mit einem süffisanten Lächeln trat er aus der Anstalt auf die Straße. Völlig entspannt und hoch erhobenen Hauptes schlenderte er in Richtung Bushaltestelle An der Schießmauer. Maria sah ihm nachdenklich hinterher. Da vernahm sie eine Stimme aus einer Ecke der Pforte.
»Wenn der heute um 17 Uhr nur eine Minute überfällig ist, schreibe ich ihn zur Fahndung aus.« Jan Gerber, der Sicherheitsdienstleiter der Anstalt, stand neben einem Schrank in der Pforte und folgte Hattinger ebenfalls mit seinem Blick.
»Guten Morgen, Jan, wusste gar nicht, dass du schon da bist.« Er antwortete nicht und war scheinbar in Gedanken versunken. Ihr Bereichsleiter hatte sie ein Jahr zuvor bei dem Angriff in der Zelle befreit, und Maria stellte fest, dass sie seit diesem Zwischenfall gerne seine Nähe suchte. Jan schaffte es durch seine Mut machende Art immer wieder, dass sie die oft an ihr nagenden Selbstzweifel dahin beförderte, wo sie hingehörten: in den Müll.
»Der hat etwas Eiskaltes. Dem traue ich nichts Gutes zu. Ich habe noch nie gehört, dass ein wegen Totschlags Verurteilter nach neun Jahren im geschlossenen Vollzug so mir nichts dir nichts gelockert wird, ohne soziale Kontakte draußen. Kannst du mir das erklären, Jan? Ich dachte, damit man gelockert wird, muss ein ordentliches soziales Umfeld vorliegen. Ehefrau, Eltern oder so. Hat der Hattinger überhaupt jemanden?« Maria versuchte, eine Reaktion in Jans Gesicht zu deuten.
»Ja, ist mir auch unbegreiflich, besonders wenn du den Tathergang liest, da läuft es dir kalt den Rücken runter. Hattinger hat eine Prostituierte vom Balkon eines Hochhauses geworfen. Die Frau war auf der Stelle tot.« Jan sah nachdenklich aus dem Fenster.
»Wer einmal diese Grenze überschritten hat, wird es vielleicht noch einmal tun?« Maria schauderte es bei dem Gedanken.
Senior: Glaubst du, er ist der Richtige?
Bursche: Ich nehme heute Kontakt zu ihm auf. Ich bin zuversichtlich, dass er den Auftrag übernimmt. 20.000 ist eine schöne Summe und die Aufgabe nicht sonderlich schwer.
Frank Hattinger zog den Reißverschluss seiner Sportjacke noch etwas höher. Er sah aus, als wäre er auf dem Weg ins Fitnessstudio, lediglich die Knastblässe passte nicht zu diesem Outfit. Er ging mit großen Schritten zur Bushaltestelle. Einige Passanten standen schon dort, starrten vor sich hin oder schauten auf ihr Smartphone. Als Hattinger sein Handy anschaltete, ertönten viele Signaltöne. Einige SMS und WhatsApp-Nachrichten waren eingegangen.
