Der Patriarch - Felix Huby - E-Book

Der Patriarch E-Book

Felix Huby

3,8

Beschreibung

Fünf Jahre unschuldig im Knast. Sven Hartung hat sich verändert. Abgehärtet und kampfbereit kommt er ins Berliner Leben zurück. Es ist Zeit für die Wahrheit! Doch schon seine erste Nacht in Freiheit endet in einer Katastrophe. In der Tiefgarage der Deutschen Oper wird die Leiche seiner früheren Verlobten gefunden. Zeugen haben sie noch kurz vor ihrem Tod mit ihm gesehen. Alles deutet daraufhin, dass er der Täter war. Für Kriminalhauptkommissar Peter Heiland allerdings sind die Indizien zu offensichtlich. Er vermutet einen perfiden Plan dahinter. Und diesen zerrt er hartnäckig ans Licht!

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Felix Huby

Der Patriarch

Kriminalroman

Impressum

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www.gmeiner-verlag.de

© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © jock+scott / photocase.de

ISBN 978-3-8392-5146-1

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

1. Kapitel

»Hoffentlich hält er sich dran«, sagte Stefanie Zimmermann, die am Fenster des Verwaltungstraktes der Justizvollzugsanstalt Moabit in Berlin stand. »An was?«, fragte der Vollzugsbeamte Rolf Hoffmann, der dicht hinter sie getreten war. Überrascht sah sie sich um. Sie hatte ihn nicht kommen hören. Die Nähe des Kollegen war ihr unangenehm, weshalb sie noch einen Schritt näher ans Fenster trat. »Ich hab ihm gesagt, er soll sich nicht umdrehen!« Das schwere Stahltor mit den messerscharfen Spitzen an der oberen Kante öffnete sich geräuschlos.

»Ist doch egal, ob sich einer umdreht. Die meisten kommen so oder so wieder!«, sagte Hoffmann.

»Der nicht!«

Der Mann drunten im Hof trat durch das Tor und entschwand ihren Blicken. Stefanie ging den kahlen Gang hinunter, ohne Hoffmann noch einmal anzusehen. Als sie die Treppe aus Eisenrosten hinabstieg, wischte sie sich die Tränen aus den Augen.

Sven Hartung wendete sich erst um, als sich das schwere Tor hinter ihm mit einem leisen Klack geschlossen hatte. Fünf Jahre hatte er hinter diesen dicken ockerfarbenen Mauern zugebracht. Eingesperrt. Von draußen, vor den vergitterten Fenstern, konnte man Tag und Nacht den Lärm der Stadt hören. Nur 50 oder 100 Meter entfernt bewegten sich die Menschen frei, unterhielten sich fröhlich oder auch im Streit, strebten in Restaurants oder Kneipen, trafen Freunde, beobachteten Fremde, gingen, wohin sie wollten, oder verbrachten den ganzen Abend am gleichen Tisch, jeder, wie es ihm beliebte. Er würde das alles wieder lernen müssen.

Die Luft schien stillzustehen. Über der Stadt lag eine brütende Hitze. Die Menschen flohen die Straßen und Plätze. Sven Hartung wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Plötzlich riss ihn eine Autohupe aus seinen Gedanken. Auf der anderen Straßenseite stand eine schwarze Limousine. Die Fahrertür öffnete sich. Eduard, wie immer in der makellosen Uniform des Chauffeurs, stieg aus und nahm die Mütze vom Kopf. »Herr Hartung!« Sven überquerte die Fahrbahn. »Ich darf Sie nach Hause fahren.« Der Fahrer deutete eine Verbeugung an und öffnete die Tür zum Fonds des Wagens. Sven stieg ein, ohne etwas zu sagen. Er hatte einen Bruder, eine Mutter, einen Vater, einen Großvater und eine Großmutter. Es war ihnen also allesamt peinlich gewesen, ihn vom Knast abzuholen.

Die Fahrt von Moabit bis zum Roseneck im Grunewald dauerte 20 Minuten. Eduard fuhr über die Leibnitzstraße. Kurz hinter dem Kurfürstendamm bog er in die Paulsborner Straße ein. Er hätte gerne mit dem jungen Herrn geredet, aber mit allen Sätzen, die er sich überlegt hatte, hätte er einen Fehler machen können. Wie sprach man mit einem Chef, den man nach fünf Jahren Haft aus dem Gefängnis abholte? Man konnte doch nicht sagen: »Wie war’s?« Aber auch »War’s sehr schlimm, Herr Hartung?«, wäre sicher falsch gewesen. Und so war am Ende das leise gesprochene »Danke« von Sven, das einzige Wort, das auf der Fahrt gefallen war.

