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Kommissar Heiland dringt in eine Welt sozialer Kälte ein, in der Gewalt zum Alltag gehört und der Tod billig zu haben ist. Taucher finden eine Leiche im Berliner Westhafen. Der Mann ist polizeibekannt. Ein Pendler zwischen Nigeria und Berlin. Bordellbesitzer, Frauenhändler, Rauschgiftdealer, Herr über eine Bande jugendlicher Gangster. Niemand weint ihm eine Träne nach. Nicht einmal sein eigener Vater. Kommissar Heiland glaubt dennoch nicht, den Mörder in diesem verbrecherischen Milieu zu finden. Erneut zeigt Felix Huby sein untrügliches Gespür für die menschlichen Seiten von Verbrechen, Rache und Schuld.
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Seitenzahl: 257
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Felix Huby
Heiland
Kriminalroman
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag: Der Patriarch (2016)
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2017
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
ISBN 978-3-8392-5496-7
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die beiden Taucher ließen sich rückwärts in das Hafenbecken fallen. Die starken Stirnlampen schalteten sie erst ein, als sie unter der Oberfläche waren. Das Licht wurde durch die Schmutzpartikel im Wasser gestreut, aber die Bordwand des Schiffes war gut zu erkennen. Das Leck, das sie aufspüren sollten, musste kurz über dem Kiel sein und sollte von außen abgedichtet werden. Der innere Teil der doppelwandigen Schiffshülle hatte der Kollision standgehalten. Sobald die Außenwand abgedichtet sein würde, konnte das Wasser im Zwischenraum abgesaugt werden. Der erste Taucher erreichte den Grund knapp einen halben Meter unterhalb des Kiels. Sein Fuß versank in etwas Weichem. Das Hafenbecken war betoniert, und der Mann hatte einen dementsprechend harten Untergrund erwartet. Er ließ sich auf die Knie sinken und beugte den Kopf tief. Fast im gleichen Moment stieß er sich kräftig wieder ab, packte seinen Kollegen, der dicht über ihm schwamm am Arm und zog ihn mit hoch. Sobald sie die Wasseroberfläche durchstoßen hatten, riss er sich die Atemmaske vom Gesicht, und schrie: »Da unten liegt einer!«
»Was – einer?«, rief der Vorarbeiter.
»Ein Mensch!«
Die Taucher kletterten die Eisenleiter an der Betonwand hinauf.
»Und das Leck?« Der Vorarbeiter wischte sich das Gemisch aus Schnee und Regen, das nun schon den ganzen Morgen vom Himmel fiel, von seinem kahlen Schädel.
»Ist direkt drüber! Ruf die Polizei!«
»Ne Wasserleiche am frühen Morgen! Hat das nun sein müssen?«, knurrte der Vorarbeiter und wählte die 110. Die beiden Taucher schälten sich aus ihren Neoprenanzügen und stiegen in den Materialwagen, um sich nicht weiter dem nasskalten Aprilwetter aussetzen zu müssen.
Im Wetterbericht war tags zuvor für die Nacht Bodenfrost angekündigt worden, für den nächsten Tag, den 26. April, Regen, vermischt mit Schnee und gelegentlichen Graupelschauern. Dabei war vor drei Wochen das Thermometer schon mal auf über 20 Grad geklettert. Aber seitdem löste eine Kaltfront aus dem Norden die andere ab. »Du kannst froh sein, dass du nicht raus musst«, sagte Peter Heiland zu Hanna, die ihm vom Bett aus zusah, wie er in seine Kleider stieg. Unter der Bettdecke wölbte sich ihr Bauch. Wenn es sich an die ärztlichen Vorgaben hielt, würde das Baby in knapp drei Wochen auf die Welt kommen. Hanna Iglau befand sich im Mutterschutz.
Peter hielt sich jetzt die meiste Zeit bei Hanna auf. In seine eigene Wohnung ging er nur noch, um gelegentlich nach dem Rechten zu sehen. Aber er konnte sich nicht entschließen, diese Räume aufzugeben und ganz zu seiner Partnerin zu ziehen. Er scheute sich überhaupt, Entscheidungen zu treffen, die sein Leben verändern würden. Nur einmal war das anders gewesen, als er sich entschlossen hatte, von Stuttgart nach Berlin zu ziehen. Er behauptete nicht, dass dies ein Fehler gewesen sei. Allerdings hatte sich der Grund für seinen Umzug schnell verflüchtigt. Die Frau, in die er sich verliebt hatte, und die, als sie schon ein paar Monate früher in die Hauptstadt gezogen war, versprochen hatte, für sich und ihn eine Wohnung zu suchen, hatte zwar schnell ein neues Zuhause gefunden, aber als Peter Heiland ankam, wohnte sie dort mit einem anderen Mann. Sie habe ganz vergessen, ihm Bescheid zu geben, hatte sie damals kühl gesagt.
