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Auf einem öffentlichen Klavier in der Altstadt von Montreal spielt ein verwirrter Landstreicher virtuos ein Rachmaninow-Konzert. Derselbe Mann, der weder seinen eigenen Namen noch seine Herkunft nennen kann, verwandelt einen einfachen Eintopf in ein göttliches Mahl, löst unmögliche Berechnungen und faselt unzusammenhängende Worte in beinahe jeder Sprache dieser Welt. Außerdem scheint das anonyme Wunderkind in verrufenen Ecken der Stadt schillernde Graffitis zu erschaffen, deren rätselhafte Charakteristik einen schweren Verdacht auf ihn lenkt. Wer ist dieser unbekannte Mann mit dem Gesicht eines Schiffbrüchigen, der von vielen Bewohnern der Stadt »Phönix« genannt wird? Was verbindet ihn mit einer virtuosen chinesischen Pianistin, einem meisterhaften spanischen Konditor, einer hochbegabten englischen Mathematikerin und vielen anderen Genies auf der ganzen Welt? Eine engagierte, idealistische Streetworkerin und eine hartnäckige, wissenschaftsgläubige Neuropsychologin begeben sich auf die Suche nach der Geschichte des Mannes mit dem mystischen Namen. Diese spannende Odyssee, die von einem bildreichen und wortgewandten Schreibstil getragen wird, führt uns von Montreal durch die ganze Welt bis nach Babylon, und überall erfahren wir die Geheimnisse des Genies und die heilende Wirkung der Kunst.
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Seitenzahl: 401
1. Auflage
© 2023 Kommode Verlag, Zürich
Alle Rechte vorbehalten.
Originaltitel: La traque du phénix, Québec Amérique
Übersetzung: Jennifer Dummer
Lektorat: Matthias Jügler
Korrektorat: Kristina Wengorz/torat.ch
Titelbild, Gestaltung und Satz: Anneka Beatty
Druck: Beltz Grafische Betriebe
978-3-905574-11-1
eISBN: 978-3-905574-25-8
Kommode Verlag GmbH, Zürich
www.kommode-verlag.ch
Der Kommode Verlag dankt der SODEC (Société de développement des entreprises culturelles / Québec) für ihre finanzielle Unterstützung.
Marie-Anne Legault
Aus dem Québecfranzösischenvon Jennifer Dummer
Für meine Eltern, die ihren Kindern
mitgegeben haben, neugierig zu sein.
Neugierig in seiner edelsten Form,
sodass sie vor geschlossenen Türen
nicht stehen bleiben,
sondern sie öffnen,
um zu erkunden, was dahinterliegt.
PROLOG
SAINT-HENRI, MONTRÉAL, JUNI 2016
TAGEBUCH EINES BABYLONISCHEN GELEHRTEN
LONDON, GROSSBRITANNIEN, APRIL 2000
EINGANG ZUM LACHINE-KANAL, MONTRÉAL, JUNI 2016
TAGEBUCH EINES BABYLONISCHEN GELEHRTEN
GALLIPOLI, JUNI 1915
LABOR DER NEUROPSYCHOLOGIE AN DER UNIVERSITÄT VON MONTRÉAL, JUNI 2016
TAGEBUCH EINES BABYLONISCHEN GELEHRTEN
VALENCIANISCHES LAND, SPANIEN, SEPTEMBER 2006
RANGIERBAHNHOF IN POINTE-SAINT-CHARLES, MONTRÉAL, JUNI 2016
TAGEBUCH EINES BABYLONISCHEN GELEHRTEN
GALLIPOLI, AUGUST 1915
BONNEAU-TREFF, VIEUX-MONTRÉAL, JUNI 2016
LONDON, GROSSBRITANNIEN, OKTOBER 1940
TAGEBUCH EINES BABYLONISCHEN GELEHRTEN
RANGIERBAHNHOF IN POINTE-SAINT-CHARLES, MONTRÉAL, JULI 2016
KONSTANTINOPEL, HERBST 1920
TAGEBUCH EINES BABYLONISCHEN GELEHRTEN
LACHINE-KANAL, MONTRÉAL, JULI 2016
SAIGON, SÜDVIETNAM, APRIL 1975
SAINT-HENRI, MONTRÉAL, JULI 2016
TAGEBUCH EINES BABYLONISCHEN GELEHRTEN
HAMBURG, BRD, JUNI 1970
SAINT-HENRI, MONTRÉAL, JULI 2016
GARNI, UDSSR, JULI 1982
TAGEBUCH EINES BABYLONISCHEN GELEHRTEN
KALAHARI, JULI 2016
CHEMIN DE LA TOUR, MONTRÉAL, JANUAR 2014
TAGEBUCH EINES BABYLONISCHEN GELEHRTEN
BONNEAU-TREFF, VIEUX-MONTRÉAL, JULI 2016
TAGEBUCH EINES BABYLONISCHEN GELEHRTEN
UNIVERSITÄT GENF, INSTITUT FÜR NEUROWISSENSCHAFTEN, JULI 2016
RANGIERBAHNHOF IN POINTE-SAINT-CHARLES, MONTRÉAL, JULI 2016
PROMENADE AM GENFER SEE, JULI 2016
TAGEBUCH EINES BABYLONISCHEN GELEHRTEN
BOULEVARD SAINT-LAURENT, MONTRÉAL, JUNI 2018
EPILOG
DANKSAGUNG
VERWENDETE LITERATUR
Es ist ein kühler und grauer Morgen, wie es für einen ersten Montag im November typisch ist. Das Montréaler Zentrum ist in Nebel gehüllt, als zwei Angestellte der Stadtreinigung gerade die Überreste des Vormonats ins Maul eines Müllwagens werfen. Ihre Gesichter ähneln denen von Basset-Hunden und werden mit jedem Müllberg länger, den die kostümierten Feiernden zwei Tage zuvor produziert haben, und mit jedem weiteren Mülleimer, der sich auf den Asphalt ergießt. Manche Säcke haben die Ratten aufgerissen. Es ist einfach ein dreckiger Tag.
Um 8:04 Uhr hält der Wagen auf der Rue Drummond auf Höhe einer Gasse, die zu einem Luxushotel führt. Dort wartet ein üppiger Haufen. Die Männer haben es eilig und legen gleich los. In dem ganzen Müll entgeht ihnen in ihrer Eile der Pullmann-Koffer – sie können nicht wissen, dass er etwas Wertvolles enthält –, der zusammen mit all dem anderen Abfall im Zerkleinerer landet. Das alles beobachtet der Eigentümer des Koffers aus sicherer Entfernung, ohne mit der Wimper zu zucken. Im Schutz eines Notausgangs sieht er mit geröteten Augen nach einer wahnhaften Nacht, wie der stählerne Vielfraß seine Identität, sein Vermögen, seinen Stein der Weisen verschlingt. Ihm bleiben nur noch ein Seidenpyjama und ein Becher Kaffee in einer zittrigen Hand.
8:12 Uhr. Als das gesättigte Schwergewicht mit den Männern, die sich hinten festhalten, abfährt, entdeckt einer im Schatten des Notausgangs den Kasper. Er meint in dessen scheuem Blick Funken eines gerade durchgebrannten Gehirns zu erkennen.
Als der Müllwagen mit dem Lebenswerk des Mannes im Seidenpyjama verschwindet, kratzt dieser sich mit der einen Hand nervös den Nacken und trinkt mit der anderen, stets zittrigen Hand, den letzten Schluck Kaffee. Auf dem leeren Becher trommelt er scheinbar belanglos herum. Doch eigentlich ist es etwas sehr Schönes. Die Finger bewegen sich im Rhythmus, vollführen ein wahres Kunststück – mi, re, mi, re, mi, si, re, do, la … – mit der Fingerfertigkeit eines begnadeten Pianisten.
In ihrem Lieblingscafé auf der Rue Notre-Dame wartet Sarah Dutoit geduldig auf ihre Freundin. Sie summt das Jazzstück mit, das gerade läuft, und trommelt im Takt der Melodie mit ihren Fingern auf ihre Trinkschale, die den cremigsten Milchkaffee der Welt enthält.