Der Tisch war in dem großzügigen Wohnzimmer, das in der Familie als Salon bezeichnet wurde, gedeckt. Durch die große Panoramascheibe hatte man einen Blick in den parkähnlichen Garten. In der Mitte des Tisches stand ein silberner Leuchter. Svens Mutter war gerade dabei, die Kerzen anzuzünden, als ihr Sohn das Zimmer betrat. Aus dem Lehnsessel neben einer ausladenden Zimmerlinde erhob sich sein Großvater. Er trug wie immer einen dunklen Anzug mit Weste, eine akkurat gebundene Krawatte in gedeckten Farben und ein Einstecktuch aus dem gleichen Stoff im Brusttäschchen seines Jacketts. »Willkommen daheim«, sagte er feierlich. Er hatte sich in den fünf Jahren kaum verändert, so, als ob der Alterungsprozess ihm als Einzigem nichts anhaben könnte. Er war jetzt 83 Jahre alt, und wahrscheinlich ging er nach wie vor jeden Morgen um sieben Uhr ins Büro, nachdem er um halb sechs Uhr aufgestanden war, vier Minuten kalt geduscht und sich danach sorgfältig angekleidet hatte. Vermutlich bestand sein Frühstück nach wie vor nur aus einem Bircher Müsli und einem Glas warmem Wasser. Friedhelm Hartung reichte seinem Enkel die Hand. »Ich hoffe, du hast alles gut überstanden. Du wirst ahnen, mit wie viel Respekt ich deine Haltung zur Kenntnis genommen habe.«

Sven antwortete nicht darauf. Er ging zu seiner Mutter hinüber, nahm ihr die Streichhölzer aus der Hand, bemerkte, dass ihre Hände zitterten und küsste sie auf beide Wangen. Sie war die Einzige gewesen, die ihn in der Strafvollzugsanstalt regelmäßig besucht hatte, und er war überzeugt davon, dass sie dies heimlich getan hatte. Ihr Mann Gregor betrat den Raum, entschuldigte sich für seine Verspätung, sagte zu seinem Sohn »da bist du ja«, und nachdem er ihm kurz die Hand gegeben hatte, setzte er sich an den Tisch. »Verdammt wenig Wind, um in den Hafen zu kommen. Karsten lehnt es ja ab, den Motor als Flautenschieber einzusetzen.«

Karsten, Svens drei Jahre älterer Bruder, betrat kurz nach dem Vater den Wintergarten. Er ging sofort auf Sven zu, schloss ihn in die Arme und hielt ihn lange fest. »Mensch, bin ich froh«, sagte er. Zu Svens Überraschung klang es ziemlich echt. »Sylvia hat Vorstellung. La Traviata. Ist ausgesprochen interessant für sie, weil der Chor eine Menge zu spielen hat. Du weißt schon, die Salonszene am Anfang, dieses wilde Fest. Der Chor stellt die ganze morbide Gesellschaft dar. Ist klasse geworden. Richtig gute Inszenierung.«

2. Kapitel

Stefanie Zimmermann hatte sich in ihr Büro zurückgezogen, nachdem Sven Hartung das Gefängnis verlassen hatte. Sie kannte ihn nun seit vier Jahren, seit gut zweieinhalb waren sie heimlich ein Paar. Sven hatte eine Musikband gegründet und zu erstaunlichen Leistungen geführt. Nach Kräften vom Direktor der Vollzugsanstalt unterstützt, hatten schon bald nicht nur Gefangene, sondern auch Mitarbeiter des Strafvollzugs mitgespielt. Stefanie war dem Bandleader durch ihre schöne Stimme aufgefallen. Anders als seine Mitgefangenen glaubten, hatte es nicht an ihrer Schönheit und ihrem frechen Charme gelegen, dass er sie unbedingt in der Musikgruppe haben wollte und bald schon die schönsten Songs für sie schrieb, sondern zunächst tatsächlich nur an ihrer ungewöhnlichen Musikalität und dieser Stimme, von der er sagte, sie könnte Eisberge zum Schmelzen bringen. Aber natürlich war ihm ihr hübsches Gesicht mit den hohen Wangenknochen, der kleinen geraden Nase, den vollen Lippen und den dunklen braunen Augen unter der kurzen schwarzen Ponyfrisur nicht entgangen. Genauso wenig wie ihre zauberhafte Figur. Und so hatte es nicht lange gedauert bis zu ihrer ersten Umarmung und ihrem ersten Kuss. Sobald er in Freiheit sein würde, hatte er ihr immer gesagt, werde sich ihr beider Leben verändern. Genauer war er nie geworden, aber für Stefanie hatte es immer wie ein großes Versprechen geklungen.

Am Tag vor seiner Entlassung hatten sie sich noch einmal im Probenraum getroffen. Sie hatte wissen wollen, wie denn nun alles werde, wenn er endlich wieder frei sei.

»Dann muss ich ein paar Dinge endgültig klären«, hatte er geantwortet.

»Und was sind das für Dinge?«

»Lass gut sein!«

»Kannst du’s mir denn nicht sagen?«

»Nicht jetzt, aber bald.« Alle weiteren Fragen hatte er mit seinen Küssen erstickt.

Um die Mittagszeit, als er das Gefängnis verlassen durfte, war sie ihm auf ihrem Weg zu einer Abteilungsbesprechung begegnet. Er sah anders aus in den Kleidern, in denen er einst eingeliefert worden war. Er hatte seitdem weder ab- noch zugenommen. Die Jeans und die schicke Lederjacke saßen wie angegossen. Ihre Blicke trafen sich. Stefanie blieb stehen. Er ging ohne seine Schritte anzuhalten oder auch nur zu verlangsamen an ihr vorbei. Zwar lächelte er ihr kurz zu, aber das war ein fremdes, ein distanziertes Lächeln. Sie war dann über die Eisentreppe einen Stock höher gestiegen, um dort ans Fenster zu treten und ihm nachzuschauen. Dass der Vollzugsbeamte Hoffmann sie beobachtete und ihr folgte, hatte sie nicht bemerkt.

