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Auf einem galoppierenden "Problempferd" in einen fahrenden Pferdetransporter reiten und durch die Seitentüre wieder hinausspringen? Uwe Weinzierl tut genau das. Dafür braucht er keine Sporen und keine Peitsche, noch nicht einmal die Hilfe einer Trense mit Gebiss, sondern Vertrauen und Respekt zwischen Mensch und Tier. Die Grundlage hierfür erarbeitet sich Uwe Weinzierl mittels Natural Horsemanship, einer Trainingsmethode, bei der die "Sprache der Pferde" zum Einsatz kommt. Nun teilt der bekannte "Pferdeversteher" (NDR) seinen Erfahrungsschatz in diesem sehr persönlich geschriebenen Buch. Weinzierl nimmt den Leser mit auf die Reise und übermittelt sein über Jahrzehnte gesammeltes Pferdewissen sowie seine persönliche Geschichte.
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Seitenzahl: 337
© eBook: 2021 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München
© Printausgabe: 2021 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München
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Projektleitung: Susanne Kronester-Ritter
Lektorat: jvr media, München (www.jvr-media.de)
Bildredaktion: Petra Ender, Natascha Klebl (Cover)
Korrektorat: Andrea Lazarovici
Covergestaltung: kral & kral design, Dießen a. Ammersee unter Verwendung eines Coverentwurfs von independent Medien-Design, Horst Moser, München
eBook-Herstellung: Isabell Rid
ISBN 978-3-96747-033-8
1. Auflage 2021
Bildnachweis
Coverabbildung: Uwe Beyer
Illustrationen: Laura Kruck
Fotos: Jördis Brunke; akg-images; Alamy; Uwe Beyer; Cavallo/Rädlein; Anja Daume; ddp images; dpa/picture alliance; Getty Images; Huber Images; Imagebroker; Imago; Interfoto; Keystone Pressedienst; Katja Münch; Plainpicture; privat; Shutterstock; stock.adobe.com; Wildlife
Syndication: www.seasons.agency
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»Mit dem Theater habe ich mich nach einer glücklichen Kindheit und einer verzweifelten Jugend ein Jahrzehnt lang über Wasser gehalten; mit meinen Pferden erreichte ich das rettende Ufer.«
Ich will nicht nur, dass ihr mich liebt.
Du hältst ein Pferdebuch in den Händen und freust dich hoffentlich auf schöne Geschichten, beeindruckende Fotos und hilfreiche Tipps. Du freust dich zu Recht, denn all das wirst du gleich finden.
Doch in den nachfolgenden Kapiteln verschafft sich nicht nur der Pferdeversteher aus dem Fernsehen Gehör, sondern auch der Mann und Mensch dahinter. Nicht nur von Pferden wird hier erzählt, sondern vom Leben, der Liebe, der Hoffnung und auch von der Verzweiflung.
Eine Binsenweisheit: Jeder Mensch ist das Produkt seiner Zeit, seiner Gene und der Menschen, die ihn geprägt haben. So werden wir, was wir sind. In meinem Fall ist dabei ein ziemlicher Narzisst herausgekommen, der zeitlebens um Anerkennung und Zuneigung ringt – auch wenn sein Verhalten dabei provoziert und befremdet. Gerade dann! Vor dem Umgang mit Narzissten wird gewarnt: Sie kennen nur sich selbst, legen alles zu ihrem eigenen Vorteil aus und sind zu Bindung und Beziehung unfähig. Natürlich legt sich so einer nicht fest, zeugt keine Kinder und liebäugelt ständig mit der Flucht aus der als sinnlos empfundenen Existenz.
Seit meinem 18. Lebensjahr habe ich mehr als 4.000 Seiten mit Tagebuchnotizen gefüllt. Von meinem Vater habe ich gelernt, dass größtmögliche Offenheit einem das Leben erleichtert. Ich habe immer gern im kleineren und größeren Kreis Themen angesprochen, die man gemeinhin gar nicht oder nur in einer Atmosphäre des Vertrauens anspricht: Alles, was Sex betrifft, sowieso. Aber auch (Tabu-)Themen wie Drogen, Revolution, Illegalität, Glück, Depression oder Tod.
Mit dem Theater und Kabarett habe ich mich nach einer glücklichen Kindheit und einer verzweifelten Jugend ein Jahrzehnt lang über Wasser gehalten; mit meinen Pferden erreichte ich das rettende Ufer.
Ich wollte immer wissen, wie es anderen wirklich geht, und ich wollte mitteilen, was mich wirklich bewegt. Und das habe ich jetzt in diesem Buch getan.
Heinz Welz arbeitet seit über 20 Jahren erfolgreich als Pferdetrainer. Mit Uwe Weinzierl verbindet ihn jedoch mehr als nur die Leidenschaft für Horsemanship. Ein Geleitwort.
Uwe lernte ich im September 2009 kennen. Er leitete damals seinen »alternativen« Pferdehof Arhöna. Ich war einer der 14 »Helden der Arena«, die Uwe für vier Kurswochen eingeladen hatte, um seinen Kunden die Gelegenheit zu geben, beim Gipfeltreffen der damals Besten der Horsemanship-Szene zu lernen.
Uwe und ich arbeiten beide mit Pferden – noch viel lieber reden wir aber über ganz andere Dinge.
Einerseits das Siegel »alternativ« (man schläft wahlweise in restaurierten Zirkuswagen oder bodenfeuchten Indianer-Tipis), andererseits die ausgefuchste Werbesprache seiner Kursankündigungen: Uwe Weinzierl wusste (sich) zu verkaufen und weiß es bis heute. Dabei ist er kein »Ladenschwengel«, der alles vertickt, was ihm zwischen die Finger gerät. Vielmehr versteht er es, seinem Angebot die angemessene Bedeutung zu verleihen. Und so ist Uwe vor allem ein grandioser Kommunikator, und so wurden wir, die Kollegen, im Laufe der Jahre Freunde.
In unseren fast wöchentlichen, meist langen Telefonaten geht es selten um Pferde. Und das genießen wir. In unseren vielen Lebensjahren interessierten wir uns beide gleichermaßen immer vor allem dafür, unsere jeweiligen Horizonte zu erweitern. Das verbindet uns. Und wir genießen es immer wieder aufs Neue, Blicke zum Horizont des anderen zu werfen. Nicht selten gucken wir gemeinsam weit darüber hinaus. Dabei erfahre ich immer wieder, dass Uwe bereit und in der Lage ist, sich ganz nah an Grenzen heranzuwagen. Nicht selten überschreitet er sie. Und nicht zuletzt deshalb ist es faszinierend, ihm zuzuhören.