Peter Heiland, der ihr zuliebe mit einiger Mühe seine Versetzung nach Berlin betrieben und schließlich eine Stelle beim Landeskriminalamt gefunden hatte, war tagelang wie gelähmt gewesen. Er hatte schon überlegt, wie er seine Rückversetzung nach Stuttgart bewerkstelligen könnte, da bot ihm ein Kollege, der sich nach Bayern beworben hatte, seine Wohnung an. Die Möbel wollte der berlinmüde Kommissar nicht mitnehmen, weil er das Glück habe, bei seiner Freundin, die er bald heiraten werde, einziehen zu können. Seitdem wohnte Peter in der Stargarder Straße in einer Wohnung mit Möbeln, die er selbst nie gekauft hätte und in einer Gegend, die für ihn sehr gewöhnungsbedürftig war. Doch in dem wilden, lebensprallen Kiez rund um die Schönhauser Straße, hatte er sich mit der Zeit mehr und mehr wohl gefühlt. Für Hanna und das Kind wäre dort freilich kein Platz gewesen.
Eine Böe rüttelte an dem großen Kastanienbaum im Hinterhof des Mietshauses am Kaiserdamm. Nasser Schnee wurde gegen die Fensterscheiben geworfen. Peter Heiland schlüpfte in seinen Parka und zog die Kapuze über den Kopf. »Willst du wirklich mit dem Fahrrad fahren?«, fragte Hanna und kuschelte sich wohlig ein wenig tiefer unter die Decke.
»Ich bin ja nicht aus Zucker. Außerdem hab ich wieder diese grässlichen Kopfschmerzen. Vielleicht gehen die weg, wenn ich durch die frische Luft radle.« Er ging zum Bett, beugte sich über Hanna und küsste sie. »Zum Glück ist das kein Wetter für Verbrechen«, sagte er. »So hat mein Chef in Stuttgart an solchen Tagen immer gesagt.«
»Wollen wir hoffen, dass er recht behält«, sagte Hanna.
»Der Bienzle hatte meistens recht!«, rief Peter Heiland von der Tür her.
»Leiche im Westhafen!« Peter Heiland hatte noch nicht »Guten Morgen« gesagt, da überfiel ihn seine Kollegin Jenny Kreuters mit diesem Satz.
Heiland zog seinen klitschnassen Parka aus und hängte ihn über die Klinke der Tür, um ihn nachher nicht zu vergessen, wenn er aus dem Gemeinschaftsbüro seiner Mitarbeiter in sein eigenes Büro hinüberging. Er holte sich von der kleinen Maschine, die auf der Fensterbank stand, einen Becher Kaffee und setzte sich auf den Besucherstuhl. »Und ich sag noch: Heute ist kein Wetter für Verbrechen.«
»Kann ja auch ein Selbstmörder gewesen sein. Die Spurensicherung ist schon vor Ort. Carl auch. Er hatte ja Bereitschaftsdienst.« Im gleichen Augenblick klingelte das Telefon. Peter Heiland hob ab. »Ja?«
»Schön, dass du schon da bist«, sagte Carl Finkbeiner am anderen Ende der Leitung.
»Soll ich kommen?«
»Ich schaff das schon.«
»Ist es überhaupt ein Fall für uns?«
»Und ob! Die Leiche lag ziemlich lange im Wasser, aber es ist trotzdem zu erkennen, dass es sich um einen Mord handelt. Der Mann war gefesselt und mit den Füßen an einen Betonklotz gekettet. Nichts für schwache Nerven, sag ich dir. Ich mach jetzt hier Schluss. Alles Weitere im Büro!«
Peter Heiland schätzte die sachlich nüchterne Art seines Kollegen. Carl Finkbeiner war der Mitarbeiter, mit dem er sich am besten verstand und das nicht nur deshalb, weil der auch aus Schwaben stammte wie er selbst.
»Weiß der Chef schon Bescheid?«, Peter massierte seine Schläfen mit den Fingerknöcheln.
Jenny schüttelte den Kopf. »Wischnewski hat sich krank gemeldet. Reiber vertritt ihn.«
»Kurt Reiber?«
»Ja, der Abteilungsleiter von der 3. Mordkommission.«
»Wieso denn der? Konnarek ist Wischnewskis Stellvertreter.«
»Ja, aber Konnarek ist in Paris. Deutsch-französische Konferenz zur Sicherheitszusammenarbeit. Schwerpunkt Terrorismus und Randale bei internationalen Fußballspielen. Dauert die ganze Woche.«
Peter Heiland nahm einen Schluck aus dem Kaffeebecher. »Was fehlt ihm denn? – Wischnewski, meine ich.«
»Keine Ahnung. Reiber hat irgendwas von Burnout und schweren Depressionen gesagt.«
»Könnte stimmen«, sagte Peter. »In letzter Zeit war Wischnewski ziemlich neben der Mütze. Aber er redet ja nie über sich selbst.«
Norbert Meier kam herein. »Scheißwetter!« Peter Heilands nasser Parka fiel zu Boden. Meier kümmerte sich nicht darum. Er stieß seinen triefend nassen Schirm in den Papierkorb neben seinem Schreibtisch. Der kleine, untersetzte Kommissar war der Älteste in Heilands Mannschaft und notorisch schlechter Laune, was unter anderem damit zu tun hatte, dass er eigentlich damit gerechnet hatte, Chef der 4. Mordkommission zu werden. Es kostete ihn erkennbar Mühe, sich dem sehr viel jüngeren Kollegen Peter Heiland unterzuordnen. »Was Neues?«
»Eine Wasserleiche im Westhafen. Carl muss gleich da sein. Er ist seit 7.00 Uhr am Tatort«, antwortete Jenny.
