Der Plan Gottes - Guido Billig - E-Book

Der Plan Gottes E-Book

Guido Billig

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Beschreibung

Köln. Der Mathematiker Johannes Berger wird ermordet in seiner Wohnung aufgefunden. Hauptkommissar Sander von der Kölner Mordkommission nimmt die Ermittlungen auf und stößt auf merkwürdige Hinweise. Steht der Tod des Mathematikers in Zusammenhang mit den größten Geheimnissen vergangener Jahrtausende?

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BÜCHER DIESER REIHE

In dieser Reihe bisher erschienen7001 Stefan Melneczuk Marterpfahl7002 Frank W. Haubold Die Kinder der Schattenstadt7003 Jens Lossau Dunkle Nordsee7004 Alfred Wallon Endstation7005 Angelika Schröder Böses Karma7006 Guido Billig Der Plan Gottes7007 Olaf Kemmler Die Stimme einer Toten7008 Martin Barkawitz Kehrwieder7009 Stefan Melneczuk Rabenstadt7010 Wayne Allen Sallee Der Erlöser von Chicago7011 Uwe Schwartzer Das Konzept7012 Stefan Melneczuk Wallenstein7013 Alex Mann Sicilia Nuova7014 Julia A. Jorges Glutsommer7015 Nils Noir Dead Dolls7016 Ralph G. Kretschmann Tod aus der Vergangenheit7017 Ralph G. Kretschmann Aus der Zeit gerissen7018 Ralph G. Kretschmann Vergiftetes Blut7019 Markus Müller-Hahnefeld Lovetube7020  Nils Noir Dark Dudes7021 Andreas Zwengel Nützliche Idioten7022 Astrid Pfister Bücherleben7023 Alfred Wallon Der Sohn des Piratenkapitäns7024 Mort Castle Fremde7025 Manuela Schneider Die Waffe des Teufels

DER PLAN GOTTES

ALLGEMEINE REIHE

BUCH 6

GUIDO BILLIG

INHALT

Prolog

-1-

-2-

-3-

-4-

-5-

-6-

-7-

-8-

-9-

-10-

-11-

-12-

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-70-

-71-

-72-

Epilog

Über den Autor

Literaturverzeichnis

Dieses Buch gehört zu unseren exklusiven Sammler-Editionen

und ist nur unter www.BLITZ-Verlag.de versandkostenfrei erhältlich.

In unserem Shop ist dieser Roman auch als E-Book lieferbar.

Bei einer automatischen Belieferung gewähren wir Serien-Subskriptionsrabatt. Alle E-Books und Hörbücher sind zudem über alle bekannten Portale zu beziehen.

© 2014 Blitz Verlag

Ein Unternehmen der SilberScore Beteiligungs GmbH

Mühlsteig 10 • A-6633 Biberwier

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Alle Rechte vorbehalten

eBook Satz: Gero Reimer

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-309-4

7006 vom 15.06.2024

Danke, Juli!

PROLOG

Es ist also wahr!

Die Worte kamen ihm flüsternd über die Lippen, als der Tod allmählich von ihm Besitz ergriff. Innerhalb weniger Sekunden sah er sein Leben im Zeitraffer vor seinem inneren Auge ablaufen. Nicht sein gesamtes Leben. Nur einzelne Stationen. Offenbar die wichtigsten. Vieles hatte er im Laufe der Jahre vergessen oder verdrängt, doch nun kehrten die Bilder mit einer Intensität in seine Erinnerung zurück, die ihn jene Momente ein zweites Mal durchleben ließen. Momente, in denen er stets von Selbstzweifeln geplagt um Entscheidungen gerungen hatte, die seine Zukunft nachhaltig hätten beeinflussen können. Er hatte stets die Wahl gehabt. Jeder hat die Wahl. Manche seiner Entschlüsse bereute er zutiefst, andere wiederum empfand er nun als logische Konsequenz dessen, was ihn seit jeher angetrieben hatte. Die ständige Suche nach der Rechtfertigung seiner selbst, seiner scheinbar unbedeutenden Existenz inmitten der Unendlichkeit, nach dem Schlüssel des Universums.

Sein unbändiger Hunger nach Wissen, nach dem Ursprung aller Dinge, war endlich gestillt. Mit seinen letzten Atemzügen verstand er den Sinn, der sich hinter allem verbarg. Doch es war zu spät. Warum? War es wirklich zu spät? Ging es nun zu Ende oder fing es gerade erst an?

Der wuchtige Schlag hatte Johannes nach vorne schnellen lassen. Ausgerechnet in dieser Nacht hatte er nicht damit gerechnet. Er öffnete die Augen. Noch immer saß er auf dem Stuhl. Sein Oberkörper hing matt über der nassen, rot glänzenden Arbeitsplatte seines Schreibtisches. Er war allein. Mit aller Kraft versuchte er sich aufzurichten, doch er war unfähig, sich zu bewegen. Sein Atem wurde flacher. Er verspürte keinen Schmerz. Keine Angst.

Das austretende Blut wärmte seinen Nacken, suchte sich kitzelnd seinen Weg hinunter auf die ausgebreitete Sternenkarte. Mit der beruhigenden Gewissheit, das Geheimnis, das er schließlich nach all den Jahren entschlüsselt hatte, im entscheidenden Augenblick bewahrt zu haben, schloss er ein letztes Mal die Augen.

Dunkelheit.

Stille.

-1-

Ein schmaler Streifen künstlichen Lichts drang durch den Spalt unter der geschlossenen Tür und durchbrach die Finsternis des Treppenhauses. Hauptkommissar Richard Sander wischte sich mit seinem Stofftaschentuch mehr Schweiß als Regenwasser von der Stirn. Nachdem er wieder zu Atem gekommen war, öffnete er die Tür und trat in das Innere der Wohnung. Ein Schwarm von Papierstreifen flatterte ihm entgegen.

„Morgen!“, begrüßte ihn Fries und erhellte das erschöpfte Gesicht seines Vorgesetzten mit einer Taschenlampe.

Der Hauptkommissar hielt sich schützend die Hand vor die Augen. „Nehmen Sie das verdammte Ding runter!“

„Entschuldigung.“ Fries senkte den Strahl. „Der Strom ist ausgefallen. Wahrscheinlich ist irgendwo der Blitz eingeschlagen.“ Er schwenkte mit seiner Leuchte durch den Raum und gab Sander einen ersten Eindruck vom Zustand der Wohnung. Berge von zerschnittenen Zeitungen stapelten sich sowohl auf dem Fußboden als auch auf diversem Mobiliar. Kaum eine Stelle war von der herrschenden Unordnung verschont geblieben.

Sander schritt wortlos durch den Flur und näherte sich dem Lichtkegel eines akkubetriebenen Fluters in der Mitte des angrenzenden Wohnzimmers. Fries folgte ihm. Ein übel riechendes Gemisch aus Schweiß und Blut schlug den beiden entgegen.

„Weiß man schon, wer der Tote ist?“ Der Hauptkommissar deutete auf die männliche Leiche mit zertrümmertem Hinterkopf auf einem altmodischen, mit Stoff bezogenen Drehstuhl. Der Oberkörper hing über einer mit Unterlagen und Schriftstücken übersäten Schreibtischplatte. Wie ein Damm umschlossen die Arme des Opfers die angetrocknete Blutlache. Sander streifte seine Einweghandschuhe über und nahm den Leichnam näher in Augenschein.

Fries hielt seinen Notizblock ins Licht und begann eifrig darin zu blättern. Das Papier raschelte zwischen seinen Fingern. Dann hielt er inne und las laut vor: „Johannes Berger, achtunddreißig Jahre, Doktor der Mathematik.“

Tief vornübergebeugt betrachtete Sander die auf dem Schreibtisch liegenden Dokumente, die sich, vom Blut des Opfers durchtränkt, in eine klebrige Masse verwandelt hatten.