Darunter befand sich auch eine SMS seines Kumpels Thomas Enders mit den Worten 7 Uhr, DA Hauptbahnhof. Sehr gut. Hattinger lehnte sich zufrieden zurück und lachte in sich hinein. Der Bus fuhr nur ein kurzes Stück durch Dieburg, um dann nach wenigen Minuten auf die Schnellstraße B26 abzubiegen. Eine seltsame Nachricht befand sich noch in seinem Posteingang: Du bist clever und möchtest mit wenig Arbeit Geld verdienen? Warte auf neue Informationen. Die SMS kam von einem Schweizer Anschluss. Er rief zurück, konnte aber lediglich einen Anrufbeantworter erreichen. Er nannte seinen Namen und sagte nur, er habe Interesse. Als er alle Neuigkeiten in seinem Handy gecheckt hatte, sah er sich ein wenig um. Der Bus war bis auf den letzten Platz besetzt. Müde Gesichter auf dem Weg zur Arbeit. Für Schüler war es um diese Zeit noch zu früh. Etwa 30 Minuten später stoppte der Bus am Eingang des Hauptbahnhofs in Darmstadt. Hattinger sprang leichtfüßig aus dem Bus und schlenderte in die Bahnhofshalle im Jugendstil, die erst kürzlich renoviert worden war. Es herrschte geschäftiges Treiben, und die verschiedenen Stände mit Croissants und Kaffee waren gut besucht. Er stellte sich vor den Zeitungsladen und hielt Ausschau nach Thomas Enders. Die vielen Leute hier und die Hektik, die alle ausstrahlten, stressten ihn. Vieles war nach neun Jahren anders. Das Tempo der Passanten war eindeutig schneller geworden. Oder kam es ihm nur so vor, als ob alle rannten? Einige quälende Minuten vergingen. Eine innere Stimme sagte ihm, dass es keineswegs sicher war, dass sein Kumpel kam. Wo blieb dieser Idiot nur? Er atmete auf, als er ihn in Richtung Bahngleise entdeckte. Mein Gott, war der fett geworden. Sie hatten fünf Jahre in der JVA Schwalmstadt zusammen ihre Haft abgesessen. Mit ihm auf Doppelzelle gab es nie Probleme. Er konnte die Schnauze halten, das hatte er damals schon bewiesen. Enders trug verwaschene Jeans, ein schwarzes T-Shirt und ein schwarzes Basecap mit der Aufschrift »Jungle Boy«. Vor Jahren war er eine beeindruckende Erscheinung gewesen. Bodybuilding machte er offensichtlich nicht mehr.
»Guten Morgen, du Träne, ich dachte schon, du kommst nicht.« Hattinger sah Thomas grimmig an und streckte ihm die Ghettofaust entgegen. Thomas zog seine rechte Augenbraue etwas in die Höhe und sah Frank entspannt in die Augen.
»Guten Morgen, Alter. Bist noch ein bisschen blass, geh mal unter den Toaster, so glaubt noch einer, du kommst aus dem Knast«, konterte er und lachte.
»Du musst pünktlich sein, sonst gibt es gleich Theater.« Hattinger riss Enders das Basecap vom Kopf. »Und lass dieses hässliche Teil von deinem Schädel. Damit siehst du ja aus wie ein Idiot.«
Die Miene von Enders verfinsterte sich. »Mann, ich glaube, du gehst mir schon jetzt auf die Eier. Wenn ich nicht so dringend das Geld bräuchte, könntest du mich mal …«, er sprach nicht aus, was er dachte.
»20 Euronen für heute und für jeden anderen Schultag, okay? So hatten wir es abgemacht.« Hattinger griff in seine Hosentasche und holte 20 Euro heraus. Er hielt sie Enders vor die Nase, als dieser sie greifen wollte, zog er sie blitzschnell zurück.
»Lass die Scheiße und gib die Kohle her.« Enders verlor langsam die Nerven. Hattinger gab ihm zögerlich das Geld, und Enders schüttelte nur den Kopf.
»Okay, wenn die Schule heute fertig ist, schicke ich dir ’ne SMS!« Enders drehte sich um und ging langsam in Richtung Innenstadt.
»Tommy, verarsch mich net«, rief Hattinger hinter ihm her. Diese Worte gingen fast im allgemeinen Lärm des Bahnhofs unter. Hattinger zog die Stirn in Falten.
»Würd’ ich niemals tun, bis Mittwoch dann, gleiche Zeit hier. Ich kann ja nicht jeden Tag hierher pilgern. Wenn die irgendwas Besonderes in der Schule wollen, sage ich dir sofort Bescheid. Vergiss am Mittwoch die Kohle nicht«, rief Enders. Kurz darauf war er in den Menschenmassen Richtung City verschwunden.
