Der Patient - Nicola Layne Anderson - E-Book
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Der Patient E-Book

Nicola Layne Anderson

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Beschreibung

Eine Mordserie in der Psychiatrie – auf welcher Seite lauert die wahre Gefahr?
Der fesselnde Psychothriller mit Gänsehaut-Garantie

Als Detective Parker sich einer grausamen Mordserie in der forensischen Psychiatrie annimmt, wird schnell klar, dass in diesem Fall nichts so ist, wie es auf den ersten Blick scheint und er folgt der Geschichte des Insassen Christian Evans in eine tödliche Verschwörung. Evans wurde wegen des Verdachts auf versuchten Mord an seiner Partnerin eingewiesen, beteuert jedoch vehement seine Unschuld. Als ein Patient nach dem anderen stirbt, muss auch er um sein Leben fürchten. Ohne zu wissen, wem er vertrauen kann, beginnt Evans nach dem Mörder zu suchen und wird dabei selbst zur Zielscheibe. Je tiefer Parker und Evans in die Geheimnisse der Klinik eintauchen, desto klarer wird, dass die Frage nach der Schuld weitaus komplexer ist, als erwartet und dass die Morde in der Psychiatrie mit Detective Parkers eigener Vergangenheit zusammenhängen …

 

Erste Leser:innenstimmen
„Ein packender Thriller mit überraschenden Wendungen!“
„Mysteriöse Todesfälle in der forensischen Psychiatrie reißen einfach mit!“
„Eine hochspannende Handlung, die mich mit ihrer detaillierten Darstellung der fesselnden Ermittlung bis zum Schluss in Atem gehalten hat!“
„Die perfekte Mischung aus Spannung, Action und tiefgründigen Charakterstudien macht den Psychothriller zu einem unvergesslichen Leseerlebnis.“

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Seitenzahl: 444

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Über dieses E-Book

Als Detective Parker sich einer grausamen Mordserie in der forensischen Psychiatrie annimmt, wird schnell klar, dass in diesem Fall nichts so ist, wie es auf den ersten Blick scheint und er folgt der Geschichte des Insassen Christian Evans in eine tödliche Verschwörung. Evans wurde wegen des Verdachts auf versuchten Mord an seiner Partnerin eingewiesen, beteuert jedoch vehement seine Unschuld. Als ein Patient nach dem anderen stirbt, muss auch er um sein Leben fürchten. Ohne zu wissen, wem er vertrauen kann, beginnt Evans nach dem Mörder zu suchen und wird dabei selbst zur Zielscheibe. Je tiefer Parker und Evans in die Geheimnisse der Klinik eintauchen, desto klarer wird, dass die Frage nach der Schuld weitaus komplexer ist, als erwartet und dass die Morde in der Psychiatrie mit Detective Parkers eigener Vergangenheit zusammenhängen …

Impressum

Erstausgabe Juni 2024

Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98778-486-6 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98778-555-9

Covergestaltung: Nadine Most unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Sergio Foto, © New Africa, © sdecoret Lektorat: Sandra Effert

E-Book-Version 14.08.2024, 13:30:20.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Der Patient

Prolog

20. Dezember, London.

Seit zwanzig Minuten war kein anderes Fahrzeug in Sicht. Nur sie fuhren allein auf der Straße, umhüllt vom anhaltenden Regen, der seit Stunden auf London herniederging. Der Streifenwagen bahnte sich seinen Weg; seine Scheinwerfer durchbrachen die Dunkelheit. Es knisterte aus dem Funkgerät. Constable Carter schnaubte und drehte den Ton des Radios leiser.

„Zentrale an alle verfügbaren Einheiten in der Umgebung – es gibt einen Brand in der Dreadmoor Forensic Psychiatry. Feuerwehr und Rettungskräfte sind unterwegs, wir benötigen Einheiten zur Unterstützung bei der Evakuierung und Sicherung des Geländes.“ Carter kannte die Klinik nur vom Hören. Den Blicken seiner Kollegin Caldenbeath nach zu urteilen, ging es ihr ähnlich. Mit einem Griff drehte sie das Lenkrad und der Wagen änderte abrupt die Richtung.

„Zentrale, wir bestätigen und sind auf dem Weg zur Dreadmoor Klinik.“ Er aktivierte das Blaulicht. Hinter der Stadtgrenze fügte sich ein zweiter Streifenwagen in die Formation ein, ein dritter kam rasch hinzu. Das Tor zum Gelände, das eigentlich nachts verschlossen und bewacht sein sollte, stand weit offen. In der Kabine des Pförtnerhäuschens saß ein Mann, der fieberhaft in sein Telefon sprach und dabei wild gestikulierte. Constable Caldenbeath verlangsamte den Wagen und lenkte ihn mit geübter Hand in die Einfahrt. Der Pförtner, aufgeschreckt vom Motorenlärm und einem kurzen Aufblitzen der Lichthupe, blickte auf. Er deutete nur in Richtung der Auffahrt, während er weiter in das Telefon sprach. Sie fuhren so nahe wie möglich an den Haupteingang heran und betrachteten das Chaos. Patienten wie Pfleger hatten die Räumlichkeiten hinter sich gelassen. Die Ergebnisse der Räumung hatte Carter draußen begutachten können – aufgelöstes Personal, das Hin und Her rannte und sich Befehle zurief, ohne Überblick wer noch drinnen war; Patienten, die in Schlafanzüge gekleidet den winterlichen Temperaturen und der Nässe ausgesetzt wurden und zitterten. Er griff sich einen der Pfleger, fragte ihn was los sei.

„Es sind noch Leute drinnen, wir haben nicht alle aus dem Nordflügel evakuiert!“, rief der Mann über den Lärm hinweg und zeigte in eine Richtung.

Die Sirenen hallten durch die verwaisten Flure des Nordflügels. Jedes aufkommende Schrillen zerrte an Carters Konzentration. Seine Kollegin ging direkt hinter ihm. Die Zellentüren standen weit offen. Bisher war jeder Raum verlassen gewesen. Er ließ seinen Blick durch die Zimmer schweifen und zog sich eilig wieder zurück. Es war eines der Dinge, die ihm in seiner Ausbildung eingebläut wurden: Besser einmal zu viel gucken als einmal zu wenig. Er bog in den nächsten Flur ein und hielt inne. Nur eine Sekunde lang. Das Atmen wurde schwer; Rauch waberte ihnen entgegen. Carter hielt sich einen Ärmel vor den Mund. Er blickte über die Schulter, sah nach seiner Kollegin. Sie hustete stark, als sie an einer Türklinke rüttelte. Die Tür war verschlossen. Schwarzer Rauch kroch unter ihr hervor, vergiftete die Luft auf ihrem Weg. Carter legte seine Hand an die Tür, die wie eine Heizung strahlte. Es knisterte und grollte dahinter. Frenetisch sprach seine Kollegin etwas in das Funkgerät. Ein Knall ertönte, durchdringender als der Alarm oder das aufbrausende Grollen des Feuers. Hatte jemand einen Schuss abgegeben? Carter sah sich um. „Schütze im Gebäude, Korridor B, zweiter Stock“, raunte er in das an der Brust befestigte Funkgerät. „Verstanden. Verstärkung ist unterwegs“, rauschte es zur Antwort.

Durch den Rauch hindurch sah er eine offene Tür, aus der der Schuss gekommen sein musste. Am Türrahmen hielt er kurz inne, die Waffe vor sich. Ein Patient in Einheitskleidung richtete eine Pistole auf einen Mann, der beschwichtigend die Hände vor sich hielt. Carter musterte die Umgebung und starrte in die leeren Augen der Toten am Boden.

„Polizei! Waffe fallen lassen!“, schrie er.

Der Patient reagierte nicht, hielt die Waffe unbeirrt im Anschlag.

„Nicht schießen! Er braucht dringend Hilfe!“, schrie sein Gegenüber.

„Runter mit der Waffe!“, brüllte Carter.

Der Patient wandte sich schlagartig um. Carter hörte den Knall im selben Moment, wie er den Einschlag der Kugel spürte. Seine Waffe glitt ihm aus der Hand. Sein Hemd wurde nass und er ging zu Boden, als ein zweiter Schuss durch den Raum schallte.

Kapitel 1

Der diensthabende Chief Inspector Clifford Parker zündete sich eine Zigarette an und beobachtete die Szene vor ihm mit einem grüblerischen Blick. Es war weit nach Mitternacht. Die Fahrzeuge, die kreuz und quer auf dem Gelände verteilt standen, waren ein Zusammenspiel aus Streifenwagen, Feuerwehr- und Notdienstfahrzeugen.