Der junge Kollege setzte seinen Vortrag fort: „Seine Nachbarin, eine Frau Kaufmann, Hermine Kaufmann, gleichzeitig auch seine Vermieterin, hat bei der Polizei angerufen, nachdem sie ungewöhnliche Geräusche gehört hatte und …“

„Was für Geräusche?“, unterbrach ihn Sander, ohne sich von der Leiche abzuwenden.

„Erst ein Klirren, als ob eine Glasscheibe zerspringt …“ Fries deutete mit dem Stiel seiner Taschenlampe auf einen Scherbenhaufen vor der geöffneten Balkontür unweit des Opfers. „Dann hörte die Vermieterin, wie jemand fluchtartig über die Treppe das Haus verließ.“

„Hat sie was gesehen?“

„Leider nein. Sie behauptet, alles sei zu schnell gegangen. Das Ganze habe höchstens zwanzig bis dreißig Sekunden gedauert. Sie ging ins Treppenhaus und warf einen Blick hinauf zu Bergers Etage. Seine Tür stand weit offen. Auf dem Weg nach oben rief sie mehrmals seinen Namen, doch er antwortete nicht. Sie betrat seine Wohnung und fand schließlich seine Leiche. Gleich darauf hat sie die Polizei gerufen.“

„Und wann fiel der Strom aus?“, wollte Sander wissen.

„Kurz nachdem die Beamten eingetroffen sind, so ungefähr um dreiundzwanzig Uhr dreißig.“

Mit einem Mal leuchtete die Schreibtischlampe auf und blendete den Hauptkommissar, der unmittelbar hineingesehen hatte.

„Der Strom ist wieder da“, sagte ein Kollege der Spurensicherung und schaltete den Fluter aus.

Sander rieb sich die Augen. Erneut sah er sich um und warf einen Blick in die hinteren Bereiche des Zimmers, die zuvor noch im Dunkeln gelegen hatten. „Was haben wir denn hier?“, gab er überrascht von sich und deutete mit ausgestrecktem Arm auf eine Wand, wo zahllose und teilweise bereits vergilbte Zeitungsartikel fast lückenlos das dahinterliegende Tapetenmuster verdeckten. Sander trat näher heran und betrachtete das Werk eingehend. Schließlich griff er nach seiner Lesebrille und setzte sie auf.

Sämtliche Pressemeldungen, deren Schlagzeilen sich in ihrer reißerischen Art gegenseitig übertrafen, waren durch ein Gewirr aus roten Linien und Bögen miteinander verbunden. Einzelne Buchstaben, Wörter und stellenweise sogar ganze Sätze waren farblich hervorgehoben oder dick unterstrichen. Es dauerte eine Weile, bis Sander einen Großteil der Headlines gesichtet und sich einen ersten Überblick verschafft hatte. Schließlich durchschaute er deren vermeintlich verborgenen Sinn.

Fries hingegen wirkte ratlos. „Haben Sie eine Idee, was das Ganze zu bedeuten hat?“

Sander nahm die Brille wieder ab und deutete mit einem der Bügel auf die Collage. „Das hier ist eine Art Kalender. Diese roten Linien …“ Er fuhr mit dem Finger darüber. „… verbinden die Artikel untereinander zu einer chronologischen Abfolge. Zudem steht unter jedem dieser Zeitungsausschnitte ein Datum.“ Er tippte rhythmisch auf eine Zahlenreihe und zog einen weiten Bogen zu einer der Pressemeldungen.

Fries stemmte seine Hände in die Hüfte. „Fast wie in diesem Film“, flüsterte er vor sich hin.

Der Hauptkommissar runzelte die Stirn. „Wovon reden Sie?“

„Na, wo es um diesen durchgeknallten Mathematiker geht, der sämtliche Wände mit Zeitungsartikeln zupflastert.“ Er deutete mit einem Kopfnicken auf die Leiche. „Wenn Sie mich fragen, war der Typ ein Psycho. Oder was meinen Sie?“

Sander richtete seinen Blick erneut auf die Anordnung. Nachdenklich zog er die Stirn in Falten und musste sich schließlich eingestehen, dass sein Kollege womöglich den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.

Fries wandte sich indes der übrigen Wohnungseinrichtung zu. Das Blinken des Anrufbeantworters erregte seine Aufmerksamkeit. Er drückte den Knopf, und sogleich setzte ein mechanisches Rauschen ein.

Der Hauptkommissar drehte sich um und trat an seinen Kollegen heran.

„Sie haben eine neue Nachricht. Freitag, einundzwanzigster August, einundzwanzig Uhr zweiunddreißig“, tönte die digitale Stimme aus dem Lautsprecher. Dann gab ein kurzes Piepen die Aufnahme frei.

„Johannes …? Hier ist Anna.“ Leise Musik war im Hintergrund zu hören. „Wenn du da bist, geh bitte ans Telefon! Hör mal, die Datei, die du mir gemailt hast, ist totaler Schrott. Kannst du sie mir noch mal zusenden? Also, bis dann.“

„Sie haben keine weiteren Nachrichten“, vermeldete die Stimme des Anrufbeantworters abschließend.

Sander nahm das Telefon in die Hand. Vergeblich versuchte er, sich im Menü zurechtzufinden. Seine Finger huschten planlos über die Tastatur. Ungeduldig reichte er Fries den Hörer. „Hier, machen Sie das!“

Mit einem Lächeln scrollte dieser durch die Liste der eingegangenen Telefonate. „Tja, leider anonym.“

„Und was ist mit den ausgegangenen Anrufen?“, hakte der Hauptkommissar mit scharfem Ton nach.

„Das habe ich bereits überprüft. Nichts. Offenbar hat Herr Berger nicht gerne telefoniert. Oder er kannte sich mit dem Gerät nicht aus. Soll vorkommen.“

Sander überging diesen Seitenhieb. „Wie war noch gleich der Name der Vermieterin?“

Fries blätterte wieder in seinen Aufzeichnungen. „Hermine Kaufmann.“

„Dann schlage ich vor, Sie gehen jetzt zu dieser Frau Kaufmann und nehmen ihre Aussage auf. Danach stellen Sie die gesamte Wohnung auf den Kopf und suchen nach irgendwelchen Hinweisen. Ich will alles über diesen Berger wissen.“ Sander blickte seinen Kollegen ernst an. „Und wenn ich alles sage, dann meine ich auch alles. Morgen früh will ich die Ergebnisse sehen.“

Fries ahnte wohl, dass für ihn in dieser Nacht an Schlaf nicht mehr zu denken war, und verzog das Gesicht.

„Worauf warten Sie? Oder wollten Sie noch etwas sagen?“

Fries schüttelte den Kopf und schlurfte davon.

Mit einem überlegenen Lächeln sah ihm Sander hinterher. Obwohl er sich vordergründig für dessen Stichelei revanchiert hatte, war er zugleich der festen Überzeugung, dass es seinem jungen Partner noch an praxisnaher Erfahrung mangelte. Er hatte noch einiges zu lernen, und dieser Fall erschien dem Hauptkommissar als willkommene Gelegenheit dazu.

Während Sander durch die Wohnung schritt, überkam ihn wie aus heiterem Himmel eine bleierne Müdigkeit. Sicher, er war nicht mehr der Jüngste und jedes seiner Dienstjahre hatte ihm einen Teil seiner Kraft geraubt, doch es war mehr als das. Weitaus mehr.

Erschöpft rieb er sich durchs Gesicht und schnaufte in seine Handflächen. Dann verließ er die Wohnung, stieg die Treppe hinunter und trat aus dem Haus in die sternenlose Nacht.

