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Drei Waisenkinder begegnen sich in einer Kopenhagener Privatschule. Nach und nach erfahren sie deren ausgeklügeltes System aus Überwachung und Manipulation und bilden eine Art Ersatzfamilie. Wie Fräulein Smillas Gespür für Schnee schildert dieser spannende, autobiographisch motivierte Roman den Kampf von Outsidern gegen eine grausame Machthierarchie und erzählt zugleich eine zarte, ergreifende Liebesgeschichte.
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Seitenzahl: 376
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Hanser E-Book
Peter Høeg
Der Plan vonder Abschaffungdes Dunkels
Aus dem Dänischen vonAngelika Gundlach
Carl Hanser Verlag
Die Originalausgabe erschien
unter dem Titel De Måske Egnede 1993
bei Munksgaard/Rosinante, Kopenhagen
© 1993 Peter Høeg og Munksgaard/Rosinante
ISBN 978-3-446-25036-9
Alle Rechte der deutschen Ausgabe
© 1995/2015 Carl Hanser Verlag München Wien
Satz: Reinhard Amann, Aichstetten
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Was ist Zeit?
Wir stiegen fünf Etagen dem Licht entgegen, verteilten uns in dreizehn Reihen, dem Gott zugewandt, der das Tor des Morgens aufschließt. Dann gab es eine Pause, und dann kam Biehl.
Warum die Pause?
Von einem der tüchtigen Mädchen auf seine Pausen direkt angesprochen, war Biehl zunächst ganz still geworden. Und dann hatte er, der sonst von sich selbst nie »ich« sagte, dann hatte er gesagt, langsam und mit großem Gewicht, als sei er überrascht von der Frage, und vielleicht auch von seiner eigenen Antwort: »Wenn ich spreche, sollt ihr vor allem auf die Pausen hören, die ich mache. Sie sagen mehr als meine Worte.«
So auch der kurze Zeitraum, nachdem es im Saal ganz still geworden war, bis er hereinkam und das Rednerpult bestieg. Eine vielsagende Pause. Mit seinen eigenen Worten.
Es wurde nun ein Morgenlied gesungen, gefolgt von einer Pause, Biehl betete das Vaterunser, Pause, ein kurzer Choral, Pause, ein Vaterlandslied, Pause und Schluß, und er verließ den Saal, wie er gekommen war, flink, fast im Laufschritt.
Welche Gefühle gab es im Saal, während das geschah?
Wohl keine besonderen Gefühle, sagte ich, es war früh am Morgen, und die Leute waren müde, und könnten wir jetzt aufhören, ich bekam langsam Kopfschmerzen, und es war spät, es hatte schon geläutet. Ich erinnerte an die Uhrzeit.
Noch nicht, sagte sie, auf eine Sache wolle sie mich noch aufmerksam machen, und zwar auf das Verhältnis zum Schmerz. Meldete sich während eines Experimentes ein Schmerz, wie jetzt diese Kopfschmerzen, solle man nie unterbrechen und sich von ihm entfernen. Statt dessen solle man das Licht der Aufmerksamkeit auf ihn richten.
So redete sie. Das Licht der Aufmerksamkeit.
Dann wandten wir uns der Furcht zu.
Biehl hatte seine Erinnerungen geschrieben, Auf Grundtvigs Spuren. Darin waren die Namen all der Lehrer aufgeführt, die eine Stellung an der Schule gehabt hatten, all die Umzüge in größere und bessere Räumlichkeiten, eine lange Reihe von Leistungen und deren Belohnung.
Doch nicht ein Wort vom Verhältnis zu den Schülern, und darum auch nichts von der Furcht. Nicht ein Wort, auch nicht in den Pausen oder in den Zwischenräumen zwischen den Zeilen.
Zunächst war das nicht zu verstehen. Denn sie war das Bedeutungsvolle. Nicht der Respekt oder die Bewunderung. Sondern die Furcht.