Die Nachzügler unter ihnen hatten keinen freien Parkplatz mehr gefunden. Sie hatten die Fahrzeuge im nassen Gras abgestellt und tiefe Furchen hinterlassen. Ein einzelner Einsatzwagen des Metropolitan Police Service stand vor dem Hauptgebäude. Niemand saß darin. Das Blaulicht warf tanzende Schatten auf die Mauern der forensischen Psychiatrie. Ein weißer Van löste sich langsam rückwärts aus der Reihe. Die Scheinwerfer waren falsch eingestellt, zu hoch, und blendeten jeden, der in ihre Richtung sah. Er kniff die Augen zusammen. Die Vans waren von den Mitarbeitern zum Abtransport der Patient genutzt worden.

Sie waren die Arbeitstiere unter den Fahrzeugen, ständig in Bewegung.

In einer Reihe aufgestellt, abseits des hektischen Treibens, standen die Leichenwagen. Sie warteten geduldig, bereit, diejenigen fortzubringen, die weniger Glück gehabt hatten.

Parker ließ den Rauch langsam aus seinen Lungen entweichen. Der Qualm verlor sich in Wind und Regen. Eigentlich wäre er heute nicht hier gewesen, aber das Schicksal hatte es anders gewollt. Die Klinik, eingebettet in die sanften Hügel des westlichen Londoner Umlands, lag am Rande seines Zuständigkeitsbereiches und der eigentlich zuständige Kollege war aus gesundheitlichen Gründen ausgefallen. Die Anwohner standen der Einrichtung skeptisch gegenüber, bislang waren die Sorgen jedoch unbegründet gewesen. Nun blickten Dutzende Schaulustige auf das Gelände, standen am Rand. Aufgeweckt durch die Sirenen und dem Sicherheitsaufgebot brauchten sie nicht lang, bis sie die Quelle der Unruhe identifiziert hatten. Sie hofften darauf, etwas Spannendes zu beobachten, während jede im Umkreis verfügbare Person in Uniform auf dem Gelände arbeitete.

Zwei Männer der Feuerwehreinsatztruppe sprinteten an Parker vorbei. Er sah ihnen einen Moment nach. Dann betrachtete Clifford Parker die glühende Spitze der Zigarette, ließ seine Gedanken darin versinken, bevor er sie mit einer Bewegung in den Regen schnippte. Das Leuchten erlosch sofort.

Mit entschlossenen Schritten betrat Detective Chief Inspector Parker den Haupteingang der forensischen Anstalt. Ein wachhabender Polizist hielt ihn am Eingang auf – ein übliches Prozedere, das er mit Gelassenheit über sich ergehen ließ. Er präsentierte seinen Dienstausweis, hielt ihn hoch genug, dass das Licht der Deckenlampen darauf fiel. Der Regen perlte an seinem Mantel hinunter und sammelte sich in Form einer Pfütze auf dem Boden. Mit einem Nicken ging er an dem Kollegen vorbei und schnappte sich eine Mappe, die er zur sicheren und vor allem trockenen Aufbewahrung hinterlegt hatte.

In den sterilen Fluren herrschte Hektik. Menschen hasteten vorbei. Er beachtete sie nicht, sondern bahnte sich zielstrebig einen Weg durch die langen Gänge, auf ein provisorisch eingerichtetes Verhörzimmer zu. Ursprünglich war es ein Besprechungsraum gewesen, aber die Umstände hatten eine schnelle Umfunktionierung erforderlich gemacht.

Vor der Tür des Raumes wartete eine Polizistin. Sie sah ihn von Weitem und spannte sich an.

„War der Sanitäter schon bei ihm?“, fragte Parker bestimmt, sobald er in Hörweite war.

„Sie haben ihn notdürftig versorgt. Er ist vernehmungsfähig. Der Arzt sollte bald hier sein.“

„Notdürftig ist für den Moment ausreichend. Ist er allein in dem Raum?“

„Zwei Kollegen sind bei ihm.“

Sein Blick fiel auf ihr Namensschild, das sie als Ms. Caldenbeath identifizierte. Sie war Teil der ersten Einsatzgruppe gewesen, die auf den Notruf reagiert hatte, als das volle Ausmaß der Situation noch nicht bekannt gewesen war.

Für das durchschnittliche Alter des Reviers war sie jung. Ihr blondes Haar hatte sie nach hinten gebunden. Ihre Uniform saß akkurat. Sie wirkte überanstrengt. Unter ihren Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab.

„Gönnen Sie sich eine Pause“, sagte er mit der Fürsorge eines besorgten Vaters. „Sie sehen müde aus. Wir kommen auch ohne Türsteherin zurecht. Gehen Sie einen Kaffee trinken.“

„Nicht nötig“, entgegnete sie, kreuzte ihre Arme vor der Brust und zwang sich zu einem Lächeln.

„Wie Sie meinen.“ Parker zuckte mit den Schultern. Die Nachtschicht hatte bereits vor Stunden begonnen. Ein Ende war bisher nicht absehbar. Ihr musste das ebenso klar sein wie ihm. Eine Pause, und sei sie noch so kurz, konnte in solchen Situationen Gold wert sein. Ein Kaffee konnte helfen, durchzuhalten und einen Unterschied machen, wenn es darauf ankam. Aber er würde ihr das Angebot nicht noch einmal unterbreiten.

Parker ging an der jungen Polizistin vorbei und klopfte an die Holztür. Sie öffnete sich nach wenigen Sekunden, als ein Polizist sie aufzog.

Ein Gemisch aus unangenehmen Gerüchen traf Parker und ließ ihn die Nase rümpfen. Ein kurzer Blick auf den Mann, der da auf der anderen Seite des Tisches saß, machte ihm die Herkunft nur allzu klar.

Der Verdächtige war laut Akte dreiunddreißig Jahre alt. Das dichte dunkle Haar klebte blutverkrustet an seiner Stirn, sein Gesicht und die graue Joggingkleidung waren mit Blutspritzern übersät. Die Luft im Raum war abgestanden und getränkt mit einem schweren Geruch von Eisen, der sich wie ein unsichtbarer Schleier durch den Raum zog.

Auf einem wackeligen Stuhl gegenüber dem Inhaftierten nahm Parker Platz. Er beugte sich vor, faltete seine durchnässten Notizen zu einem kleinen Bündel und klemmte sie unter ein Stuhlbein. Als er sein Gewicht verlagerte, um zu prüfen, ob seine improvisierte Lösung Wirkung zeigte, murmelte er: „Schon besser, wenn auch nicht perfekt.“

Sein Gegenüber würdigte ihn keines Blickes. Seine Augen waren starr auf einen Punkt auf der metallenen Tischplatte zwischen ihnen gerichtet, als würde er irgendetwas dort suchen. Bei genauerem Hinsehen bemerkte Parker, dass der Mann ausgelaugt wirkte. Das schmale Gesicht des Mannes war von einem Drei-Tage-Bart umrahmt. Die Nacht hatte deutliche Spuren hinterlassen. Unter dem rechten Auge erinnerte eine offene Wunde an einen kraftvollen Schlag. Seine linke Schulter hing schlaff herab.

Parker tat es ihm gleich und beachtete ihn nicht, stattdessen konzentrierte er sich auf die dünne Mappe, die als provisorische Akte vor ihm lag.

Er blätterte durch die Seiten. Beiläufig nahm er wahr, wie der Mann ihm gegenüber seinen Bewegungen folgte.

„Ich hätte gern ein Heißgetränk“, sagte Parker und schlug unvermittelt mit der Hand auf den Tisch. Sein Ehering traf die Metallplatte mit einem klingenden Ton. Nach Jahrzehnten Ehe störten ihn die Kratzer und Kerben im Gold nicht mehr.

„Wären sie so freundlich? Bringen Sie sich und dem Kollegen auch gern etwas mit“, sagte er dem großgewachsenen Polizisten in der Tür. „Und Sie, Mr. Evans? Möchten Sie auch etwas trinken?“

„Kaffee“, antwortete Evans knapp, ohne Parker anzusehen.

„Ich bin auch ein Fan von Kaffee, wissen Sie?“

„Sparen Sie sich bitte das Geplänkel.“ Zum ersten Mal seit Beginn des Gesprächs hob Evans den Blick.

Parker nickte verständnisvoll, klappte die Akte zu und lehnte sich vor. „Nun gut, Mr. Evans. Ich kenne Ihre Akte. Zwar sind Sie kein unbeschriebenes Blatt für uns, aber ich hätte Sie nicht für jemanden gehalten, der auf einen Polizisten schießt“, erläuterte Parker und beobachtete Evans genau.

„Der Schuss war notwendig“, erwiderte Evans.