Peter Heiland hob seinen Parka auf und hängte ihn wieder über die Türklinke.
Meier sah auf seine Uhr. »Gleich 10.00! Und ich hab gedacht, ich hätte endlich Zeit, meinen Papierkram in Ordnung zu bringen.« Er holte sich einen Kaffee und setzte sich mit einem unwilligen Knurren an seinen Schreibtisch. Es wäre tatsächlich an der Zeit gewesen, dort Ordnung zu schaffen. Norbert Meier fand nur mit Mühe einen Platz für seinen Kaffeebecher.
Carl Finkbeiner, wie immer in eine hellbraune Cordhose und einen dunklen Pullover gekleidet, kam herein. Den Regenmantel, den er darüber getragen hatte, hielt er in der Hand und hängte ihn nun sorgfältig auf einen Kleiderbügel. Ohne Vorrede legte er los: »Der Gerichtsmediziner meint, der Tote müsse schon sechs bis acht Wochen am Grund des Hafenbeckens gelegen haben. Aber es war trotzdem leicht zu erkennen, dass er durch einen Genickschuss getötet wurde. Auffällig ist ein Tattoo am rechten Oberarm. Da, ich hab versucht, ein Foto davon zu machen.« Carl Finkbeiner reichte sein Handy herum.
»Was soll denn das darstellen?«, fragte Meier.
»Dass sich das so gut erhalten hat!«, wunderte sich Jenny. »Sieht aus wie ein Busch …«
»Oder wie ein Feuer«, meinte Carl Finkbeiner.
»Konnte der Gerichtsmediziner schon etwas über das Alter des Mannes sagen?«, wollte Peter Heiland wissen.
Finkbeiner nickte. »Um die 40. Keine Ahnung, wie er das festgestellt haben will. Aber die Spurensicherung hat es bestätigt.«
»Die Spurensicherung? Wie denn das?«, fragte Jenny.
»Ganz einfach. In der Innentasche seiner Jacke, also in den Fetzen, die von dem Kleidungsstück übrig geblieben sind, haben die Spusi-Leute seinen Pass gefunden.«
»Was??« Das kam von allen drei Kollegen wie aus einem Mund.
»War in einer Plastikhülle und ganz gut zu lesen. Der Mann heißt Sven Lubinski und wäre nächste Woche 40 Jahre alt geworden. Geboren in Berlin. Der Pass ist während der letzten 20 Jahre immer fristgerecht im deutschen Konsulat in Lagos verlängert worden.«
»Lagos liegt in Kenia, oder?«, fragte Meier.
»Nein, es ist die Hauptstadt von Nigeria. Im Pass fand sich ein Einreisestempel nach Deutschland vom Oktober vorletzten Jahres. Eine Einreise nach Nigeria ist nicht mehr vermerkt.«
Plötzlich war es still im Raum, bis sich Peter Heiland meldete. »Und weiter? Klingt ja, als hättest du den Fall schon fast gelöst.«
Carl Finkbeiner schüttelte den Kopf. »Davon kann keine Rede sein. Auf dem Weg hierher habe ich die Vermisstenstelle angerufen. Niemand scheint diesen Lubinski zu vermissen.«
Meier meldete sich: »Ist ja nicht gesagt, dass der Ausweis dem Toten gehörte.«
Carl Finkbeiner nickte. »Stimmt. Von dem Gesicht war nicht genügend übrig, um es mit dem Foto vergleichen zu können.«
»Iiihh«, machte Jenny Kreuters.«
»Okay«, sagte Peter Heiland. »Wo fangen wir an?«
»Im Telefonbuch gibt es nur sechs Lubinskis mit i hinten, Lubinskys mit y sogar nur drei«, rief Jenny Kreuters, nachdem sie das Berliner Telefonbuch auf ihrem Bildschirm aufgerufen und nach dem Namen gesucht hatte.
»Wir müssen übers Einwohnerverzeichnis gehen«, meldete sich Carl Finkbeiner. »Hat ja bald keiner mehr eine Festnetznummer.«
»Gut, wenn wir die Adressen haben, übernimmt jeder ein paar. Und dann sehen wir zu, dass wir einen Kontakt zu den Kollegen in Nigeria herstellen können.«
»Wenn da eine Dienstreise drin ist, melde ich mich freiwillig«, rief Jenny Kreuters fröhlich.
»Also ich kann darauf verzichten«, brummte Finkbeiner. »Ich hab da mal ne Kriminalitätsstatistik gelesen. In Lagos bist du deines Lebens keine Sekunde sicher. Nigeria ist zwar reich wegen der Ölvorkommen, aber die Leute sind trotzdem bettelarm, weil das korrupte System verhindert, dass irgendwas von dem Reichtum bei ihnen ankommt. Deshalb zapfen die Menschen dort die Ölpipelines an, und dabei gibt es immer wieder schwere Explosionen, bei denen schon Hunderte umgekommen sind. Und jeden Tag kommt es zu Entführungen mit Lösegelderpressungen.«
»Also vorerst versuchen wir’s auf dem normalen Dienstweg.« Peter Heiland presste beide Hände flach gegen die Stirn.
»Wenn du Kopfschmerzen hast, ich hab Aspirin«, sagte Finkbeiner.