Später wurde klar, daß dieses Verschweigen zu dem umfassenderen Plan gehörte. Und da verstand ich.
Wir standen absolut still bei der Morgenandacht, das war das erste, was ich ihr begreiflich zu machen versuchte.
Zu einem bestimmten Zeitpunkt an jedem Tag wurde man in die Aula gelassen, zweihundertvierzig Leute mit sechsundzwanzig Lehrern und Biehl, und dann wurden die Türen geschlossen, und man wußte, von jetzt an mußte man eine Viertelstunde lang totenstill sein.
Es war ein allumfassendes Verbot, und darum bewirkte es einen Druck im Raum. Als ob die Regel, die alles umfaßte und nichts tolerierte, nach ihrer eigenen Übertretung schrie. Als ob der Druck im Raum ein Teil des Plans sei.
Es hatte sich durch eine Reihe von Jahren als unmöglich erwiesen, eine totale Befolgung des Verbots zu erreichen. Dennoch hatten die wenigen Übertretungen, die stattgefunden hatten, nur dazu gedient, das Verbot zu bestätigen und zu verstärken.
Die wenigen Male, wo das geschehen war, hatte unter den Schülern eine leichte Unruhe geherrscht, ein Räuspern und ein Scharren, das ansteckte und sich eine Zeitlang nicht abstellen ließ. Eine kritische Situation, etwas vom Schwierigsten für einen Mann in Biehls Stellung. Der passive Widerstand vieler kleiner Menschen.
Bei diesen Gelegenheiten war er souverän. Er versuchte nicht, so zu tun, als sei nichts passiert. Er neigte den Kopf und nahm die Unruhe auf sich. So blieb er stehen, mit geneigtem Kopf, während der Druck im Raum stieg und die Furcht schließlich die Unruhe erstickte.
Zu keinem Zeitpunkt hatte er jemanden direkt angesehen, und dann leitete er die Morgenandacht wie gewöhnlich. Dennoch wußte man, daß er wußte, wer angefangen hatte. Daß er die Quelle lokalisiert hatte und wußte, wie man sie abstellte.
Ein anderer Lehrer hätte kommen sollen, aber er kam nie. Statt dessen stand die Tür in die Klasse offen, und wir warteten in einer Pause so lang, daß uns zur Gewißheit wurde, was wir die ganze Zeit gewußt hatten. Dann kam Biehl, sehr schnell und flink.
»Setzt euch«, sagte er, »Jes bleibt stehen.«
Er brauchte eine gewisse Zeit, um sich warmzureden. Nicht viel, obwohl es mir so vorkam, nachdem ich krank geworden war, sicher nur ein paar Minuten. Nur genug, um durchzugehen, was geschehen war, daß Jes seinen Kameraden die Morgenandacht gestört hatte, den Zeitplan der Schule gestört hatte, der ohnehin eng war, das Vertrauen mißbraucht hatte, das ihm erwiesen worden war, und plötzlich kam der Schlag.
Sehr schnell, und dennoch mit einer Wucht, die den Körper vom Tisch weg und hinaus in den Gang riß.
Nachdem er getroffen hatte, gab es eine kurze Pause, und selbst wenn darin der Schlüssel zur Furcht lag, war sie so kurz, daß man sie nicht bemerkte, sagte ich, und jetzt sprechen wir nicht mehr davon.
»Im Gegenteil«, sagte sie. »Genau davon sprechen wir.«
Also versuchte ich es: Als der Schlag gefallen war, gab es zunächst einen Augenblick der Erstarrung, da der Schock alles zum Stillstand gebracht hatte. Dann kamen zwei Dinge gleichzeitig. Die Erleichterung darüber, daß nun alles wieder in Ordnung war, und etwas anderes, Tieferes, Weitreichendes, das entsteht, wenn ein Erwachsener ein Kind gewaltsam schlägt, und das nicht mehr viel mit dem Schmerz durch den Schlag zu tun hat.
