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In bewegenden Bildern von großer Prägnanz und in einer Sprache, die dem Klang der Dinge angelehnt ist, betrachtet der Autor den Alltag aus der Mitte des Lebens: Phänomene teils in extremer Nahaufnahme, teils aus der Warte dessen, der um die Unterschiede zwischen Wahrnehmen und Begreifen weiß. So finden Geburt und Vergänglichkeit ihren selbstverständlichen Platz. Der Blick auf Kreatur, Werk und Erleben geht über den Einzelnen hinaus und wird Überlieferung.
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Seitenzahl: 43
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Hendrik Rost
Der Pilot in der Libelle
Hendrik Rost
Der Pilot in der Libelle
Gedichte
Wallstein Verlag
Für Inken, Greta und Wilko
Der älteste Mensch der Welt ist müde
geworden in mir, er hat seine Gründe,
Faulheit, Krankheit, Liebe, Krise –
aber das geht niemanden etwas an.
Ich lege mich hin mit ihm, Fernseher aus,
Nachbarn verreist. Das Bett ist gut, müde
ist gut, ich selbst bin alt für den Moment.
Keiner Zeitung würde ich sein Geheimnis
verraten: Fisch, Leinsamen, Lebenslust
oder jedes beliebige Mittel zu überleben.
Er wird mich wecken, wenn er will, still
ist es, still, ich könnte sterben jetzt oder
leben trotz allem, was er durchgemacht hat.
Aber das geht niemanden etwas an im Moment.
Er rekelt und streckt sich in meinem Körper
wie in einer Tierhaut, gejagt, erlegt, geliebt.
Was dann folgt, ist der schwierigste Teil.
Seine Erfahrung, sein Schlaf, mein Verfall.
So endet es, du musst es gelesen
haben, bevor du es leben kannst,
bevor du ausgetrunken hast,
musst du das letzte Glas austrinken,
bevor du denkst, musst du wissen,
bevor wir zusammengelebt haben,
müssen wir die Nacht zusammen
verbringen, bevor es endet,
ist es nichts, und davor ist es alles.
Du musst es leben, bevor du
es träumen kannst. Morgen ist es
vergessen, aber nicht vorbei,
weil wir nichts voneinander wissen,
kennen wir uns, wir sind Nebenbuhler
in eigener Sache. Ich verrate dir
den Ausgang. Für die Gunst der Stunde
musst du den Augenblick verpassen.
Es endet nicht. So fängt es an.
Im Zimmer der Großmutter roch es nach Erinnerung
gegen Ende. Gesammelt, gestapelt und faulend.
Ich schob die Greisin öfter im Rollstuhl spazieren.
Dabei erzählte sie, Fahrradfahren verlernt man nie.
Was blieb, war Fernsehen. Sie war dem Sender treu,
den sie beim Anschalten zufällig und laut einstellte.
Selbst wenn die Kiste einmal aus war, blickte sie
stur und stumm auf den Schirm. Einmal beim Kaffee
drehte sie sich plötzlich zu mir, strahlte übers ganze
Gesicht und raunte: »Ich werd nie vergessen, wie«.
Dann stockte sie, gestand: »Ich hab’s vergessen«.
Wir sahen uns an, dann lachten wir. Wir lachten.
Es gibt es, das Vergeben. Ich kann es noch riechen.
Statt eines Rücktrittsgesuchs
schrieb ich eine Liebeserklärung,
und plötzlich war das Leben,
das wir geteilt haben, unser Leben,
das wir miteinander führen werden.
Vor einem Jahr wird in einem Jahr,
weißt du noch wird du wirst sehen,
es war einmal: einmal ist keinmal.
Und anders als im täglichen Geschäft
erleben wir, wie die Verhältnisse
wieder sie selbst werden und Beamte
und Oberhäupter so weit zurücktreten,
dass sie nie im Amt gewesen sind,
bis du wie in der ersten Nacht
neben mir liegst, als alle Dinge
noch die Kraft hatten, das zu sein,
was sie wollten, dreckig oder vollkommen
rein und dazwischen hin- und herwechselten,
weil sie von Macht keinen Schimmer hatten
und Liebe irgendwie lustig fanden.
nach Louis MacNeice
Wenn ich jetzt da rausgehe,
werde ich in Kategorien einsortiert,
sie werden mich mit Drogen
versorgen, Politik, Krediten,
Liebe. Gras wird wachsen
über allem und gemäht werden.
Ich werde über weise Lügen lachen.
Wenn ich jetzt da rausgehe,
werde ich Eltern haben,
die so nicht geplant waren.
Ich werde nichts zu verlieren haben.
Ich suche mir als Schule
einen Herbstwald, als Zukunft
Meerblick und als Heimat
einen Punkt zwischen den Augen.
Ich werde alle Fehler machen.
Wenn ich jetzt da rausgehe,
werde ich die Flüche meiner Kinder ertragen.
Ich werde schreien und atmen
und tun, was ich nicht lassen kann
in dieser Welt. Kein Honorar
und kein Mitleid werde ich erwarten,
wenn ich jetzt da rausgehe.
Ich nehme nicht an Blutbädern teil.
Wenn ich jetzt da rausgehe,
werde ich leere Hände haben.
Ich werde nichts als Leben haben.
Ansonsten wäre ich tot.
Ich versuche, die Fliege zu fangen,
aber die Fliege sieht das anders.
Ich habe es noch nicht begriffen.
Der Käse, auf dem sie sitzt, ist
schon etwas älter und wellt sich
an den Rändern. Ihr ist es egal.
Ihr Rüssel speichelt seelenruhig
auf das Milchprodukt. Ich nähere
mich hinterrücks und weiß, Augen
mit Flügeln und Beinen sitzen da;
so gut wie unmöglich. Aus ihrer
Sicht ist alles absolut köstlich
und wert, ein Leben zu riskieren.
Meine Hand schwingt ins Leere –
das Schlagen, Fliegen, Schwelgen,
alles passiert in einem Augenblick.
Dann ist sie wieder da und reibt
die hinteren Beine auf der Scheibe
Käse. Sie triumphiert und spottet.
Damit kann ich leben. Sie vergibt.
Eine nervige Fliege, die mir den ganzen Tag
in Gedanken herumschwirrt wie um das Aas
einer Erinnerung, die im Hinterkopf verfault,
weil ich immer wieder über dieselben Dinge
nachdenke, diese Fliege lässt sich plötzlich
von mir fangen. Verblüfft horche ich an der
Faust und höre nichts, ich spüre, wie sie
innen herumkrabbelt und einen Ausweg sucht
aus der Unachtsamkeit. Stürbe sie jetzt
in meiner Hand, wäre es ein kurzer Triumph
des Lebens über die Kenntnis seiner selbst –
dass so ein Leben immer daraus besteht,
in sich selbst allmählich zu verenden, immer
mehr der gleichen Dinge wiederholend, bis