-2-

Der Geruch von nassem Teer strömte durch das offene Fenster von Sanders Wagen. Er hielt auf dem Parkplatz des Präsidiums, stieg aus und schritt auf den Haupteingang des Gebäudes zu. Die fast subtropische Schwüle, die sich bereits in den frühen Morgenstunden über die Stadt gelegt hatte, setzte ihm ordentlich zu, und der Gedanke, schwitzend an seinem Schreibtisch zu sitzen und den lästigen Papierkram erledigen zu müssen, der mit dem neuen Fall auf ihn wartete, bereitete ihm Unbehagen.

Schließlich betrat er sein Büro und steuerte die Kaffeemaschine an.

„Morgen, Chef“, grüßte Fries und gähnte. Sein äußeres Erscheinungsbild schien seiner körperlichen Verfassung zu entsprechen.

Sander ergriff die dunkelblaue Tasse, die er von seiner Tochter Lea zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte, als sie gerade zehn Jahre alt gewesen war. Das Netz aus feinen dunklen Haarrissen, das sich mit der Zeit in ihrem Inneren gebildet hatte, versank nun in den Fluten des heißen Kaffees, den der Hauptkommissar hineingoss. Er inhalierte den aromatischen Duft und erwiderte schließlich den Gruß. „Was gibt’s Neues?“

Fries streckte seinen Rücken durch und begann, aus seinen handschriftlichen Notizen vorzulesen. „Also … Johannes Berger, geschieden, keine Kinder. Vor drei Jahren verlor er seinen Job bei einer großen Versicherung hier in Köln. Kurze Zeit später ließ sich seine Frau von ihm scheiden. Seitdem arbeitete er in einem Supermarkt als Aushilfskraft.“

„Wie bitte? Doktor der Mathematik … und dann Regalauffüller im Supermarkt?“ Sander war irritiert und nippte an seiner Tasse.

„Anscheinend hat er das Pferd von hinten aufgezäumt“, antwortete Fries mit einem Grinsen.

Sander hingegen blieb ernst. „Wie meinen Sie das?“

„Na ja, Sie kennen doch den Spruch vom Tellerwäscher zum Millionär …“

Der Hauptkommissar verdrehte die Augen. „Sparen Sie sich Ihre eigenartigen Scherze für zu Hause auf und konzentrieren Sie sich auf den Fall!“

Das spöttische Lächeln verschwand aus Fries’ Gesicht.

Sander nahm eine Akte zur Hand und begann darin zu blättern. „Was haben Sie sonst noch über das Opfer herausgefunden?“

„Berger verfügte offenbar über einen herausragenden Intellekt, der es ihm ermöglichte, seine Schulzeit um Jahre zu verkürzen“, fuhr Fries fort. „Das Studium der Mathematik schloss er dann auf der Überholspur weit vor seinen Kommilitonen mit Traumnoten und Auszeichnung ab. Gleich nach der Uni erhielt er eine lukrative Anstellung bei einer Versicherung. Dann hat er geheiratet. Nach zwölf Jahren kam die Trennung. Seit der Scheidung lebte er sehr zurückgezogen in einer Zweizimmerwohnung in der Goltsteinstraße. Seine Vermieterin kann sich nur vage daran erinnern, dass Berger in dieser Zeit überhaupt Besuch hatte, und wenn, dann höchstens drei- oder viermal, wobei sie betonte, dass sie von Natur aus nicht neugierig sei. Die Substanz eines Altbaus sei ja bekanntermaßen sehr geräuschdurchlässig.“ Wieder grinste Fries abfällig.

„Haben Sie irgendwas über seine Krankheitsgeschichte?“, hakte Sander nach.

„Noch nicht, aber wir arbeiten daran.“

„Dann will ich Sie nicht davon abhalten.“

Die Tür des Büros öffnete sich einen Spaltbreit, und Lea streckte ihren Kopf herein. „Störe ich?“, flüsterte sie ihrem Vater zu.

Sanders Stimmung hellte sich sofort auf. „Kleine, du störst nie! Komm rein.“ Er trat hinter seinem Schreibtisch hervor und zog den Besucherstuhl heran.

Lea schaute zu Fries hinüber und begrüßte ihn mit einem Lächeln.

„Setz dich.“ Sander kehrte an seinen Platz zurück. „Was hast du auf dem Herzen?“

Seine Tochter wirkte erschöpft. Die dunklen Ringe unter ihren Augen zeugten von den Anstrengungen der letzten Wochen. „Nichts weiter. Ich musste einfach mal abschalten, mal etwas anderes sehen, aber wenn du keine Zeit hast, dann …“ Ihr unsicherer Blick pendelte zwischen den beiden Beamten hin und her.

„Natürlich habe ich Zeit für dich. Erzähl erst mal, wie läuft’s denn?“

Lea ließ sich auf den Stuhl fallen und verzog das Gesicht. „In ein paar Tagen ist die Prüfung, und ich muss noch so viel lernen … aber ich kriege einfach nichts mehr in meinen Schädel.“ Sie hämmerte mit der Faust gegen ihre Stirn. „Ich bin komplett ausgelaugt.“

Sander ahnte, unter welchem Druck Lea stehen musste, doch er wusste, dass sie dem gewachsen war. Auch ihm waren die Prüfungen seinerzeit nicht leichtgefallen und er hatte einige schlaflose Nächte durchstehen müssen. Letztendlich jedoch hatte ihm sein Ehrgeiz über die schwierige Zeit hinweggeholfen. Möglicherweise war dies der einzige positive Charakterzug, den er an seine Tochter weitergegeben hatte. Für den Rest war allein ihre Mutter verantwortlich gewesen. „Kann ich dir irgendwie helfen?“

„Lieb von dir, aber ich glaube nicht.“ Sie winkte ab. „Schließlich ist deine Prüfung schon über zwanzig Jahre her.“

Fries hatte das Gespräch der beiden mitverfolgt und meldete sich zu Wort. „Vielleicht kann ich ja helfen. Meine Prüfung ist erst zwei Jahre her, und das ein oder andere wird sich bei mir wohl noch festgesetzt haben.“

Leas Augen begannen zu strahlen, doch bevor sie die Gelegenheit wahrnehmen konnte, das Angebot anzunehmen, kam Sander, dem Fries’ Interesse an seiner Tochter nicht entgangen war, ihr zuvor. „Oh, der Herr Dozent möchte sein enormes kriminalistisches Wissen teilen …“ Lea legte ihre Hand auf seine. Er ignorierte sie. „Dann geben Sie uns doch mal eine Kostprobe, Herr Kommissar. Nehmen wir als Beispiel unseren Fall. Vorab von mir eine kurze Beschreibung des Tatorts. Ein Mann sitzt tot auf einem Stuhl vor dem Schreibtisch in seiner Wohnung. An seinem Hinterkopf klafft eine Platzwunde, die ihm wahrscheinlich mit einem stumpfen Gegenstand zugefügt wurde. Im selben Zimmer ist die Scheibe der Balkontür eingeschlagen. Die Scherben befinden sich im Innenraum. Was schließen Sie daraus?“ Sander formte seine Lippen zu einem schmalen Grinsen. Er würde seiner Tochter die mangelnde Erfahrung seines Kollegen demonstrieren und ihr deutlich machen, dass sie nichts, wirklich gar nichts von ihm lernen konnte.

Lea allerdings beachtete ihren Vater nicht und warf stattdessen Fries einen beschwichtigenden Blick zu. Sander hatte seinen Kollegen herausgefordert. Fries ahnte wohl eine Falle, doch er durfte sich mit einer Antwort nicht allzu viel Zeit lassen. Sein Chef konnte schnell ungeduldig werden.