Das sagt viel darüber aus, wie sanftmütig sie ist. So sanftmütig wie ein angenehmes Parfum, das aus ihrem seligen Lächeln, ihren treuherzigen Augen und ihrem Sommer-Sonnen-Kleid strömt. Es harmoniert wunderbar mit ihrem verführerischen Teint, den sie den flüchtigen Gefühlen ihrer Mutter für einen Baritonsaxofonisten aus New Orleans verdankt, der Ende der 1960er Jahre nach Montréal kam. Er blies sein Instrument in einigen Nachtclubs und spielte sich ins Herz einer Barfrau aus Saint-Henri, bevor er wieder aus der Stadt verschwand, deren Zeit als Mekka des Jazz vorbei war – leider. Der unbekannte Musiker kehrte zurück, woher er gekommen war, ohne im Geringsten zu wissen, dass er in der Metropole nicht nur sein gedämpftes Notengeflüster verstreut hat, sondern auch seine Gene. Die Barfrau hat sich nie über ihr Schicksal beschwert, ganz im Gegenteil, sie wollte ihr »Geschenk des Himmels« nach einer Königin benennen. Sie schwankte zwischen Billie, Ella, Nina und Sarah. Die Entscheidung fiel, als das Baby bei der Geburt sein einzigartiges Vibrato erklingen ließ, eine würdige Nachahmerin Sarah Vaughans. Viereinhalb Jahrzehnte später summt die Frau, die ihren Vater nicht kennt, in ihrem Lieblingscafé die Jazzmusik auf eine atemberaubende natürliche Art.
13:17 Uhr. Ihre Freundin lässt wie immer auf sich warten. Aber wen würde das angesichts des wunderbar cremigen Milchkaffees vor der Nase schon stören? Außerdem ist Sarah von Berufs wegen ein überaus geduldiger Engel. Als Sozialarbeiterin in den Refugien Montréals kämpft sie für die Wiedereingliederung obdachloser Menschen – auch wenn sie in Wirklichkeit Pazifistin ist und auf dem Fahrrad in die Schlacht zieht.
Jeden ersten Sonntag im Monat trifft sie sich mit der Neuropsychologin Régine Lagacé, die wie sie aus Saint-Henri kommt. Während die eine im Gelände unterwegs ist, steht die andere im Labor. Treffen sie sich, arten ihre Gespräche immer aus, weil sie zwangsläufig auf Themen von beruflichem Interesse kommen: Trunksucht, Drogenabhängigkeit, Schizophrenie … Sie besprechen gern besondere Fälle und mögliche Herangehensweisen. Die Cafés dienen ihnen als Treffpunkte, sind die besten in der Stadt, wahre Paradiese, in denen die Aromen von gerösteten Bohnen schon von Weitem berauschen und zu einem Kniefall vor dem Barista verleiten.
»Philippe, dein Milchkaffee zergeht wie Samt auf der Zunge!«
»Danke, Sarah! Aber der Samt bist du.«
Die Tür geht auf, Absätze klackern. Eine überaus aufgebrachte Régine kommt an.
»Scheiß Verkehr! Stau am Sonntag, unfassbar.«
Sarah lächelt Philippe an, wendet sich dann Régine zu, die sich jeden Tag kleidet, als wäre es Sonntag, sogar an einem Sonntag.
»Hallo, Régine!«
»Hallo … Philippe, einen Bodumkaffee, herb.«
So wie sie, jähzornig und gediegen. Doktor Lagacé lehrt und forscht an der Universität von Montréal. Sie ist Expertin in Neuroimaging und zählt zu den herausragendsten Mitarbeiterinnen am Forschungszentrum für Neuropsychologie. Sie arbeitet im Bereich MRT oder, wie sie es liebevoll nennt, »im Showbiz der grauen Materie«, aber bitte in Farbe. Die monatlichen Treffen mit Sarah versorgen ihre Mühlen mit Wasser; neurologische Störungen, heißt es, sind bei obdachlosen Menschen an der Tagesordnung – der einzige Tagesordnungspunkt, auf den sie gern verzichten würden.
Doch zurück zum gemütlichen Café. Um 13:23 Uhr macht sich der Barista ans Werk, bereitet sorgfältig Régines Nektar zu, und kommentiert:
»Herber Bodumkaffee passt zur Formel 1, die gerade in der Stadt ist.«
»Und zu dem ganzen Getöse«, ergänzt Sarah.
»Deswegen das Chaos«, schlussfolgert Régine immer noch bissig.
Sie hätte die besagte Formel 1 fertiggemacht, hätte sie sich vor ihr materialisiert.
»Hoch lebe das Fahrrad«, wirft Sarah ein.
Was Régine nicht besänftigt.
»Sagt die heilige Teresa. Nicht die ganze Welt kann so perfekt sein wie du und sich unentwegt für andere auf dem Drahtesel einsetzen. Und das auch noch für Mindestlohn, wo wir gerade schon mal dabei sind!«
Diese Spitze wirft die Frage auf, warum zwei so unterschiedliche Menschen miteinander befreundet sind. Denn Sarahs Bescheidenheit und Naivität kontrastieren mit Régines prunkvollem und böswilligem Gehabe, trifft Régines Streitlust auf Sarahs Unschuld. Wie kann jenseits der beruflichen Nähe eine Persönlichkeit der Wissenschaft, die im höher gelegenen, schicken Westmount wohnt, ernsthaft eine Sozialarbeiterin mögen, die sich ein Bein ausreißt für die Obdachlosen der niedrigeren Viertel?
Um das zu verstehen, hilft ein Blick in die Vergangenheit, zurück in die späten 1980er Jahre.
Damals wohnten die Lagacés in der Rue du Couvent, eine Enklave der Reichen in dem Arbeiterviertel Saint-Henri.
Dank des ansehnlichen Gehalts des Vaters, einem PR-Berater der Imperial-Tobacco-Fabrik, konnten sie sich die Hypothek auf ein schönes Einfamilienhaus mit makellosen Backsteinen, einer Veranda mit Säulen und einem mit Blumen übersäten Hof leisten. Eine in dieser Gegend seltene bürgerliche Gemütlichkeit, die zum Ende der Straße hin verschwand. Schon ein paar Meter weiter westlich, zum Beispiel in der Rue Beaudoin, gab es immer mehr Reihenhäuser, die gering verdienende Familien bewohnten. In einer dieser winzigen Wohnungen lebte Hélène Dutoit mit ihrer Tochter. Samstagabends, während Régine in ihrem Boudoir am Klavier Chopin lernte, lauschte Sarah hinter dem Tresen einer Bar, in der ihre Mutter Bier ausschenkte, der Musik aus den knisternden Lautsprechern oder den Improvisationen der durchreisenden Musiker. Mit zehn Jahren waren beide Mädchen bereits sehr musikalisch. Sie gingen auch auf die gleiche Schule, hatten aber kaum etwas miteinander zu tun. Régines Lebensstandard ließ sie auf Sarah herabschauen. Wer aus gutem Hause kam, gab sich nicht mit illegitimen Mädchen ab, sogar dann nicht, wenn der Bastard Klassenbeste war.
Doch …
Manchmal mischt sich das Schicksal ein und stürzt die herrschende Ordnung, macht, dass das Kartenschloss zusammenfällt. In den 1980er Jahren stiegen die Tabaksteuern, verzehnfachten sich die Anti-Nikotin-Kampagnen, verlor die Zigarettenlobby an Einfluss und brachte zu allem Überfluss auch noch Nicorette seinen Kaugummi auf den Markt. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte verbuchte die Zigarette einen Einbruch. Die Fabrik in der Rue Saint-Antoine entließ ein paar ihrer Werbefachleute, darunter auch Normand Lagacé. Régines Vater war ein ambitionierter und stolzer Mann, der beharrlich nach standesgemäßen Anstellungen suchte. Ein langwieriges und erfolgloses Unterfangen, bei dem eine Enttäuschung auf die nächste folgte. Hoch verschuldet musste er schließlich das reizende Haus verkaufen, bald darauf auch das Auto und das Klavier, und musste zu allem Überfluss mit seiner Familie in eine der winzigen Wohnungen an der Rue Beaudoin ziehen. Er bemühte sich weiterhin um eine akzeptable Arbeit, bis er all seine Anstrengungen und seine Verzweiflung schließlich unter eine U-Bahn warf. Der letzte Akt einer Tragödie, die die Linie der Lagacés und die damals neu eröffnete Station Place-Saint-Henri befleckte.