3. Kapitel

Peter Heiland saß weit zurückgelehnt auf seinem Bürostuhl. Die Beine hatte er auf den Papierkorb gestellt. Auf dem Schreibtisch türmten sich in mehreren Stapeln die Akten. Dazwischen stand ein Schachbrett. Auf einem der Aktenstapel thronte eine bunte Tasse, die er einmal an einer Losbude auf dem Cannstatter Volksfest gewonnen hatte, und auf der in einer verschnörkelten Schrift stand: »Das Leben ist zu kurz für lange Weile.« Der Pfefferminztee darin dampfte noch ein wenig. »Das Beste gegen die Hitze ist immer noch ein heißes Getränk«, sagte er. Kriminaldirektor Ron Wischnewski saß auf der anderen Seite des Tisches, weit über die Schachfiguren gebeugt, auf der vorderen Kante des Besucherstuhls. Seine Teetasse hielt er dabei in der linken Hand leicht über die Tischplatte angehoben. Er gab einen unartikulierten Laut von sich und setzte seinen weißen Läufer auf G7.

Es war ihnen zur Gewohnheit geworden, während des nächtlichen Bereitschaftsdienstes eine Partie Schach zu spielen. Heiland machte sich dann jedes Mal ein so genanntes Gottesurteil. Wenn ich die Partie gewinne, passiert heute nichts, und wir werden von einem neuen Fall verschont. Er zog seinen Turm zwei Felder nach rechts.

Seit drei Monaten war Peter Heiland Leiter der 4. Mordkommission und damit Nachfolger Wischnewskis, der zum Direktor aufgerückt war. Mit beiden Beförderungen hatte niemand im Landeskriminalamt gerechnet, ja, jeder hätte darauf gewettet, dass weder Heiland noch Wischnewski irgendwelche Aufstiegschancen hatten. Wischnewski galt als labil und alkoholgefährdet und Heiland als zu unorthodox, ja skurril. Aber die neue Justizsenatorin liebte überraschende Entscheidungen.

Peter Heiland hatte sich richtig vor der neuen Aufgabe gefürchtet, aber Ron Wischnewski hatte ihn nur angeraunzt. »Weiß man doch: Der Mensch wächst mit seinen Aufgaben.«

»Schach und Matt!«, sagte Peter Heiland. Tatsächlich hatte der Jüngere gewonnen.

Wischnewski war richtig sauer. »Ich hab gleich zwei Fehler hintereinander gemacht!« Es war absolut ungewöhnlich, dass er eine Partie verlor. »Revanche?«, fragte er jetzt.

»Gerne!«, antwortete Peter Heiland.

Wischnewski hatte schon damit begonnen, die Figuren wieder aufzustellen.

4. Kapitel

Stefanie Zimmermann verließ kurz vor neun Uhr am Abend ihre kleine Wohnung in der Pestalozzi­straße. Als sie auf die Straße hinaustrat, schlug ihr die dumpfe Abendhitze entgegen. Ein erster Lufthauch brachte kaum Erleichterung. Die junge Frau trug nur ein leichtes Kleid und kam trotzdem schon nach den ersten Schritten ins Schwitzen. Ihr Blick ging zum Himmel hinauf. Schwarze Wolkenstreifen schoben sich von Westen her über die Dächer Charlottenburgs. Eine heftige Windböe wirbelte plötzlich Staub und Papierfetzen hoch und trieb sie wirbelnd über die Straße. Stefanie beschleunigte ihre Schritte. Am Adenauerplatz stieg sie in einen Bus Richtung Hagenplatz.

5. Kapitel

»Zu Tisch!«, rief Anneliese Hartung, Svens und Karstens Mutter. »Ich sage Agnjeschka Bescheid, dass sie servieren kann.«

»Tut mir leid«, sagte Sven, »ich kann jetzt nichts essen. Seid mir nicht böse, aber ich will unbedingt noch für ein, zwei Stunden in die Stadt, sehen, was sich verändert hat.«

Die anderen blickten ihn verständnislos an.

»Ihr könnt euch das nicht vorstellen, wenn man fünf Jahre nur eine Zelle mit neun Quadratmetern hat und die einzige Bewegungsmöglichkeit der Freigang im Hof ist.«

»Armer Junge«, sagte seine Mutter mit brüchiger Stimme.

»Brauchst du Geld?«, fragte der Großvater.

»Danke nein. Ich hab ja im Knast verdient. 1,10 Euro die Stunde, und weil ich weder rauche noch trinke noch Rauschgift kaufen musste, hab ich noch was übrig.« Er zog die Tür hinter sich zu.

»Er ist ganz schön verbittert«, sagte Karsten.

»Wundert dich das?«, fragte der Großvater und folgte seinem Enkel Sven schnell in die Diele des Hauses. »Warte einen Moment«, rief er, »Wo willst du hin?«

»Vielleicht gehe ich in die Oper«, antwortete der Jüngere.

»Mach jetzt keinen Fehler, Sven!«, rief der alte Hartung fast flehentlich. Aber da fiel die Haustür schon ins Schloss.

Karsten trat aus dem Wohnzimmer. »Hat er gesagt, was er vorhat?«

»Er will in die Oper. Du weißt, was das bedeutet«, sagte der Großvater kurz angebunden. Der alte Hartung unterbrach sich, weil er erst jetzt Gregor bemerkte, der von der Toilette kam.