Doch Uwe redet nicht nur – meist voller Energie und Begeisterung –, er hört auch sehr genau zu. Er will »es« wissen, und er will etwas von seinem Gegenüber wissen. Nicht aus platter Neugier, sondern aus ehrlichem Interesse, gepaart mit einer großen Portion geistiger Abenteuerlust. Dazu gesellt sich Uwes radikale Ehrlichkeit, die er gerne mit so mancher koketten Übertreibung garniert. Wenn er sich beispielsweise selbst einen »Drecksack« nennt, dann fischt er nicht nach billigen Komplimenten, sondern öffnet seinem Gesprächspartner immer auch ein kleines Türchen, hinter dem durchaus auch eine dunkle Seite seiner Seele schimmert. Was für manch einen abschreckend klingen mag, ist für mich nichts anderes als der Beweis für Uwes radikalen Willen zur Veränderung, zum Abenteuer und letztlich: zur Entwicklung.
So wird jede Begegnung mit Uwe Weinzierl zum Gewinn: Information, Tiefgang und Unterhaltung, all das ist bei Uwe gleichzeitig zu haben. Menschen, die dies in Gesprächen zustande bringen, sind selten, selbst unter Freunden.
Mit dem vorliegenden Buch macht Uwe seinen Leserinnen und Lesern eine Art Freundschaftsangebot. Denn er gewährt tiefen Einblick in sein Leben. Als wirklich guter Kommunikator teilt er sich mit. Einige wird die Lektüre an so manchen Stellen irritieren. Ich wünsche dir insofern nicht nur Vergnügen beim Lesen, sondern möglichst viele Irritationen. Die gute Botschaft: Wer sich diesen Irritationen stellt, wird seinen eigenen Horizont mit Sicherheit erweitern.
»Der Begriff ist in den vergangenen Jahrzehnten immer populärer geworden. Doch was bedeutet er eigentlich? Geschichte und Methoden, aber auch, was ich unter Natural Horsemanship verstehe, will ich in diesem Kapitel kurz zusammenfassen.«
Natural Horsemanship ist mehr als die Summe der Trainingsmethoden und Herangehensweisen, die dieser Disziplin zugerechnet werden. Es ist eine Lebenseinstellung.
Die Horsemanship-Arbeit, anfangs in Deutschland belächelt und als Seilchenschwingerei abgetan, hat in den vergangenen 30 Jahren so sehr an Aufmerksamkeit gewonnen, dass die Vorführungen der Pferdeflüsterer auf Veranstaltungen wie Messen und Shows heutzutage die meisten Zuschauer anziehen und begeistern. Auch mich hat die Natürlichkeit und die Freiheit, dieser Art mit Pferden umzugehen, vom ersten Augenblick an in ihren Bann gezogen.
Wer sich auf die Suche nach der einen Definition oder einer einheitlichen Übersetzung des Begriffes Horsemanship begibt, wird diese recht schnell enttäuscht wieder aufgeben. Die Definitionen sind ebenso zahlreich wie die Versuche, diesen Begriff zu übersetzen und zu interpretieren. So findet man Auslegungen wie »Pferde-Mensch-Kunst«, »Pferdemenschen-Kunst«, den »natürlichen Umgang mit Pferden«, die »allgemeine Reitkunst und den fairen Umgang mit Pferden«, die »allgemeine Beschreibung der Art und Weise der Handhabung und des Reitens von Pferden durch den Menschen« oder den »Pferdemenschen-Umgang.«
Auch die Bezeichnung »Natural Horsemanship« ist nicht einheitlich definiert. Teilweise werden »Horsemanship« und »Natural Horsemanship« synonym verwendet, teilweise wird beides scharf voneinander getrennt.
Im Horsemanship werden Mensch und Pferd zum Team – allerdings mit klarer Rangordnung.
Pat Parelli interpretiert den Begriff Natural Horsemanship – etwas pathetisch und poetisch – als »gemeinsame Schiffsreise von Pferd und Mensch«, wobei »Natural« zum Ausdruck bringt, dass die gemeinsame Reise, also die Zusammenarbeit, auf der Grundlage der natürlichen Instinkte des Pferdes aufgebaut ist. Diesem Ansatz kann ich selbst gut folgen, weshalb meine eigene Auslegung des Begriffes Natural Horsemanship und dessen Bedeutung diesem sehr nahekommt.
»Für einen Menschen ist es sehr leicht zu lernen, wie ein Pferd zu denken, zu handeln und zu fühlen. Für ein Pferd ist es schlichtweg unmöglich.«
Natural Horsemanship beschreibt aus meiner Sicht den natürlichen Umgang mit Pferden bzw. die vom Instinkt und dem Erleben des Pferdes geleitete Gemeinschaft zwischen Mensch und Pferd. Diese Philosophie ist uralt und trotzdem eine der fortschrittlichsten unserer Zeit. Natural Horsemanship beruht auf dem Wissen um das natürliche Verhalten und die Psyche der Pferde und ist viel umfassender als herkömmliche Reitlehren.
Beim Natural Horsemanship wird die Tatsache berücksichtigt, dass der Mensch, der ein Raubtier und Fleischfresser ist, dem Pferd, das ein Fluchttier und Pflanzenfresser ist, als ein gefährlicher Feind erscheint. Natural Horsemanship lehrt Menschen, zu denken, zu fühlen und zu handeln wie Pferde, und motiviert Pferde zu geistiger Mitarbeit. Dabei wird das gegenseitige Vertrauen gefördert und die Rangordnung auf natürliche Weise geregelt. Sobald uns das Pferd als vertrauenswürdiges und kompetentes Wesen erkannt hat, beginnt es, uns nahezu bedingungslos zu vertrauen. Natural Horsemanship widerspricht zudem keiner Reitweise, sondern ist das Fundament, auf dem man jedes (Reiter-)Gebäude errichten kann. Genauso baut man nicht die erste Etage, bevor das Fundament gegossen und getrocknet ist. Danach kann man sich dem klassischen Reiten, dem Westernreiten oder einfach nur dem Freizeitreiten zuwenden. Das Ziel meiner Arbeit ist eine harmonische Partnerschaft, bei der sich Mensch und Pferd gegenseitig Respekt und Vertrauen entgegenbringen und sich durch feine Signale verständigen können.