»Du musst die schmerzende Stelle beatmen«, meldete sich Jenny.
»Aha, und wie mach ich das?«
»Tief und gleichmäßig einatmen und den Atem an die schmerzende Stelle lenken, dann lange ausatmen und dir vorstellen, dass der Schmerz mit der verbrauchten Luft den Körper verlässt.«
»Bei mir hilft ein nasses Handtuch – zusammengerollt und in den Nacken gelegt«, meldete sich Norbert Meier, der lustlos ein paar Akten aufeinanderschichtete.
»Ich warte einfach, bis es vorbei geht«, meinte Peter Heiland. »Meistens funktioniert das.«
»Ich fange mal an zu telefonieren«, sagte Jenny.
»Ich mach mit.« Peter Heiland setzte sich an ein Tischchen in der Ecke und zog das Telefon zu sich heran. Er fühlte sich in dem Einzelbüro nicht wohl, das er hatte beziehen müssen, als er Chef der Kommission geworden war.
»Wir sind auf der Suche nach Sven Lubinski.« Es war erst der dritte Anruf. Eine raue Stimme antwortete: »Ich auch.« Peter Heiland gab den anderen Zeichen, dass er offenbar einen Treffer gelandet hatte. Auch die anderen Drei hingen am Telefon, legten nun aber die Hörer aus der Hand. »In welchem Verhältnis stehen Sie zu ihm?« Peter Heiland drückte die Mithörtaste auf laut.
»Wer will das wissen?«
»Mein Name ist Peter Heiland, leitender Hauptkommissar beim Landeskriminalamt Berlin.«
»Aha, ist es mal wieder so weit«, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung.
»Wie sind Sie mit Sven Lubinski verwandt?«
»Ich bin sein Vater. Roman Lubinski.«
»Wo können wir Sie treffen?«
»Ich bin bis 12.00 Uhr Mittag zu Hause. Was hat er denn wieder angestellt?«
»Das erzählen wir Ihnen gleich, wenn wir bei Ihnen sind. Ihre Anschrift?«
»Quitzkowskistraße 17, Hinterhaus, Erdgeschoss rechts.«
»Vielen Dank!« Peter Heiland legte auf.
»Der hat ne Stimme wie ’n Reibeisen«, sagte Jenny Kreuters.
»Raucher und Säufer vermutlich«, meinte Norbert Meier.
»Warten wir’s ab.« Peter Heiland griff nach seinem Parka. »Quitzkowskistraße, wo ist denn das?
»In Moabit. Geht von der Beusselstraße ab«, wusste Meier. »Ganz in der Nähe vom Güterbahnhof. Ist so ne Gegend, da geht dir nachts das Messer in der Tasche auf.«
»Noch ist es ja Tag«, sagte Heiland, »Jenny, kommst du mit?«
Die Kollegin zog die unterste Schublade ihres Schreibtisches auf und nahm einen zusammengefalteten Regenschirm heraus.
Carl Finkbeiner sagte: »Ich rede mit den Ballistikern. Vielleicht können die schon etwas zu dem Projektil, beziehungsweise zur Tatwaffe sagen.«
»Und ich räume endlich meinen Schreibtisch auf«, brummte Norbert Meier.
Die Gegend um die Beusselstraße in Moabit wirkte selbst an Sonnentagen grau. Aber jetzt, da die Wolken tief über der Stadt hingen, Nebelschwaden wie schlaffe, nasse Leintücher durch die Straßenschluchten trieben und die feuchte Luft die Kleider durchnässte, obwohl es nicht mehr regnete, war die Tristesse noch größer.
Peter Heiland und Jenny Kreuters hatten den Wagen direkt vor der Nummer 17 abgestellt und dann rasch den Durchgang in den Hinterhof passiert. Graue Wände, von denen der Putz bröckelte, ragten fünf Stockwerke hoch auf. Überrascht sahen die beiden ein hübsches kleines Gärtchen mit bunten Blumen und eine schmale Pergola unter der die unterschiedlichen Mülleimer akkurat nebeneinander standen. »Das gefällt mir«, sagte Peter Heiland, »die nehmen die Armseligkeit nicht einfach so hin.«
Roman Lubinski stand hinter einem geschlossenen Fenster im Erdgeschoss rechts von der Eingangstür und sah den beiden Polizisten entgegen. Kurz bevor sie die Haustür erreichten, öffnete er einen Fensterflügel. »Kripo?«
Peter Heiland nickte. »Dürfen wir reinkommen?«
Lubinski nickte ebenfalls. »Ist offen.«
Als sie die Wohnungstür gleich rechts neben dem Hauseingang erreichten, öffnete Lubinski und schaltete das Licht im Flur an. »Bei schlechtem Wetter wird’s hier unten im Haus nicht hell.« Zwei Zimmer, Küche, Bad. Alles in allem keine 60 Quadratmeter, schätzte Peter Heiland. Sparsam möbliert. Im Wohnzimmer ein runder Tisch mit vier Stühlen darum herum, ein Sessel mit abgewetztem Polster gegenüber einem Fernsehgerät mit einem riesigen Flachbildschirm. Über der Tür ein Kreuz mit dem leidenden Christus. An der Wand gegenüber dem einzigen Fenster stand ein Regal mit verschiedenen Schiffsmodellen. Keine Nachbauten von stolzen Segelschiffen oder Überseedampfern, ausschließlich Modelle von Lastkähnen, wie sie auf den Flüssen fahren. Auch hier brannte Licht.