„Notwendig?“ Parker zog die Augenbrauen hoch. „Mir fallen keine Situationen ein, in denen dies notwendig wäre.“

„Er hätte mich aufgehalten.“

Parkers Gesicht verzog sich. Die Antwort stellte ihn nicht zufrieden. „Und der anschließende Schuss?“

Evans starrte auf den Tisch und vermied den Blick des Ermittlers. Seine Kollegen hatten den Fall nach dem ersten Verhör bereits ad acta gelegt. Die Beweise waren erdrückend. Es gab keinen Zweifel daran, dass Evans mindestens zweimal abgedrückt hatte. Doch das Gesamtbild stimmte nicht. In keiner der Akten war zu lesen, dass Evans Erfahrung im Umgang mit Schusswaffen hatte. Auch konnte er die Waffe nicht allein in die gesicherte Einrichtung geschmuggelt haben. „Ein gemeinsamer Bekannter von uns ist unter den Toten – ob er es verdient hatte zu sterben, muss jeder für sich selbst beantworten“, sagte Parker. Er hatte sich diese Frage bereits gestellt und seine Antwort darauf gefunden. „Ungeachtet dessen stand er unter dem Schutz dieser Institution und keine Tat rechtfertigt seine Exekution. Anders kann ich es leider nicht benennen und die Reinigungskräfte werden ihre Freude haben.“ Er fixierte Evans mit seinen Augen. „Rache und Vergeltung mögen kurzfristig Befriedigung bringen, doch sie führen nicht zu dem inneren Frieden, den man sich erhofft. Oder sehen Sie das anders?“

Evans schluckte hörbar. „Nein“, hauchte er und schüttelte den Kopf. Parker machte sich eine kurze Notiz und blätterte durch die Fallakte. Er nahm sich bewusst Zeit dafür und ließ Evans allein mit seinen Gedanken.

„Ein weiteres Opfer wurde durch einen Genickbruch getötet. So viel wissen wir bereits. Möchten Sie mir noch mal schildern, wie es dazu kam?“

„Ich habe das Ihren Kollegen bereits ausführlich und mehrmals geschildert. Das können Sie also selbst nachlesen“, entgegnete Evans mit gereiztem Unterton.

„Gut. Meine Kollegen haben, wie Sie gerade sagten, bereits mit Ihnen gesprochen. Der formelle Teil ist also offiziell abgeschlossen. Sie sollten verstehen, dass ich nicht zwangsläufig mit Ihnen sprechen muss. Ich tue es nicht, weil es mir aufgetragen wurde, sondern weil es in Ihrem Interesse ist.“ Er machte eine kurze Pause. „Wenn Sie das nicht möchten, werden meine Kollegen Sie umgehend in Einzelhaft bringen.“

Einer der Polizisten rührte sich geräuschvoll im Hintergrund, um die gerade gemachte Aussage zu bestätigen.

„Ich versteh es nicht, ehrlich nicht“, erwiderte Evans und schüttelte den Kopf. „Ich habe Ihren Kollegen doch alles erzählt. Es ändert sich absolut nichts an den Tatsachen meiner Aussage.“

Evans hatte seine Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. „Ich habe Ihren Kollegen bereits alles erzählt, was ich weiß.“

„Ihre Bedenken sind nachvollziehbar, Mr. Evans, aber sie sind nicht gerechtfertigt. Wenn wir Ihre Aussage als Tatsache, als einen Fakt, anerkennen, stehen Sie vor der Aussicht auf viele Jahre Haft.“

Evans lachte auf. „Da bin ich doch schon, oder nicht?“

„In gewisser Weise, ja.“ Parker nickte. „Aber ich spreche von der Dauer Ihrer Inhaftierung, falls überhaupt eine Aussicht auf Entlassung besteht. Vielleicht können Sie die Dinge ins rechte Licht rücken, wenn Sie bereit sind, mir Ihre vollständige Sicht der Geschichte zu erzählen. Es gibt einige Lücken in Ihrem Bericht, die ich gerne schließen würde.“

Für einen Moment war das einzige Geräusch im Raum das leise Surren der Neonröhren über ihren Köpfen. Parker legte seine Arme auf dem Tisch ab und musterte den Mann vor sich, der nun die Augen zusammenkniff und sich zurücklehnte. Etwas musste Evans beschäftigen, denn er ließ seinen Blick unstet auf ihm verweilen. War es der Umstand, dass er keine Uniform trug, sondern lediglich einen schlichten Pullover mit dem Wappen der Metropolitan Police? Oder war es doch das schlechtverheilte Narbengewebe in seinem Gesicht, das die linke Gesichtshälfte zierte, fragte sich Parker.

„Wissen Sie … wir haben eine weitere Leiche in einem anderen Raum gefunden. Vielleicht wäre es hilfreich, wenn wir zuerst darüber sprechen würden“, sagte Parker.

Statt einer Antwort rieb sich Evans über den Arm, bis rote Striemen auf seiner Haut sichtbar wurden. „Wir sind bei drei Toten im Nordflügel – die Verletzten nicht eingerechnet.“

Er ließ die Worte einen Moment in der Luft hängen, gab Evans Zeit, sie zu verarbeiten.

Dann sagte er: „Jetzt, Mr. Evans, ist es an Ihnen, uns zu erklären, was genau passiert ist.“ Ein weiterer Polizist tauchte in der Tür auf, zuckte mit dem Kopf in Richtung des Flures. „Der behandelnde Psychiater Mr. Thompson wartet vor der Tür. Er bittet um sofortige Rücksprache mit Ihnen.“

„Würden Sie mich bitte entschuldigen?“, fragte Parker und erhob sich von seinem Stuhl.

„Ich gehe nirgends hin“, erwiderte Evans und hob demonstrativ die Handschellen, die seine Handgelenke aneinanderfesselten.

Parker nickte ihm kurz zu, bevor er den Raum verließ und den Polizisten auf den Flur hinausschob. Dort hatten sich bereits zwei Männer zu Ms. Caldenbeath gesellt. Der Mann zu seiner Linken trug einen gemütlichen Pullover und Jeans. Parker erkannte ihn sofort als Simon Campbell, den Bereitschaftsarzt, den sie gerufen hatten. Sie waren sich bereits bei anderen Einsätzen begegnet. Der andere Mann war ihm unbekannt, trug einen weißen Kittel über einem Anzug.

„Detective Chief Inspector Parker?“, fragte der Fremde. „Mir wurde gesagt, dass Sie die Ermittlungen leiten und einer meiner Patienten in Ihrem Gewahrsam ist.“

„Sie müssen der Leiter der Abteilung sein. Mr. Thompson, richtig?“, fragte Parker.

Thompson nickte zur Bestätigung. Er war ein grauhaariger Mann mit hohen Wangenknochen und einem makellosen Gesicht. Laut der Akte leitete er die Einrichtung seit über einem Jahrzehnt. Das Foto auf der Homepage der Klinik musste jedoch älter sein, denn dort waren seine Haare noch dunkelblond.

Sie konnten altersmäßig nicht weit auseinanderliegen, doch Parker wurde schmerzhaft bewusst, dass Thompson den Alterungsprozess offensichtlich besser meisterte als er selbst.

„Entschuldigen Sie, dass ich es nicht früher geschafft habe. Ich musste die letzten Evakuierungen beaufsichtigen und koordinieren.

„Ihr Patient, Mr. Christian Evans, ist tatsächlich in unserem Gewahrsam und wird es für absehbare Zeit bleiben“, erklärte Parker mit fester Stimme. „Ich werde ihn jetzt verhören und danach sehen wir weiter.“

Thompsons Gesicht verfinsterte sich leicht, doch bevor er etwas erwidern konnte, wandte sich Parker bereits an den Bereitschaftsarzt. „Sie, Campbell, werden sich bitte um seine Wunden kümmern. Und Sie, Mr. Thompson …“, flüsterte er und fixierte den Psychiater mit einem durchdringenden Blick. „Sie sehen aus, als hätten Sie gerade in eine Zitrone gebissen. Haben Sie noch etwas hinzuzufügen?“

„Ich muss vehement gegen ein Verhör zu diesem Zeitpunkt protestieren“, entgegnete Thompson. „Mr. Evans ist momentan psychisch instabil. Jegliche Art von Stress könnte langfristige Schäden verursachen. Zudem muss eine Vertrauensperson anwesend sein. Sie gefährden das Wohl des Patienten.“

Parker wartete, bis die Anschuldigung gänzlich verklungen war, bevor er antwortete. „Hören Sie gut zu, Thompson, denn ich werde das nur einmal sagen und danach ist die Diskussion beendet.“ Thompson öffnete den Mund, um zu antworten, doch Parker schnitt ihm das Wort ab. „Gegen Ihren Patienten besteht ein dringender Tatverdacht in Bezug auf mehrere Tötungsdelikte, untermauert durch Zeugenaussagen und die eigene Aussage von Mr. Evans. Wenn ich mich recht entsinne, wurde er Ihnen anvertraut, was bedeutet, dass Sie die volle Verantwortung für sein Wohlergehen und die Aufsichtspflicht Ihren Patienten gegenüber haben. Eine Verantwortung, der Sie nicht nur unzureichend nachgekommen sind, sondern die Sie sträflich vernachlässigt haben“, zischte Parker und baute sich vor dem Arzt auf. „Daher werden wir ihn verhören, so lange und wo immer wir es für angemessen halten.“

Thompsons Gesichtszüge verhärteten sich unter Parkers verbalem Angriff, doch anstatt zu widersprechen, blieb er still, während der Detective fortfuhr. „In der Zwischenzeit steht Mr. Evans unter der ärztlichen Aufsicht von Doktor Campbell. Sie bleiben im Gebäude, bis jemand Ihnen etwas anderes sagt, und stehen für unsere Fragen zur Verfügung.“

Parker kniff die Augen zusammen und wartete auf eine Reaktion des Arztes.