Für ein Pferd ist es schlichtweg unmöglich, in die Welt und die Sprache des Menschen einzutauchen, wohingegen es für einen Menschen sehr leicht ist zu lernen, wie ein Pferd zu denken, zu handeln und zu fühlen. Dazu müssen wir uns zunächst den wesentlichen Unterschied, aber auch die Gemeinsamkeiten zwischen Pferden und Menschen bewusst machen:
Pferde sind Fluchttiere: Ihr Gehirn arbeitet instinktgesteuert. Nimmt ein Pferd eine (vermeintliche) Gefahr wahr, ist die erste Reaktion die Flucht. Darauf ist der gesamte Körper des Tieres ausgerichtet: die seitlich am Kopf liegenden Augen, die ein möglichst breites Sichtfeld ermöglichen; die Ohren, die in alle Richtungen und separat voneinander bewegt werden können und Dinge vernehmen, lange bevor Menschen sie hören können; der außerordentlich feine Geruchssinn, der ihnen nicht zuletzt verrät, dass wir Menschen Fleischfresser sind; die Muskulatur sowie die langen, schlanken Beine, mit denen die Tiere sozusagen von null auf hundert durchstarten und sich so einer Gefahrensituation entziehen können.
Menschen sind Raubtiere: In einer Gefahrensituation sagt unser Instinkt: Kampf. Unsere Augen liegen vorne am Kopf, wir haben eine gute Tiefenwahrnehmung und können sehr gut fokussieren, müssen gleichzeitig aber Abstriche in puncto Flächenüberblick machen. Unsere Ohren liegen flach an, sind kaum beweglich und unterstützen eher die Fokussierung unserer Augen. Für das Pferd ist die Botschaft, die unser Körperbau und Geruch aussenden, klar: Vorsicht, Raubtier!
Pferd und Mensch sind Säugetiere: Und hier sind wir bei der wesentlichen Gemeinsamkeit, die Pferde und Menschen verbindet: Beide verfügen über eine angeborene Körpersprache, die im Kern aus drei Elementen besteht:
Streicheln: Die Mutterstute, die ihr Neugeborenes ableckt – und eine freundliche Berührung zwischen Menschen.
Schubsen: Der physische Druck, mit dem die Stute ihr Fohlen mit der Nase schubst – und die Mutter ihr Kind an die Hand nimmt, um es zu leiten.
Vertreiben: Der mentale, rhythmische Druck der Mutterstute, die mit angelegten Ohren und drohend schwingendem Schweif ihr Fohlen bewegt – oder die Mutter, die mit fuchtelnden Armen ihr Kind zurechtweist.
Haben wir die wesentlichen Unterschiede und die wesentlichen Gemeinsamkeiten verinnerlicht, und berücksichtigen wir diese in unserer Arbeit mit dem Pferd, ist die Basis dafür geschaffen, mit unserem Pferd so zu kommunizieren, dass es uns versteht und akzeptiert.
Im Natural Horsemanship geht es aber nicht nur darum, ein Pferd unter Pferden zu werden, sondern auch darum, die höhere Position in der Rangordnung einzunehmen. Nicht zuletzt aufgrund unseres – im Verhältnis recht schmächtigen –Körperbaus ist dies für die eigene Sicherheit zwingend notwendig. Es muss also geklärt werden: Wer führt und wer fühlt? Wer den anderen bewegt, ist der Chef. An den beiden Säulen »Vertrauen und Respekt« wird zunächst am Boden gearbeitet. Denn es gilt: Den Respekt deines Pferdes bekommst du auf dem Boden oder gar nicht! Und das bedeutet schlichtweg: Arbeite mit deinem Pferd auf Augenhöhe. Dabei kann man mit Knotenhalfter und Seil beginnen oder mit der Freiheitsarbeit im Roundpen.
Buck Brannaman (geb. 1962), Schüler von Ray Hunt, ist einer der führenden Pferdeflüsterer weltweit.
Als Urväter des modernen Natural Horsemanship gelten vor allem die Brüder Tom und Bill Dorrance, die eine natürliche und sanfte Methode des Pferdetrainings, beruhend auf den Beobachtungen der Reaktionen der Pferde auf den Menschen, förderten. Auf Tom Dorrance geht der Ausspruch zurück: »The thing you are trying to help the horse do is to use his own mind. You are trying to present something, and then let him figure out how to get there.«
Bill Dorrance sagte: »When people think of natural horsemanship, that could mean a lot of things. It isn’t natural for a horse to be around people, and it’s not natural for a person to be sitting on him either. When we use these words, we speak about what’s natural for the horse to do within his own boundaries.«
Ray Hunt gilt als der bekannteste Schüler von Tom Dorrance, der selbst das Rampenlicht scheute. Hunt hingegen gab ab Mitte der 1970er-Jahre Kurse auf der ganzen Welt, die er stets mit denselben Worten begann: »I’m here for the horse, to help him get a better deal.«
Auch den Spruch »Make the wrong thing difficult and the right thing easy« hörte man oft von ihm. Ebenso geht die Ansicht, dass ein Pferd sich nie irrt, auf Ray Hunt zurück. Damit meinte er, dass ein Pferd weder über die Vergangenheit noch über die Zukunft nachdenkt. Es lebt in der Gegenwart und spiegelt das Verhalten des Menschen im Augenblick. Man kann also einem Pferd nicht die Schuld zuweisen, wenn etwas nicht funktioniert, wie man es gerne hätte, sondern muss den Fehler bei sich selbst suchen. Oder wie Ray Hunt es formulierte: »It’s easy to change the horse, but it’s hard to change the human.« Als seine bekanntesten Schüler gelten unter anderem Buck Brannaman und Sheila Varian.
Monty Roberts und sein »Shy Boy«: Ihre Geschichte kennen Pferdefans auf der ganzen Welt.
Mit dem Horsemanship ist es wie in den 70ern mit den linken Parteien: Am Anfang stand der Wunsch nach Veränderung, die Sehnsucht, es möge alles besser werden. Alle wollten etwas für die Revolution tun, aber jeder hatte seinen einen einzig und allein selig machenden Weg und erklärte die anderen für Scharlatane.