»Ich geh auch noch mal weg.« Karsten nahm seine Jacke von der Garderobe. »Vielleicht hole ich Sylvia ab.«

»Mir musst du doch nichts erzählen.« Der Großvater kehrte ins Zimmer zurück und schlug die Tür laut hinter sich zu. Gregor sah Karsten an. »Jeder weiß doch, wo du hingehst!«

6. Kapitel

Es war schon nach 21 Uhr. Die Hitze hatte etwas nachgelassen, aber die Luft lastete dumpf und stickig auf der Stadt. Von Westen her schob sich eine schwarze Wolkenwand über den Himmel, deren gezackte Abrisskante ein giftiges Gelb aufwies. Ein heraufziehendes Gewitter schickte in immer schnellerer Folge kurze heftige Sturmböen voraus. Sven Hartung ging schnell. Zwischendurch schaute er immer wieder auf die Uhr. Wenn die Oper um 19 Uhr begonnen hatte – das war die übliche Zeit – dann musste sie kurz vor 22 Uhr zu Ende sein. Am S-Bahnhof Halensee winkte er ein Taxi ab. Viertel vor zehn Uhr stieg er vor der Deutschen Oper in der Bismarckstraße aus.

Die ersten Besucher verließen das Gebäude. Sven bahnte sich einen Weg gegen den Strom ins Innere des Opernhauses. Früher war er oft hier gewesen, um Sylvia abzuholen oder, wenn sie Probe hatte, in den Pausen mit ihr einen Kaffee zu trinken oder eine Kleinigkeit zu essen. Er hatte jeden Augenblick mit ihr genossen. Seinen Großvater hatte das wütend gemacht. »Du vergeudest deine Zeit!«, hatte er ihn eins ums andere Mal angeherrscht. Aber Sylvia und Sven lebten für die Musik, wenn auch auf ganz verschiedene Weise. Er spielte in seiner Band Schlagzeug und Klarinette, sie hatte eine klassische Gesangsausbildung hinter sich, die freilich nicht für eine Solokarriere gereicht hatte. Aber sie bekam ein Engagement beim Staatsopernchor und war durchaus damit zufrieden. Mindestens war sie es vor fünf Jahren gewesen, als die beiden sich das letzte Mal gesehen und umarmt hatten.

Den Weg in die Kantine kannte Sven. Er ging zum Tresen und kaufte sich einen Milchkaffee. Dabei sah er sich neugierig um und spürte eine leichte Enttäuschung. Was hatte er erwartet? Dass ihn jemand erkennen würde? Nach und nach kamen einige Musiker, Bühnenarbeiter und Sänger herein. Man sah den meisten von ihnen an, dass die Anspannung des Auftritts noch nicht ganz von ihnen abgefallen war. Sie bewegten sich hektischer und redeten schneller, als es eigentlich normal war. Sven, der sich an einen kleinen Tisch weit hinten in einer Ecke zurückgezogen hatte, hörte nur Sprachfetzen. »Den Einsatz vermasselt« … »Der dirigiert einfach zu schnell!« … »Wenn’s hoch geht, drückt der Valletta, als sitze er auf dem Klo« … »Langsam aber sicher geht die Disziplin verloren …«

Und dann kam sie. Gemeinsam mit ein paar Kolleginnen und Kollegen aus dem Chor, die alle gleichzeitig zu reden schienen. Doch als sie plötzlich erstarrte, stehen blieb und laut »Nein!« rief, versickerten die Gespräche um sie herum. Dann hörte Sven, wie sie sagte: »Entschuldigt mich bitte!« Mit langsamen Schritten kam sie auf ihn zu. Sven erhob sich. Neugierig beobachteten die anderen, wie die beiden sich zögernd in die Arme nahmen.

»Das ist doch dieser Sven Hartung«, sagte Giovanna Ricci. »Mit dem war sie mal verlobt.« Giovanna war seit 13 Jahren Mitglied im Chor.

»Ja und?«, fragte eine Kollegin.

»Aber dann hat sie seinen Bruder geheiratet.«

»Das ist ja vielleicht krass!«, staunte Jenny Klein, die über eine schöne Altstimme verfügte und ab und zu mit kleinen Soli betraut und damit aus dem Chor herausgehoben wurde, vor allem von einem jungen Dirigenten, der sich anschickte, eine große Karriere zu machen, und der sich in Jenny verliebt hatte.

»Wie lange bist du denn schon draußen?«, fragte Sylvia, als sich die beiden gesetzt hatten.

Sven sah auf seine Uhr. »Seit sechs Stunden ungefähr.«

»Und was machst du hier?«

»Was ist denn das für eine Frage?«

»Na ja«, sagte Sylvia, »du weißt doch …«

»Ja«, unterbrach er sie. »Aber du weißt nicht, was damals wirklich passiert ist.«

»Bitte nicht, Sven. Bitte rühr das nicht alles wieder auf.«

»Es muss aber sein! Das Schlimmste war, dass du dich genau deswegen von mir abgewendet hast. Und dabei war alles ganz anders. Bist du eigentlich glücklich mit Karsten?«

»Moment, Moment, Moment.« Sylvia drückte beide Fäuste gegen ihre Schläfen. »Langsam, Sven. Was erzählst du mir denn da?«