Die kultivierte Madame Lagacé, die allerdings nur Petits Fours herzustellen vermochte, war fortan Witwe, alleinerziehend und mittellos. Wer hätte ihr sonst helfen können, wenn nicht ihre Nachbarin Hélène Dutoit, deren unerschütterlicher Charakter und die Arbeit hinterm Tresen sie darin gestärkt hatten, diversen Nöten zu begegnen? Die Barfrau ermunterte die Unglückliche, sich ihre Freiheit und ihren Mädchennamen wiederzuholen: »Verlinskaya ist so hübsch!« Sie half ihr, die Kontrolle wiederzuerlangen, und begleitete sie sofort zu einem Kurs für Sekretärinnen. Ihre Tochter Sarah, die ebenfalls vor Wohlwollen nur so strotzte, nahm Régine unbefangen unter ihre Fittiche. Noch geschockt vom familiären Niedergang erlitt das Mädchen einen weiteren Schock, als ihr ausgerechnet die Person einen Rettungsring zuwarf, die sie eigentlich verachtete. Es war eine Lektion in Sachen Menschlichkeit, die Régine alles hinterschlucken ließ: ihre Arroganz, ihre Selbstgefälligkeit, ihre Lästerei. Es wurde Zeit, den Hang langsam wieder hinaufzusteigen.
Und Régine kletterte ihn rasend wie eine Furie hinauf. Auf dem Weg zum Olymp ging sie durch die Hölle, ohne je zurückzuschauen. An der Berufsschule von Saint-Henri, an der sie zeitgleich mit ihrer Mutter angenommen wurde, war sie Sarah auf der Liste der Besten dicht auf den Fersen und absolvierte jede Etappe mit Auszeichnung. Sie wurde so gut, dass sie nach drei Jahrzehnten, fünf Diplomen und einem Haushalt, den sie glücklich mit einem Psychiater aus Westmount teilt, ihren Hochmut wiederfand. Das Ganze krönt noch ein Sohn, der auf brillante Art Chopin spielt. Daher tut sie nun so, als gäbe es die dunklen Flecken ihrer Vergangenheit nicht. Sie raucht höchstens eine Filter- oder Slim-Zigarette pro Tag, fährt einen strahlenden Audi und dreht den tugendhaften Mächten, die sie für das Drama in ihrem Leben verantwortlich macht, eine lange Nase. Wenn sie heute nicht allzu widerwillig nach Saint-Henri fährt, dann, um dem Kaffee von Philippe zu huldigen und auch der immerwährenden Freundschaft zu der Frau, die sie stets als ihren Schutzengel sieht. Außer dem Viertel, aus dem beide kommen und das Régine zu verleugnen sucht, haben sie noch mehr gemeinsam: Beide sind aktiv, gehen begeistert ihrer Arbeit nach und sind große Fans von (stets heilsamer) Musik und anderen Künsten. Sie haben auch gemeinsame Schwächen wie eine starke Abhängigkeit von Kaffee und die Neigung zu Schlaflosigkeit, häufig infolge von emotionalen Ausbrüchen – oder Zigarettenqualm –, die Régine allerdings verschweigt.
Sarah würde weder ihre Herkunft noch ihre Fehler verbergen. Sie ist zu sehr mit der Straße und der Gegenkultur verbunden, um sich auf nur eine Person einzulassen. Die gutgläubige Seele hat ein flatterhaftes Herz, das sich nicht festlegt, und zeigt sich auch in Sachen körperlicher Zuneigung großzügig. Nur Régine, die sie wie eine Schwester liebt, bleibt sie treu und ist ihr gegenüber immer einfühlsam, auch wenn diese phasenweise echt unausstehlich sein kann. Außerdem beeindruckt sie die unermüdliche Entschlossenheit, die Régine an den Tag legt, und vor allem ihre Raffinesse, mit der sie an der Universität forscht. Es ist eine große Freude, in ihr Labor eingeladen zu sein und ein Gehirn dank eines MRT in Echtzeit beim Grübeln zu beobachten. Eine Sinfonie aus Milliarden Neuronen, die in alle Richtungen kommunizieren und mindestens genauso viele Feuerwerke auf dem Bildschirm entfachen. Für Sarah ist es ein expressionistisches Meisterwerk in einer Schädelhöhle, ein Kandinsky in lebhaften Farben, der ihr jedes Mal die Sprache verschlägt.
Doch wieder zum Café auf der Rue Notre-Dame. 13:27 Uhr. Ausnahmsweise vertauschen sich die Rollen, die sanfte Taube schickt sich an, die Löwin zum Staunen zu bringen. Sarah trotzt der Spitze wegen Gehalt und Drahtesel und wirft eine Granate ab:
»Régine, setz dich, ich muss dir von jemandem erzählen. Aber ich warne dich vor, es wird dir die Sprache verschlagen.«
Régine nimmt Platz und macht ein ungläubiges Gesicht. Es braucht einiges, um Doktor Lagacé aus der Fassung zu bringen. Sie hat schon viel gesehen. Trotzdem schaut sie Sarah mit ihren tiefschwarzen, neugierig funkelnden Augen an.
»Ist das so?«
»Du wirst dabei dein Latein vergessen.«
Der Satz sitzt, aktiviert Régines Speicheldrüsen wie die von Pawlows Hunden. Oder ist es wegen des Geruchs der Bodumkanne, die soeben an ihren Tisch gebracht wurde? Wie dem auch sei, die Ankündigung und die frisch aufgebrühten Arabicabohnen wirken unwiderstehlich. Sarah zögert den Moment hinaus, gießt den Nektar behutsam in die Tasse ihrer Freundin. Genuss liegt auch in seiner Erwartung. Der Kaffee plätschert leise in die Tasse, verströmt dabei sein köstliches Aroma, das einem sanft in der Nase streichelt und einen ins Hochland von Abessinien versetzt. Jedes Mal, wenn Régines Lippen die feine Flüssigkeit berühren, vergisst sie ihre Sorgen, ist alles im Einklang. Ihre Lider schließen sich, und sie genießt das warme Elixier mit einer dezenten Schokonote und einem Hauch Rosenlimonade. Mit einem hellen Klirren landet die Porzellantasse wieder auf ihrem Teller. Sie seufzt zufrieden.
»Bach hatte recht, Kaffee ist lieblicher als tausend Küsse. Und jetzt erzähl mir alles!«
Sarah beugt sich vor, bringt sich für ihre Enthüllung in Position, ihr Gesicht strahlt wie die Sainte-Chapelle in Paris.
»Ich hab da einen Fall, der deine Wissenschaft auf den Kopf stellen wird.«
»Das hast du schon gesagt.«
»Ein etwas älterer Typ, vielleicht Ende 50 …«, so beginnt Sarah die wohl unwahrscheinlichste Erzählung mit einem Obdachlosen in der Hauptrolle. Der Wildfremde war im Winter das erste Mal im Bonneau-Treff aufgetaucht. Mit struppigen Haaren und zotteligem Bart, der Teint etwas dunkler. Wie viele andere kam er wegen der Suppe und um sich aufzuwärmen. Sarah hatte ihn nicht weiter beachtet, zumindest nicht gleich, da sie anderweitig beschäftigt war. »Ich musste drei große Rückfälle händeln, erinnerst du dich? Die Armen waren mit ihrem Entzug gescheitert …« Régine trommelt mit den Fingern sanft auf dem Tisch, so wie jedes Mal, wenn Sarah vom Thema abschweift, das ist bei ihr chronisch. Sarah versteht den Wink.
»Schon gut. Anfangs ist er mir kaum aufgefallen.«
Im Weiteren erwähnt sie, dass der Mann ab und zu im Treff auftaucht. »Er isst eine Kleinigkeit und geht dann wieder, und wir haben keine Ahnung, wo er schläft. Er hebt immer ein Stück Brot auf, mit dem er wohl die Tauben füttert. Er zeigt ihnen gegenüber echte Zuneigung, die er für Menschen nicht zu empfinden scheint. Es ist schwer, mit ihm zu reden. Er ist nicht stumm, er ist nur nicht in der Lage, sich vernünftig zu unterhalten. Wenn er sich an jemanden wendet, dann um nach der Uhrzeit zu fragen: ›Bitte, wie spät ist es?‹, so als hätte er ständig Angst, er käme zu spät. Aber die Antwort darauf kümmert ihn nicht, es ist ihm egal, ob es 13:37 Uhr oder 13:40 Uhr ist. Er ist sogar vor der Antwort schon wieder weg. Er redet mit sich selbst, spricht zusammenhangloses Zeug, dazwischen zitiert er ab und zu bedeutende Dichter. Vermutlich ist er schizophren, oder er leidet an einer Sprachstörung. Vielleicht ist es die Wernicke-Aphasie«, sagt Sarah, »weil er sich zwar flüssig äußert, aber das Gesagte keinen Sinn ergibt.«
»Ich weiß, was eine Wernicke-Aphasie ist.«
Régines Verärgerung darüber, dass Sarah alles in die Länge zieht, ist zu spüren. Vermutlich genießt sie die Ungeduld ihrer Zuhörerin wie sonst den Kaffee.