Pat Parelli, dessen Methoden des »Parelli Natural Horsemanship« (PNH) nach eigener Aussage auf dem natürlichen Verhalten der Pferde in einer Herde basieren, war es, der Mitte der 1990er-Jahre den bis dahin hierzulande unbekannten Begriff Natural Horsemanship nach Deutschland brachte.
Um eine vertrauens- und respektvolle Beziehung zwischen Pferd und Mensch aufzubauen, nutzt er das Prinzip des phasenweisen Druckaufbaus und des nachlassenden Drucks, wenn das Pferd die gewünschte Reaktion zeigt. Auf ihn gehen die heute weltweit bekannten »Sieben Spiele« (Seven Games) zurück, in denen das Verhalten von Mutterstute und Fohlen sowie das der Pferde in einer Herde untereinander imitiert werden. Ebenso entwickelte er das Konzept der »Horsenalities«, das helfen soll, die Persönlichkeit eines Pferdes einzustufen und darauf basierend den individuellen Umgang mit dem Pferd zu gestalten.
Etwa zeitgleich wurde Monty Roberts in Deutschland populär, der sich jedoch eher mit seiner als gewaltfrei deklarierten Methode des »Join-up« einen Namen machte. Beiden ist gemein, dass sie ihre Methoden und Ausrüstungen intensiv durch Bücher, Fernsehauftritte und andere Medien vermarkten, was nicht zuletzt ihre internationale Bekanntheit begründen dürfte.
Heute gibt es allein in Deutschland mindestens 20 verschiedene Strömungen, die sich zum Teil auch eigene Namen gegeben haben, wie »Connected Horsemanship«, »Parelli Natural Horsemanship« oder »Quantum Savvy Horsemanship.«
»Ein Horsemanship-Pferd steht die meiste Zeit seines Lebens mit seinen Artgenossen auf der Weide – und das bei Wind und Wetter.«
Ebenso vielfältig wie die Bezeichnungen, sind auch die Meinungen darüber, welches nun das »richtige« Natural Horsemanship ist. Die Palette reicht von einer (sehr) auf Dominanz und Leadership ausgerichteten Herangehensweise, die im Wesentlichen klärt, wer die ranghöhere Position einnimmt, bis hin zu der Ansicht, dass keinerlei Druck auf das Pferd ausgeübt werden darf und nur Liebe, Zuneigung sowie kleine Leckerbissen alle Türen zu einer perfekten Kommunikation mit dem Pferd öffnen.
An dieser Stelle möchte ich gar nicht auf die zahlreichen Protagonisten und Ansätze der heutigen Zeit eingehen, dies wäre zu ausufernd, und dafür fehlt in diesem Buch einfach der Platz. Dennoch möchte ich kurz einige Trainerinnen und Trainer benennen, die meine Arbeit mit Pferden sehr beeinflusst haben und bis zum heutigen Tag beeinflussen: Neben Pat Parelli sind dies unter anderem Alfonso Aguilar, Clinton Anderson, Silke Vallentin und Thomas Günther.
Ich werde immer wieder gefragt, worin denn nun die Unterschiede zwischen Horsemanship und der konventionellen Pferdehaltung bestehen. Im Wesentlichen lässt sich das in folgenden Punkten zusammenfassen:
Ein Horsemanship-Pferd steht die meiste Zeit seines Lebens mit seinen Artgenossen auf der Weide. Eine Box sieht es nur, wenn es krank ist oder Ruhe braucht. Ein Horsemanship-Pferd übernachtet also auch unter freiem Himmel, hat ein dickes Fell (in zweifacher Hinsicht) und benötigt keine Decke.
Ein Horsemanship-Pferd ist nicht zum Angeben da und auch nicht zum Erringen von Ruhm und Trophäen. Es ist Partner und Mitarbeiter.
Ein Horsemanship-Pferd wird am Boden ausgebildet, und sein Trainer hat dabei in erster Linie den Geist des Tieres im Fokus. Niemals beginnt er die Ausbildung damit, den Körper des Pferdes vom Pferderücken aus zu trainieren.
Zum Equipment sage ich gleich noch mehr. So viel vorweg: Metall am Pferd (Gebiss) und am Fuß des Reiters (Sporen) sind in der Grundausbildung verpönt. Halfter, Seil, Stick und String sind das Einzige, was der Trainer benutzt.
Der Roundpen ist unsere Mini-Prärie – hier können wir kontrolliert und sicher »Pferd unter Pferden« sein.
Der Roundpen bietet uns die natürlichste Möglichkeit, das Spiel zu spielen, Pferd unter Pferden zu sein. Hier können wir uns in einer Verhältnismäßigkeit begegnen, die der Langsamkeit und der fehlenden Ausdauer des Menschen Rechnung trägt und das Pferd dennoch frei von Halfter und Seil agieren und reagieren lässt.
Ein Roundpen muss nicht unbedingt rund sein. Auch ein abgeteiltes Stück des Reitplatzes genügt. Der Roundpen ist unsere »Mini-Prärie«.
Der Durchmesser eines (runden) Roundpen sollte mindestens 15 Meter betragen. Er darf auch gerne größer sein, nicht aber so groß, dass wir bei unserer Arbeit mit dem Pferd zu viel laufen müssen und ihm bei fehlender Kondition unsere Schwäche offenbaren. Denn hier imitieren wir die Rangordnungsspiele oder -kämpfe, die Pferde auf der großen Weide fortlaufend untereinander austragen.
Meist genügt es schon, ein Areal mit Stöcken und Seilen oder Litze auf einer Höhe von ungefähr 1,50 Meter abzuteilen. Doch letztlich hängt es von dem Fluchtverhalten und der Sprungkraft des Pferdes ab, welches Material und welche Höhe es respektiert. Aus meiner Erfahrung kann ich einen Gitter-Roundpen mit einer Höhe von 1,60 Meter empfehlen. Die einzelnen Teile können flexibel miteinander verbunden werden. So kann man den Durchmesser vergrößern oder verkleinern und hat zudem die Möglichkeit, den Roundpen (mit einigen Helfern) komplett von einem Ort zu einem anderen zu verschieben.