„Ein Einbrecher hat sich über die Balkontür Zugang zu der Wohnung verschafft. Dabei ist er von dem Opfer überrascht worden und …“

„Nehmen wir einmal an“, fiel Sander ihm sogleich ins Wort, „dieser Einbrecher besitzt die außergewöhnliche Fähigkeit, wie eine Spinne Fassaden hinaufzuklettern. Sie meinen also, dass er dort eingedrungen ist, während sich das Opfer in der Wohnung befand?“ Ohne Fries die Gelegenheit zu geben, sich zu korrigieren, fuhr er fort: „Und wie erklären Sie sich, dass das Opfer bei der Tatortbesichtigung mit dem Rücken zur Balkontür saß? Wenn wir davon ausgehen, dass unser toter Freund nicht taub gewesen ist, hätte er das Zerspringen der Glasscheibe wahrnehmen und seinen Platz verlassen müssen. Zudem waren an der Leiche keinerlei Abwehrverletzungen erkennbar. Ich weiß ja nicht, wie Sie reagieren würden, wenn Ihnen jemand den Schädel einschlagen will, aber ich hätte entschieden etwas dagegen.“

„Dann war der Einbrecher schon da“, versuchte Fries sich herauszuwinden, „bevor das Opfer die Wohnung betreten hat.“

Der Hauptkommissar schüttelte herablassend den Kopf. „Das Opfer hätte die Glassplitter sehen müssen. Zudem hat die Vermieterin ausgesagt, dass sie das Klirren des zerbrechenden Glases aus Bergers Wohnung gehört hat, kurz bevor jemand die Treppe hinuntergestürmt ist. Ihre Theorie eines Einbruchs ist nicht haltbar.“ Er hätte es dabei belassen können, doch er entschied sich dagegen und holte in ruhigem, fast dozierendem Ton erneut aus. „Sie waren zwar nah dran, aber immer noch zu weit von der Lösung entfernt.“ Sander erhob sich von seinem Stuhl und schritt gemächlich durchs Büro. „Der Täter war, genau, wie Sie sagten, bereits in der Wohnung, allerdings mit dem Unterschied, dass Berger davon Kenntnis gehabt haben muss. Er selbst muss ihn reingelassen haben. Berger kannte also seinen Mörder, doch er ahnte nicht, dass von seinem Besuch eine Gefahr ausgehen würde. Daher setzte er sich an seinen Schreibtisch und wandte ihm den Rücken zu. Der Täter erschlug ihn, und um von der Tat abzulenken, legte er eine falsche Spur. Er fingierte einen Einbruch, indem er die Balkontür von außen einschlug. Er musste davon ausgehen, dass jemand den Lärm wahrnehmen würde. Daher stürmte er direkt im Anschluss aus der Wohnung und flüchtete.“

Der Hauptkommissar machte eine bedächtige Pause, nahm wieder Platz und verschränkte die Arme vor seiner Brust, um dann triumphierend zu schließen. „Und Sie wollen meiner Tochter helfen? Sie besitzen ja noch nicht einmal die Fähigkeit, die einfachsten Zusammenhänge zu rekonstruieren.“

Fries sah hinüber zu Lea, die sich bereits von ihrem Vater abgewandt hatte. Sander hatte ihn vor ihr bloßgestellt, ihn zutiefst gedemütigt. Fries schien erst jetzt Leas Blick zu verstehen, den sie ihm vorhin zugeworfen hatte und der als Warnung dienen sollte. Ohne ein Wort verließ er das Büro. Die Tür fiel hart ins Schloss.

Der Knall ließ Lea zusammenzucken. Die Wut, die sich offenbar während Sanders Vorführung in ihr angesammelt hatte, brach mit einem Mal aus ihr heraus. „Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, ihn so fertigzumachen?“

Den Blick, den ihm seine Tochter nun zuwarf, hatte Sander nicht oft bei ihr gesehen. Die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter war verblüffend.

„Dieser Mann ist ein Grünschnabel“, rechtfertigte er sich und deutete mit ausgestrecktem Arm auf die geschlossene Tür. „Wenn er glaubt, mit dem, was man ihm an der Hochschule versucht hat beizubringen, könnte man Fälle lösen, irrt er sich gewaltig. Dafür braucht man die nötige Erfahrung und ein bisschen Verstand, doch er besitzt weder das eine noch das andere.“

„Du bist so arrogant! Du gibst ihm ja keine Gelegenheit dazu. Wie soll er ein kriminalistisches Gespür entwickeln, wenn er immer nur die Drecksarbeit für dich erledigt? Warum unterstützt du ihn nicht?“

„Selbst wenn, es käme nichts dabei heraus!“, konterte Sander scharf. „Aus Fries wird niemals ein guter Polizist werden. Dafür entgehen ihm zu viele Details. Er führt die Dinge nicht logisch zusammen.“ Er wandte sich demonstrativ von seiner Tochter ab.

„Seitdem Mama tot ist“, fuhr Lea nun in ruhigem Ton fort, „bist du völlig verändert … so kalt … und unberechenbar. Ich erkenne dich kaum wieder.“ Sie schüttelte den Kopf. „Auch Mama würde dich nicht wiedererkennen. Fries trägt doch gar keine Schuld. Niemand ist schuld daran. Du solltest aufhören, dich und andere für ihren Tod verantwortlich zu machen, und endlich akzeptieren, was du nicht mehr ändern kannst.“

Der Vorwurf seiner Tochter versetzte Sander einen schmerzhaften Stich, auch wenn er tief in seinem Inneren wusste, dass sie recht hatte.

Lea wandte sich zum Gehen. „Du bist so … stur!“ Die Tür knallte ein zweites Mal zu.

Sander konnte es nicht fassen. Seine eigene Tochter hatte sich auf die Seite seines eingebildeten Kollegen geschlagen und sich gegen ihren Vater gewandt. Er griff nach seiner blauen Tasse und schleuderte sie quer durch das Büro auf die gegenüberliegende Wand, wo sie in tausend Stücke zersprang. Als er die feinen Splitter auf dem Boden liegen sah, verflog die Wut, die sich in ihm angestaut hatte, und er bereute zutiefst, sie geworfen zu haben. Er verbarg sein Gesicht in den Händen und stieß erschöpft die Luft aus seiner Lunge.

Lea stapfte mit geballten Fäusten über den Flur. Wie konnte ihr Vater es wagen, Thomas derart zu blamieren? Wenn er es doch nur nicht auf die Spitze getrieben hätte, dann hätte sie für Thomas nicht Partei ergreifen müssen. Doch er hatte ihr keine andere Wahl gelassen. Mit jedem Atemzug beruhigte sie sich etwas mehr, und ihre Gedanken wurden klarer. Was war es nur, das zwischen den beiden stand? Woher kam die tiefe Abneigung, die er offenbar Thomas gegenüber verspürte? Ahnte er womöglich, dass zwischen ihnen etwas war?

Auf halbem Weg kam ihr Thomas entgegen. Sie blieben nebeneinander stehen. Er ergriff ihre Hand, drückte sie kurz und ließ sie gleich wieder los.

„Sehen wir uns heute Abend?“, flüsterte Lea.

Er nickte. „Wenn du darauf bestehst …“

Sie warf ihm ein Lächeln zu und ging.

-3-

Nur wenige Lichtstreifen suchten sich ihren Weg durch die Rippen der geschlossenen Fensterläden. Bedächtige Stille hatte sich wie eine wärmende Decke über sein greises Haupt gelegt. Einzig das Gurren einiger Tauben auf der Fensterbank drang an seine Ohren.

Oft sehnte er sich an den Ort zurück, an dem er aufgewachsen war. Er liebte das Meer. Diese unendliche Weite. Diese Ruhe. Je älter er wurde, desto größer wurde sein Verlangen, dorthin zurückzukehren.

Er hatte noch eine letzte Aufgabe zu erfüllen, bevor er für immer ging. Er wusste, dass er alles in seiner Macht Stehende veranlassen musste, um das Geheimnis zu wahren.

Das Klingeln des Telefons riss ihn aus seinen Gedanken. Drei Mal, dann hob er ab.