Dieser nickte stumm, drehte sich um und wandte sich zum Gehen.

Parker schloss die Tür zum Verhörraum hinter sich und wartete, bis Campbell ihm mit einem Nicken zu verstehen gab, dass Evans‘ körperlicher Zustand stabil genug für das bevorstehende Gespräch war. Mit einer kurzen Kopfbewegung wies Parker den Arzt an, sich in einer Ecke des Raumes niederzulassen, außerhalb von Evans Sichtfeld. Mit einem kratzenden Geräusch zog Parker seinen Stuhl zurück und setzte sich.

„Nun, Mr. Evans. Ich glaube daran, dass jede Entscheidung ihren Ursprung hat. Jede Wahl, jedes Vorgehen hat einen Grund, ein Ziel oder eine Geschichte. Sie haben sich dafür entschieden, auf …“ Er blickte in die Akte und stockte. Der Name des Mannes, der Evans‘ Blutrausch zum Opfer fiel, begleitete ihn schon so lange. „Wo war ich? Ah, richtig! Sie haben erheblichen Widerstand gegen die Polizei geleistet und einen Polizisten angeschossen. Er hat Ihren Angriff überlebt und wird derzeit im Central Hospital behandelt.“

Evans blieb stumm, doch seine Augen verrieten eine Spur von Erleichterung. Er ist also doch nicht so skrupellos, wie es zunächst den Anschein hatte, dachte Parker. Das war gut, damit konnte er arbeiten.

„Ich würde gerne verstehen, was Sie dazu bewogen hat, zu solch extremer Gewalt zu greifen.“ Seine Worte blieben unbeantwortet. Die Tür öffnete sich und Smith stellte zwei Becher dampfenden Kaffees auf den Tisch. Parker schob einen der Becher zu Evans herüber, der ihn mit beiden Händen umklammerte. Er wartete, bis Evans einen Schluck nahm.

„Sehen Sie, ich bin schon lange im Polizeidienst. Ich habe gute Männer Schlechtes tun sehen, weil sie glaubten, es sei das Richtige oder weil sie aus bestimmten Gründen dazu gezwungen waren. Auch Sie hatten sicherlich Ihre Gründe für Ihr Handeln, oder? Sie waren verärgert, vermutlich zu Recht. Aber dann … ist vielleicht alles etwas aus dem Ruder gelaufen.“

„So war das nicht.“

„Dann helfen Sie mir, es zu verstehen. Wie hat das alles begonnen?“, sagte Parker und faltete seine Hände.

Evans verharrte einen Moment in Stille.

„Sie haben gute Menschen Schlechtes tun sehen?“, hauchte er, seine Augen suchten die des Detectives. „Ich habe schlechte Menschen Schlechtes tun sehen und die Konsequenzen daraus gezogen.“

Parker studierte ihn, nicht sicher, wie er ihn einordnen sollte. Diesen Mr. Evans, der, laut Aussage des angeschossenen Polizisten, kaltblütig Menschenleben ausgelöscht hatte. Es wäre sein gutes Recht, die Aussage abzubrechen, und Parker rechnete fast damit.

„Haben Sie denn noch etwas zu verlieren, Mr. Evans?“, fragte Parker nach einer Weile.

Evans’ Blick war wieder gesenkt und auf den Tisch gerichtet. „Sie werden mir doch auch nicht glauben?“

„Das kann ich Ihnen nicht versprechen, aber ich höre Ihnen zu. Wenn Sie bereit sind, mit mir zu reden. Ihnen wird es an nichts fehlen. Ein Wort von Ihnen und wir hören auf. Wenn Sie sich aufgrund von Schmerzen in ein Krankenhaus begeben wollen, brechen wir das Verhör ab. Aktuell schätzt Doktor Campbell Sie jedoch als vernehmungsfähig ein. Die Entscheidung liegt jedoch in letzter Instanz bei Ihnen und hängt davon ab, ob Sie sich bereit fühlen.“

„Haben Sie eine Zigarette?“, fragte er und raschelte mit den Handschellen.

Obwohl das Rauchen im Verhörraum – wie in der gesamten Forensischen Psychiatrie  – verboten war, griff Parker in seine Hosentasche und reichte Evans eine. Dann stieg er auf den Stuhl und entfernte mit einer schnellen Drehbewegung den blinkenden Feuermelder von der Decke, nahm die Batterie raus.

Evans klemmte die Zigarette zwischen seine Lippen.

Parker zündete sie mit seinem verchromten Sturmfeuerzeug an – einem Geschenk seines ehemaligen Partners Opton zur Beförderung.

„Wenn Sie wirklich meine Geschichte hören wollen, wird es eine lange Nacht für Sie.“ Er nahm einen tiefen Zug, klopfte die Asche von der Zigarette auf den Tisch. „Vielleicht sollten Sie Ihren Kollegen schon mal frischen Kaffee aufsetzen lassen.“

Kapitel 2

Zwei Jahrzehnte zuvor, Manchester.

Knirschend grub sich das Reifenprofil des grauen Ford Focus in den Kies der Einfahrt. Hochgewachsenes Pampasgras säumte den Schotterweg, wog sich sanft im Wind. Der Auspuff knackte einen Moment, als sich das aufgeheizte Metall abkühlte und zusammenzog. Bevor David die Tür öffnete, ließ er seinen Blick durch den Innenraum des Wagens schweifen. Auf der Rückbank lag ein Kuscheltier, ein braunes Kaninchen mit schlaffen Ohren. Mit einem Griff schnappte er sich das Plüschtier und zog es an den Ohren nach vorn. Zwischen den Vordersitzen stand noch der Kaffeepappbecher, den er vor zwei Tagen an einer Tankstelle an der A57 nahe Glossop gekauft hatte. Ein kleiner Rest war übrig geblieben und verströmte einen muffigen Geruch. David packte den Becher, schwang seine Tasche über die Schulter und machte sich auf den kurzen Weg zur Haustür, vorbei an der weißen Rispenhortensie, die jedes Jahr mehr Raum für sich beanspruchte. Wenn er sie nicht bald zurückschnitt, würde sie im nächsten Jahr den Türrahmen erreichen. Es war nur eine von vielen Aufgaben auf einer stetig wachsenden Liste, die er abarbeiten wollte. Doch Zeit war ein knappes Gut. Zwischen der Arbeit, den langen Fahrten und dem Stehen im Berufsverkehr, den Kindern und dem Haus blieb am Ende des Tages oft nur noch genug Energie, um zu essen und zu schlafen. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, drangen Stimmen aus dem Fernseher zu ihm herüber.

Es war keine der Serien, die Nicole so liebte. Ihr Geschmack war ihm ein Rätsel, eine Mischung aus trockenem Humor und Trash-Movies, die oft erst spätabends oder wieder in den frühen Morgenstunden gesendet wurden, wenn die Kinder und er schon lange schliefen.

Das, was jetzt aus dem Wohnzimmer drang, war das vertraute Geplapper einer Zeichentrickserie. Er warf den säuerlich riechenden Kaffeebecher in den Mülleimer und spähte ins Wohnzimmer. Dort saßen seine Töchter Mia und Emily mit starren Augen vor dem Fernseher.

„Hat Mama euch erlaubt, fernzusehen?“, fragte er, lehnte sich mit der Schulter an den Türrahmen.

„Ja“, antwortete Mia, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen. Obwohl sie erst sieben Jahre alt war, hatte sie schon die selbstbewusste Art ihrer Mutter angenommen.

„Und wo ist Mama?“

„Oben“, sagte Mia, immer noch ohne den Fernseher aus den Augen zu lassen.

Er hörte das Klacken von Absatzschuhen auf dem knarzenden Holz der Treppe. Seine Frau kam herunter. Sie trug ein elegantes Cocktailkleid, das sie seit Jahren nicht mehr angezogen hatte. Es stammte aus der Zeit vor ihrer letzten Schwangerschaft. Sein heutiger Dienstplan hatte ihr ein paar Stunden Freizeit verschafft. Sie wollte mit Stephanie ausgehen, einer Freundin aus Universitätstagen. Ein seltenes Vergnügen in ihrem sonst so hektischen Alltag. Sie sah schön aus.