Die Arbeit im Roundpen erfreut sich zunehmender Beliebtheit, und ich kann nur dazu raten. Nirgendwo anders kann man die Basis von Vertrauen und Respekt besser schaffen als in dieser Form der freien Arbeit. Und dazu bietet der Roundpen ebenso die Möglichkeit, auf begrenzter Fläche mit Halfter und Seil, mit der Doppellonge und an den ersten Reitversuchen zu arbeiten.
Knotenhalfter, Arbeitsseil, Stick und String zählen zum wichtigsten Equipment bei der Horsemanship-Arbeit.
Bevor Pat Parelli das Knotenhalfter samt Arbeitsseil in Deutschland salonfähig machte, kannte man zum Führen nur ein breites, gepolstertes Stallhalfter und einen 80–100 Zentimeter langen Führstrick. Doch was können wir damit erreichen, wenn unser Pferd steigt oder plötzlich losschießt?
Deshalb, aber nicht nur, benutzen wir im Natural Horsemanship ein 3,80 Meter langes Seil. Mit ihm können wir dem Pferd in einer Not- oder Fluchtsituation ein gewisses Maß an Freiheit zugestehen – was dem Fluchtinstinkt des Pferdes entgegenkommt – und uns selbst in Sicherheit bringen, ohne das Seil loslassen zu müssen. Dieses Arbeitsseil ist aber auch lang genug, um dem Pferd damit bestimmte Signale zu geben, wie rückwärts zu laufen oder mit der Vor- und der Hinterhand zu weichen, während es am Halfter locker durchhängt.
Die Handhabung des Seils sollte gut geübt sein, sodass man es flexibel von der einen in die andere Hand wechseln, das Ende in Kreisen nach vorn, nach hinten oder über dem Kopf schwingen oder das Pferd mit dem Lederende des Seils gegebenenfalls in der jeweils gewünschten Intensität treffen kann.
Das Knotenhalfter ist leichter und filigraner als ein normales Stallhalfter. Wird Druck auf das Führseil gegeben, wird dieser direkt an den Pferdekopf übertragen, ohne dass eine Polsterung das Signal abfedert oder dämpft.
Knotenhalfter und Arbeitsseil helfen uns also, unsere Unterlegenheit in puncto Kraft und Kondition gegenüber dem Pferd auszugleichen.
Der Stick, der beim Natural Horsemanship zum Einsatz kommt, hat verschiedene Namen. Pat Parelli nennt ihn »Carrot Stick«, aber auch Namen wie »Kontaktstock«, »Bodenarbeitsstick« oder »Horseman-Stick« werden gerne verwendet. Wie auch immer man ihn nennt, der Stick hat stets die gleichen Funktionen: Er ist Armverlängerer und Meinungsverstärker. Was bedeutet das? In den Spielen und Kämpfen, die Pferde untereinander austragen, kommen nicht selten Gebiss und Hufe zum Einsatz. Da wir Menschen mit der Kraft und der Wucht dieser beiden pferdischen Hilfsmittel in keiner Weise konkurrieren können, nutzen wir im Natural Horsemanship Stick und String. Aus sicherer Entfernung können wir damit, wenn nötig, einen Biss oder auch einen Tritt imitieren. Zudem dienen Stick und String als Verlängerung unseres Körpers. Damit kann ich zum Beispiel bei der Arbeit mit Halfter und Seil zugleich die führende Leitstute (Seil und Seilhand) als auch treibender Hengst (Stick mit losgelassenem String) sein. Selbst einen streichelnden oder auffordernden Schweif einer Mutterstute können Stick und String nachahmen.
Wie bei Halfter und Seil sollte man auch den Umgang mit dem Stick intensiv üben, und zwar am besten zunächst nicht am Pferd. Nicht nur die Flexibilität in der beidhändigen Handhabung, sondern auch die Intensität eines treffenden Schlages sollte man gut einschätzen können, um gegebenenfalls so viel Druck wie nötig, aber auch so wenig wie möglich auszuüben.
Horsemanship-Sticks bekommt man in verschiedenen Längen, bis zu 120 Zentimeter, und Farben. Man sollte ein robustes und flexibles Material (z. B. Glasfiber) wählen, sodass der Stick auch standhält, wenn das Pferd einmal darauftritt. Je länger der Stick ist, desto schwerer ist er meist auch. Jeder muss also für sich individuell herausfinden, welche Länge und welches Gewicht passen.
Auch die Strings werden in verschiedenen Längen und Materialien angeboten. Manche saugen sich bei Nässe mit Wasser voll und werden dann sehr schwer. Lederstrings sind am leichtesten, aber Vorsicht: Seine Zähne sind auch am schärfsten. Den String kann man in der Regel vom Stick ablösen. So kann man ihn auch als Halsring oder flexible Gerte und den Stick als Lenkhilfe einsetzen.
Ohne Bodenarbeit geht es im Horsemanship nicht: Nur am Boden kann man Vertrauen und Respekt aufbauen.
Ebenso wie den Umgang mit Knotenhalfter und Seil, mit Stick und String, kann wirklich jeder Natural Horsemanship lernen:
Jeder, der bereit ist, sich auf die Sprache der Pferde einzulassen, ihr Miteinander in der Herde zu beobachten und sich selbst als Raubtier und das Pferd als Fluchttier zu begreifen.
Jeder, der den Mut hat und sich darauf einlassen möchte, das Spiel, als Pferd unter Pferden zu sein, zu spielen.
Jeder, der in seinem Pferd einen verlässlichen Partner finden möchte, der mit ihm durch dick und dünn geht.
Jeder, der seinem Pferd ebenso viel Vertrauen und Respekt entgegenbringen will, wie er das im Gegenzug auch von seinem Pferd erwartet.
Aber auch jeder, der einfach einmal ganz neue, befreiende Erfahrungen mit seinem Pferd sammeln und dabei die feinen (oder auch größeren) Unterschiede im Umgang mit Pferden erleben und erlernen möchte.
Im Grunde braucht man also keinerlei Voraussetzungen, um einen Kurs bei uns oder den vielen anderen Horsemanship-Trainern zu belegen. Wer Interesse und Neugierde mitbringt, hat alles dabei, was er benötigt.