„Ja“, meldete er sich mit brüchiger Stimme. „Konnten Sie Ihren Auftrag erfolgreich beenden?“

„Alle Spuren sind vernichtet, sämtliche Daten gelöscht“, antwortete eine männliche Stimme am anderen Ende der Leitung. „Es gibt allerdings ein kleines Problem …“

Der Greis spürte, wie sein Herz mit unrhythmischen Schlägen gegen die Brust pochte. Seine Hände begannen zu zittern. „Was für ein Problem?“

„Anscheinend gab es Kontakt zu einer Person, der er womöglich das Geheimnis anvertraut hat. Wir werden der Sache nachgehen.“

„Sie wissen, was vom Erfolg Ihrer Arbeit abhängt.“ Der Alte klang besorgt und war bemüht, seinen Worten mit durchdringendem Tonfall Nachdruck zu verleihen. „Tun Sie alles, was nötig ist. Alles.“

Der Anrufer ließ sich nicht verunsichern. „Sie müssen es schon mir überlassen, wie ich meine Arbeit erledige und was dazu nötig ist, um diese erfolgreich auszuführen.“ Damit legte er auf.

Als die Stille den Raum wieder beherrschte, spürte der Alte, wie sich seine Muskeln langsam entspannten. Er kannte weder den Namen des Anrufers noch war er ihm jemals begegnet. Aber er wusste, dass er diesem Mann vertrauen konnte. Trotzdem hatte er sich ihm gegenüber stets über den wahren Grund seines Auftrags ausgeschwiegen.

Mit einem Mal wurde er unsicher. Er hätte ihm vielleicht doch die ganze Wahrheit sagen sollen, um ihm die Wichtigkeit der Angelegenheit verständlich zu machen, denn selbst er konnte die Tragweite eines Misserfolges nur ansatzweise erahnen.

Nein, er hatte richtig entschieden. Zu viel stand auf dem Spiel.

Er lehnte sich zurück und wartete. Das war das Einzige, was er jetzt tun konnte.

-4-

Als er die schwere Tür öffnete, schlug ihm ein Gemisch aus Zigarettenrauch, Alkohol und Schweiß entgegen. Zielstrebig ging er zur Theke. Jo hatte ihn augenscheinlich bereits mit einem flüchtigen Blick durch das Fenster kommen sehen und ein frisch gezapftes Bier an seinen Stammplatz gestellt. Der Barkeeper empfing den Hauptkommissar mit einem Lächeln.

„Tag, Jo“, grüßte Sander, nahm auf einem der Hocker Platz und griff gleich nach der kühlen Erfrischung, die er in wenigen Zügen leerte. Mit einem lauten Seufzen zeigte er, wie dringend er das jetzt gebraucht hatte, und begann, seinem Ärger Luft zu machen. „War das ein beschissener Tag!“

„Wenn ich mir dich so ansehe, dann glaube ich dir das aufs Wort“, stellte der Wirt fest und setzte ihm ein neues Kölsch vor die Nase.

„Bin ich eigentlich wirklich so unausstehlich, wie offenbar jeder von mir behauptet?“

Wie die meisten Barkeeper hatte auch Jo im Laufe der Jahre gelernt, einfach zuzuhören, wenn ein Gast das Bedürfnis hatte, zu reden. Nichts anderes erwartete man von ihm. Keine klugen Ratschläge, keine persönliche Meinung. Meistens steckte die Lösung des Problems ohnehin irgendwo tief in einem selbst. Man musste nur den Mut aufbringen, danach zu suchen, auch wenn es schmerzte, und er war gerne dabei behilflich.

Jo hatte Sander schon immer für einen Sturkopf gehalten. Mit dieser Charaktereigenschaft hatte der Hauptkommissar in seinem Leben nicht viele Freunde gewonnen, doch offenbar störte er sich selbst nicht allzu sehr daran. Er war nicht der Typ dafür, sich anderen Menschen zu öffnen. In seinem Fall allerdings war es anders. Sander vertraute ihm und wusste, dass er seine kleinen Geheimnisse für sich behalten würde.

Doch da war noch etwas anderes, das die beiden verband. Die Art, wie Sander über seine verstorbene Frau Emma sprach, berührte ihn zutiefst. Und Sander schien das zu spüren. Sie musste ein wunderbarer Mensch gewesen sein, daran bestand für ihn kein Zweifel. Jo hatte nicht mehr die Gelegenheit gehabt, sie kennenzulernen, doch er wusste aus Sanders Erzählungen, dass sie ein sensibler und lebensfroher Mensch gewesen war.

„Was war denn los?“, setzte Jo nun nach.

Der Hauptkommissar starrte niedergeschlagen ins Leere. „Ach, es ist wegen Lea.“

„Habt ihr euch wieder gestritten?“

„Mehr als das. Du hättest mal hören sollen, was sie mir alles an den Kopf geworfen hat, nur weil ich Fries ein bisschen in die Mangel genommen habe. Und am Ende musste sie auch noch Emma ins Spiel bringen.“ Er zischte verächtlich und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Der Junge glaubt doch, er wäre der Größte. Ab und zu muss man den Kerl zurechtweisen.“ Er nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Glas. „Ich gebe ja zu, dass ich vielleicht etwas hart zu ihm war … aber muss ich mir deswegen vorwerfen lassen, ich sei kalt und unberechenbar?“

„Bist du’s denn?“

„Was?“

„Kalt und unberechenbar.“

„Jetzt fang du nicht auch noch an.“ Jo hatte ihn offenbar nachdenklich gestimmt. „Wenn deine Frau, die du über alles liebst, vom Krebs zerfressen wird und über Jahre einfach so dahinsiecht, und du kannst nur danebenstehen und hoffen, dass ihr Leiden bald ein Ende hat, obwohl du weißt, dass du sie dadurch für immer verlierst, dass du ihr zauberhaftes Lachen nie mehr hören, sie nie mehr in die Arme schließen kannst … dann hätte ich wohl allen Grund dazu. Ja, vielleicht habe ich mich verändert. Vielleicht hab ich auch einfach nur die Schnauze voll. Aber das ist ganz allein meine Sache.“

Jo wischte mit einem Lappen über den Tresen. „Nun ja … Du hast vor zwei Jahren deine Frau verloren, aber Lea auch ihre Mutter. Womöglich ging es ihr bei eurem Streit gar nicht um diesen Fries oder um das, was du ihm an den Kopf geworfen hast. Vielleicht ging es ihr um sich selbst. Vielleicht hat sie einfach nur Angst. Angst, dich auch noch zu verlieren.“

„Wieso sollte sie mich denn verlieren? Ich bin doch immer für sie da.“

„Bist du das wirklich? Warst du für sie da nach Emmas Tod? Hast du ihr die Kraft gegeben, ihren Verlust zu überwinden? Hast du mit ihr geredet, mit ihr geweint?“

„Aber sie hätte doch jederzeit zu mir kommen können“, rechtfertigte sich Sander.