Die Erzählerin der Geschichte erwidert: »Wart’s ab! Jedes Detail zählt.«
Sie wiederholt, dass es schwer sei, mit ihm ins Gespräch zu kommen. »Er ist ständig auf der Hut, manchmal überkommt ihn ein Juckreiz, ein Tick, und er kratzt sich wütend die Haut oder verscheucht unsichtbare Fliegen, indem er wild mit den Händen fuchtelt. Fragt man ihn, wie er heißt oder woher er kommt, antwortet er nicht. Er käut immer nur dieselben Verse wieder oder redet unsinnig vor sich her, zum Beispiel, welchen Horror er im Zweiten Weltkrieg erlitten hat, und sogar während des Ersten Weltkriegs in den Gräben von Gallipoli. Nur«, betont Sarah, »der Erste Weltkrieg ist über ein Jahrhundert her.«
»Schon klar, ich kann rechnen.«
Ohne mit der Wimper zu zucken fährt Sarah fort. Listet die zahlreichen Delirien des Halluzinierenden auf, in denen er Pérouse erwähnt, Gallipoli, London und Babylon, ohne irgendeinen Unterschied. »Er spricht über eine Giraffenjagd in der Kalahari, schweift dann plötzlich ab und erzählt vom Vietcong oder spricht von der unendlichen Tristesse der Monsunregen nach dem Fall Saigons. Was er durchgemacht hat, scheint ihn tatsächlich wie ein getriebenes Tier traumatisiert zu haben. Er erschrickt jedes Mal, wenn eine Tür knallt, oder zittert am ganzen Körper, sobald Stiefel trampeln. Hört man ihm genau zu, dann hat er an mehreren Fronten in verschiedenen Epochen gelitten.«
»Dann ist er eben ein Spinner. Bis jetzt ist alles halb so wild.«
Sarah lächelt verschmitzt.
»Stimmt. Bis letzte Woche.«
»Endlich kommst du zum Kern der Sache!«
Sarah erzählt die Ereignisse von letztem Dienstagmorgen. Sie stieg wie gewohnt in Saint-Henri auf ihr Fahrrad, fuhr auf dem Radweg entlang des Kanals bis zum Bonneau-Treff in Vieux-Montréal. Als sie am Pointe-à-Callière-Museum vorbeifuhr, erregte eine Notenflut ihre Aufmerksamkeit. Sie wurde langsamer und hörte genauer hin. Die Musik kam vom Vorplatz des Museums, von einem der öffentlichen Klaviere, die im Sommer immer wieder erklingen. Die opulente Melodie, die komplexe Notenfolge ergriffen Sarah. Das war sicher nicht das abgehackte Geklimper eines Musikanten.
»Ich ging näher ran, war hin und weg.«
»Lass mich raten, der Pianist war dieser Unbekannte.«
»Genau!«
Unter den vielen Passanten, die erstaunt stehen geblieben sind, befand sich Francis, der ehrenamtlich im Bonneau arbeitet.
»Francis kennt sich mit klassischer Musik aus, nicht so gut wie du, aber er traute seinen Ohren kaum. Er sagte, dass das das Dritte Konzert von … von … Rach-irgendwas sei.«
»Das Dritte Klavierkonzert von Rachmaninow?«
»Ja. Und ohne dass er auch nur einmal danebenlag!«
Kurz ist es still. Ein Sonderling, der das Dritte Klavierkonzert spielt – der Everest für jeden Pianisten –, verzauberte nicht nur das Publikum vor Ort, sondern auch hier und jetzt die musikliebhabende Neuropsychologin.
Allerdings kommt die Gelassenheit schnell wieder angaloppiert.
»Ein hochbegabter Autist, vielleicht Asperger. Einige der Fälle sind sehr beeindruckend. Hat er noch andere Stücke gespielt?«
»Ja, Francis hat sie ganz aus dem Häuschen nacheinander aufgezählt. Aber du kennst mich, ich habe sie wieder vergessen.«
Régine, die das Erzählte euphorisch gemacht hat, wirkt verärgert.
»Die Art, wie er spielte, ließ die Zuschauer die dicken Scheine aufs Klavier legen. Aber das war längst noch nicht alles!«
»Tatsächlich?«
Als Sarah an diesem Dienstag im Treff ankam, erzählte sie gleich ihren Kollegen davon. Der Bärtige wurde zum Hauptthema. Und so berichtete Brigitte von einer weiteren Meisterleistung. »Weißt du welche Brigitte?« Eine Betreuerin, die Kunst als Werkzeug der Wiedereingliederung bevorzugt. Einige Tage vor dem verblüffenden Pianosolo leitete Brigitte einen Bastelkurs für Obdachlose. Der mysteriöse Unbekannte war zufällig vor Ort, verscheuchte gerade unsichtbare Fliegen. Brigitte gab ihm Pastellfarben und sagte: »Mein Lieber, zeichne deine Kalahari für mich.« Daraufhin griff er sich die Farben und malte los. Er malte die afrikanische Wüste bei Sonnenuntergang, verkrampft wie ein von Lichtspielen und der Unstetigkeit der Farben besessener Monet. Der Künstler schichtete übereinander, ließ Pigmente einander überlagern, bereicherte die Palette um Nuancen, je weiter die Sonne über den orangefarbenen Sand schimmerte. Eine grandiose, aber flüchtige Szene, ein Bild wie aus einem Film. Brigitte hatte es vor Begeisterung die Sprache verschlagen. Dann fing die Hand des Malers an zu zittern, und dieses Zittern breitete sich in seinem Körper aus. Er bäumte sich auf und zerriss das Bild, die Kalahari, in Fetzen, wodurch Brigitte ihrer Worte und auch jeglichen Beweises beraubt wurde. So hatte sie es Sarah berichtet, und die hat es an diesem Sonntagnachmittag gegen 14 Uhr Régine erzählt. Die ist nun neugierig geworden. Na also!
»Das waren schon zwei Meisterleistungen. Also fing hinter den Kulissen das Getuschel an.«
Vielleicht hat der Mann noch weitere Talente. Am nächsten Tag kam er wieder zum Treff. Jérôme, einer der ehrenamtlichen Köche, wollte ihn in Arithmetik testen. Mit dem Taschenrechner in der Hand stellte er ihm Rechenaufgaben, erst grundlegende wie Plus und Minus von zusammengesetzten Zahlen mit zehn, zwölf und 15 Stellen. Seine Antwort kam sofort und stimmte bis auf die letzte Ziffer. Also setzte Jérôme einen drauf, mit Multiplikation, Division, x-te Wurzel von immer größeren Zahlen. Jedes Mal im Tausenderbereich. Schließlich tummelte sich die gesamte Küchencrew um ihn wie Mücken ums Licht, und alle hatten eine knifflige Aufgabe für ihn. Danach hatte einer die Idee, ihm einen Spitznamen zu geben, der seinen wahnsinnigen, höllischen Meisterleistungen entspricht. Der Phönix.
»Ich fühlte mich immer unwohler«, gesteht Sarah. »Wir ließen ihn Kunststücke aufführen wie ein Zirkustier oder einen dressierten Hund!«
Doch er wirkte nicht verärgert. Scheinbar war ihm dieses Spiel sogar lieber als alle anderen Formen der Kommunikation. Zumal er währenddessen auch aufgehört hatte, zu zittern und sich zu kratzen. Der Mann, der für gewöhnlich in sich gekehrt ist, war erstrahlt.
Fragt man ihn, woher er seine Fähigkeiten hat, verliert er sich in poetischem Wirrwarr. Er sagt, die mathematischen Ergebnisse sieht er wie eine farbenfrohe Landschaft oder wie ein köstliches Gericht, dessen Zutaten nicht besser aufeinander abgestimmt sein könnten.
