Der Pilot in der Libelle - Hendrik Rost - E-Book

Der Pilot in der Libelle E-Book

Hendrik Rost

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Beschreibung

In bewegenden Bildern von großer Prägnanz und in einer Sprache, die dem Klang der Dinge angelehnt ist, betrachtet der Autor den Alltag aus der Mitte des Lebens: Phänomene teils in extremer Nahaufnahme, teils aus der Warte dessen, der um die Unterschiede zwischen Wahrnehmen und Begreifen weiß. So finden Geburt und Vergänglichkeit ihren selbstverständlichen Platz. Der Blick auf Kreatur, Werk und Erleben geht über den Einzelnen hinaus und wird Überlieferung.

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Hendrik Rost

Der Pilot in der Libelle

Hendrik Rost

Der Pilot in der Libelle

Gedichte

Wallstein Verlag

Für Inken, Greta und Wilko

Mnemosyne

Überlieferung

Der älteste Mensch der Welt ist müde

geworden in mir, er hat seine Gründe,

Faulheit, Krankheit, Liebe, Krise –

aber das geht niemanden etwas an.

Ich lege mich hin mit ihm, Fernseher aus,

Nachbarn verreist. Das Bett ist gut, müde

ist gut, ich selbst bin alt für den Moment.

Keiner Zeitung würde ich sein Geheimnis

verraten: Fisch, Leinsamen, Lebenslust

oder jedes beliebige Mittel zu überleben.

Er wird mich wecken, wenn er will, still

ist es, still, ich könnte sterben jetzt oder

leben trotz allem, was er durchgemacht hat.

Aber das geht niemanden etwas an im Moment.

Er rekelt und streckt sich in meinem Körper

wie in einer Tierhaut, gejagt, erlegt, geliebt.

Was dann folgt, ist der schwierigste Teil.

Seine Erfahrung, sein Schlaf, mein Verfall.

Zu guter Letzt

So endet es, du musst es gelesen

haben, bevor du es leben kannst,

bevor du ausgetrunken hast,

musst du das letzte Glas austrinken,

bevor du denkst, musst du wissen,

bevor wir zusammengelebt haben,

müssen wir die Nacht zusammen

verbringen, bevor es endet,

ist es nichts, und davor ist es alles.

Du musst es leben, bevor du

es träumen kannst. Morgen ist es

vergessen, aber nicht vorbei,

weil wir nichts voneinander wissen,

kennen wir uns, wir sind Nebenbuhler

in eigener Sache. Ich verrate dir

den Ausgang. Für die Gunst der Stunde

musst du den Augenblick verpassen.

Es endet nicht. So fängt es an.

Mnemosyne

Im Zimmer der Großmutter roch es nach Erinnerung

gegen Ende. Gesammelt, gestapelt und faulend.

Ich schob die Greisin öfter im Rollstuhl spazieren.

Dabei erzählte sie, Fahrradfahren verlernt man nie.

Was blieb, war Fernsehen. Sie war dem Sender treu,

den sie beim Anschalten zufällig und laut einstellte.

Selbst wenn die Kiste einmal aus war, blickte sie

stur und stumm auf den Schirm. Einmal beim Kaffee

drehte sie sich plötzlich zu mir, strahlte übers ganze

Gesicht und raunte: »Ich werd nie vergessen, wie«.

Dann stockte sie, gestand: »Ich hab’s vergessen«.

Wir sahen uns an, dann lachten wir. Wir lachten.

Es gibt es, das Vergeben. Ich kann es noch riechen.

Hand aufs Herz

Statt eines Rücktrittsgesuchs

schrieb ich eine Liebeserklärung,

und plötzlich war das Leben,

das wir geteilt haben, unser Leben,

das wir miteinander führen werden.

Vor einem Jahr wird in einem Jahr,

weißt du noch wird du wirst sehen,

es war einmal: einmal ist keinmal.

Und anders als im täglichen Geschäft

erleben wir, wie die Verhältnisse

wieder sie selbst werden und Beamte

und Oberhäupter so weit zurücktreten,

dass sie nie im Amt gewesen sind,

bis du wie in der ersten Nacht

neben mir liegst, als alle Dinge

noch die Kraft hatten, das zu sein,

was sie wollten, dreckig oder vollkommen

rein und dazwischen hin- und herwechselten,

weil sie von Macht keinen Schimmer hatten

und Liebe irgendwie lustig fanden.

Letzte Gedanken vor der Geburt

nach Louis MacNeice

Wenn ich jetzt da rausgehe,

werde ich in Kategorien einsortiert,

sie werden mich mit Drogen

versorgen, Politik, Krediten,

Liebe. Gras wird wachsen

über allem und gemäht werden.

Ich werde über weise Lügen lachen.

Wenn ich jetzt da rausgehe,

werde ich Eltern haben,

die so nicht geplant waren.

Ich werde nichts zu verlieren haben.

Ich suche mir als Schule

einen Herbstwald, als Zukunft

Meerblick und als Heimat

einen Punkt zwischen den Augen.

Ich werde alle Fehler machen.

Wenn ich jetzt da rausgehe,

werde ich die Flüche meiner Kinder ertragen.

Ich werde schreien und atmen

und tun, was ich nicht lassen kann

in dieser Welt. Kein Honorar

und kein Mitleid werde ich erwarten,

wenn ich jetzt da rausgehe.

Ich nehme nicht an Blutbädern teil.

Wenn ich jetzt da rausgehe,

werde ich leere Hände haben.

Ich werde nichts als Leben haben.

Ansonsten wäre ich tot.

Kleine Theologie I

Ich versuche, die Fliege zu fangen,

aber die Fliege sieht das anders.

Ich habe es noch nicht begriffen.

Der Käse, auf dem sie sitzt, ist

schon etwas älter und wellt sich

an den Rändern. Ihr ist es egal.

Ihr Rüssel speichelt seelenruhig

auf das Milchprodukt. Ich nähere

mich hinterrücks und weiß, Augen

mit Flügeln und Beinen sitzen da;

so gut wie unmöglich. Aus ihrer

Sicht ist alles absolut köstlich

und wert, ein Leben zu riskieren.

Meine Hand schwingt ins Leere –

das Schlagen, Fliegen, Schwelgen,

alles passiert in einem Augenblick.

Dann ist sie wieder da und reibt

die hinteren Beine auf der Scheibe

Käse. Sie triumphiert und spottet.

Damit kann ich leben. Sie vergibt.

Kleine Theologie II

Eine nervige Fliege, die mir den ganzen Tag

in Gedanken herumschwirrt wie um das Aas

einer Erinnerung, die im Hinterkopf verfault,

weil ich immer wieder über dieselben Dinge

nachdenke, diese Fliege lässt sich plötzlich

von mir fangen. Verblüfft horche ich an der

Faust und höre nichts, ich spüre, wie sie

innen herumkrabbelt und einen Ausweg sucht

aus der Unachtsamkeit. Stürbe sie jetzt

in meiner Hand, wäre es ein kurzer Triumph

des Lebens über die Kenntnis seiner selbst –

dass so ein Leben immer daraus besteht,

in sich selbst allmählich zu verenden, immer

mehr der gleichen Dinge wiederholend, bis