»Setzen Sie sich!«, sagte Lubinski und zog drei Stühle vom Tisch weg. »Ich muss gleich los.«
Zögernd nahmen die beiden Beamten Platz. Peter Heiland hatte Mühe, den richtigen Anfang für die Nachricht zu finden, die er Lubinski überbringen musste. Er räusperte sich ein paar Mal, ehe er sagte: »Herr Lubinski, wir haben eine traurige Nachricht.«
»Hab nichts anderes erwartet.«
»Ihr Sohn ist tot.«
Roman Lubinski hob seinen kantigen Schädel. Nur wenige Haare bildeten einen schmalen Kranz um seine Glatze. Das Gesicht wurde unter der flachen Stirn von einer klobigen Nase dominiert. Der Mann sah den Kommissar aus hellen grauen Augen an. Seine Kiefer mahlten. »Tot sagen Sie?«
»Ja, er ist Opfer eines Verbrechens geworden.«
»Sie meinen ermordet?« Roman Lubinski brauchte offenbar Zeit, um die Nachricht zu verstehen. »Ich hab mit allem Möglichen gerechnet, aber …« Er brach ab.
»Wohnte Ihr Sohn auch hier?«, fragte Jenny.
»Nicht lange. Es ist nicht gut gegangen.«
»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«, fragte Peter Heiland.
»Weiß nicht, irgendwann im Frühjahr. Ich war froh …«, wieder brach er ab.
»Dass er ausgezogen ist?«, fragte Jenny.
Lubinskis Kopf fuhr zu der Polizistin herum. »Ja, genau!« Er stand auf. »Ich muss mich umziehen!« Er ging in den Nachbarraum, der offensichtlich sein Schlafzimmer war.
Auch Peter Heiland stand auf und ging zu dem Regal mit den Schiffsmodellen. »Haben Sie was mit der Schifffahrt zu tun?«, rief er dem Hausherrn nach.
»Ich war 52 Jahre Flussschiffer. Havel, Elbe, Donau, Rhein, bin überall gefahren, aber hauptsächlich auf der Oder«, kam es aus dem Schlafzimmer. »Immer einfacher Bootsmann, aber nie arbeitslos!« Er kam zurück. In der Hand hielt er ein dunkles Hemd aus einem schweren Stoff. Sein nackter Oberkörper war über und über tätowiert.« Jenny starrte ihn fasziniert an.
»Vor den Vätern sterben die Söhne, hat mal einer gesagt, aber das war, glaube ich, im Krieg.« Lubinski zog sein Hemd über den Kopf. »Sven war ein schlechter Mensch.« Plötzlich wurde seine raue Stimme ganz leise. »Wie kommt das eigentlich? Ich meine: Ich habe mir ein Leben lang nichts zuschulden kommen lassen.«
Weder Peter Heiland noch Jenny Kreuters fiel etwas dazu ein. Deshalb fragte der Kommissar möglichst sachlich. »Ihr Sohn hat wohl lange in Nigeria gelebt.«
Lubinski nickte und sagte mehr zu sich selbst: »Aus den Augen, aus dem Sinn. Ich hab ihn tatsächlich jahrelang regelrecht vergessen gehabt.«
»Nicht wirklich«, sagte Jenny, »das kann ich mir nicht vorstellen.«
Lubinski sah sie an. Dann nickte er ein paar Mal. »Ich hab’s mir eingeredet.«
»Ihr Sohn ist vor anderthalb Jahren aus Lagos zurückgekommen. Wir konnten seinen Pass sicherstellen, und da war der Einreisetempel drin. Stammt vom Oktober 2014.«
Der Hausherr nickte nur, schlüpfte aus seinen Pantoffeln und zog unter dem Sessel ein paar derbe Schuhe hervor.
»Ist er dann gleich bei Ihnen eingezogen?«
»Denke schon.«
»Und wann ist er wieder ausgezogen?«
»September letztes Jahr. Ohne ein Wort. Einfach verschwunden. Ich hab danach nie wieder etwas von ihm gehört … bis heute.«
»Sie wissen auch nicht, wo er danach gewohnt hat?«
»Nein.«
»Lebt seine Mutter noch?«, fragte Peter in betont sachlichem Ton.
»Denke schon.«
»Haben Sie ihre Adresse?«
»Ja, irgendwo. Ich müsste sie suchen. Dazu hab ich jetzt aber keine Zeit.«
»Aber sie hat auch noch den Namen Lubinski?«
»Ja.«
»Sind Sie geschieden?«
»Schon seit 30 Jahren.«
»Sie haben keinen Kontakt mehr?«
»Nur ganz selten. Es gibt nichts mehr zu sagen.«
»Und Sie wissen nicht, wo Ihr Sohn gelebt hat, nachdem er hier ausgezogen ist?«
»Nein. Nur, dass er sich meistens in einer Kneipe gar nicht weit von hier herumgetrieben haben muss. Drüben am Westhafen. Ich glaube die Pinte heißt ›Versteck‹.« Ächzend stand er auf. »Ich muss los.«
»Können wir Sie ein Stück mitnehmen?«, fragte Peter Heiland.