Die Ausbildung in meinen Kursen und Camps beginnt immer am Boden – mit Freiarbeit im Roundpen und an Halfter und Seil. Hier werden die Basics und Prinzipien des Natural Horsemanship vorgestellt und geübt; Grundlage sind dabei die »Sieben Spiele« nach Pat Parelli. Bei der täglichen, meist sechsstündigen Pferdearbeit lernen die Teilnehmer einerseits, die Körpersprache der Pferde richtig zu interpretieren. Andererseits geht es natürlich auch darum, dass sie üben, mit ihrer eigenen Körpersprache zu kommunizieren, und dabei von den Pferden verstanden werden. Erst nachdem Vertrauen und Respekt am Boden – sowohl beim Pferd als auch beim Menschen – aufgebaut wurden und die Rangordnung geklärt ist, wird das Gelernte auf den Rücken der Pferde übertragen. Am Knotenhalfter geht es erst auf den Reitplatz, dann folgen die ersten Ausritte im Umland.
Mittlerweile zählen auch viele erfahrene Profis wie Dressur-, Spring- und Westernreiter zu den Gästen auf meinem Reiterhof. Eben alle, die ihr Wissen in Sachen Natural Horsemanship vertiefen oder diese ihnen vielleicht noch recht unbekannte Herangehensweise besser kennenlernen möchten. Die meisten Profis bringen natürlich ihr eigenes Pferd mit – vor allem auch dann, wenn sie mit ihm an konkreten Problemen wie zum Beispiel Schreckhaftigkeit, Angst vorm Verladen oder Scheu vor ganz konkreten Gegenständen arbeiten wollen. Wer selbst noch kein Pferd hat oder es nicht transportieren kann bzw. will, arbeitet einfach mit einem unserer Leihpferde.
»Es geht darum, dass ich meinen Weg überhaupt gefunden habe! Es war und ist mein Weg – und jeder muss seinen eigenen suchen und beschreiten.«
Noch einen großen Schritt weiter gehen wir in unserem Akademieprogramm im Sommer- und Winterhalbjahr. Wer hier mitmacht, meint es wirklich ernst: Während der intensiven Ausbildung verbringen die Teilnehmer drei Monate am Stück in Neu Drefahl und erhalten anschließend das »Weinzierl-Ausbildungszertifikat« oder lassen sich im Winter zum »Weinzierl-Jungpferdetrainer« ausbilden.
Neben der Pferdearbeit ist uns aber auch das menschliche Miteinander extrem wichtig: das gemeinsame Kochen, Essen und der Erfahrungsaustausch unserer Gäste. Der Tag endet – für diejenigen, die es wollen – also nicht nach Sonnenuntergang, und unsere Lagerfeuerabende sind ebenso beliebt wie berüchtigt.
Es gibt keinen Anlass, die Erfolge des Natural Horsemanship zu verherrlichen oder zu mythologisieren. Egal, wie der eigene Erfahrungsweg beginnt: Horsemanship ist zunächst ein Handwerk wie jedes andere. Man lernt es Schritt für Schritt, und der Lernerfolg lässt sich in vier Phasen gliedern:
Phase 1 – unbewusste Inkompetenz: Zu Beginn der Arbeit mit unserem Pferd wissen wir noch gar nicht, was wir alles nicht wissen. Wir versuchen dies und das und freuen uns, wenn etwas funktioniert. Warum es mal klappt und mal nicht, ist uns dabei noch gar nicht klar.
Phase 2 – bewusste Inkompetenz: Dann werden wir uns (meist etwas schmerzlich, nämlich wenn etwas plötzlich nicht mehr funktioniert) dessen bewusst, dass wir eigentlich noch gar nichts wissen, dass wir also noch sehr viel lernen müssen. In dieser Phase suchen wir Fehler aber nicht mehr beim Pferd, sondern konzentrieren uns stattdessen auf die Arbeit an uns selbst.
Phase 3 – bewusste Kompetenz: Allmählich lernen wir dazu, verschaffen uns also eine gewisse Kompetenz, müssen aber immer noch darüber nachdenken, welche Techniken und Werkzeuge geeignet sind, um unser Ziel zu erreichen.
Phase 4 – unbewusste Kompetenz: Erst nach mehreren Tausend Wiederholungen – und das ist leider keine Übertreibung – und sehr viel Erfahrung mit unterschiedlichsten Pferden merken wir irgendwann, dass wir nicht mehr darüber nachdenken, was wir tun, um die gewünschte Reaktion bei einem Pferd zu erzielen. Das Gelernte ist uns also in Fleisch und Blut übergegangen.
Probieren, scheitern, lernen, verbessern und nie aufgeben: Das ist mein simples Erfolgsrezept.
Ich denke, ich habe es mittlerweile in die vierte Phase geschafft. Und das war eine lange Reise auf holprigem Pfad mit vielen Durststrecken und Rückschlägen. Aber darum geht es gar nicht, es geht darum, dass ich meinen Weg überhaupt gefunden habe! Es war und ist mein Weg – und jeder muss seinen eigenen suchen, finden und beschreiten.
Ich kann an dieser Stelle nur alle Leserinnen und Leser ermutigen, Dinge auszuprobieren. Wer scheitert, geht die Sache beim nächsten Mal eben anders an, zieht daraus neue Schlussfolgerungen und lernt dazu. So habe ich es auch gemacht, und nur so findet man seinen Weg – im Umgang mit Pferden und im Leben. Schließlich sagte auch schon der schlaue Hippokrates: »Wer heilt, hat recht.«
»In diesen Kapiteln erinnere ich mich in vielen Schlaglichtern an mein bewegtes Leben – und an Pferde, die darin eine besondere Rolle gespielt haben. Nach und nach entsteht aus den herumliegenden Puzzleteilen ein immer klareres Bild.«
»Es ist nicht nur mein Lebensrhythmus, der mich von den Einheimischen unterscheidet.«
Mit 33 Jahren saß ich zum ersten Mal auf einem Pferd – und danach war nichts mehr wie zuvor.
Warum fällt es mir frühmorgens nur immer so schwer, Entscheidungen gut zu finden, die ich am Vorabend aus vollem Herzen getroffen habe?