»Du musst endlich wissen, wie das wirklich gewesen ist …«

»Ich muss an die frische Luft. Ich halte das hier drin nicht aus. Sieh doch mal, wie sie uns alle anstarren.« Ihr Atem ging so schnell, dass Sven befürchtete, sie könne jeden Augenblick kollabieren. Sylvia sprang auf und stürmte wie von Furien gehetzt aus dem Raum, vorbei an ihren Kollegen, die noch immer in einer kleinen Gruppe beisammenstanden. »Was ist denn mit der los?«, fragte Jenny, und als Sven kurz danach an ihnen vorbei rannte: »Was hat sie denn?«

7. Kapitel

»Das mit dem Turm war ein Fehler«, sagte Wischnewski. »Schach und Matt!« Im gleichen Augenblick begriff Heiland, dass er die Partie verloren hatte. Immerhin hatte er an diesem Abend eine gewonnen, und das hatte es bislang höchsten zwei oder drei Mal gegeben, obwohl sie Hunderte Partien gespielt hatten. Er schob die Figuren zusammen und legte sie in ihr Holzkästchen. Im gleichen Augenblick klingelte das Telefon. Peter Heiland nahm ab, meldete sich, hörte zu, sagte: »Danke, wir kümmern uns darum«, legte auf und sah Wischnewski an. »Fund einer Frauenleiche in der Tiefgarage Zillestraße hinter der Deutschen Oper.«

»Schade, dass Hanna Iglau erst morgen aus ihrem Urlaub zurückkehrt. Sie interessiert sich doch für klassische Musik, oder?«, sagte Wischnewski mit dem ihm eigenen sarkastischen Humor. »Aber ich kann Ihnen Nadja Zeughoff von der 7. Mordkommission beigeben. Ist ’ne ziemlich ausgeschlafene Kollegin.«

»Ich kenne sie«, sagte Heiland ohne erkennbare Begeisterung. »Eine waschechte Berlinerin, nicht wahr?«

»Ja!« Wischnewski lachte. »Dass Sie als Schwabe damit Probleme haben, kann ich verstehen.«

»Hab ich nicht. Hanna ist auch Berlinerin!«

»Ich komme mit zum Tatort!« Wischnewski stand auf. »Dieses ewige Hocken im Büro macht mich ganz krank.«

Die Spurensicherung war schon da, als sie in die Tiefgarage kamen, in der nur noch vereinzelte Autos standen. Die Tote lag neben ihrem Auto, einem Smart. Ein Gerichtsmediziner, den weder Wischnewski noch Heiland kannten, den Nadja Zeughoff aber mit »Hallo Fred, wie geht’s?« begrüßte, hob kurz den Kopf. »Tach auch!«, sagte er und wendete sich wieder der Leiche zu. Dann sagte er, ohne aufzusehen: »Kopfschuss. Sehr präzise. Immerhin aus einiger Entfernung. Der Täter muss was vom Schießen verstehen.« Er hob ein Projektil in die Höhe. »Könnte Jagdmunition sein. Das würde passen.«

»Weiß man schon, wer das Opfer ist?«, fragte Wischnewski.

Ein junger Beamter von der Spurensicherung trat vor den Kriminaldirektor hin, schlug die Hacken zusammen und nahm Haltung an. »Also …«

»Stehen Se bequem, Mann«, herrschte Wischnewski ihn an. »Wir sind hier nicht beim Militär!«

»Jawoll, Herr Kriminaldirektor.« Der Beamte knickte mit dem rechten Knie ein wenig ein. »Wir haben den Personalausweis. Frau Sylvia Hartung, geborene Niedermeier, wohnhaft Wildpfad 127. Das ist im Grunewald. Die Familie Hartung ist …«

»Hoffentlich noch nicht benachrichtigt?«, unterbrach Wischnewski den Beamten.

Ein älterer Mann, ebenfalls im Schutzanzug, kam hinzu. »Nein. Das liegt ja nicht in unserer Kompetenz! Grüß dich, Ron, auch mal wieder an der Front?«

»Ach Arthur, du leitest den Einsatz? Dann ist ja alles bestens!« Wischnewski stieß den Spusi-Mann in die Seite und gab ihm dann die Hand.

»Gratuliere auch noch zur Beförderung«, sagte der. »Umtrunk hat’s nich gegeben, wa?«

»Nee. Du weißt doch, ich trinke am liebsten alleine. Aber vielleicht schaffen wir beide ja doch mal ’n Bierchen gemeinsam.«

»Wär schön«, sagte der Mann, den Wischnewski mit Arthur angesprochen hatte.

Peter Heiland war, die Hände auf dem Rücken, den Kopf nach vorne geschoben, die ganze Zeit in konzentrischen Kreisen um den Tatort herumgegangen, wobei er sich mehr und mehr vom Zentrum entfernt hatte. Plötzlich blieb er stehen und rief: »Hartung! Natürlich. Der hat auch im Wildpfad gewohnt.«

»Wovon sprichst du?«, fragte Nadja. Sie hatte den Kollegen vom ersten Augenblick an geduzt und war auch dabei geblieben, als Heiland sie weiter gesiezt hatte.

»Von einem Fall, den wir vor ungefähr fünf oder sechs Jahren hatten. Erinnern Sie sich, Herr Wischnewski?«

»Nee!«, sagte der.