Zum ersten Mal klebt Régine an Sarahs Lippen und unterbricht sie nicht. Sie ist so versunken, dass sie ihren Kaffee vergisst, was Bände spricht. Tief in ihren Pupillen ist zu erahnen, dass ihr Hirn gerade schwer arbeitet.
»Dein gelehrter Hund ist ein Synästhet«, wirft sie ein.
»Ein was?«
Régine erklärt: »Unter den Synästheten finden sich ein paar Genies. Durch eine gekreuzte Verkabelung der Neuronen verwechseln sie die Sinne. Synästheten sehen Zahlen als Farben, beispielsweise ist die Fünf immer blau und die Sieben rot. Oder sie erkennen dieselben Zahlen als Teile einer Einrichtung. Diese ungewöhnlichen zerebralen Verbindungen entstehen unbewusst und können genetisch bedingt sein. Eine schöne Anomalie, denn sie multipliziert die Sinnesempfindungen, was das Erinnerungsvermögen stärkt und das Rechnen erleichtert.« Trotzdem hat Régine noch nie von einem so vielseitigen Synästheten gehört, der sogar Zahlen mit Gewürzen für ein Gericht assoziiert.
Und es geht noch weiter.
»Wegen der Erwähnung des köstlichen Gerichts kam Jérôme eine weitere Idee. Am übernächsten Tag, als dieser phänomenale Typ wieder aufkreuzte, forderte der Koch den hellen Kopf erneut heraus. ›Hey, Phönix! Du kennst dich doch mit den Maßeinheiten von Zutaten aus, also hilf mir doch bei der Zubereitung eines Ragouts.‹ Keine Antwort, dafür wich er Jérôme den ganzen Morgen wie ein braver Soldat nicht von der Seite. Er verschwand nur eine knappe Stunde, um seine eigenen Gewürze zu holen.«
Régine ist ganz Ohr: »Und dann?«
»Alle sind sich einig, das Ragout war göttlich.«
»Was waren das für Gewürze?«
»Keine Ahnung. Vielleicht Kräuter aus irgendeiner Einöde.«
Hm. 14:29 Uhr, auf der Wange der Forscherin zeigt sich ein nervöser Tick. Wenn sie ihr Gesicht anspannt, dann, weil sich ein Dorn in ihre graue Masse bohrt. Etwas stimmt nicht. Für gewöhnlich stürzen sich Autisten in ein paar spezifische Interessengebiete, was in der Natur ihrer Störung liegt. Derartige Begabungen auf gleichem Niveau angehäuft zu finden, verwirrt die Neurologieexpertin.
»Er muss irgendwo Familie haben. Seid ihr dem nachgegangen?«
»Natürlich!«
Sobald eine Psychose vermutet wird, wird das Gesundheitsamt informiert. Im Winter wurden Flyer mit einem Foto des Unbekannten verteilt.
»Und?«
»Nichts. Keine medizinische oder Polizeiakte, kein Verwandter, der ihn sucht. Also haben wir nicht weitergegraben und keinen unnötigen Alarm geschlagen, da der Typ keine Gefahr darstellt, bis auf seine Zeichnungen.«
Régine geht die Sache gedanklich immer wieder durch, ihr Verstand läuft auf Hochtouren. Der Phönix kommt vielleicht aus dem Ausland. »Ist dir etwas Markantes an ihm aufgefallen?«
»Etwas Markantes?« Sarah sieht seine zerzausten Haare vor sich, seinen gebräunten Teint, seine Augen. Ja, vor allem seine Augen. In einem aufregenden Graugrün, so als wären die Farben in ihnen wild durcheinandergeraten, das Ergebnis diverser Farbmischungen. »Er könnte von überall sein«, flüstert sie, »von hier oder dem Ende der Welt.«
»Mich interessiert seine Stimme. Hast du einen Akzent herausgehört, der ihn verraten könnte?«
»Er spricht perfektes Französisch, so als käme er direkt von der Académie française. Merkwürdig ist allerdings, dass er, je länger man sich mit ihm beschäftigt, immer mehr Sprachen spricht.«
»Andere Sprachen?«
»Und auch die perfekt.«
Die Kirsche auf dem Eis.
So wandelt der Phönix wie ein Chamäleon im multikulturellen Schmelztiegel des Bonneau-Treffs. Wenn er seine Suppe mit den Anglos isst, führt er Selbstgespräche in der Sprache Shakespeares. Er sagt dann zum Beispiel: ›Excuse me, Sir, what time is it?‹, und zitiert Dickinson oder redet unsinniges Zeug vom Ersten Weltkrieg, Pérouse, Babylon oder der Kalahari, aber in einwandfreiem Englisch. Sicher kann man perfekt in zwei Sprachen sein. Nur wenn derselbe Teufelskerl unter Latinos ist, spricht er auch akzentfrei Spanisch. Die Spanisch-Muttersprachler bestätigen, dass sie keine Verzerrung heraushören, die zeigt, dass er die Sprache erst später erlernt hat. »Auch der alte Wang meint«, sagt Sarah begeistert, »er spricht Kantonesisch, als wäre er am Ufer des Chinesischen Meers geboren. Und Tuan bestätigt, er spricht Vietnamesisch, ohne es zu verhunzen, und vermittelt den Eindruck, als wäre er in den Gassen Saigons aufgewachsen.«
»Es ist unmöglich, all diese Sprachen perfekt zu beherrschen!«, ruft Régine skeptisch aus.
»Ich schwöre dir, er hat was von Babylon!«
»Es ist unmöglich«, wiederholt Régine, »physiologisch unmöglich …«
Januar 1999
In der Wissenschaft ist nichts unmöglich. Unser Gehirn ist dermaßen flexibel, dass niemand sein Ausmaß kennt.
Immerhin besteht die menschliche Intelligenz aus einhundert Milliarden miteinander verbundenen Neuronen, und jedes einzelne dieser Neuronen ist ein Prozessor, der ein Signal verarbeiten und an andere Neuronen via 10 000 Kontaktpunkte weiterleiten kann. Das macht eine Billiarde synaptische Verbindungen. Damit sind die möglichen Permutationen in der Entwicklung der neuronalen Netzwerke unbegrenzt, und unser Gehirn ist stärker als jeder Computer.
Dieses dichte Netz entwickelt sich hauptsächlich in den ersten Lebensjahren. Das Babygehirn ist eine überaus leicht zu formende Masse, in jeder Sekunde kommen Tausende synaptische Verbindungen dazu. Das Kleinkind verfügt über eine rohe Intelligenz und kann etwa die Phonetik von jeder beliebigen Sprache lernen. Die Zahl der neuen synaptischen Verbindungen nimmt mit den Jahren ab, das bedeutet aber nicht, dass das Hirn nur noch verkümmert.
Am University College wird das Gehirn von Londoner Taxifahrern untersucht. Sie bahnen sich ihren Weg durch die chaotische Stadt, merken sich Tausende von Straßen und in etwa genauso viele Adressen. Eine Herkules-Aufgabe für das Gedächtnis, das Normalsterbliche über sich hinauswachsen lässt. Beziehungsweise die Leistung unseres Gehirns. Im Neuroimaging zeigt sich, dass die Region des Hippocampus, wo das räumliche Gedächtnis sitzt, bei den Taxifahrern vergrößert ist. Das beweist, dass unsere graue Materie sich weiterhin entwickeln und verändern kann. Das Gehirn fasst mehr als der Himmel, schrieb Dickinson.
Lassen wir uns nicht täuschen. Es wird stets einfacher sein, Dinge zu lernen, die mit den Errungenschaften unserer frühsten Kindheit in Verbindung stehen. So wird das größte Genie aller Zeiten die Person sein, die auch noch im Alter die zerebrale Flexibilität eines Kleinkinds hat.
Wie spät ist es? Ich muss ins Forschungszentrum. Goethe hatte recht. Wenn wir sehen, wie sich das Schwierige leicht ausführen lässt, meinen wir, dass das Unmögliche möglich ist.
18:41 Uhr. Während eines für das britische Klima typischen Sprühregens verlässt die junge Lin Li-Mei ihre Zweizimmerwohnung nahe der Paddington Station. Sie steigt in ein Taxi, das sie zur renommierten Royal Albert Hall bringt. Als Stipendiatin nimmt die Musikstudentin am Finale eines Klavierwettbewerbs teil, einem von denen, die Karrieren antreiben und Türen öffnen. Zu Beginn des neuen Jahrtausends wollten die Organisatoren dem Wettbewerb mehr Würze verleihen und rückten das technisch heikle Werk des Komponisten Sergei Rachmaninow ins Zentrum. Eine geeignete Herausforderung für eine Pianistin vom Schlag Lin Li-Meis, die vor Talent und Zuversicht nur so strotzt. Ihr hübsches, marmornes Gesicht zeigt keinen Hauch von Nervosität.