Ein wohliges Gefühl durchströmte Frank Hattinger. Wie lange hatte er darauf gewartet. Neun Jahre und drei Monate musste er das tun, was andere von ihm verlangten. Nun endlich konnte er einige wenige Stunden genießen. Auf Enders war Verlass, er würde ihn nicht hängen lassen.
Er entdeckte den Fahrplan, der nur wenige Schritte entfernt von ihm an der Wand hing, um die nächste Verbindung nach Frankfurt herauszusuchen. Alle 30 Minuten fuhr eine Bahn nach Frankfurt. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er noch etwas Zeit hatte. Der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee und warmen Croissants wehte ihm um die Nase. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen, und er hielt an einem Stand kurz an, kaufte sich ein Schokocroissant und einen Espresso. Wie hatte er das vermisst. Kurz darauf saß er im Zug und schaute aus dem Fenster, die Landschaft glitt ruhig an ihm vorbei, da erhielt er die nächste SMS.
Es war wieder die Telefonnummer aus der Schweiz: Außergewöhnliche Arbeit erbringt außergewöhnlich hohen Lohn!!! Kontakt über Darknet! Er stutzte. Wie war jemand an seine Telefonnummer gekommen? Er konnte sich keinen Reim darauf machen, aber er antwortete: Bin interessiert!! In seinem Hirn ratterte es, wer konnte ihm diese SMS geschickt haben? Und was sollte er tun? Kurz darauf erhielt er den Code für das Darknet.
In Frankfurt angekommen, staunte er nicht schlecht, der Bahnhof sah anders aus als in seiner Erinnerung. Geschäfte und Schnellrestaurants belebten die Bahnhofshalle, aber leider war auch die Polizei überall präsent. Sofort zog er sich das Basecap von Thomas Enders tiefer ins Gesicht. Die freien Stunden, die er sich dank der Mithilfe seines Kumpels verschafft hatte, würde er für die wichtigen Dinge im Leben nutzen, da war er sich sicher.
Vor einem Jahr hatte sich Marias Leben schlagartig verändert. Immer wieder tauchten vor ihrem inneren Auge diese Bilder auf, wie sie in der Zelle die Rasierklinge an ihrem Hals spürte. Der Überfall hatte Spuren hinterlassen. Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie so ihre düsteren Gedanken vertreiben. Zellenkontrollen standen an, und so zog sie ihre Handschuhe an und klopfte an die Zelle II523 und schloss sie auf.
»Guten Morgen!«, rief Maria laut in Anbetracht der Tatsache, dass der Insasse noch in seinem Bett lag und schlief.
Walter Schneider richtete sich auf und blinzelte Maria müde an. Mürrisch fragte er: »Was gibt es denn?« Die Gardine war halb vor das Fenster gezogen, und ein unbeschreiblicher Gestank schlug Maria entgegen. Mit einem offenen und einem zugekniffenen Auge versuchte der Gefangene Schneider, in der Wirklichkeit anzukommen. Er spiegelte das Klischee eines Knackis wider. Seit Tagen unrasiert, die Haare wie auch der gesamte Körper hatten wer weiß wann das letzte Mal Wasser gesehen, und auch das T-Shirt, welches unter der Bettdecke hervorlugte, stand vor Dreck.
»Bitte stehen Sie auf, ich komme in zehn Minuten, dann möchte ich Ihre Zelle kontrollieren.« Maria war schon im Begriff zu gehen, da bekam sie die Antwort: »Sie können mir mal ’nen Kaffee bringen, dann klappt das auch.«
Mit einem leisen Grunzen drehte sich Schneider noch einmal entspannt in seinem Bett um und zog sich die Bettdecke über die Schulter. Maria kannte derlei Allüren schon von anderen Gefangenen. Leise flüsterte sie zuckersüß: »Sie glauben wohl, ich bin der Roomservice? Sie verwechseln das hier mit einem Hotel?« Dann erhob sie ihre Stimme: »Schauen Sie mal aus dem Fenster.«
Schneider setzte sich abrupt in seinem Bett auf und sah sie verblüfft an.