„Richard, ich bitte dich.“ Jo machte sich an den Gläsern im Spülbecken zu schaffen. „Deine Tochter ist doch genauso stur wie du.“

„Ja, sie hat viel von mir … allerdings nur meine negativen Eigenschaften. Das Aussehen hat sie zum Glück von ihrer Mutter. Ich erinnere mich genau, als ich Emma zum ersten Mal gesehen habe. Es war an einem heißen Sommertag. Entgegen meinen Gewohnheiten hatte ich mich dazu durchgerungen, meinen freien Tag an der frischen Luft zu verbringen, packte ein paar Dinge zusammen und schlenderte in Richtung Aachener Weiher. Im Nachhinein erscheint einem alles wie vom Schicksal geplant.“ Nachdenklich folgte er den Bläschen seines Biers, die vom Grund des Glases aufstiegen. „Ich hatte die Decke ausgebreitet und ließ meine Blicke über die Wiese schweifen. Da sah ich sie, nur wenige Schritte entfernt. Sie lag einfach nur da. Ihr Haar glänzte in der Sonne, ihre Augen funkelten wie Diamanten. Sie klemmte sich eine widerspenstige Locke hinters Ohr. In diesem Moment sah sie mich an und lächelte. Lea macht das auch mit ihrem Haar. Ja, sie hat so viel von ihr.“ Er trank sein Glas aus und erhob sich von seinem Platz. „Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät. Ich werde gleich morgen mit ihr reden. Danke, Jo.“

„Wofür?“

„Für das Bier. Was bin ich dir schuldig?“

„Geht aufs Haus.“ Jo nickte Sander freundschaftlich zu, bevor dieser die Kneipe verließ. Dann griff er nach dem leeren Glas, tauchte es ins Wasser und stellte es zum Ablaufen auf die Spüle, bereit für den Nächsten, der sich zu ihm an die Theke setzen würde. Er nahm den Wischlappen von seiner Schulter, hielt kurz inne und flüsterte vor sich hin: „Es ist nie zu spät, mein Freund.“

-5-

Kraftvolle Schritte hallten durch das klassizistisch anmutende Treppenhaus des alten Gebäudes. Seine Hand glitt über den abgeriebenen Handlauf des hölzernen Geländers, das ihm über die zahlreichen Stufen den Weg wies. Kurz bevor er die Wohnungstür erreichte, erlosch das Licht. Seine Unvorsichtigkeit ließ ihn die vorletzte Stufe verfehlen. Er stolperte. Sein Schienbein stieß gegen die Kante des Zwischenpodestes. Mit der plötzlichen Dunkelheit und der Wucht des heftigen Stoßes fiel er vornüber. Seine Hände suchten vergebens nach Halt, und er schlug mit der Schulter gegen die Wohnungstür. Er hielt sich den vor Schmerz pochenden Unterschenkel und begann zu fluchen. Dann hörte er Schritte. Das Schloss wurde entriegelt, und die Tür öffnete sich gerade weit genug, um etwas Licht in den dunklen Flur zu lassen.

„Thomas, was machst du da?“ Lea riss die Tür weit auf und drückte den Lichtschalter.

„Diese verdammte Lampe!“, zischte Fries und rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesicht das Bein. „Wie soll man denn in so kurzer Zeit das gesamte Treppenhaus zurücklegen? Das ist ja die reinste Zumutung.“ Langsam richtete er sich wieder auf. „Ich werde mich bei deinem Vermieter beschweren.“

Lea strich sich eine Strähne hinters Ohr und grinste. „Du solltest dich sehen. Wie ein kleiner Junge. Na komm, soll ich mal pusten?“ Sie blies ihre Wangen auf.

Obwohl sie sich über ihn lustig machte, konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Was habe ich nur an mir, dass alle Welt mich fertigmachen will?“, spielte er ihr den Beleidigten vor.

„Wo hast du dir denn wehgetan?“ Sie legte ihre warmen Hände auf sein Gesicht und küsste ihn lange und zärtlich auf den Mund. „Geht’s dir jetzt besser?“

„Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht könntest du …“

Ihre weichen Lippen brachten die seinen zum Schweigen. Ineinander verschlungen stolperten sie über die Schwelle in das Innere der Wohnung. Mit einem Tritt schloss er die Tür hinter sich.

Das fahle Mondlicht legte sich wie ein Schleier über ihre nackten Körper. Schweißperlen bedeckten ihre Haut. Keuchend lagen die beiden nebeneinander und starrten an die stuckverzierte Decke. Die Feuchtigkeit auf Leas Haut sammelte sich zwischen ihren Brüsten. Sie glitt mit der Zunge über ihre ausgetrockneten Lippen und legte ihren Kopf erschöpft auf seinen Brustkorb.

„Thomas?“

„Ja?“ Fries sah sie von der Seite an.

„Die Sache von heute Morgen mit meinem Vater tut mir leid.“ Sie streichelte ihm zärtlich über den Bauch.

„Du brauchst dich doch nicht für ihn zu entschuldigen.“

„Ich weiß … aber trotzdem. Es war einfach nicht fair, wie er dich behandelt hat. Ich meine, er kann manchmal ein echter Kotzbrocken sein.“

„Wäre mir nie aufgefallen.“

„Aber glaub mir, er hat auch seine guten Seiten“, fügte sie versöhnlich hinzu.

„Ach ja? Seitdem ich mit ihm zusammenarbeite, hat er die aber gut vor mir verbergen können.“

„Was ich damit sagen will, ist, dass er sich nach Mutters Tod sehr verändert hat. Manchmal habe ich den Eindruck, ein Teil von ihm ist damals mit ihr gegangen. Sie hat ihm so viel bedeutet und auf einmal war sie nicht mehr da. Als sie noch lebte, aber schon an Krebs erkrankt war, hatte er noch die Hoffnung, dass sie es überstehen würde. Er wollte sich nicht mit dem Gedanken abfinden, dass sie bald sterben musste, weil er sich ein Leben ohne sie nicht vorstellen konnte. Er hat sie geliebt, Thomas, verstehst du? Er hat sie so sehr geliebt.“ Sie hob ihren Kopf und schaute ihm in die Augen. „Und ich liebe ihn.“

„Etwas anderes hätte ich auch nicht von dir erwartet. Dann werde ich mich wohl an seine schlechte Laune gewöhnen müssen. Ich hoffe, du weißt, was ich da für dich tue.“

„Ja, das weiß ich.“ Lea schmiegte sich fester an ihn als zuvor und atmete erleichtert auf.

„Allerdings verlange ich dafür auch eine kleine Gegenleistung.“

„Was immer du willst“, willigte sie etwas vorschnell ein.

Er flüsterte es ihr ins Ohr, als würde sie jemand belauschen können.

Sie grinste ihn verschämt an und schlug ihm empört auf die Brust. „Das kannst du vergessen, du Macho.“

„War nur Spaß“, wiegelte er ab und lachte. „Aber im Ernst, glaubst du, dein Vater hat heute Morgen irgendetwas gemerkt? Ich meine, dass da etwas ist zwischen uns.“

Lea zögerte mit ihrer Antwort. „Ich bin mir nicht sicher. Womöglich ahnt er etwas. Vielleicht ist er aber auch nur in Gedanken mit eurem neuen Fall beschäftigt. Ich weiß es nicht.“

„Du willst es ihm auch nicht sagen, stimmt’s?“

„Nein! Jedenfalls noch nicht.“

„Warum eigentlich nicht? Hast du Angst vor ihm?“

„Jetzt hör aber auf!“ Lea richtete sich auf Ihre Schenkel glänzten immer noch. „Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, ich bin gerade dabei, Polizistin zu werden. Außerdem bin ich alt genug, um meine eigenen Entscheidungen zu treffen, und da lasse ich mir von niemandem reinreden, auch nicht von meinem Vater. Nein, Thomas, ich habe keine Angst vor ihm. Da mache ich mir eher Sorgen um dich. Wenn er wüsste, dass sein überaus geschätzter Kollege mit seiner Tochter ins Bett geht, dann würde er dir das Leben zur Hölle machen. Aber wenn du das möchtest, erzähle ich ihm gleich morgen von uns.“ Nachdem sie den Satz beendet hatte, bereute sie ihn bereits. Immerhin könnte Thomas sie beim Wort nehmen. Ein unangenehmes Gefühl stieg in ihr auf, als sie sich die Situation vor Augen führte. Womöglich lag mehr Wahrheit in Thomas’ Worten, als sie gedacht hatte. Doch, sie hatte Angst. Angst, ihren Vater zu enttäuschen.