Die in Guangzhou geborene, am Zentralkonservatorium von Beijing und an der Londoner Royal Academy of Music ausgebildete hochbegabte Frau beherrscht einwandfrei Kantonesisch, Mandarin, Englisch und die Musiklehre. Ihr Koffer war gefüllt mit Partituren und Hoffnungen einer ganzen Verwandtschaft von Musikern, die in der Kulturrevolution mundtot gemacht wurde. Denn unter Mao schlossen die Roten Garden die Konservatorien, verbrannten die Klaviere und schickten die klassischen Interpreten zum Hacken auf die Felder. Ein schweres Trauma für die Familie Lin. Darum wurde im März 1978, als die Pflaumenbäume blühten und die Akademien endlich wieder öffneten, das Neugeborene, das durch seine Geburt den Frühling verkörperte, Li-Mei, »atemberaubende Pflaumenblume«, genannt. Sobald das außergewöhnliche musikalische Talent des Mädchens entdeckt wurde, legte die ganze Familie zusammen, sogar die Cousins und Urgroßtanten, um es aufopfernd zu pflegen, erst in Guangzhou und Beijing, dann in London. Nun sitzt sie mit 22 in einem Taxi, vollkommen in sich versunken und eifrig damit beschäftigt, die Noten auf dem Weg zum Ruhm zu visualisieren. Zumindest ist das die Hoffnung. Li-Mei ist ein Ass der Konzentration, hat ihr ganzes Leben lang kontinuierlich ihre Energie in den Klavierkasten geleitet. Sie hasst es, aus ihrer Blase geholt zu werden. Besonders von einem Taxifahrer und noch dazu wegen Small Talks über das grässliche Wetter, »a hell of a day«. Das junge Wunderkind lässt den Fahrer schwatzen.
Das Taxi biegt auf den Carriage Drive und fährt durch den Hyde Park. Li-Mei entdeckt einen Ballonverkäufer, dessen Schatten sich hinter dem Vorhang aus Nieselregen abzeichnet. »Der Kerl ist schon seit Wochen da«, sagt der Fahrer. »Verkauft seine Zeppeline bei gutem wie bei schlechtem Wetter. Bereitet sich wohl auf das 60-jährige Jubiläum der Schlacht um England vor.« Keine Reaktion der Insassin. Der Fahrer redet weiter, beschwört seine Kindheitserinnerungen herauf. »Ich war damals erst fünf Jahre alt, aber ich habe diese riesigen Elefanten nicht vergessen, die zu Hunderten über London flogen. Sie dienten als Sperre für die Fritz-Flugzeuge. Für einen Knirps wie mich bekam der Krieg dadurch etwas seltsam Festliches. Ist schon komisch, woran man sich so erinnert!«
Die Geschichte entlockt der Studentin auf ihrem Weg zum Ruhm – zumindest ist das die Hoffnung – kein Lächeln. Der Mann lässt sich davon weder bremsen noch entmutigen, er versucht weiter, mit der hinreißenden Insassin ins Gespräch zu kommen. Er entscheidet sich für ein intellektuelleres Thema als das graue Nass oder den Krieg. »Am University College wird mein Gehirn studiert? Anscheinend ist mein räumliches Gedächtnis eines Herkules’ würdig.«
Im Rückspiegel beobachtet er, wie die Nymphe reagiert – immer noch ein Eisblock. Er legt nach. »Im Ernst, Forscher scannen mein Gehirn, um zu beobachten, wie mein Hippocampus wächst. Anscheinend haben wir ein Seepferdchen im Schädel. Wussten Sie das? Und darin sitzt unsere Erinnerung. Ich füttere mein Pferdchen täglich. Während ich durch die Straßen der Hauptstadt galoppiere, wird es kräftiger. Na ja, und das beeindruckt die Wissenschaftler!«
Hat er die Insassin etwa zum Auftauen gebracht? Li-Mei hat tatsächlich eine Augenbraue hochgezogen, zwar nicht bei der Erwähnung seiner Gedächtnisleistung, aber bei der der Universitätsforschung. Dem Fahrer ist es gelungen, die Aufmerksamkeit der Frau auf sich zu ziehen, sie sogar aus ihrer Blase zu holen. Was an sich äußerst bemerkenswert ist, bemerkenswerter als das Navigieren durch das Londoner Labyrinth. Das sich anbahnende Gespräch wird allerdings im Keim erstickt, als am Ausgang des Parks das Amphitheater erscheint. Es folgt ein knappes: »Wie viel schulde ich Ihnen?« Ziemlich dürftig, wenn man genau darüber nachdenkt. Die Fahrt ist bezahlt und die Musikerin bereits wieder in ihrer Blase, steigt aus und öffnet in aller Ruhe ihren Regenschirm.
Der Fahrer bleibt noch einen Moment stehen, sieht diesem Nachtfalter mit der geheimnisvollen Aura nach, bis die zierliche Silhouette, die im goldenen Licht der Royal Albert Hall funkelt, hinter dem Vorhang aus Sprühregen verschwindet. Um 19:02 Uhr verwandelt sich die britische Hauptstadt plötzlich in ein exotisches Kanton während der Monsunzeit. Zumindest ist das das Bild, das sich in den hypertrophen Hippocampus des Londoner Taxifahrers einbrennt. Eine Postkarte für seine alten Tage.
Im Inneren des Amphitheaters folgt Li-Mei dem gebogenen Flur, steuert mit sicherem Schritt die Logen an, wo ihre Kommilitonen und Professoren hin und her eilen. Trotz ihrer unumstößlichen Gelassenheit spürt sie nun das Gewicht der familiären Geister auf ihren zarten Schultern. Ihre gewaltigen Schatten folgen ihr bis hinter die Kulissen. Um ihre aufdringliche Präsenz zu bändigen, sagt sie ihr Mantra auf: Ich bin stärker als sie. Sie können mir nicht das Wasser reichen. Und fährt entschlossen fort: Ich kann mehr als meine Ahnen. Ich kann mehr als meine Professoren. Vielleicht sogar mehr als Rachmaninow. Mit diesem Glauben betritt sie die Loge. Vor dem Spiegel richtet sie zwei Strähnen, die Kleiderfalten, ihre Konzentration.
Um 20:44 Uhr begibt sie sich zum Amphitheater. Dort wartet auf der Bühne unter dem lodernden Licht der großen Kuppel ihre Waffe auf sie, ein majestätisches Klavier. Dort erwartet sie auch der schonungslose Blick der Juroren und eines bewanderten Publikums. Als Li-Mei sich ans Klavier setzt, hält sie kurz inne. In der Royal Albert Hall ist es erdrückend still. Mit geschlossenen Augen wiederholt sie ihr Mantra: Ich bin stärker als sie, sie können mir nicht das Wasser reichen … Ohne dass sie die Augen öffnet, gleiten ihre grazilen Finger ganz langsam zu den Tasten, so als wären sie Pflaumenblüten, die der Wind trägt. Es ertönt eine tiefe, bewusste Note gefolgt von einer Pause. Dann eine zweite Note, die sich in die Länge zieht. Wie ein schwerer Tropfen, der einen sintflutartigen Regen ankündigt, der augenblicklich losbricht. Auf der Bühne bewegen sich plötzlich die Hände, tanzen über die Tasten, erzeugen einen wilden Notenfluss, ganz nach dem Vorbild des russischen Maestros. Doch sie imitiert ihn nicht. Wird sich die Wettbewerberin Freiheiten herausnehmen? Ja. Was einige Juroren leicht verwirrt und perplex dreinschauen lässt.