»Sven Hartung. Er hat damals ein Geständnis abgelegt, bevor wir begonnen haben, richtig zu ermitteln.«

»Warten Sie mal … Moment, ich muss nachdenken. Augenblick noch. War er nicht Musiker oder so was, Künstler eben. Irgendetwas in der Richtung.«

Peter Heiland verließ seine Kreisbahn und kam auf seinen Chef zu, dabei hob er den rechten Zeigefinger und legte den Kopf leicht in den Nacken. »Sein Anwalt hat allerdings auf Notwehr plädiert.«

»Stimmt. Wie hieß das Opfer noch mal?«

»Oswald Steinhorst. Stellvertretender Geschäftsführer und Chefdesigner der Firma Hartung.«

»Mann, Ihr Gedächtnis müsste man haben, Schwabe!«

Aber Heiland ließ sich nicht mehr unterbrechen. »Die Zeugen haben damals unisono ausgesagt, Sven Hartung habe sich einen Scheiß … also habe sich überhaupt nicht um die Firma gekümmert. Dem sei es immer nur um seine Musik gegangen. Ganz im Unterschied zu seinem Bruder, der die Firma leitete und ein Supermanager gewesen sein muss.«

»Wahrscheinlich ist er es immer noch«, meldete sich Nadja. »Die Firma steht nämlich blendend da.«

»Ach, das wissen Sie?«, fragte Heiland.

»Musste dir merken, Kollege, ick weeß meistens mehr, als man mir zutraut.«

»Dann haben wir gleich zwei von der Sorte.« Wischnewski lachte und deutete auf Heiland. »Er ist nämlich och so ener.« Er sah auf seine Uhr. »Gleich Mitternacht. Morgen ist auch noch ein Tag, sagte die Eintagsfliege. Ich geh nach Hause.«

»Und die Benachrichtigung der Familie?«

»Das übernehmen Sie! Ist ja nicht das erste Mal!« Wischnewski gähnte ungeniert und verließ den Tatort.

Sie fuhren mit Nadjas Dienstwagen. Als sie am Adenauerplatz in den Kurfürstendamm einbogen und Richtung Halensee fuhren, begann es zu regnen.

»Was war denn das für ein Fall damals?«, fragte Nadja.

»Fast sechs Jahre ist das her. Ich war grade von Stuttgart nach Berlin gezogen.«

»Und das haste nie bereut?«

»Da können wir ein anderes Mal drüber reden.« Sie erreichten den Wildpfad. Der Regen war inzwischen noch stärker geworden. »Die Firma Hartung hatte schwere Turbulenzen hinter sich. Der Laden stand praktisch vor dem Aus. Gerettet hat ihn wohl der damals bald 80-jährige Senior, indem er noch mal voll ins Geschäft eingestiegen ist. Die Pläne dazu hatte allerdings einer seiner Enkel entwickelt, der ältere der beiden Brüder. Wie hieß er doch gleich? Karl, nein, warte – Karsten. Ja genau, Karsten Hartung, ein dynamischer, erfolgsorientierter Typ. Von dem stammte der Rettungsplan, und sein Großvater, Friedhelm Hartung, hat ihn rigoros durchgezogen. In den Tagen der Krise wurde alles verscherbelt – Verkaufsfilialen, Ländereien, Immobilien, das ganze Familiensilber – nur die Villa hat die Familie behalten. Standesgemäßes Wohnen musste sein.« Peter Heiland deutete auf das beeindruckende Gebäude, vor dem Nadja jetzt den Wagen anhielt. »Mit dem Erlös aus all den Verkäufen schaffte es der Junior, eine neue Modedesign-Firma aufzubauen, die auf Anhieb großen Erfolg hatte, und sein Großvater hat ihn bald schon gewähren lassen. Karstens Vater, also seinem eigenen Sohn, hat der Alte nie etwas zugetraut. Der ist in der Firma immer nur so eine Art Frühstücksdirektor gewesen.«

»Du musst ja ’n Gedächtnis haben wie ’n Elefant!«, sagte die Kollegin.

»Na ja, es hat mich halt auch beeindruckt. Wollen wir?« Peter Heiland stieß die Beifahrertür auf und schickte sich an auszusteigen. Aber dann ließ er sich noch einmal in den Sitz zurückfallen. »Dieser Karsten hat übrigens später die Verlobte von Sven geheiratet.«

»Echt? Ist ja irre! Und das ist gut gegangen?«

»Keine Ahnung. Das kam so als Info rein, da hatten wir den Fall längst abgeschlossen.«

Endlich stiegen die beiden aus und rannten mit eingezogenen Köpfen durch den Regen zum Haus. Unter dem ausladenden Vordach verschnauften sie erst einmal. Nadja sah zu ihrem Kollegen auf. »Sag mal, wie groß bist du eigentlich?«

»1,92 morgens, 1,90 abends.«

»So ’n langer Lulatsch!« Nadja drückte auf die Klingel.

8. Kapitel

Zuerst ging das Licht rund ums Haus an und hüllte den ganzen parkähnlichen Garten in gleißende Helligkeit. Kurz darauf öffnete sich die Haustür, und auf der Schwelle erschien der alte Friedhelm Hartung. Er trug einen roten Morgenmantel aus Samt, auf der linken Brustseite leuchtete in Gold das gestickte Monogramm FH. Der alte Mann stand hoch aufgerichtet da. Mit der rechten Hand hielt er den Türgriff fest. »Ja, was ist?«

»Kriminalpolizei!«, sagte Nadja, »Kriminaloberkommissarin Zeughoff. Das ist mein Kollege, der leitende Hauptkommissar Peter Heiland.«