„Vielleicht hast du ja recht, und wir sollten wirklich noch warten“, pflichtete er ihr bei und strich ihr sanft über das Haar.

„Natürlich hab ich recht. Zumindest so lange, bis er dich etwas besser kennengelernt hat. Er braucht seine Zeit.“ Sie legte sich wieder hin und drehte ihm den Rücken zu.

Thomas schlang seine Arme um sie. „Die haben wir ja. Bestimmt ergibt sich noch eine Gelegenheit, es ihm schonend beizubringen.“

„Sicher“, murmelte Lea.

-6-

Als Fries das Büro betrat, saß Sander bereits an seinem Platz und hielt sich den Hörer ans Ohr. Mit tadelndem Blick kommentierte er das verspätete Eintreffen seines Kollegen und setzte sein Telefonat fort.

„Ansonsten keinerlei Spuren? Verstehe. Was glauben Sie, wie lange das dauern wird?“ Seine Miene verfinsterte sich. „So lange? Hier geht es um einen Mordfall! Dann ziehen Sie diese verdammte Analyse eben vor!“ Sein Gesprächspartner schien ihm zu widersprechen. „Das ist mir doch egal!“, brüllte Sander unvermittelt und knallte den Hörer mit Wucht in die Station. „Vollidioten!“ Ohne von seinem Schreibtisch aufzusehen, begrüßte er seinen Kollegen. „Na? Ausgeschlafen?“

Fries spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, und lenkte das Thema auf den Telefonanruf. „War das die Spurensicherung?“

„Ja“, erwiderte Sander knapp. Er hatte offenbar keineswegs die Absicht, Fries an den Neuigkeiten teilhaben zu lassen.

Dieser gab sich mit der Antwort nicht zufrieden. „Und?“

„Bisher keine verwertbaren Spuren. Die Fußabdrücke im Treppenhaus und in der Wohnung sind unbrauchbar. Keinerlei Fingerabdrücke, weder am Fenster noch an der Wohnungstür. Merkwürdigerweise gibt es auch keinen einzigen Fingerabdruck auf der Computertastatur. Die Mordwaffe ist ebenfalls nicht aufzufinden. Wahrscheinlich hat der Täter sie mitgenommen. Die einzige Spur, auf die sie bis jetzt gestoßen sind, ist ein einzelnes Haar auf Bergers Pullover, das aufgrund seiner braunen Farbe und der leicht welligen Struktur auf keinen Fall von ihm selbst stammen kann. Sie sind gerade dabei, eine DNA-Analyse durchzuführen. Aber da die Menge an verwertbarem Material sehr gering ist, muss das Erbgut erst vervielfältigt werden, bevor man etwas damit anfangen kann. Und das dauert.“

Sander rieb sich den Nacken, da klopfte es an der Tür. Eine junge Kollegin betrat das Büro und wedelte mit ihrer Mappe. „Ich habe hier den Obduktionsbericht. Wer von euch beiden bekommt den?“ Sie blickte abwechselnd von einem zum anderen.

Als Sander keine Anstalten machte, die Akte entgegenzunehmen, nickte Fries der Kollegin zu und nahm die Dokumente an sich. Er warf einen Blick hinein und fasste das Wichtigste für seinen Vorgesetzten zusammen. „Verletzungen zum Zeitpunkt des Todes: Platzwunde im Bereich des Hinterhauptbeins, Impressionsfraktur des Hinterhauptbeins mit einer daraus resultierenden Hirnblutung, die zu einer Druckerhöhung im Innenbereich des Schädels und letztlich zum Tod führte. Austritt von Liquor aus der Nase. Hämatom am Stirnbein und Fraktur des Nasenbeins. Keine Abwehrverletzungen.“ Fries stockte.

„Sie glauben, das passt nicht zusammen, oder?“

„Fraktur des Nasenbeins und keine Abwehrverletzungen?“

„Durch die Wucht des Schlages prallte der Kopf auf die Tischplatte“, half Sander ihm auf die Sprünge. „Daher der Nasenbeinbruch und der Bluterguss auf der Stirn. Fahren Sie fort.“

Fries blickte wieder auf die eng beschriebenen Seiten und suchte nach der Stelle, an der er zuvor stehengeblieben war. „Verringerung der grauen Substanz im inferioren temporalen Gyrus. Was soll das denn heißen?“

Wieder lieferte der Hauptkommissar seinem Kollegen die Erklärung. „Man hat herausgefunden, dass solche Veränderungen im Gehirn erste Anzeichen einer bevorstehenden Schizophrenie darstellen können.“

„Also war Berger verrückt“, schlussfolgerte Fries.

Sander schüttelte den Kopf. „Nicht unbedingt. Solche Veränderungen lösen anfangs verstärkte Angstzustände aus. Erst nach ein paar Jahren kann sich daraus eine Schizophrenie entwickeln.“

„Aber es passt doch zu dem, was wir in seiner Wohnung gefunden haben“, entgegnete Fries, der sich durch die Ausführung seines Chefs nicht zufriedenstellen ließ.

„Könnte sein. Vielleicht hatte er aber auch eine stark ausgeprägte Leidenschaft für sein Hobby entwickelt, die auf uns befremdlich wirkt. Vielleicht verlangte sein Zeitvertreib sogar eine derartige Darstellung, wie wir sie in seiner Wohnung vorgefunden haben. Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass er Zeitungsausschnitte gesammelt und chronologisch geordnet hat. Zu welchem Zweck er das getan hat, können wir nur erahnen.“ Er zuckte mit den Schultern. „War’s das?“

Fries nickte. „Außer dass die Blutuntersuchung keine Spuren von Alkohol oder Drogen ergeben hat, nichts Interessantes. Moment mal … doch, der Todeszeitpunkt, etwa zweiundzwanzig bis null Uhr.“

In seinem Stuhl zurückgelehnt, starrte Sander an die Decke und begann damit, den Ablauf zeitlich zu rekonstruieren. „Die Streife war am Tatort, kurz bevor der Strom ausgefallen war. Richtig?“

„Genau. Das war um etwa dreiundzwanzig Uhr dreißig.“

„Der Anruf der Vermieterin traf um zweiundzwanzig Uhr fünfzig bei der Polizei ein.“ Sander tippte unentwegt mit dem Zeigefinger auf seine Lippen. „Sie behauptet, sie habe sofort angerufen, nachdem sie Berger vorgefunden hat. Kurz zuvor hat sie das Klirren einer Glasscheibe und gleich darauf jemanden die Treppe hinunterstürmen gehört. Wenn man die Zeit berücksichtigt, die sie benötigt hat, Bergers Wohnung zu erreichen, ihn vorzufinden und wieder in ihre Wohnung zurückzukehren, um zu telefonieren, muss sich der Mord zwischen zweiundzwanzig Uhr dreißig und zweiundzwanzig Uhr fünfundvierzig ereignet haben. Der Täter hat Berger getötet und erst viel später die Scheibe eingeschlagen. Das setzt voraus, dass er dort etwas gesucht hat. Dabei hätte er allerdings mehr Spuren hinterlassen müssen als ein einziges Haar auf dem Pullover des Opfers. Vorausgesetzt, es handelt sich dabei um das Haar des Täters. Die Auswertung der übrigen Spuren am Tatort liefert kein brauchbares Ergebnis. Allerdings sah die Wohnung nicht so aus, als hätte dort jemand herumgewühlt.“

„Vielleicht hat der Täter sich auch nur auf einen einzigen Ort beschränkt“, warf Fries ein, „weil er genau wusste, wo er zu suchen hatte.“

„Womöglich hatte er es auf Bergers Computer abgesehen“, führte Sander den Gedanken seines Kollegen fort. „Irgendwelche Dateien. Schriftstücke, Fotos oder sonst etwas. Der PC war an, als wir die Wohnung betreten haben, doch weder auf der Tastatur noch auf der Maus sind Abdrücke, wie wir ja eingangs festgestellt haben. Noch nicht einmal die von Berger selbst.“