Umso weiter sie im Stück vorwärtskommt, desto mehr entfernt sie sich vom legendären Rachmaninow, fügt nach Belieben eigene Motive ein, orientalische Referenzen. Warum auch nicht? Rachmaninow selbst betrachtete die Fantasie als wertvollste Verbündete eines Komponisten. Li-Mei ist darauf bedacht, die Musik in ihre eigenen Farben zu tauchen. Ihre Kühnheit verwandelt die Verwirrung der Juroren in Ratlosigkeit. Auch das Publikum durchläuft eine ganze Bandbreite an Emotionen. Anfangs war es noch verlegen, bald darauf neugierig und schließlich von der unglaublichen Kreativität der jungen Pianistin vereinnahmt. Im Saal sehen sie sich gegenseitig an, schauen zur Jury und wieder zur Virtuosin, sie haben das Gefühl, die Geburt eines Mozarts mitzuerleben. Ein Zuschauer schwört, im Kegel des Scheinwerferlichts den lodernden Atem der Noten gesehen zu haben, ähnlich wie ein Schwarm tropischer Schmetterlinge. Rachmaninow hat gesagt: »Musik ist die Liebe, ihre Schwester die Poesie, ihre Mutter die Traurigkeit.«
Traurigkeit …
Während die Emotionen in der Royal Albert Hall ihren Höhepunkt erreichen und die große Kuppel erstrahlt, schleicht sich in den sonst so zementierten Schädel der Solistin ein seltsames Unbehagen. Zuerst ist es ein unangenehmer Geruch nach verbranntem Gummi – keine Ahnung woher –, der ihr leichte Übelkeit und einen seltsamen Geschmack im Mund beschert. Stoisch und bravourös spielt sie weiter, lässt sich vor dem hingerissenen Publikum nichts anmerken.
Es folgt Ohrensausen, erst ganz schwach, dann immer stärker. Es ist, als würde sich die Musik von ihr entfernen, ihr die Fuge entfliehen. Li-Meis Gesicht verkrampft sich, auf ihrer Stirn und an den Schläfen bilden sich Schweißtropfen, allerdings nicht, weil das Spiel so anstrengend ist. Das Ausnahmetalent spielt immer weiter, sie öffnet leicht die Augen und stellt fest, dass die bewundernde Menge nichts mitbekommen hat und dass sie sie jetzt unscharf sieht. Sie hält sich wacker, doch nun blitzt es vor ihren Augen. Und ihr Herz fängt an zu rasen, ihre Zehen und Finger kribbeln. Li-Mei ringt nach Luft, ihre Lider zucken. Alle Farbe weicht ihr aus dem Gesicht. Ein Krampf provoziert die erste falsche Note. Eine zweite. Ein Raunen zieht durch den Saal. Zum ersten Mal in ihrem Leben bekommt Li-Mei Panik. Ein Zittern macht sich breit – und auch eine erschreckende Vorahnung.
Tatsächlich hat nie zuvor ein Publikum ein solch tragisches Finale miterlebt.
Nach einer Reihe dissonanter Akkorde entfährt der Pianistin eine heisere Klage. Sie sackt an der Schwelle zum Ruhm in sich zusammen, ihr Kopf erzeugt beim Aufschlagen auf den Tasten eine entsetzliche Kakofonie. Die Zuschauer, Juroren, Professoren und Rivalen springen entsetzt schreiend auf. Als die Spasmen endlich vorbei sind, ist das Leben dem Körper entwichen, der Mund voller Schaum, sind die Augen verdreht.
Als der Big Ben 21 Uhr schlägt, hat ein heftiges Hirngewitter Lin Li-Mei aus dem Leben gerissen. Ein seltener, tödlicher epileptischer Anfall den Ärzten nach.
3:35 Uhr, Vieux-Port. Nach einem Monstergewitter ist der Himmel wieder klar. In der Gegend, die so manche Fabrik kommen und gehen sah, ruht das nasse Gerippe einer eisernen Drehbrücke, das rostiges Zeugnis einer blühenden Industrievergangenheit, das seit einem halben Jahrhundert für immer vom Ufer getrennt stillsteht und von Unkraut überwuchert ist. Die Drehbrücke vegetiert mitten im Kanal auf ihrer Insel dahin. Nur so Waghalsige wie ein gewisser Draufgänger gelangen noch dorthin, indem sie sich über die Bahnschienen der neuen Brücke schleichen. Im Schutz der Nacht oder im Sommer, wenn der Tag ganz früh anbricht, klettert er das alte Brückengerüst hoch zur Fahrerkabine. Ein baufälliger Verschlag, dessen vernagelten Eingang Nichtsnutze aufgebrochen haben.
Der Eindringling findet eine von der Zeit und Graffitis beschmutzte Kabine vor. Im Westen gibt es ein Fenster mit zerbrochenen Scheiben. Es bietet einen Blick auf den Kanal, seine Schleusen und seine von Fahrradwegen durchzogenen und von ehemaligen Manufakturen und inzwischen Luxuslofts übersäten Ufer. Weiter weg wacht die Turmuhr des Atwater-Markts. Ihr Weiß leuchtet in der Dunkelheit wie ein Geist, eine beständige Gestalt in einer sich wandelnden Landschaft. Im wahrsten Sinne des Wortes. Denn je näher der Draufgänger dem Fenster kommt, umso schlechter wird die Sicht. Die Luft lädt sich mit Partikeln auf. Das Wasser, der Boden, die Gebäude hüllen sich in einen schwarzen Mantel, so als wäre gerade Asche vom Himmel geregnet, als wäre die Zeit entgleist und die Stadt ein Jahrhundert zurückversetzt, in eine Epoche, in der Montréal als junge Wettstreiterin mit dem industriellen London seinen Glanz aus Ruß schöpfte. Schon bei einer winzigen Verlagerung seines Gewichts sieht er wieder die Stadt von heute, in ihrer gepflegten Erscheinung.
Je nach Perspektive zeigt sich der Kanal bürgerlich sauber oder schmutzig. Das Einzige, was unverändert bleibt, ist die Turmuhr als Rest einer amerikanischen Industrielandschaft, die noch makellos dasteht und von Ruhm und Verfall zeugt.
Der Draufgänger hält viel mehr von dieser optischen Täuschung, als er sich auf dem Weg hierher erhofft hat. Er erwartete nicht, an diesem Ort das Werk eines Erbauers, sondern das eines Sprayers vorzufinden. Klopf. Klopf. Ein Trugbild. Und was für eins! Allergrößte Kunst. In dieser schwer erreichbaren Bruchbude hat ein Meister der Illusion das Fenster verschlossen, um es durch die perfekte Darstellung desselben Fensters zu ersetzen, mit den zerbrochenen Scheiben und dem Blick auf den Kanal, Vergangenes und Gegenwärtiges. Es braucht die Augen eines Philatelisten, um die winzigen Details des Kunstwerks zu erkennen und darüber das gewaltige Know-how eines Miniaturkünstlers zu ermessen. Eine Folie über dem Dargestellten erschafft zugleich den Effekt einer Fata Morgana und die Illusion von Glas, das nachts um 3:59 Uhr einen verblüfften Blick spiegelt.
Wessen Blick eigentlich?
Den des jungen, urbanen Kundschafters und kleinkriminellen Künstlers Ángel Escobar. Der, auch wenn er ein talentierter Sprayer ist, dieses Trugbild nicht erschaffen, sondern zufällig nur entdeckt hat. Aufgestöbert während seines Lieblingszeitvertreibs, immer zum Ende der Nacht und zum Wochenstart, zu einer Tageszeit, in der die Stadt lethargisch und die Polizei weniger wachsam ist. Als ehemaliger Schüler einer Kunstschule erkennt Ángel ein Juwel. Noch nie hat er in der Welt der Spraykunst so ein mysteriöses und unaufdringliches Bild in der Ruine einer unzugänglichen Brücke entdeckt. Ein Meisterwerk, das allein ein herumtreibender Schulabbrecher wie er bewundern kann, sonst niemand.