»Ja, sehen Sie mal raus.«
Schneider setzte sich blitzartig auf und tat, wie ihm befohlen.
Maria lächelte süffisant. »Na, was sehen Sie da? Gitter, oder? Sie träumen nicht, Sie sind im Knast. Ich bringe Ihnen auch keinen Kaffee, sondern ich bringe Ihnen mal Manieren bei. Aufstehen, und in zehn Minuten sind Sie angezogen. Alles klar? Ach, und ganz wichtig, lüften Sie mal Ihren Raubtierkäfig!« Maria hielt die Luft an, damit sie nicht noch mehr Duft von Herrn Schneider einatmen musste. Dann trat sie mit zwei großen Schritten an das Fenster und öffnete es weit. Sie verließ die Zelle und verschloss die Tür lauter, als es notwendig gewesen wäre.
Zellen zu kontrollieren, diese Arbeit widerstrebte ihr zutiefst. Dabei musste sie Dinge in die Hand nehmen, die dermaßen schmutzig und versifft waren, dass sie manchmal direkt Brechreiz verspürte. Ab und zu hatte sie noch ein mulmiges Gefühl, wenn sie eine Zelle betrat. Sie spürte den Schweiß auf ihren Handflächen und merkte, wie ihr Herz zu rasen begann. Durch das Mantra einatmen und ausatmen, einatmen und ausatmen beruhigte sie sich selbst ein wenig. Auf keinen Fall durfte ein Kollege oder gar ein Gefangener bemerken, wie es um sie stand.
Die wenigen Quadratmeter waren für einige Gefangene der Lebensraum für viele Jahre. Sie wusste, wie wichtig Zellenkontrollen für alle waren. Nur so konnte man sicherstellen, dass keine gefährlichen Gegenstände innerhalb der Anstalt kursierten. Der eine oder andere war sehr erfindungsreich, wenn es darum ging, Gegenständige des täglichen Gebrauchs in Waffen umzufunktionieren. Sie hatte schon eine Gabel gefunden, die rundgebogen und die Zacken so nach vorne gebogen waren, dass sie wie ein Schlagring eingesetzt werden konnte. Auch Glasscherben an einem Kleiderbügel, mithilfe von zerrissenen Baumwolltüchern fixiert, konnten zur lebensgefährlichen Waffe werden. Eine mit einer Rasierklinge versehene Zahnbürste wäre ihr selbst fast zum Verhängnis geworden. Es war wichtig, diese Dinge zu finden und aus dem Verkehr zu ziehen. Leider kannten nur die wenigsten Insassen Sauberkeit und Hygiene. Einige fühlten sich offensichtlich in ihrem eigenen Dreck wohl.
Auf ihrer To-do-Liste für den heutigen Tag stand noch die Zelle II510, die Zelle von Karl-Heinz Kurz, einer armen Socke von 60 Jahren, der wegen Fahren ohne Führerschein einsaß. Da sie mit seiner Zelle sicherlich schnell fertig sein würde – er gehörte zu den arbeitenden Insassen – beschloss sie, die Durchsuchung seiner Zelle dazwischenzuschieben. Denn Schneider würde noch einige Minuten brauchen, außerdem hoffte sie, dass in der Zwischenzeit der Gestank aus der Zelle etwas abgezogen war.