„Wahrscheinlich hat der Täter sie abgewischt, nachdem er seine Suche beendet hatte.“

„Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Machen wir uns nichts vor. Solange wir keine brauchbaren Ergebnisse von der Spurensicherung erhalten, sollten wir uns auf die Zeit vor Bergers Tod konzentrieren. Möglicherweise bringt uns das ja einen Schritt weiter.“

Fries blätterte in seinen Aufzeichnungen. „Da wäre zum einen Carmen Herhaus, seine Exfrau. Wohnt mittlerweile in Köln Marienburg. Scheint sich nach der Trennung von Berger finanziell erheblich verbessert zu haben. Und dann noch der Supermarkt, in dem Berger bis zu seinem Tod gearbeitet hat.“

„Fangen wir mit der Exfrau an“, entschied Sander, der sich mit Schwung aus seinem Bürostuhl erhob und die Garderobe ansteuerte. Er warf sich seine Jacke über, holte aus einer der ausgebeulten Taschen den Autoschlüssel hervor und warf ihn Fries zu. „Sie fahren!“

-7-

Im Inneren des Dienstwagens herrschte trotz der frühen Tageszeit brütende Hitze. Während Fries den Wagen steuerte, schaute Sander durch die Scheibe der Beifahrertür und ließ seinen Blick an den vorüberziehenden Häuserzeilen entlangschweifen. Viel hatte sich in den Jahren verändert. Auch er war nicht mehr derselbe. Er musterte sein Spiegelbild im Glas. Sein volles schwarzes Haar war lediglich von wenigen grauen Strähnen durchzogen. Seine Haut hing schlaff an den Wangenknochen hinunter, und Nase und Ohren schienen mit der Zeit gewachsen zu sein. Er war älter geworden, zweifellos, doch tief in seinen Augen war immer noch dieses Funkeln verborgen. Zumindest hoffte er das.

Der Streit zwischen Fries und ihm beschäftigte ihn. Lea hatte es mit ihrer Zurechtweisung geschafft, ihm ein schlechtes Gewissen zu machen, und mittlerweile tat es ihm sogar selbst leid, seinen Kollegen derart hart angefasst zu haben. „Bevor ich es vergesse …“, begann er zögerlich. „Die Sache von gestern war nicht so gemeint.“

Fries wirkte überrascht. Er hatte wohl nicht damit gerechnet, dass Sander ihn noch einmal darauf ansprechen würde, und fragte nach: „Welche Sache?“

„Na, die im Büro. Ich war wohl etwas gereizt.“ Ein unangenehmes Gefühl stieg in Sander auf. Er hatte große Mühe, es zu unterdrücken, und beschloss, das Thema damit zu beenden. Es war einfach nicht seine Art, sich zu entschuldigen. Er räusperte sich verlegen.

Fries warf ihm einen flüchtigen Blick zu. „Schon längst vergessen. Ich mache Ihnen keinen Vorwurf. Ich weiß ja, was Sie in den letzten Jahren durchgemacht haben.“

Mit einem Mal schlug die Situation ins Gegenteil um. Sander nahm den letzten Satz seines Kollegen wieder auf. „Wie meinen Sie das?“ Sein Tonfall war gereizt.

Fries hatte den plötzlichen Stimmungswandel seines Vorgesetzten offenbar nicht wahrgenommen, weil der Straßenverkehr seine volle Aufmerksamkeit forderte. „Ich kann mir gut vorstellen, wie sehr Sie der Tod Ihrer Frau getroffen haben muss. Wenn man einen Menschen verliert, den man über alles geliebt hat, dann geht das nicht spurlos an einem vorüber.“

Sander spürte erneut Wut in sich hochkommen, doch so sehr er sich auch bemühte, sie zu unterdrücken, es gelang ihm einfach nicht. „Wie kommen Sie darauf, Sie könnten auch nur im Ansatz wissen, was in mir vorgeht?“

Nun endlich merkte Fries, dass die Unterhaltung eine völlig andere Richtung eingeschlagen hatte. „Aber ich wollte doch nur …“

„Ja? Was denn?“, fiel ihm Sander ins Wort. „Mein Leben geht Sie einen Scheißdreck an! Und wenn Sie jemals wieder auch nur ein einziges Wort über meine Frau verlieren, dann gnade Ihnen Gott!“

Fries schaute unglücklich drein. „Ich dachte …“

Abermals wurde er von Sander unterbrochen. „Das ist ja was ganz Neues. Fries! Ich mag Sie nicht! Und wenn nicht irgendwann ein Wunder geschieht, wird sich daran auch nichts ändern.“ Vor lauter Zorn lief er rot an. „Und ich sage Ihnen noch etwas: Lassen Sie die Finger von meiner Tochter!“

Fries’ Magen verkrampfte sich. Sollte Sander doch etwas gemerkt haben? Hatte er sie durchschaut? Er beschloss, der Sache vorsichtig auf den Grund zu gehen. „Was hat denn Ihre Tochter damit zu tun?“

„Glauben Sie wirklich, ich hätte nicht gemerkt, wie Sie Lea schöne Augen gemacht haben? Mein Rat lautet: Halten Sie sich von ihr fern. Haben Sie mich verstanden? Wenn ich Sie noch ein einziges Mal dabei erwische, wie Sie mit meiner Tochter flirten, passiert was. Außerdem sind Sie gar nicht ihr Typ, also vergessen Sie’s!“

Nachdem Fries in der dunkelgrau gepflasterten Einfahrt des Hauses geparkt hatte, stiegen die beiden Beamten aus dem Wagen und näherten sich dem mit Buchsbaumkugeln flankierten Eingangsbereich. Entgegen seiner Erwartung fand sich Sander vor der Fassade eines Gebäudes wieder, dessen moderne Bauweise aus der Menge der übrigen Häuser des Stadtteils wie ein Fremdkörper hervortrat. Eine derart provokante Architektur entsprach nicht unbedingt seinem Geschmack, dennoch übte sie in diesem Fall eine unerklärliche Anziehungskraft auf ihn aus.

Er läutete, doch das fehlende Klingelgeräusch ließ ihn daran zweifeln, dass man ihre Anwesenheit im Inneren des Hauses wahrgenommen hatte. Kurz darauf wurde jedoch die Tür von einer äußerst attraktiven Frau Mitte dreißig geöffnet. Aufgrund ihres verschwenderisch aufgetragenen Make-ups und der perfekt aufeinander abgestimmten Kleidung war ihr eine gewisse Extravaganz anzusehen. Argwöhnisch betrachtete sie die beiden Männer.

„Guten Tag, Frau Herhaus. Ich bin Hauptkommissar Sander, und das ist mein Kollege, Kommissar Fries.“

Prüfend starrte sie auf die Dienstausweise. „Und was kann ich für Sie tun?“

„Wir müssen Ihnen leider eine unangenehme Mitteilung machen.“ Sander wollte das Gespräch im Inneren des Hauses fortsetzen und machte einen Schritt nach vorn.

Die Frau hielt sich die Hand vor den Mund. Das Rouge ihrer Wangen schien durch die nun blasser werdende Haut ihres Gesichtes intensiver zu leuchten als zuvor. „Ist etwas mit meinem Mann?“

„Nein, nein. Es geht nicht um Ihren Mann“, versuchte Sander sie zu beruhigen. „Dürfen wir trotzdem eintreten?“ Er näherte sich ihr mit einem weiteren Schritt, um seiner Bitte Nachdruck zu verleihen.

Nur zögerlich gewährte sie den beiden Beamten den Zutritt und führte sie durch das beeindruckende Entree in ein riesiges Wohnzimmer, dessen vollständig verglaste Rückseite den Blick in den parkähnlichen Garten freigab.