Lubinski schüttelte den Kopf. »Ich hab’s nicht weit.«
»Eins noch«, sagte Peter Heiland. »Haben Sie ein neueres Bild von Ihrem Sohn?«
Wortlos ging Lubinski noch einmal ins Schlafzimmer und kehrte schon nach wenigen Augenblicken mit einem Passfoto zurück. »Da, das hat er liegen lassen. Irgendwann mal hat er die Bilder für einen neuen Ausweis gebraucht.«
Als sie das Haus verließen sagte Peter Heiland: »Wir müssen Sie sicher noch mal belästigen.«
Roman Lubinski nickte nur, ohne etwas zu sagen.
»Vor allem müssen wir Sie bitten, Ihren Sohn zu identifizieren. Dazu sollten Sie mit uns in die Gerichtsmedizin.«
Wieder nickte Lubinski nur.
Der Himmel war ein wenig heller geworden. Peter Heiland und Jenny Kreuters standen neben dem Dienstwagen und sahen dem alten Schiffer nach. Er ging sehr aufrecht mit einem leicht wiegenden Gang den Gehweg hinunter Richtung Westhafen. Er hatte nicht einmal gefragt, wie sein Sohn ums Leben gekommen war.
Das »Versteck« trug seinen Namen zurecht. Jenny und Peter hatten ihr Auto vor einem hohen Ziegelgebäude abgestellt. Sie mussten mehrmals fragen, ehe ihnen ein Mädchen, das, an ein Mäuerchen gelehnt, auf dem Bordstein saß und über zwei Knöpfe in den Ohren versonnen der Musik aus ihrem iPod lauschte, weiterhelfen konnte. Jenny Kreuters tippte das Mädchen an der linken Schulter an. Sie hob einen der beiden Kopfhörer ab und sah die Kommissarin fragend an.
»Wir suchen das ›Versteck‹.«
Das Mädchen zeigte mit dem Daumen die Straße hinunter und kippte ihn dann nach rechts. Dann schob sie den Hörknopf zurück ins Ohr.
Die erste Abbiegung nach rechts erreichten die beiden Kommissare nach etwa 300 Metern. Jetzt lief eine enge gepflasterte Straße an einer etwa zwei Meter hohen, grau gestrichenen Mauer entlang, und nach weiteren 100 Metern, in einer Kurve, die nach links führte, hatte diese Mauer eine Ausbuchtung mit zwei Fenstern. Es sah aus, als ob die Mauer eine Beule hätte. Davor standen drei Stehtische. Über einer offenen Stahltür hing das Schild einer Brauerei und darunter konnte man mit etwas Mühe das Wort »Versteck« lesen. Die Buchstaben waren samt und sonders aus der Senkrechten verrutscht. »Da sieht schon die Schrift wie besoffen aus«, sagte Peter Heiland.
Sie betraten die Kneipe. Ein düsterer Raum. Heiland zählte sieben Tische, auf denen die Stühle standen. Auf einem Bord etwas über Kopfhöhe stand ein Fernseher. An der Wand gegenüber dem Eingang ein Tresen mit einem Flaschenregal dahinter. Neben dem Tresen ging eine Tür ins Freie hinaus, jedenfalls kam von dort etwas Tageslicht durch die verschmutzte Scheibe im oberen Teil. Es roch nach schalem Bier und kaltem Rauch. Aus einem Kofferradio erklang orientalische Musik. Eine dicke Frau, die ihr Kopftuch dicht ums Gesicht geschlungen hatte, wischte den Boden.
»Hallo!«, grüßte Jenny.
Die Frau sah auf. »Noch nicht offen.«
»Wir suchen den Wirt.« Jenny zeigte der Frau ihren Ausweis, aber die schien nichts damit anfangen zu können. »Hinten«, sagte sie und deutete auf die schmale Tür neben dem Tresen.
Die Überraschung war perfekt. Peter Heiland hatte die Tür aufgestoßen, und nun standen sie in einem großen gepflasterten Hof. Die schweren Zweige zweier Kastanien bildeten ein nahezu geschlossenes Dach. Einfache Tische mit Bierbänken davor standen ohne erkennbare Ordnung herum. An einem saß ein Mann, der trotz der kühlen Temperaturen und der Nässe, die unaufhaltsam aus den Baumkronen heruntertroff, nur ein Paar halblange olivgrüne Hosen und ein Unterhemd in der gleichen Farbe trug. Seine wenigen schwarzen Haare, die von der Feuchtigkeit glänzten, hatte er nach vorne in die Stirn gekämmt. Jetzt hob er den Kopf. Sein rundes Gesicht war an den Wangen ein wenig eingefallen. »Was ist los?«, fragte er.
Peter Heiland setzte sich dem Mann auf der Bank gegenüber, stand aber sofort wieder auf, zog ein Taschentuch heraus und versuchte die Sitzfläche trocken zu reiben. »Kommissar Heiland, Landeskriminalamt. 4. Mordkommission«, stellte er sich vor. Das ist meine Kollegin Jenny Kreuters.« Jenny blieb stehen.
»Ausweis?«
Beide Beamte zogen ihre roten Ausweise heraus und hielten sie dem Mann unter die Nase.