Sie schloss die Zelle auf. Karl Heinz Kurz war offenbar ein Mann, der wusste, wie man Ordnung hielt. An der Wand über seinem Bett hing ein Foto von einem kleinen Mädchen, ansonsten wirkte die Zelle geradezu spartanisch. Maria begann links oben in der Zelle, dort befand sich ein kleines Wandregal, auf dem zwei Bücher standen. In den Büchern, die sie durchblätterte, fand sie nichts. Rechts neben dem Regal war das Waschbecken mit einem Spiegel darüber. Sie nahm den Spiegel ab, aber auch hier war auf der Rückseite des Spiegels nichts festgeklebt. So ging sie im Uhrzeigersinn weiter vor. Sie hatte ihre schnittfesten Handschuhe an und tastete vorsichtig in den Spind hinein. Immer schwang ein wenig die Angst mit, in eine Spritze zu greifen. Viele Drogensüchtige tauschten innerhalb einer JVA die wenigen Spritzen miteinander, sodass man davon ausgehen konnte, dass mehr oder weniger alle, die Heroin drückten, an HIV oder Hepatitis erkrankt waren. Nachdem sie auch im Schrank und unter dem Bett nichts fand, nahm sie sich noch die Sportschuhe vor, die ordentlich unter dem Bett standen. Als sie die Sohle innen befühlte, bemerkte sie, dass diese nicht voll verklebt war. Sie zog sie vorsichtig heraus und fand ein kleines Tütchen mit einem bräunlichen Pulver darin. Wahrscheinlich Heroin. Im zweiten Schuh fand sie nichts. Sie steckte das Tütchen in ihre Hosentasche. Danach untersuchte sie noch alle weiteren Hohlräume der Zelle, und nachdem sie unter großer Kraftanstrengung auch den Bezug der Matratze abgezogen hatte, gab sie einen Funkspruch an Jan Gerber durch. »Burg 46 für die 48«, ein Signalton ertönte. »Burg 46 hört«, gab Gerber als Antwort.
»Bitte mal zur Zelle II 510 kommen.«
»Burg 46 hat verstanden, bin sofort da.« Jan Gerber brauchte für die zwei Stockwerke, die zwischen seinem Büro und der Station II5 lagen, keine Minute. Mit großen Schritten kam er den Stationsflur entlang. Ihr Vorgesetzter war ein interessanter Mann, groß, blond, gutaussehend, mit einem gewinnenden Lächeln. Man nannte ihn in der gesamten Anstalt Miami, von der US-Fernsehserie Miami Vice, in der in jeder Folge dieser Serie Drogen eine Rolle spielten. Und da Jan Gerber wie ein Terrier in der Anstalt Drogen suchte, hatte er schnell den Spitznamen weg. Maria fühlte sich in seiner Gegenwart wohl, er sah sie als gleichwertige Kollegin an. Auch fragte er sie oft nach ihrer Meinung, ein Umstand, der in einer reinen Männerhierarchie nicht selbstverständlich war. Immer wieder musste Maria bei anderen Kollegen um Anerkennung kämpfen.
»Na, Maria, was gibt es?« Jan Gerber kam nun in die Zelle und sah sie fragend an.
»Ich habe hier dieses Tütchen in den Turnschuhen gefunden«, Maria übergab ihren Fund an Gerber, der ihn kurz gegen das Licht hielt.
»Könnte Heroin sein. Ich mache in meinem Büro gleich einen Schnelltest. Wer ist in der Zelle untergebracht?«
»Karl-Heinz Kurz, Fahren ohne Führerschein«, antwortete Maria prompt.
»Ist er schon einmal wegen Drogen aufgefallen?« Gerber sah Maria fragend an.
»Nicht, dass ich wüsste, aber er ist in letzter Zeit sehr nervös, ich habe ihn die letzten Tage beim Einrücken von der Arbeit reden hören. Er spricht ohne Punkt und Komma. Früher war er eher zurückhaltend, scheinbar hat er Stress.« Maria schnappte sich die Schuhe, und gemeinsam verließen sie die Zelle.
»Na, dann schreibe bitte den Bericht. Ich lasse den Kurz von der Arbeit holen. Wir treffen uns in meinem Büro, mal sehen, was er uns zu erzählen hat.« Mit diesen Worten machte Jan Gerber auf dem Absatz kehrt und ging über den Stationsflur in Richtung Büro. Maria verschloss noch die Zellentür und folgte ihm. An der Stationstür angekommen sagte sie: »Das ist ’ne arme Socke, ich denke, den haben sie hier unter Druck gesetzt.« Maria blickte nachdenklich auf den Turnschuh.