Beim Essen hatte mich der Schäfer gefragt, ob ich nicht Lust hätte, ihm am nächsten Tag für ein paar Stunden zur Hand zu gehen. Durch den überraschenden Wintereinbruch müssten die 150 Ziegen, die er neben seinen 1.000 Schafen hielt, in den heimischen Stall geführt werden. Ich hatte begeistert zugesagt; das würde bestimmt ein toller, erlebnisreicher Tag an der frischen Luft werden. Mit einer Flasche Bier und lakonischem Smalltalk ließen wir den Abend ausklingen.
Nur wenige Stunden später reißt mich der Wecker aus meinen unruhigen Träumen. Leicht verkatert reibe ich mir die Augen, schäle mich aus den Federn und trotte zehn Minuten später, die Hände tief in den Taschen meiner Jacke vergraben, durch die klirrende Kälte Richtung Schäferhof. Es schneit noch immer, und ich spüre die winzigen, stechenden Schneekristalle auf Kinn und Wangen. In vielen Scheunen und Häusern, die an meinen müden Augen vorbeiziehen, brennt bereits Licht. Die Landbevölkerung ist längst wach und fleißig, wie könnte es anders sein. Ich gähne und sehne mich nach meinem warmen, weichen Bett.
Doch es ist nicht nur mein Lebensrhythmus, der mich von den Einheimischen unterscheidet. Ein Nachbar hatte einst angehalten, als ich ihm auf dem Gehweg entgegenkam. Ich war damals noch fremd im Ort, also grüßte ich ihn zuerst. So habe ich das eben als Kind von meinen Eltern gelernt. Daraufhin sah er mich mit schiefem Grinsen an und meinte: »Ich hab nichts gegen Berliner.« Dann machte er eine Kunstpause. »Aber ich finde, sie sollten in Berlin bleiben.« Dörflicher Humor.
Auch der Schäfer ist vermutlich schon seit Stunden auf den Beinen. Über seiner Garage flackert eine grelle Neonröhre, im Hof steht mit laufendem Motor der Toyota-Allrad bereit, und auch der Pferdehänger ist angekuppelt. Als ich eintreffe, ist er gerade dabei, seinen gesattelten Araberschimmel hineinzuführen. Moment mal, ich dachte, es ginge heute um die Ziegen? Doch ich sage nur »Morgen« und verberge meine Verwunderung. Wer viel fragt, bekommt viele Antworten, lautet das Credo des hageren Mannes mit Vollbart, den ich jetzt schon eine ganze Weile kenne, über den ich aber so gut wie gar nichts weiß. Wie sollte ich auch, wenn man dem Schäfer jedes Wort aus der Nase ziehen muss? Immerhin, zur Begrüßung nickt er mir kurz zu.
Wenige Minuten später rollen wir mit unserem Gespann auf schneebedeckter Fahrbahn Richtung Friedewald. Die Scheiben sind beschlagen, nicht nur wegen der Hunde im Heck. Der beißende Geruch nach Schaf und Scheiße, der sich über die Jahre im Inneren des Wagens festgesetzt hat und mir auf dem Beifahrersitz in die Nase steigt, ist mir vertraut. Wir reden nicht, wir rauchen. Auch das hilft gegen den Gestank, wie ich mittlerweile gelernt habe. Ab und zu fahren die Wischerblätter ächzend und quietschend über die Windschutzscheibe, auf der die vereisten Schneereste jedoch hartnäckig kleben bleiben. Mehrmals blendet der Schäfer resigniert auf, für klare Verhältnisse sorgt aber auch das nicht. Egal, es gibt ja ohnehin nicht viel zu sehen bei dieser Nacht-und-Nebel-Aktion.
»Die Kuppenrhön ist berüchtigt für ihre steilen Sträßchen. Ohne Allradantrieb wären wir bei diesem Wetter vermutlich längst im Graben gelandet.«
Nur wenige Fahrzeuge, die noch früher als wir unterwegs waren, haben Spurrillen hinterlassen, an denen wir uns orientieren und von Kurve zu Kurve vorarbeiten können. Wo bleibt denn der Winterdienst! Die Kuppenrhön ist berüchtigt für ihre verschlungenen, oft steilen Sträßchen, und ohne Allradantrieb wären wir bei diesem Wetter vermutlich längst im Graben gelandet. In einer besonders engen Wegbiegung bricht der Hänger aus, ich kann mir einen spitzen Schrei nicht verkneifen, während der Schäfer ruhig gegenlenkt. Die Kippe, schon bedenklich kurz, hat er zwischen Zeige- und Mittelfinger eingeklemmt. Er führt sie zum Mund, und während er den letzten Zug einsaugt, wirft er mir einen verächtlichen Blick zu: Memme. Er drückt auf den Schalter des Fensterhebers. Ich höre das Surren eines Elektromotors, der vergeblich eine Scheibe aus der Umklammerung der zugefrorenen Fensterdichtung lösen will. Keine Chance. Schließlich landet der Zigarettenstummel dann doch bei all den anderen im bereits bedenklich überquellenden Aschenbecher.
Endlich biegen wir in einen Feldweg ein. Im Scheinwerferlicht zeichnen sich die Umrisse eines Zauns ab, dann erkenne ich die ersten Ziegen. Ihr lautes Meckern vermischt sich mit dem dumpfen Brummen des Dieselmotors. Der Schäfer hält an, lässt erst die Hunde raus, lädt dann den Schimmel aus und öffnet das Gittertor. »Du gehst hinterher.« Viel mehr habe ich heute von ihm noch nicht gehört. Er setzt sich aufs Pferd, und 150 Ziegen folgen ihm. Weil ich keine andere Aufgabe habe, knete und biege ich kurz meine klammen Finger und rücke widerwillig mit den Hunden als Schlusslicht nach.
Schafmamas und ihre Lämmer einsammeln, das hatten wir in den letzten Wochen schon häufiger gemacht.
In letzter Zeit hatte ich den Schäfer mehrmals zu seinen Schafen begleitet, aber noch nie zu dieser nachtschlafenden Stunde – und auch noch nie bei Eis und Schnee. Oft fuhren wir nach einer Tasse Kaffee und einer selbst gedrehten Zigarette hinaus zur Herde, und ich genoss die Weite, die Kälte und das Geräusch der Autoreifen, die knirschend von der Landstraße auf den holprigen Waldweg und dann auf die zugefrorene Schafwiese rollten. Winter ist Lammzeit, und in den vergangenen Wochen bestand unsere Aufgabe darin, einzelne Muttertiere und ihre Neugeborenen aufzuspüren und einzusammeln. Warum sich Schafmamas oftmals so weit von ihren Babys entfernten, war mir ein Rätsel. Aber wer viel fragt, bekommt viele Antworten. Das Blöken der Lämmer klang jedenfalls ratlos, als wüssten sie auch nicht, wie etwas passieren konnte, das in den Lehrbüchern ganz anders stand.