»Heiland? Wir kennen uns.« Der alte Herr fixierte Peter Heiland mit seinen kalten grauen Augen. Das gebräunte Gesicht war von Falten durchzogen. Unter der großen Hakennase zog sich ein schmaler Mund hin wie ein Strich. Die eisgrauen Haare standen wirr vom Kopf ab. Hartung hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich zu kämmen. »Also was gibt’s?«

»Dürfen wir reinkommen?«, fragte Peter Heiland dagegen. »Wir haben eine Nachricht, die man nicht zwischen Tür und Angel weitergibt.«

Der alte Mann machte Platz. Die beiden Beamten gingen an ihm vorbei. Nadja nahm den Geruch eines teuren Rasierwassers wahr. Sie traten in eine geräumige Halle, in der zwei Treppen links und rechts in elegantem Bogen zu einer Galerie hinaufführten. Dort oben stand, beide Hände auf das Geländer gestützt, die Schwiegertochter des Patriarchen, Anneliese Hartung. Sie trug ein weißes Kleidungsstück. Peter Heiland fragte sich im Stillen, ob man das ein Negligé nannte. Auf jeden Fall war es mehr als nur ein Nachthemd, denn im Licht der hellen Lampe über der Frau war zu erkennen, dass dieses weiße Etwas in vielen Schichten ihren schmalen Körper umfloss, der darunter gleichwohl noch zu erkennen war.

»Nun reden Sie schon«, sagte der alte Herr. »Etwas Gutes kann es ja nicht bedeuten, wenn Sie zu dieser nachtschlafenden Zeit hier eindringen.« Zu seiner Schwiegertochter rief er hinauf: »Die Herrschaften sind von der Polizei!«

Anneliese Hartung schlug die Hand vor den Mund, sodass man kaum hören konnte, wie sie ausrief. »Um Gottes willen! Doch nicht schon wieder!«

»Sind Ihr Sohn und Ihre Enkelsöhne im Haus?«, fragte Peter Heiland den alten Mann.

»Woher soll ich das wissen?«

»Sven ist noch nicht wieder da«, sagte seine Schwiegertochter, die jetzt die Treppe herabstieg.

Es stellte sich heraus, dass weder Karsten noch Sven im Haus waren. Und als dies geklärt war, fragte der Hausherr noch mal: »Also was ist los?«

»Sylvia, die Frau Ihres Enkels, …« Peter Heiland brach ab.

»Sie ist tot. Ermordet worden. Vermutlich kurz nach der Vorstellung in der Deutschen Oper!«, übernahm Nadja Zeughoff.

»Nein!« Anneliese Hartung schlug beide Hände vor’s Gesicht. Sie stand noch unter der Tür, während sich ihr Schwiegervater gerade in seinen Sessel setzte. Ein paar Augenblicke schien es, als habe der alte Mann nichts von dem, was die Beamten gesagt hatten, verstanden. Er saß nur da und fuhr sich ein paar Mal mit der flachen Hand über die Augen. Schließlich sagte er mit brüchiger Stimme: »Wie kann so etwas passieren?«

»Das versuchen wir grade herauszubekommen«, antwortete Peter Heiland. »Ihr Enkel Sven ist heute aus der Haft entlassen worden. Wissen Sie, wo er sich aufhält?

»Nein. Er wollte noch mal weggehen. Versteht man ja, wenn einer so lange eingesperrt war.«

»Er war mal der Verlobte der Ermordeten.«

»Das ist lange her. Sylvia hat später meinen Enkel Karsten geheiratet.«

»Ja, wir haben das erfahren, und wir waren einigermaßen darüber verwundert«, sagte Peter Heiland.

Frau Hartung, die inzwischen in ihrem Schlafzimmer gewesen war, um sich einen Morgenrock anzuziehen, kam herein. Sie hatte die letzten Sätze gehört. »Das war eine sehr gute Entscheidung«, sagte sie. »Karsten hat lange um sie geworben, schon bevor sie sich Sven zugewendet hatte. Und das Verbrechen, das Sven begangen haben soll, hat Sylvia doch sehr schockiert.«

»Begangen haben soll?«, fragte Nadja scharf.

»So sagt man doch, oder?«

»Aber nur, wenn man nicht glaubt, dass er es war.«

»Ich kenne meinen Sohn besser als irgendwer anderer. Er ist kein Mörder!«

Der Hausherr griff überraschend ein: »Es geht hier ja wohl nicht um den Mord an Oswald Steinhorst damals, sondern um den an Sylvia!«

Peter Heiland, der sich im Unterschied zu seiner Kollegin nicht hingesetzt hatte, sondern in kleinen Kreisen im Zimmer herumgegangen war, blieb stehen, kratzte sich am Kopf und sagte: »Wer weiß? Vielleicht hätte es ohne den ersten Mord den zweiten nicht gegeben.«

»Was soll denn der Schwachsinn?«, fuhr der alte Hartung auf. »Unsere Familie hat mit dem Verbrechen nichts zu tun.«

Im gleichen Augenblick hörte man die Haustür zuschlagen. Nadja ging schnell aus dem Zimmer und kehrte in Begleitung von Karsten Hartung zurück.

»Was ist denn hier los?«, fragte der.

»Mein Enkel Karsten«, stellte Friedhelm Hartung vor.

Peter Heiland trat auf ihn zu. »Wo waren Sie in den letzten fünf Stunden?«

»Wie bitte? Was?«

Peter zeigte seinen Dienstausweis.