»In Ordnung.« Der Wirt schob einen Aktenordner, einen Terminkalender und einen Schreibblock zur Seite. »Mordkommission haben Sie gesagt? Um wen geht’s?«
»Um Sven Lubinski.«
»Kenne ich nicht.«
Peter Heiland schob das Foto, das der alte Schiffer ihnen gegeben hatte, über den Tisch. Der Wirt nahm es mit spitzen Fingern hoch. »Das ist Malik!«
»Wie bitte?«
»Der war jetzt fast zwei Monate nicht mehr da. Ich hab ihn nicht vermisst.«
»Zwei Monate – fast so lange ist er schon tot. Er wurde gestern im Westhafen gefunden. Irgendwer muss ihn erschossen und danach dort versenkt haben.«
»Mir fehlt er nicht.«
»Was wissen Sie über ihn?« Jenny wischte nun auch ein Stückchen Sitzfläche trocken und ließ sich vorsichtig nieder.
»Ein Scheißkerl. Ein Großmaul. Aber die Jungs verehren … also die haben ihn verehrt. Der hat sich hier ne Bande organisiert. Aber was willste dagegen machen. Bin ich etwa erziehungsberechtigt?«
»Eine Bande?«, fragte Peter Heiland.
»Kommen Sie heute Abend. So ab 21.00, 21.30 Uhr sind die da. Eigentlich zu jung für die Kneipe, aber meine besten Kunden. Wenn ich merke, dass einer unter 18 ist, schmeiß ich ihn raus, aber …«
»Aber Sie merken’s meistens nicht!«, vollendete Peter den Satz.
Der Wirt zuckte die Achseln. »Wenn die nicht hier sind, sind sie woanders.«
»Hatte der Malik auch einen Vornamen?«, wollte Jenny wissen.
»Nein. Also ich jedenfalls kenne keinen. Alle haben nur Malik zu ihm gesagt.«
Jenny und Peter gingen zum Auto zurück. Inzwischen zeigten sich erste Wolkenlücken am Himmel. Die Sonne kam zum Vorschein. Die nassen Straßen und Gehwege dampften. Peter zog seine Jacke aus, hakte seinen Zeigefinger in den Aufhänger und warf sie über die Schulter. Er wollte auf die Uhr sehen, winkelte seinen Arm an und prompt glitt das Jackett zu Boden und landete in einer Pfütze. Jenny hob es auf und schüttelte das Wasser ab. Wenn du nicht mein Chef wärst, würde ich sagen, du bist ein gnadenloser Tollpatsch.«
Peter grinste sie an. »Aber ich bin dein Chef. Also sei bloß vorsichtig.« Er nahm ihr die Jacke aus den Händen. »Wollen wir auf dem Rückweg schnell bei Wischnewski reinschauen?«
Jenny war bei dem Gedanken nicht wohl. »Kannst du das auch alleine machen?«
»Okay. Du setzt mich ab, und ich komm dann mit der U-Bahn nach.«
Wischnewski wohnte in Tempelhof. Seitdem er befördert worden war, schien ihm seine Höhle, wie er die einfache Zweizimmerwohnung nannte, nicht mehr angemessen. Aber er hatte nie die Kraft gehabt, etwas Neues zu suchen, und die Vorstellung, umziehen zu müssen, war entsetzlich für ihn.
Peter Heiland musste lange warten, nachdem er geklingelt hatte. Endlich wurde die Tür geöffnet. Kriminaldirektor Ron Wischnewski trug einen zerschlissenen Bademantel über seiner Schlafanzughose. Seine nackten Füße steckten in abgewetzten Filzpantoffeln. Er hatte sich weder gekämmt noch rasiert. Sein Atem roch nach Bier. »Mann, Heiland. Muss das nu sein?« Wischnewski kratzte sich am Hinterkopf.
»Ich wollt nur mal schauen, wie’s Ihnen geht.«
»Beschissen geht’s mir.«
»Sieht man«, antwortete der Jüngere lakonisch. »Kann ich reinkommen?«
»Ne. Es sei denn, Sie wollen den letzten Respekt vor mir verlieren.« Wischnewski machte sich in der Türfüllung breit.
In diesem Moment hatte der junge Kommissar eine Idee. »Erinnern Sie sich an den Fall Sven Hartung?«1
»Ja, natürlich. Mir geht’s zwar nicht gut. Aber ich bin noch nicht dement.«
»Erinnern Sie sich auch an den Namen Frederic Möhlmann.«
»War ein Zeuge, so viel ich mich erinnere.«
»Ja, ein ehemaliger Psychotherapeut. Zwar an Parkinson erkrankt, aber ungeheuer klug und im Kopf topfit.«
»Ja, und?«
»Wie ich Sie kenne, gehen sie in kein Krankenhaus. Und wenn Ihnen Ihr Hausarzt eine Psychotherapie empfiehlt, sagen Sie: ›Ich bin ja nicht verrückt‹.«
»Jetzt reicht’s aber, Heiland!«
Der Jüngere ließ sich nicht drausbringen. »Ich würde Sie gerne mal mit Dr. Möhlmann bekannt machen. Einfach so. Er praktiziert allerdings schon lange nicht mehr.«
»Danke, nein. Ich hoffe in der Firma – Wischnewski nannte schon seit Jahren das LKA nur noch ›die Firma‹ – »weiß niemand, dass Sie mich besuchen wollten.«
»Doch, Frau Kreuters. Aber sie wird mit niemandem darüber reden. Und ich sowieso nicht.«
»Verlass ich mich drauf! Wiedersehen!« Wischnewski drückte die Tür zu. Peter Heiland blieb noch ein paar Augenblicke stehen, ehe er langsam die Treppe hinabstieg. In einem Bistro auf der anderen Straßenseite trank er einen Kaffee. Immer wieder sah er zu den beiden schmalen Fenstern hinauf, hinter denen sich Wischnewskis Wohnung befand. Er hatte gerade bezahlt und schickte sich an, das Lokal zu verlassen, da klingelte sein Mobiltelefon. »Ja?«, meldete er sich.