„Liebling!“, begrüßte seine Frau ihn knapp, während sie im Gehen ihre Ohrringe anlegte. „Ich muss jetzt schon los, sonst komme ich zu spät.“

Er hielt ihr den Autoschlüssel entgegen. „Du schaffst es noch rechtzeitig“, sagte er.

„Danke dir“, antwortete sie und hauchte einen Kuss auf seine Wange. Sie wühlte in der Handtasche, zog parallel die Speisekarte einer Pizzeria aus einer Schublade hervor. „Die Kinder waren jetzt lange genug vor der Flimmerkiste.“

Er blickte aus dem Fenster, hinter dem die Sonnenstrahlen den Garten fluteten. Die Sonne stand noch hoch am Himmel. Es war das perfekte Wetter für die Kinder, um draußen zu spielen. Der Rasen war etwas wild und hochgewachsen, übersät von Wildblumen.

„Weißt du schon, wie lang du weg sein wirst?“

„Es könnte spät werden. Bestellt euch was Leckeres oder wärmt die Lasagne von gestern auf. Du brauchst später nicht auf mich warten; bring die beiden nur rechtzeitig ins Bett.“

Sie verabschiedete sich mit einem Kuss und ging zur Tür hinaus. Zwei Minuten später hörte er den Motor, der seit einigen Monaten nicht mehr rund lief.

Schon bald würde er sich darum kümmern müssen. Noch eine Aufgabe mehr auf seiner immer länger werdenden To-do-Liste. Doch er schob den Gedanken beiseite und griff nach der Fernbedienung, was den misstrauischen Blick seiner Töchter auf sich zog. Bevor sie protestieren konnten, hatte er bereits den Sportkanal eingeschaltet, auf dem ein Fußballspiel ausgestrahlt wurde.

„Aber Papa …“, jammerte Emily. „Lass uns doch bitte die Serie zu Ende schauen. Nur noch diese eine Folge.“

„Ich habe eine bessere Idee“, erwiderte er und hob beschwichtigend die Hand. „Ich nehme die Folge auf, damit ihr nichts verpasst. Ihr geht raus und spielt ein bisschen an der frischen Luft. Später wärme ich die Lasagne auf und wir schauen die restliche Folge beim Essen. Was haltet ihr davon?“

Sie blickten sich an, als würden sie in einer nur ihnen vertrauten Geheimsprache kommunizieren.

„Einverstanden“, stimmte Mia zu und nahm ihre kleine Schwester an der Hand.

„Aber das bleibt unser kleines Geheimnis. Mama muss davon nichts wissen.“

„Welche Lasagne?“, fragte sie, kurz bevor sie die Terrassentür zum Garten erreichte. Sie drehte sich noch einmal mit einem fragenden Ausdruck im Gesicht um und legte den Kopf schief.

„Die von gestern Abend. Die schmeckt am nächsten Tag noch besser“, antwortete er wahrheitsgemäß und lächelte.

„Können wir stattdessen Pizza haben?“

Mia hatte das Gespräch zwischen ihm und Nicole mitgehört und war eine hartnäckige Verhandlerin. Er dachte an die unglücklichen Seelen, die in der Zukunft versuchen würden, mit seiner Tochter zu debattieren. Sie würden es nicht leicht haben.

„Na gut, dann also Pizza“, seufzte er, um einer weiteren Diskussion aus dem Weg zu gehen.

Er nahm ein kühles Bier aus dem Kühlschrank und ließ sich in den alten, bequemen Sessel sinken. Dieser Sessel war mehr als nur ein Möbelstück – er war sein treuer Gefährte, den er um keinen Preis der Welt austauschen würde, obwohl Nicole das alte Ding schon lange herausschmeißen wollte.

Nicole durfte alles in ihrem gemeinsamen Heim einrichten, aber dieser Sessel war seine letzte Bastion. Das Fußballspiel würde noch eine ganze Stunde dauern. Ein Duell, das genau seinen Geschmack traf. Er genoss diesen Moment der Ruhe, weit entfernt von der Hektik der Arbeit und warf gelegentlich einen prüfenden Blick durch die gläserne Terrassentür, um nach seinen Töchtern zu sehen. Schließlich wurde das Spiel abgepfiffen. Er sah auf seine Uhr. Seine Frau müsste mittlerweile bei ihrer Verabredung angekommen sein.

Mit einem Seufzer hievte er sich aus dem Sessel und schlug die Speisekarte auf, die Nicole ihnen dagelassen hatte. Mit einem Lächeln auf den Lippen lauschte er dem Spiel seiner Töchter.

„Kommt mal rein, ihr beiden“, rief er in den Garten hinein. Innerhalb von Sekunden stürmten die beiden Mädchen aus dem grünen Refugium, streiften nach einem strengen Seitenblick von ihm ihre schmutzigen Schuhe ab und ließen sich auf das Sofa fallen.

Es dauerte nicht lange, bis Mia ihre Wahl getroffen hatte. Die jüngere Emily, die ihrer großen Schwester in allem nacheiferte, wählte das Gleiche. Er gab die Bestellung am Telefon auf und hörte ein Klopfen an der Haustür. Josephine, Mias beste Freundin, stand unangekündigt vor ihm.

„Können Emily und Mia zum Spielen rauskommen?“, fragte sie leise. Er sah über die Schulter zu seinen Töchtern, beide sahen ihn mit flehenden Augen an.

„Na gut“, sagte er und seufzte. „Aber ihr bleibt im Garten und spielt nicht auf der Straße. Und sobald die Pizza geliefert wird, kommt ihr ohne Murren zum Essen rein.“

„Ja!“, ertönte es, als seine Töchter an ihm vorbeistürmten.

„Josephine, möchtest du bei uns mitessen? Dann sag ich deinen Eltern Bescheid“, rief er ihnen hinterher.

Sie schüttelte den Kopf. „Papa kocht später.“

Nach fünfzig Minuten klingelte es erneut an der Haustür. Ein junger Lieferjunge, keine zwanzig Jahre alt. David zog die Scheine aus dem Portemonnaie und nahm im Tausch drei Pizzen, davon zwei kleine und eine große, plus ein kleines triefendes Tütchen mit Fettflecken. Nachdem er die dampfenden Pizzen in der Küche abgestellt und die Pommes in eine blaue Schale umgeschüttet hatte, ging er hinaus in den Garten. Dort waren die drei Mädels nicht zu sehen. Er hatte ihnen doch verboten, auf der Straße zu spielen. Sein Herz raste und pumpte. Am Haus vorbei lief er auf die Schottereinfahrt. „Mia!“ Der Kies knatschte unter seinen Füßen, belegte seine Schuhe mit einer gräulichen Staubschicht. „Emily!“ Er sah die Ashdene Road hinunter. „Wo seid ihr?“, schrie er jetzt, während eine Gänsehaut seinen Rücken emporkroch. Die Kinder waren auch hier nirgends zu sehen. Zurück im Haus öffnete er die Glastür zum Garten und sah dort noch mal genauer nach. Der Garten war nicht groß. Groß genug, dass die Kinder dort spielen konnten, aber zu klein, um sich dort lange zu verstecken. Oft genug fand er sie auf Anhieb. Falls er tatsächlich einmal suchen musste, verriet sie ein leises, zweistimmiges Gekicher.

„Mia, Emily, das Essen ist da“, rief er und wartete auf eine Antwort, die ausblieb, ehe er das Lieblingsversteck der beiden aufsuchte, den schmalen Raum zwischen der Gartenhütte und dem Nachbargrundstück. Spätestens jetzt hätte er ein Kichern vernehmen müssen, aber der Garten blieb still. Er rannte zur Haustür zurück und schob die weißen Blüten der Rispenhortensie zur Seite. Die Kinder hatten sich hier schon einmal versteckt. Doch nicht diesmal.

„Mia, Emily, wenn ihr jetzt nicht reinkommt, esse ich ohne euch“, sagte er laut. Die subtile Drohung würde sie auf jeden Fall aus dem Versteck locken. Doch nichts bewegte sich in der Einfahrt, nichts außer das sich im Wind wiegende Pampasgras, das sanft von der tiefer stehenden rötlichen Sonne in Szene gesetzt wurde.

„Josephine?“, brüllte er. Als noch immer nichts passierte, rief er noch einmal, diesmal lauter. Zurück im Haus rannte er die Treppe nach oben, nahm dabei zwei Stufen auf einmal. Die Kinderzimmer waren leer; das Badezimmer war leer. „Mia! Emily!“, rief er, lauschte, vernahm aber nur die entfernten Geräusche der Straße, die gedämpft zu ihm drangen.