»Da kannst du recht haben, aber ich will wissen, wer ihn unter Druck setzt.« Gerber steckte das Herointütchen in die Brusttasche seines Hemdes und lief die Treppe runter zu seinem Büro.
Eine Viertelstunde später saß Kurz im Büro von Jan Gerber. Der Sicherheitsdienstleiter betrachtete ihn genauer. Ein kleines Männlein, etwa ein Meter 60 groß und schmächtig, seine dünnen Ärmchen sahen aus, als würden sie bei der geringsten Anstrengung zerbrechen. Auf seinem Vollstreckungsblatt, eine Din A4 Seite, auf dem der Grund der Inhaftierung und eventuelle Vorstrafen vermerkt waren, stand nur die derzeitige Haftstrafe: wiederholtes Fahren ohne Führerschein unter Alkoholeinfluss, was ihm zwei Jahre ohne Bewährung einbrachte. Der Gesichtsausdruck von Kurz sprach Bände, er ahnte, weshalb er im Büro des Sicherheitsdienstleiters saß. Sein Blick war nach unten gerichtet, und er knetete nervös seine Finger.
»Also, Herr Kurz«, begann Gerber, seine Stimme war freundlich. »Frau Saletti hat dieses Tütchen mit Heroin in einem Ihrer Sportschuhe gefunden.« Jan hielt die Drogen direkt vor seine Nase. Kurz blickte auf, seine Augen flatterten hektisch hin und her.
»Das kann nicht sein«, sagte er, »ich nehme keine Drogen.« Die letzten Worte waren kaum zu verstehen. Gerber hob den Sportschuh hoch und fing gerade an, die Sohle herauszunehmen, als Kurz rief: »Das ist nicht mein Schuh!«
Maria und Jan blickten sich an.
»Aha, und wessen Schuh ist das dann, in Ihrer Zelle?«, fragte Maria.
»Weiß ich nicht, aber der sieht auch viel zu groß aus für mich.« Kurz hatte rote Flecken am Hals und schluckte nervös.
»Wenn das nicht Ihr Schuh ist, warum ist er dann in Ihrer Zelle?« Gerber sah Kurz durchdringend an.
»Ich kenne diesen Schuh gar nicht. Ich habe Schuhgröße 40 und der ist mindestens 43, das sieht man doch.« Kurz wurde langsam sicherer, seine Stimme wurde fester.
»Nun gut, Herr Kurz«, fuhr Gerber fort, »wir nehmen das mal so zu Protokoll.«
»Aber wo sind dann Ihre Sportschuhe? Ich habe nur dieses eine Paar in Ihrer Zelle gefunden.« Maria stand direkt vor Kurz. Der kleine Mann musste seinen Kopf in den Nacken legen, um Maria in die Augen zu blicken.
»Ich habe keine Sportschuhe, oder sehe ich aus, als ob ich hier unten in die Muckibude gehe?« Kurz schob den kurzen Ärmel der Arbeitsjacke nach oben, damit man seine Spatzenärmchen in voller Pracht sehen konnte. Ein erleichtertes Lächeln huschte über sein Gesicht. Er war sich sicher, man konnte ihm nichts nachweisen.
Eine Wespe flog gerade geräuschvoll von innen an die Fensterscheibe des Büros, sie hatte das offene Fenster nur um einige Zentimeter verfehlt. Karl-Heinz Kurz lehnte sich in seinem Stuhl zurück und beobachtete, wie Maria ein Glas aus dem Regal nahm und es über das brummende Tier stülpte.
»Sie dachte, sie wäre frei, dabei habe ich sie in der Hand«, sagte Maria und schob ein Blatt Papier unter das Glas. Die Wespe war gefangen.
»Also gut«, sagte Gerber, »dann bringt Sie ein Kollege mal wieder zu Ihrem Arbeitsplatz.«
Als Kurz das Büro verlassen hatte, sahen Jan und Maria enttäuscht aus dem Fenster.
»Für wen bunkert der das Dope, das ist hier die eigentliche Frage.« Gerber kratzte sich hinter dem rechten Ohr.