Während wir die Mutterschafe und ihre Jungen paarweise in den Anhänger verfrachteten, machten sich die Hunde auf der Weide wie gierige Wölfe über die Nachgeburten her. Mich faszinierte dieser Anblick und all das, was ich auf der Schafwiese immer wieder beobachten konnte: Geburt, Tod, Blut, Sperma, Scheiße – die Konstanten und Rohstoffe des Lebens und ihr Wechselspiel, das sich als ewiger Kreislauf wiederholt. Diese Themen hatten mich auch schon während meiner Theaterzeit in Kreuzberg stets beschäftigt. Aber dort wurden sie auf der Bühne verhandelt, hier waren sie ungefilterte Realität!
Doch an diesem frühen Morgen hüllen sich die Natur und auch all meine Lebensgeister noch in Dunkelheit. Auch deshalb fühle ich mich nicht so befreit wie sonst. Zudem müssen wir nicht einzelne Schafe einfangen, sondern eine ganze Ziegenherde zum zwölf Kilometer entfernten Stall treiben.
Aber bis jetzt läuft alles wie von selbst. Der Schäfer reitet auf seinem Schimmel voraus, ich stapfe stoisch durch den Pulverschnee hinterher. Da ich besonders beim Gehen ins Grübeln verfalle und nichts weiter zu tun habe, mache ich mir Gedanken, wie ich mir eigentlich immer Gedanken mache. Ehrlich gesagt auch im Sitzen und im Liegen. Mir scheint da ein Ausschaltknopf zu fehlen.
Was hat mich eigentlich hierher verschlagen, in die tiefste Provinz? Bin ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort? Nach acht Jahren Berlin mit Häuserkampf, Schauspielausbildung und Erfolgen auf der Kabarettbühne war ich mit meiner Freundin Bine und ihren beiden Kindern aufs Land gezogen, um hier den großen Wurf zu landen. Ich plante ein neues Großprojekt, wollte Musiktheater mit hohem politischen Anspruch machen, der grassierenden Deutschtümelei kurz nach der Wiedervereinigung einen ordentlichen Schlag ins Gesicht verpassen. Das war mein fester Entschluss gewesen.
Warum dafür Berlin verlassen? Weil ich begriffen hatte, dass es mir in der Hauptstadt des Theaters mit all ihren Verlockungen und Ablenkungen niemals möglich sein würde, konzentriert zu arbeiten. Ich wollte mich dort niederlassen, wo sich das Kulturleben auf Kirmes, Vereinssitzungen und Privatfernsehen beschränkt, an einem Ort, an dem mich nichts mehr vom Lesen, Schreiben und Denken abhält. Und ich wollte mich voll und ganz auf meine neue Freundin konzentrieren. Sie sollte endlich die Einzige sein, die ich mit Haut und Haaren begehrte. Schluss mit all den Frauengeschichten und sexuellen Fantasien, die mich in Berlin immer daran gehindert hatten, mich ernsthaft auf eine festere Beziehung einzulassen!
»Reiten lernt man durch reiten«, lautete das Credo des wortkargen Mannes, den ich kaum kannte.
»Jetzt setzt du dich mal drauf.« Der Schäfer reitet plötzlich neben mir her, und ich blicke verdutzt zu ihm auf. Hat er Mitleid mit mir? Oder hat er diesen Tag ganz bewusst ausgewählt, um seinen schon mehrfach geäußerten Vorschlag in die Tat umzusetzen?
Seine Stimme hat einen Tonfall, der keinen Widerspruch duldet. Er steigt ab, hält das Pferd und fordert mich auf, meinen linken Fuß in den Steigbügel zu stellen und aufzusitzen. »Zum Losgehen gibst du ihm die Absätze, zum Anhalten ziehst du an den Zügeln«.
Ich nicke beflissen wie ein Fahrschüler, dem man gerade beigebracht hat: »Kupplung langsam kommen lassen!« Ich hätte nicht gedacht, dass Reiten so einfach ist.
Ist es auch nicht, wie ich gleich feststelle. Der Araber macht ein paar Schritte, ich wackle unsicher im Sattel hin und her. Um mich irgendwie festzuklammern, presse ich meine Unterschenkel mit aller Kraft an den Bauch des Pferdes. Sofort wird aus dem Gewackel ein noch deutlich unangenehmeres Gehoppel – der Übergang von Schritt zu Trab, wie ich heute weiß. In Zeitlupe kippe ich nach rechts und plumpse in den Tiefschnee am Wegesrand. Ein glimpflicher »Marshmallow-Sturz«. Das würde ich in Zukunft noch oft und auch deutlich schmerzhafter auf nicht so weichem Untergrund erleben.
Das Pferd bleibt unbeirrt neben mir stehen und scharrt mit den Hufen die Schneekruste auf. Ich klopfe meinen Parka ab und schüttele den Schnee aus meiner Kapuze. »Jetzt musst du wieder rauf, sonst hast du Angst!« Wieder diese strenge Stimme. Wie hypnotisiert folge ich den Anweisungen des Schäfers. Diesmal geht er neben mir her und zeigt mir, wie ich die Zügel halten muss. »Klammer dich nicht wie ein Affe mit den Beinen fest, sonst gibst du Gas, und dein Pferd wird schneller. Ganz locker!« Ich nicke, bin aber immer noch angespannt.
»Wie heißt denn das Pferd?«, erkundige ich mich, um ein wenig Interesse zu zeigen und meine Nervosität zu überspielen. »Nando. Vollblutaraber.« Eine Frage gestellt, zwei Antworten erhalten – das ist ungewöhnlich für den wortkargen Mann. Offensichtlich liegt ihm etwas an diesem Tier.
»Wie hast du eigentlich reiten gelernt?« Vielleicht gelingt es mir ja tatsächlich, ihn in ein längeres Gespräch zu verwickeln.
»Reiten lernt man durch reiten.«
Ich sehe ihn fragend an. »Aber …«