»Wischnewski hier. Wie heißt der Seelenklempner noch mal?«
»Frederic Möhlmann.«
»Vielleicht stellen Sie mich dem doch mal vor. Diese ewigen Tabletten machen mich nur meschugge, helfen aber nicht.«
»Gut. Ich rede mit ihm und melde mich dann wieder bei Ihnen.«
Wischnewski legte ohne ein weiteres Wort auf.
Gegen 15.00 Uhr am Nachmittag war Peter Heiland wieder im Büro. Norbert Meier hatte tatsächlich seinen Schreibtisch aufgeräumt und die herumliegenden Papiere ordentlich in die zuständigen Aktenordner einsortiert. Carl Finkbeiner war bei den Ballistikern gewesen. Das 9-Millimeter-Geschoss, das aus dem Schädel des getöteten Sven Lubinski entnommen worden war, stammte aller Wahrscheinlichkeit nach aus einer Beretta-Pistole und zwar aus einer militärischen Spezifikation, wie das die Ballistiker nannten, mit der Bezeichnung »Beretta 92 FS«.
»Das heißt also, alle einschlägigen Waffenhändler abklappern«, sagte Meier.
»Der Täter wird sie ja wohl kaum legal gekauft haben«, gab Jenny Kreuters zu bedenken.
»So was kriegst du heute sogar übers Internet«, warf Carl Finkbeiner ein.
»Versuchen müssen wir es trotzdem«, entschied Peter Heiland.
»Die offizielle Anfrage bei den Kollegen in Lagos läuft«, meldete Meier.
»Die müssen wir ergänzen. Offenbar hat Sven Lubinski sich einen zweiten Namen zugelegt. Ich nehme an, dass er unter dem auch in Nigeria operiert hat. Also schieb das noch nach. Bei uns im Milieu ist er nur unter dem Namen Malik bekannt. Zumindest behauptet das der Wirt vom ›Versteck‹.«
»Wie war’s bei Wischnewski?«, fragte Jenny.
»Ich hab ihn gar nicht angetroffen«, log Peter Heiland.
Am Abend wirkte das »Versteck« ganz anders als am hellen Tag. Schon das gepflasterte Sträßchen vor der Kneipe war belebt. Dicht an dicht standen junge Leute, Bierflaschen in der Hand und schienen alle auf einmal zu reden. Es war für Peter Heiland und Carl Finkbeiner gar nicht so leicht, sich einen Weg in das Lokal zu bahnen und dort weiter bis nach hinten auf den Hof. Der Wirt stand hinter dem Tresen und nickte den beiden nur zu. Drei junge Frauen bedienten, was nicht mehr hieß, als dass sie die Getränke vom Tresen aus weiterreichten. Die Bierflaschen wanderten von Hand zu Hand über die Köpfe der Gäste hinweg bis zu ihrem Ziel. »Wissen Sie denn am Ende überhaupt, bei wem Sie kassieren müssen?«, fragte Carl im Vorbeigehen eine der Bedienungen.
»Hier bescheißt keiner, und die, die bescheißen, sind eingepreist. Ein bisschen Schwund ist immer«, gab die junge Frau fröhlich zurück.
Im Hof saßen gut zehn junge Männer eng um einen der Tische. Als Peter Heiland den Namen Malik hörte, zog er eine leere Bank zur Stirnseite des Tisches heran und setzte sich dazu. Sofort verstummte das Gespräch. Der Kommissar ließ seinen Blick über die Gesichter der jungen Männer gleiten. Es war nicht das erste Mal, dass er einer solchen Gruppe begegnete. Viele von denen gehörten zu den Verlierern der Gesellschaft, großmäulige Kleinkriminelle zumeist, die stark waren, so lange sie sich in einer Gruppe befanden, sobald sie alleine waren aber von Ängsten ums Überleben getrieben wurden. Die hier schätzte er auf ein Alter zwischen 16 und 20 Jahren. Bunt gemischt: Deutsche, Türken, Araber und Afrikaner.
»Hat der Wirt euch Bescheid gesagt?«, fragte Peter.
»Was is ’n das für ne Figur?«, rief einer vom anderen Ende des Tisches.
Carl Finkbeiner trat hinter ihn und legte dem Jungen die Hände auf die Schultern. »Das ist der leitende Hauptkommissar Peter Heiland vom LKA. Ich bin sein Kollege. Und wir ermitteln wegen des Mordes an Sven Lubinski.«
Der Name sagte den jungen Leuten nichts. »Kennen wir nicht!«, rief einer.
»Er nannte sich auch Malik!«