Ein Blick auf das Mobiltelefon verriet ihm, dass Nicole und Stephanie den ersten Cocktail tranken. Nicole trank einen Piña Colada und die Frauen lächelten breit in die Kamera. Er drückte die Nachricht weg und rannte zu den Eltern von Josephine. Wahrscheinlich hatten sie ihr Spiel nach drinnen verlegt und die Zeit aus den Augen verloren.

Das Haus der Millers war drei Grundstücke die Straße hinunter.

David stürzte ins Haus, kaum dass die Tür nach seinem hektischen Klingeln geöffnet wurde. „Walter, sind Emily und Mia hier?“

„Nein, sind sie nicht“, antwortete Walter und runzelte die Stirn.

„Sie haben mit Josephine in unserem Garten gespielt und jetzt finde ich die drei nirgends“, erklärte David und schaute an seinem Nachbarn vorbei.

„Josephine ist schon seit einer Weile zurück, wir essen gerade in der Küche“, erwiderte dieser und deutete mit dem Daumen in den Raum.

„Seit einer Weile?“ Die Panik in Davids Stimme war nun unverkennbar. Sie überrollte ihn wie eine Welle, die sich seit dem ersten unbeantworteten Ruf aufgebaut hatte und nun brach. Ohne ein weiteres Wort drängte er sich an Walter vorbei und eilte in die Küche, wo das Kratzen von Besteck auf Porzellan zu hören war.

Walter folgte ihm.

Cathrine Miller warf ihrem Mann einen fragenden Blick zu.

„Hi.“ David wandte sich direkt an das kleine Mädchen, das gerade in ihr Abendessen vertieft war. „Weißt du, wo Emily und Mia sind?“

„Weiß ich nicht“, antwortete Josephine und zuckte mit den Schultern.

„Aber ihr habt doch zusammen gespielt, richtig?“

Sie nickte mit vollem Mund.

„Wo habt ihr zuletzt gespielt? Josephine das ist jetzt wirklich wichtig.“

„Auf der Straße, aber dann hat Papa zum Essen gerufen.“

„Ich hatte es doch verboten. Ich hatte euch doch gesagt, dass ihr nicht auf der Straße spielen sollt.“

„Ja schon, aber … Emilys Ball ist aus dem Gartentor gerollt.“

„Emilys Ball?“, flüsterte David und fuhr seine Hand übers Gesicht. „Und dann? Was haben meine Töchter gemacht, als du zum Essen gegangen bist?“

Josephine zuckte erneut mit den Schultern und nahm einen weiteren Bissen, ohne dabei von ihrem Teller aufzublicken.

„Was habt ihr dann gemacht?“, fragte er nun lauter.

„David, das reicht! Sie weiß es nicht“, schimpfte Cathrine.

„Wir helfen dir suchen. Du musst dir keine Sorgen machen. Es wird ihnen nichts passiert sein.“ Walter legte ihm die Hand auf die Schulter und zog ihn beiseite. „Wir suchen die Straße ab. Sie können nicht weit gekommen sein“, ermutigte ihn Walter und griff nach seiner Windjacke. „Wir werden sie finden.“

„Wenn du mir die Schlüssel gibst, bleiben Josephine und ich bei dir zu Hause und rufen dich sofort an, sobald sie zurückkommen“, sagte Cathrine.

David fuhr mit der Hand in die Tasche seiner Jeans, zog den Schlüsselbund heraus. Ein auffälliger Anhänger schmückte den Bund. Ein neongrüner Dinosaurier aus Kunststoff, ihre Lieblingsfigur aus der Kinderserie, die sie jeden Abend gemeinsam sahen. Die Kinder hatten ihn, mit Nicoles Hilfe, ausgesucht und als Geschenk zu seinem Geburtstag verpackt.

„Das ist der Haustürschlüssel“, erklärte David und hielt einen Schlüssel mit rundem Kopf zwischen Daumen und Zeigefinger hoch. „Und das ist der Kellerschlüssel, drei Plätze rechts vom Haustürschlüssel, markiert mit Weiß.“ Er gab Cathrine den Schlüsselbund und eilte mit Walter hinaus. An der Tür drehte er sich noch einmal um. „Die Mädchen haben Angst vor dem Keller, aber bitte, Cathrine, kontrolliere das noch mal, ja?“

„Mach ich. Ich ruf dich an, sobald wir die Mädchen sehen.“

Als sie die Tür hinter sich schlossen, zeigte das Telefon von David Bennett 18:37 Uhr an.

David wählte die 999 und meldete die Kinder als vermisst. Sie warteten draußen auf das Eintreffen eines Streifenwagens. Ein ums andere Mal ging er die Straße hoch und runter, hielt Ausschau. Als endlich ein Streifenwagen in der Ashdene Road hielt, stiegen zwei Beamte aus.

„Wann wurden die Kinder zuletzt gesehen?“, fragte einer der Polizisten, während der andere ums Haus herumging. David schaute zu seinem Nachbarn.

„Josephine ist ungefähr um 18:20 Uhr nach Hause gekommen“, sagte Walter. David schluckte. „Also siebzehn Minuten bevor …“

Lange genug für zwei kleine Mädchen, um mehrere Straßen zu passieren. Sogar, um bis zum nächsten Supermarkt zu gelangen. Nun konnten sie schon viel weiter weg sein.

„In Ordnung“, antwortete der Polizist. David folgte dem Blick des Polizisten zum Kollegen, der den Kopf schüttelte. Nun griff der Polizist zum Funkgerät.

„Zwei vermisste Kinder, weiblich, fünf und sieben Jahre. Bitten um Verstärkung.“

Kapitel 3

Vor dreiundzwanzig Tagen war Clifford Parker zum Inspector befördert worden und hatte das neue Büro bezogen. Der Raum war im zweiten Stock des blockartigen Gebäudes gelegen. Es war ein merkwürdiges Gefühl, endlich angekommen zu sein. Es erfüllte ihn mit naiver, kindlicher Freude, seine Stifte in seinen eigenen Behälter einzuordnen. Einige Zentimeter davon entfernt, weit genug, um nicht zu stören, stand ein silberner Bilderrahmen mit einem Foto, das seine Tochter mit der Golden-Retriever-Hündin Ruby zeigte. Natalie war damals acht Jahre und bereite sich nun auf das Studium vor. Ruby war vor fünf Jahren im hohen Alter gestorben. Das Foto war sein einziger persönlicher Gegenstand im Büro.

Gerade arbeitete er sich durch die Einzelheiten eines Falls, den er vor zwei Wochen übernommen hatte. Ein Raubüberfall, ohne allzu großen Wert. Der Verkäufer war verletzt worden, als der Täter ihn zu Boden schlug. Ein sachtes Klopfen an der Tür zog seine Aufmerksamkeit weg von den Zeugenaussagen und hin zum Neuankömmling. Im Türrahmen stand Intendant Higgins, der sich anlehnte.

„Parker, haben Sie einen Moment Zeit?“

„Ich komm gleich, in Ordnung? Geben Sie mir fünf Minuten.“

Higgins lächelte, ging aber nicht fort. „Mapleton möchte uns sprechen.“

Parker schloss das Programm sofort, sperrte seinen PC und folgte ihm hinaus. Mapleton war einer der Chief Super Intendants des Bezirkes und stand im Rang weit über ihnen – weit genug, um über die Geschicke der Polizei mitzubestimmen und nur wenigen Rechenschaft schuldig zu sein.

„Sie hätten damit anfangen können, dass es um Mapleton geht“, sagte Parker und schloss die Bürotür ab.

„Es sollte keine Rolle spielen, um wen es geht. Die Belange Mapletons sind Ihnen nur wichtiger als meine, aber ich verstehe das. Ich war auch so.“

Parker rümpfte die Nase und kam sich ertappt vor.

„Worum geht es denn?“, fragte Parker beiläufig, während sie das Revier durchquerten und an den Kollegen vorbeigingen.

„Das erfahren Sie gleich“, antwortete Higgins und schmunzelte.

Das Büro war mehr als doppelt so groß wie das von Parker und bot genügend Platz für einen geräumigen Tisch, auf dem Karten und Akten ausgebreitet lagen. Mapleton war dort nicht allein. Zwei Männer saßen neben ihm, je einer an jeder Seite.

„Darf ich vorstellen?“ Mapleton deutete auf die Neuankömmlinge. „Intendant Higgins und Inspector Parker.“

Parker nickte.

„Und dies sind unsere Gäste aus der nördlichen Command Area, Superintendant Mallett von der Rochdale Division und Superintendant Nichols von der Bury Division.“

Sie nahmen alle an dem großen runden Tisch Platz und Mrs. Green, Mapletons unverzichtbare Sekretärin, trat mit einem Tablett ein. Sie schenkte Kaffee, Tee oder Wasser aus, stellte eine Auswahl an Gebäck in die Mitte eines Beistelltisches. Parker nutzte diese kleine Pause, um einen Blick auf die Dokumente und Karten zu werfen.