»Nicht nötig«, sagte Karsten Hartung, »Ihre Kollegin hat schon gesagt, dass Sie von der Polizei sind.« Er wollte sich umdrehen, um auf Nadja zu zeigen, und prallte mit ihr zusammen, weil sie ganz dicht hinter ihm stand.

»Hat sie auch schon gesagt, aus welchem Grund wir hier sind?«, fragte Heiland.

»Sylvia ist tot. Sie wurde ermordet!« Die Stimme des Familienpatriarchen klang kalt und barsch.

Karsten Hartung starrte die Anwesenden nacheinander an, als hoffte er, dass jemand dem Alten widersprechen würde. Dann schien das Gesagte sein Hirn zu erreichen. »Sylvia?« Er taumelte, griff nach einer Stuhllehne, aber sie entglitt ihm, und der Stuhl fiel krachend zu Boden. Seine Mutter eilte zu ihm und griff nach seinem Arm. Behutsam führte sie ihren Sohn zu dem Sofa, das dem ausladenden Sessel gegenüberstand, in dem der Chef des Hauses saß.

»Ich muss leider darauf bestehen, dass Sie meine Frage beantworten!« Heiland war hinzugetreten und beugte sich zu Karsten Hartung hinab, so dass ihre Gesichter ganz nahe voreinander waren.

»Welche Frage?«

»Wo Sie in den letzten Stunden waren?«

»Ich … Ich war bis kurz nach elf Uhr in meinem Arbeitszimmer. Wir haben Probleme mit einer Lieferung, und ich habe versucht dahinterzukommen, wie das passieren konnte.«

»Und danach?«

»Bin ich raus an die frische Luft. Das mache ich oft.«

»Ja, das macht er oft«, echote seine Mutter. »Er rennt dann um den Grunewaldsee herum. Manchmal drei Mal.«

»War es heute auch so?«, fragte Nadja.

»Ja. Aber das ist doch überhaupt nicht wichtig! Sie sagen, Sylvia ist tot?«

»Sie sind nicht um den Grunewaldsee gelaufen«, stellte Nadja kühl fest.

»Natürlich!«

»Dann würden Ihre Schuhe anders aussehen. Es hat geregnet. Ich kenne den Weg rund um den See. Der ist jetzt ziemlich tief und verschlammt. Außerdem riechen Sie nicht nach frischer Luft, sondern nach Alkohol, Zigaretten und einem sehr weiblichen Parfum.«

Karsten Hartung starrte die Polizistin an, räusperte sich ein paar Mal und brummte dann: »Sie müssen eine verdammt gute Nase haben.«

»Ja, das stimmt. Ich habe auch gerochen, dass Ihr Großvater, kurz bevor wir gekommen sind, ein Rasierwasser der Marke ›Silverskin‹ aufgetragen hat. Grade so, als ob er sich für unseren Besuch hätte frisch machen wollen.«

»Stimmt!«, sagte der Alte. »Sogar die Marke ist richtig. Aber im Unterschied zu anderen Männern rasiere ich mich am Abend, bevor ich zu Bett gehe, damit ich morgens keine Zeit verliere.«

»Machen wir hier eigentlich Konversation, oder was?«, schrie plötzlich seine Schwiegertochter. »Sylvia ist tot, sagen diese Leute, und ihr …« Sie unterbrach sich und starrte abwechselnd ihren Sohn und ihren Schwiegervater wütend an.

Peter Heiland hob abwehrend beide Hände. »Es ist immer so, Frau Hartung. Ein Mensch kommt ums Leben, und wir sind gezwungen, ganz banale Fragen zu stellen. Wir werden Sie jetzt in Ruhe lassen. Das heißt, nachdem uns Ihr Sohn gesagt hat, wo er in den letzten fünf Stunden war.«

Karsten Hartung stand vom Sofa auf. »Ich bringe Sie zur Tür.«

Als sie in die Halle hinaustraten, kam Anneliese Hartungs Mann Gregor die rechte Treppe herunter. Er trug einen blauen Blazer, darunter ein weißes Hemd mit einem goldgesprenkelten Einstecktuch, dazu eine weiße Hose und elegante Slipper. »Was ist eigentlich los? Ich höre schon eine ganze Zeit Stimmen im Haus.«

»Lass es dir von Mama erklären«, sagte Karsten. »Sie ist im Wohnzimmer bei Opa.« Er ging voraus zur Haustür und öffnete sie. Als Peter Heiland und Nadja ihn erreichten, begann er: »Ich war bei meiner Geliebten. Wenn es unumgänglich werden sollte, werde ich Ihnen Namen und Adresse geben. Auf Wiedersehen!«

Die beiden Polizeibeamten verließen die Villa. Am Auto blieben sie stehen. »Hast du das wirklich alles gerochen?« Zum ersten Mal duzte Peter Heiland seine Kollegin, die das mit einem Schmunzeln zur Kenntnis nahm.

»Ja, ich bin tatsächlich mit dieser Begabung geschlagen. Nu los, steig ein.«

»Lass mal, ich bleib hier, bis Sven Hartung nach Hause kommt.«

»Und ich?«

»Du fährst heim, legst dich aufs Ohr und schnüffelst morgen weiter mit deiner wunderbaren Nase.«

Nadja öffnete die Fahrertür, kam dann aber noch mal um den Dienstwagen herum und gab Peter die Hand. »Weißt du was? Die Kollegen, die alle erzählen, du seist ein komischer Kauz, haben vielleicht recht.«