Eigentlich springen Graffitis ins Auge, denkt Ángel, auch sein eigenes Bomb ist immer deutlich zu sehen. Wegen des Kicks, nicht aus Eitelkeit. Er hat dieses irrationale Verlangen danach, überall sein »Ángel« zu hinterlassen, vor allem weiter oben, an Stellen, die schwer zugänglich sind, etwa den Spitztürmen der Industriekolosse, die in der Nähe des Kanals noch stehen. In der Szene wird er »der Seiltanzsprayer« genannt. Höhe oder Korrosion machen ihm nichts aus, er erklimmt schwankende Leitern und knackende Wände in leeren Silos, dringt in verlassene Gebäude voll toxischem Mief ein, alles egal, sobald er oben angekommen ist. Es ist stärker als er, er muss diesen Fabriken, die keine Stoffe mehr herstellen, sondern Leinwände für Sprayer, einfach eine Seele einhauchen. Es geht ihm nicht um Feinheit, oh nein, sein riesiges Bomb ist von Weitem zu sehen: erst ein himmlisches Á mit Flügeln und Heiligenschein, die restlichen Buchstaben fallen schräg nach unten ab. Das Schluss-L ist besonders griesgrämig mit seinem abgeknickten gespaltenen Schwanz, der das Ganze wie einen gestürzten Engel wirken lässt. Im ehemaligen Fabrikbezirk bewundern viele Ángels zugleich düsteren und leuchtenden Schriftzug, ein Aufschrei stiller Wut – um in der Nacht so hoch hinaufzusteigen, muss man am Boden gewesen sein.
Obwohl er schüchtern ist und nicht viel erwartet, ist der junge Escobar in der Szene ein Star. Er sprüht, um seine Dämonen loszuwerden, die ihn runterziehen. Es wurde in gewisser Weise zu seiner Religion. Auch, um der Religion seiner Eltern zu entkommen. Er ist das Kind eines unfruchtbaren, zutiefst religiösen Paars, das jahrzehntelang für ihn gebetet hat und das in seiner Geburt ein wahr gewordenes Wunder sieht. Sein Vater hat in seiner Heimat El Salvador im Mariona-Gefängnis die Tortur des letzten Jahrhunderts durchgemacht. Auf dem Höhepunkt der Terrorkampagne im Land der Mörder von Monsignore Romero wurden ihm wie so vielen Guerilleros die Zehen und Hoden mit dem Schweißbrenner verbrannt. Schließlich flohen die Escobars nach Montréal, wo nach Jahren vergeblicher Versuche Ángel das Licht der Welt erblickte, trotz der angesengten Eier. Ein Wunder, für das tagein, tagaus Dios, Jesús, María und allen Kalenderheiligen zu danken ist, eine Schuld, derer sich ein Junge nur schwer entledigen kann, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einer Stadt geboren wurde, in der der gute Gott keine Beachtung mehr findet und Kirchen zu Eigentumswohnung werden. Hinzu kommt, dass Ángel, der weder die Todesschwadronen noch den Bürgerkrieg kennt, keinen Anlass dazu hat, die Jungfrau oder heilige Märtyrer zu ehren. Er ist weder mit Frömmigkeit noch mit Tugendhaftigkeit gesegnet und wurde, bis auf die familiäre Verpflichtung, alle katholischen Bräuche mitzumachen, nicht gefoltert. Sieht ihn seine Familie nicht als Gauner, als faulen, anspruchslosen Schüler und undankbares Monster, das weder seine Eltern noch den Herrn ehrt? Als Inkarnation ihrer enttäuschten Hoffnungen. Als gefallenen Engel. Planlos flüchtete sich der Junge in die verbotene Welt des Sprayens. Bis er in dieser Nacht noch vor Anbruch des Tages seine Bestimmung in der Kunst fand. Vor einem vorgetäuschten Fenster.
Wer, fragt er sich noch einmal, welcher geniale Illusionist steckt hinter diesem Diptychon?
Keine Signatur, nur ein kurzer Text am Rand. Scheinbar auf Arabisch, in bemerkenswerter Schönschrift. Jeder einzelne Buchstabe ist anders dargestellt, genauso zart wie das Bild, sodass vermutlich derselbe geniale Urheber dahintersteckt. Ist es orientalische Dichtung? Und wenn man seine Position leicht verändert? Zeigt sich darunter eine weitere, blassere Schrift. Der Illusionist bleibt sich treu. Ángel tritt näher. Bei genauerem Hinsehen erkennt er, dass der darunterliegende Text in einem anderen, kaum zu entziffernden, vergänglichen Alphabet geschrieben ist. Eine Art Inschrift wie auf einer tausendjährigen Amphore, die Archäologen behutsam mit der Zahnbürste freilegen. Ángel vermutet, dass der Künstler von Geschichte besessen ist, genauso wie von Verschiebungen und Verwirrungen.
Er erkundet den Ort weiter, nimmt die anderen Graffitis auf dieser zur Goldmine gewordenen Innenwand genau unter die Lupe. Nichts Auffälliges, bis auf den unerwarteten Luftzug, das Knarren der Tür. Das plötzliche Gefühl, vom einzigen Ausgang dieses Drecklochs aus beobachtet zu werden. Der Eindruck, ein Blick sei wie der Lauf einer Pistole auf seinen Nacken gerichtet.
Der Fußboden knarzt.
Dem Jungen zieht sich der Magen zusammen. Kalter Schweiß läuft ihm, den sonst nichts ängstigt, den Rücken hinunter. Noch ein Knarzen.
Von Angst gelähmt findet der junge Escobar in seinen Guerillero-Wurzeln schließlich den Mut, sich der unbekannten Bedrohung zu stellen. Er dreht sich energisch um.
¡Mierda!
Vor ihm steht ein zerlumpter armer Teufel. Der schlecht rasierte Mann hält sich am Eingang des Verschlags fest, steht still, fixiert Ángel mit Augen, die den Jungen aus allernächster Nähe niederschmettern.
Nach einer Ewigkeit, in der er sich mehr tot als lebendig fühlt, hat er sich wieder gefangen, hält dem misstrauischen Blick des Dämons stand. Er wurde schon wieder getäuscht.
Er erkennt, dass er genauso beschaffen ist wie das Fenster auf der gegenüberliegenden Wand. Ein lebensgroßes, hyperrealistisches Porträt, das einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. Die alte Tür wurde zum Leben erweckt, aus rostigen Stellen wurden Altkleider oder Spuren auf einem ausgemergelten Gesicht. Es ist fabelhaft und zugleich grauenhaft. Ángel tritt näher, mit jedem Schritt verwandelt sich das Bild, wird der Blick des armen Teufels zum Blick eines Gemarterten. Er gleitet mit den Fingerspitzen über das Porträt, den zerzausten Kopf, die brüchige Haut, die aschfarbenen Augen. Die geweiteten Pupillen wie zwei qualvolle Brunnen. Für solch eine Verwandlung der Augenhöhlen braucht es einen Ausnahmekünstler. Eine derartige Not lässt sich nicht erfinden. Ángel ist sich sicher, vor einem Selbstporträt zu stehen.
4:05 Uhr. Er zückt sein Handy, knipst alles aus allen Winkeln, hält jedes Detail für die Ewigkeit fest. Dann kommt er ins Grübeln. Und wenn das nur eine Kostprobe ist? Ein Vorgeschmack auf eine ganze Sammlung, in der die einzelnen Teile in ihrer Kreativität miteinander wetteifern? Im Grunde ist jemand, der sprayt, jemand, der sät.
Endlich hat er seine Berufung gefunden: diesen Künstler aus dem Schatten ins Licht holen!
Der Tag ist angebrochen. Der Graffitikünstler ist unbemerkt wieder ins familiäre Nest und in die Rolle des Faulenzers geschlüpft, als Sarah Dutoit mit dem Rad den Kanal Lachine entlangfährt. Sie passiert jeden Morgen die ehemaligen Manufakturen und die Baustellen, die die alten Spinnereien in Studios verwandeln sollen. Um 8:14 Uhr bleibt sie in der Nähe der Docks abrupt stehen. Wegen des gewaltigen, noch frischen Graffitis, das gestern noch nicht auf dem Widerlager der Eisenbahnbrücke, die über den Kanal führt, gewesen ist. Und auch wegen des Tags, der unter Tausenden zu erkennen ist: ein meisterhaftes »Ángel«. Eigentlich thront es wie die Fahne des Triumphs eines urbanen Eroberers hoch oben auf den Silos und anderen Industrieriesen. Sie sieht es zum ersten Mal so weit unten. Das »Á« ist mit den Flügeln und dem Heiligenschein himmlisch wie immer, doch der gespaltene Schwanz des »L« ist anders. Normalerweise macht er einen Knick, doch dieses Mal scheint er fliehen zu wollen, teilt sich in Abschnitte mit kleinen feuerroten Pfeilspitzen. Die scharlachfarbene Spur führt das Eisenbahngerippe hinauf und über das Wasser. Der Ariadnefaden – wenn es einer ist – reicht über die halbe Brücke und setzt sich auf dem Wrack der Drehbrücke fort. Die Phantom-Brücke