Einige Blätter konzentrierten sich auf den Norden von Manchester, andere zeigten die gesamte Umgebung. Er erkannte Straßenpläne und topografische Karten, die das Gelände in all seinen Details darstellten.

„Danke, Margaret“, sagte Mapleton und entließ seine Sekretärin mit einem Kopfnicken. „Wir sind jetzt vollständig, also lasst uns anfangen.“ Die Ernsthaftigkeit in seiner Stimme sicherte ihm die Aufmerksamkeit. „Gestern Abend wurden zwei Kinder in der Ashdene Road als vermisst gemeldet. Beides Mädchen – eins sieben, das andere fünf Jahre alt.“ Er lehnte sich vor, griff eine schwarze Akte und reichte sie Parker. Die Akte war dünn – zwei Fotografien, drei Zeugenaussagen. Die Mädchen waren unverkennbar Schwestern. Parker sah es an der Gesichtspartie, noch bevor er ihre Namen gelesen hatte.

Higgins lehnte sich zu ihm herüber und warf ebenfalls einen Blick auf die Berichte. „Sie wurden zuletzt gegen 18:20 Uhr gesehen, danach fehlt jede Spur. Es gibt zwar Zeugenaussagen, aber bis jetzt hat keine davon zu einem Ergebnis geführt.“

„Darf ich eine Anmerkung machen?“, fragte Parker und musterte weiterhin die dünne Akte. „Dieser Fall würde normalerweise in Inspector Cambolts Bereich fallen … Ich möchte vermeiden, dass es zu Unstimmigkeiten bezüglich der Zuständigkeit kommt.“

Mapleton nickte. „Inspector Cambolt hat eine vierjährige Tochter. Angesichts der Natur dieses Falls habe ich es für angebracht gehalten, den Fall jemandem zu übergeben, der emotional weniger involviert ist. Nach Rücksprache mit ihm und Intendant Higgins, natürlich. Ich bin im Bilde, Mr. Parker, dass Ihre eigene Tochter im Sommer bereits aufs College geht, richtig? Ich weiß das, weil ich Ihre Akte gelesen habe und weil meine jüngste Tochter im selben Jahrgang wie Ihre ist. Die vermissten Mädchen sind Teil einer alarmierenden Serie von Kindesentführungen.“ Mapleton beugte sich nach vorn und faltete die Hände. „In den letzten Monaten wurden mehrere Kinder als vermisst gemeldet, bisher ausschließlich im nördlichen Umkreis. Die Command Area in Stockport wurde besonders hart getroffen – vier Fälle. Dieser hier ist der Erste, der uns direkt betrifft.“ Er hielt inne und blickte auf seine Kollegen. „Wir haben uns nach intensiven Gesprächen darauf geeinigt, dass es im besten Interesse der Polizeiarbeit, der Kinder und ihrer Familien ist, unsere Kräfte zu bündeln und eine Sondereinheit mit den Ermittlungen zu betrauen. Und wir möchten, dass Sie diese Einheit leiten, Parker.“

„Dass Sie berücksichtigt wurden, habe ich zu verantworten“, warf Higgins an Parker gerichtet ein. „Mr. Mapleton wollte einen erfahrenen Inspector, aber ich habe ihn überzeugt, dass Sie das kalte Wasser abkönnen. Außerdem können wir einen frischen Blickwinkel gebrauchen. Sehen Sie es als Gelegenheit, als Herausforderung.“

„Higgins wird Ihnen die Einzelheiten mitteilen, insbesondere die Zusammensetzung der Kommission, wo Sie tätig sein werden und so weiter“, erklärte Mapleton, während er sie mit einem Handwink wieder hinausbefahl.

Parker folgte Higgins in die Kantine.

„Wollen Sie auch etwas?“, fragte Higgins und wandte sich zu ihm. „Besprechungen machen mich immer hungrig.“

„Milchkaffee und einen Muffin“, antwortete Parker.

„In Ordnung, ich mach das schon. Suchen Sie einen Platz.“

Parker sah sich um. Er wählte einen Tisch mit zwei Stühlen. Higgins nahm ihm gegenüber Platz und stellte das Tablett ab.

„Sie sehen aus, als ob Sie etwas loswerden wollen“, bemerkte Higgins, als er einen Schluck seines Espressos nahm.

Parker zögerte; seine Finger spielten mit dem Rand seiner Tasse. „Ich frage mich nur … Es muss doch andere geeignete Kandidaten gegeben haben.“

„Sicher. Es gibt immer andere“, antwortete Higgins.

Parker hob seine Tasse, setzte sie aber wieder ab, ohne einen Schluck genommen zu haben. „Ich habe wenig Erfahrung in diesem Bereich. Ich meine, ich bin Ihnen dankbar für das Vertrauen, mich zu beweisen, aber ich bin erst seit Kurzem Inspector und …“

„Aber Sie sind schon seit Jahren im Polizeidienst. Sie kennen die Arbeit und wissen, was von Ihnen erwartet wird. Wir brauchen jemanden, der Ruhe und Erfahrung ausstrahlt.“ Higgins hielt kurz inne, sein Blick fest auf Parker gerichtet. „Außerdem scheinen Sie besonnen und lassen sich nicht leicht einschüchtern. Dazu charismatisches Auftreten … Das ist auch im Umgang mit der Presse wichtig. Und Sie können sicher sein, dass dieser Fall großes mediales Interesse wecken wird.“

Parker rührte den Schaum in seinem Kaffee um und legte den Löffel zur Seite. Er nahm einen kleinen Schluck und verzog das Gesicht. Der Milchkaffee war nicht besonders gut, zu dünn. „Darf ich ehrlich und offen sprechen?“

„Nur zu.“

„Ich habe die Befürchtung, dass die Sonderkommission hinter den Erwartungen zurückbleiben wird. Der letzte Fall ist sechs Monate her, der älteste fast ein Jahr. Und alle Spuren verlaufen bis jetzt ins Leere.“

Higgins biss in sein Sandwich und nahm einen Schluck des Espressos. „Ich will ehrlich zu Ihnen sein.“ Er wischte sich den Mund mit einer dünnen Serviette ab. „Jedes Jahr werden über eintausend Kinder entführt, nur in Großbritannien. Die Erfahrungen zeigen, dass die meisten vermissten Kinder in den folgenden Tagen wieder auftauchen. Bei der Zeitspanne, über die wir hier reden, gehen wir nicht davon aus, dass sie noch am Leben sind. Statistisch gesehen sind sie alle tot oder außerhalb unserer Reichweite. Dies gilt umso mehr, da die Entführungen nach unserer Einschätzung nicht durch Familienmitglieder durchgeführt wurden. Also konzentrieren Sie sich nur auf die Bennett-Kinder. Finden Sie die anderen Kinder, wäre das ein Bonus, aber niemand erwartet das.“ Niemals hätte Higgins so vor einer Kamera gesprochen. Jeder Polizist war zu vorsichtigem Optimismus verpflichtet, ohne sich in Zusagen oder Zugeständnisse zu verwickeln. Jede falsche Aussage, jeder mediale Fehltritt, konnte schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehen.

„Statistik ist nicht alles“, erwiderte Parker.

„Ich weiß. Um Ihnen die bestmöglichen Voraussetzungen für die Führung der Gruppe zu geben, können Sie sich Polizisten aus unserer Division aussuchen, die mit Ihnen zusammenarbeiten werden. Ich würde Ihnen aber empfehlen, auch über den Tellerrand hinauszublicken.“

„Heißt das, ich kann beliebige Personen auswählen?“ Im Kopf ging Parker schon die Kollegen durch und suchte nach geeigneten Kandidaten.

„Nein. Die gewählten Kollegen müssen von Mapleton abgesegnet werden. Und von mir. Aber ich vertrau Ihrem Urteil.“ Higgins lächelte. „Mapleton hingegen … Er wird Ihnen keinen Kollegen geben, der auf seiner Liste steht.“

Die ‚Mapleton-Liste‘ war eine urbane Legende geworden, die sich seit zwei Jahrzehnten hartnäckig hielt. Einige glaubten, es gäbe tatsächlich eine physische Liste mit den Namen von Polizisten, die bei Mapleton in Ungnade gefallen waren. Nur Mrs. Green wusste, ob diese Liste existierte. Doch sie schwieg beharrlich.

Parker trank einen letzten Schluck seines Milchkaffees und verfiel in nachdenkliches Schweigen. Higgins rutschte auf seinem Stuhl nach vorn, als Parker sein Schweigen brach.

„Wie viele kann ich auswählen?“

„Das Team wird aus acht Leuten bestehen, Sie mitgerechnet. Zwei Kollegen werden von der Rochester- und zwei von der Bury-Division gestellt. Sie haben also noch drei Personen, die Sie vorschlagen können.“

„Geben Sie mir Jones und Sturbridge.“

Higgins zückte einen Notizblock und notierte die Namen, daneben setzte er kleine Anmerkungen. Er nickte. Jones hatte jahrelange Erfahrung mit Entführungsfällen, Sturbridge hatte drei Jahre bei der Missing Persons Unit gearbeitet.

„Haben Sie noch jemanden im Sinn?“

„Geben Sie mir Charles Opton.“

Higgins blickte auf. „Warum in aller Welt Opton?“

„Ich habe fast zwei Jahrzehnte an seiner Seite gearbeitet. Er ist ein guter Polizist. Pragmatisch. Er packt Probleme direkt an der Wurzel und wird uns eine Hilfe sein.“

Higgins rieb sich die Stirn. „Ich kann nicht wirklich sehen, wie er eine Bereicherung sein könnte. Aber ich werde sehen, was ich tun kann.“ Dann stützte Higgins sich mit beiden Händen auf dem Tisch ab. „Sind Sie so weit? Wir haben noch einiges an Arbeit vor uns.“

Bereits am Nachmittag begrüßte Parker seine Kollegen im Besprechungsraum. Versteckt am Ende eines ruhigen Flurs waren sie mit Telefonen, Computeranschlüssen und Pinnwänden ausgestattet worden. Er sah sich um. Die Kollegen aus den nördlichen Divisionen hielten sich für sich, Sturbridge und Jones unterhielten sich leise, während Opton schweigend zwischen Jones und Carson saß.

„Guten Abend“, begrüßte er die Gruppe. „Unsere Sonderkommission hat den Auftrag, die Bennett-Kinder zu finden. Ich verzichte auf die Einzelheiten des Falls, da ich davon ausgehe, dass Sie alle das Dossier gelesen haben, bevor Sie hierherkamen. Wir werden methodisch vorgehen. Zunächst brauchen wir die Akten der anderen Alt-Fälle.“ Sein Blick wanderte zu den Kollegen aus Rochester und Bury. „Bringen Sie die Akten hierher – noch heute. Alles, was Sie haben. Wenn irgendwo etwas zu den Fällen notiert wurde, sei es auf Notizzetteln, Servietten oder Bierdeckeln, möchte ich es hier haben.“

Die Männer nickten.

„Darüber hinaus werden wir Zeugenaussagen aufnehmen und das gesamte Gelände samt Umgebung durchkämmen. Ich habe auch die Anordnung gegeben, Spürhunde einzusetzen. Nach Rücksprache mit Higgins wird die Öffentlichkeit eingeschaltet. Sturbridge, könnten Sie das bitte vorbereiten? Wir möchten sowohl im Radio, Internet, als auch im TV auf die Entführungs-Opfer aufmerksam machen.“

„Ich setze mich gleich dran“, antwortete sie.

„Als vierten Punkt durchsuchen wir unsere Datenbanken nach bekannten Sexualstraftätern und Personen, die in Verbindung mit Verbrechen gegen Kinder stehen.“ Er pinnte eine Karte der Stadt an die Wand und nahm einen schwarzen Marker zur Hand. Mit einem roten Fähnchen markierte er die Ashdene Road und malte schwarze Kreise auf die Karte. „Das sind unsere Suchraster. Wir arbeiten sie eins nach dem anderen ab. Diejenigen in räumlicher Nähe prüfen wir zuerst. Morgen werde ich persönlich noch einmal das Ehepaar Bennett aufsuchen.“

Kapitel 4

Die Luft im Raum hatte den Geruch des frittierten Essens angenommen, dass geliefert worden war. Parker wühlte sich durch die Akten. Er spürte die wachsende Anspannung im Nacken, schloss die Augen und massierte sich die Schläfen, um die aufkommenden Kopfschmerzen zu vertreiben.

„Das bringt mich hier nicht weiter“, murmelte er vor sich hin und erhob sich. Frische Luft, der Geruch von Natur und der Geschmack von Tabak. Das war, was er brauchte. Unter dem Vordach zündete er sich eine Zigarette an. Er hatte nicht viele Laster, aber das Rauchen war eines davon. Mit jedem Zug ließ die Anspannung nach. Prasselnder Regen bot ein beruhigendes Schauspiel.

„Was haben Sie?“, hörte er eine Stimme neben sich fragen. Es war keine Frage nach seinem Befinden, sondern eine Aufforderung zur Berichterstattung. Die Stimme gehörte zu Higgins.

„Etliche Treffer für Personen mit einschlägigem Hintergrund im weiteren Umkreis“, erklärte Parker.

„Das war zu erwarten“, antwortete Higgins, ohne eine Spur von Überraschung in seiner Stimme. „Wie gedenken Sie, vorzugehen?“

„Schritt für Schritt. Wir schicken Teams zu allen potenziellen Treffern und lassen sie überprüfen.“ Er schnippte die aufgerauchte Zigarette in eine Pfütze, wo sie sofort erlosch.

Higgins rümpfte die Nase.

„Ich melde mich, sobald ich etwas Konkretes habe.“

„Also gab es bis jetzt nichts Konkretes?“ Higgins’ Frage war mehr eine Feststellung als eine Frage.

Parker schnaubte. „Wir haben Hunderte von Anrufen erhalten und gehen jedem glaubwürdigen Hinweis nach. Aber wenn wir jedem Anrufer Glauben schenken würden, wären die Kinder gleichzeitig an fünf verschiedenen Orten.“ Die Pressekonferenz und die Medienpräsenz hatten Tausende von Stadtbewohnern alarmiert und dazu ermutigt, wachsam zu sein und bei kleinsten Anomalien die Polizei zu informieren.

Mehrere Constables hatten – auf Parkers Bitte hin und mit Higgins’ Zustimmung – die eingehenden Anrufe und Benachrichtigungen entgegengenommen und katalogisiert. Doch ein entscheidender Hinweis auf den Aufenthaltsort der Mädchen blieb aus. Mit jedem neuen Anruf wurde die Frustration größer. Ratlosigkeit herrschte vor.

Es war eben diese Ratlosigkeit, die Parker auf dem Weg zur Ashdene Road Kopfschmerzen bereitete. Opton steuerte den Streifenwagen durch den dichten Verkehr, während Parker gedankenverloren die Akten studierte. Dabei ließ er sich nicht von Opton ablenken, der zunächst gut gelaunt war, mit zunehmender Fahrt jedoch eine Aversion gegen die anderen Verkehrsteilnehmer entwickelte. Parker hörte nur mit halbem Ohr zu, doch sie fuhren entweder zu langsam, zu weit rechts oder vergaßen den Schulterblick. Es dauerte über eine halbe Stunde, bis sie endlich im Süden Manchesters ankamen, vorbei an der Baustelle des neuen Stadions, das für die Commonwealth Games errichtet wurde und durch mehrere verstopfte Hauptverkehrsadern. Er legte die Akten erst beiseite, als Opton den Wagen in die Ashdene Road lenkte und am Straßenrand parkte, vor dem Haus der Bennetts.

Schon zu Beginn des Gesprächs mit David Bennett wusste Parker, dass seine Probleme nicht kleiner werden würden.

Bennetts Blick trug Spuren tiefer Trauer. Seine müden, geröteten Augen spiegelten den Schmerz und Verzweiflung wider, die sein Inneres erfüllten. Sein Gesicht wirkte eingefallen und bleich, sein Haar ungekämmt und strähnig, als hätte er vergessen, sich darum zu kümmern. Es war beunruhigend zu sehen, wie wenig Zeit es brauchte, um einem Menschen seine Lebenskraft zu rauben. Nicole Bennett ging es kaum besser. Ihr Blick war leer. In ihren Augen lag der gleiche Schmerz, ihre Lippen zitterten. Noch hielt sie sich beisammen. Sie führte die Polizisten ins Wohnzimmer, bevor sie ihnen Tee brachte.

„Danke Ihnen“, sagte Parker und lächelte. Er legte Wärme in das Lächeln, um ihr ein wenig Halt und das Versprechen zu geben, dass man sie nicht allein lassen würde. Zwar war er sich nicht sicher, ob ihr das Versprechen viel wert sein würde, wenn das Undenkbare eintrat, aber es war alles, was er geben konnte. „Mr. und Mrs. Bennett, ich möchte Ihnen versichern, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun, um Ihre Töchter zu finden. Wir …“

„Und wenn das nicht genug ist?“, stammelte David Bennett und suchte den Blick des Polizisten.

„Wir arbeiten mit Hochdruck an der Suche“, antwortete Parker. Er straffte sich und erwiderte den Blick.

Nicole legte ihrem Mann eine Hand aufs Bein.