An der Tafel brachte Biehl seine Kleidung in Ordnung. Wie ein Mann, der auf der Toilette gewesen ist. Oder bei einer Prostituierten. Und jetzt etwas überstanden hat, das lästig war, aber notwendig.
Sie verstand mich nicht, also machten wir weiter.
»Wie oft kommt das vor«, fragte sie.
Vor der Krankheit hatte es keinen Grund gegeben, darüber nachzudenken, wie oft. Jetzt aber, wo es notwendig war, die ganze Zeit auf die Zeit zu achten, hatte sich herausgestellt, daß es recht selten geschah, in einer Klasse weniger als einmal pro Woche. Ganz genau dosiert.
»Wie denn das?«
Es war fast noch zu früh, sie zu den inneren Wahrheiten hinzuführen, doch ich tat es trotzdem. Es ging um ein Gesetz, Karin Ærø hatte es uns verraten, es stammte aus der Antike. Wollte man eine Fläche vergolden, war es nicht zweckmäßig, sie zu hundert Prozent mit Gold zu bedecken, im Gegenteil, den besten Effekt erzielte man, wenn man nur gut sechzig Prozent damit bedeckte. Eine Variante des Gesetzes vom Goldenen Schnitt.
So war es auch mit dem Verhältnis zwischen Zeit und Strafe. Von den Übertretungen, die festgestellt wurden, zogen nur gut die Hälfte Strafen nach sich.
Also eine Art Goldener Schnitt der Gewalt.
Wie viel ich selbst geschlagen wurde?
Darauf konnte ich bezüglich der Zeit, die ich hier an der Schule verbracht hatte, zwei Jahre und zwei Monate, verneinend antworten. In dieser ganzen Zeit war ich bis auf neulich kein einziges Mal geschlagen worden und hatte auch nicht nachsitzen müssen, und bis ich krank wurde, auch keinen Tadel bekommen oder ein zs für zu spät.
»Nein«, sagte sie, »wenn man genug Angst hat, ist es vielleicht auch eine Art Freiheit, freizusein von Strafe.«
Sie sagte das nicht in böser Absicht, es entschlüpfte ihr, es war fast an sie selbst gerichtet. Doch es verriet, daß sie einen natürlichen Widerwillen gegen mich empfand. Da ich also nichts zu verlieren hatte, warf ich ein, daß ich vor Biehls Zeit, in meiner Vergangenheit, besonders im Himmelbjerghaus und an der Brotkantenschule, mehr eingesteckt und ausgeteilt hatte als die meisten. Vielleicht hätte sie hier an der Schule bei niemandem größere Sachkenntnis finden können, wenn es darum ging, eins auf den Schädel zu kriegen. Es sei denn, sie wäre zu Biehl selber gegangen.
Sie fragte, was er dann wohl gesagt hätte.
Ein Jahr zuvor war an der Schule etwas vorgefallen. Bei einem Schüler, es war Jes Jessen, mit dem ich das Zimmer geteilt hatte und der später der Schule verwiesen wurde, hatte angeblich das Gehör gelitten, nachdem Biehl ihn bestraft hatte.
Es wurde nie bewiesen, daß beide Dinge etwas miteinander zu tun hatten, doch bei dieser Gelegenheit wäre Biehl beinahe zu einer Erklärung genötigt worden. Er hatte gesagt, die Schule respektiere in weitestmöglichem Umfang das Verbot körperlicher Strafen, das in der dänischen Volksschule allgemein galt, doch seiner Erfahrung zufolge habe noch nie jemand Schaden genommen, wenn er eins hinter die Ohren bekommen hatte.
Das war so ernst gesagt, es beruhigte alle. Er hatte ja die Erfahrung, er hatte ja vierzig Jahre hindurch regelmäßig Kinder geschlagen.
Zugleich war es nicht unwahr. Das Wesentliche war nicht der Schlag. Es war das, was drumherum geschah, kurz davor und kurz danach. Was aber normalerweise nicht sichtbar war, nicht fürs bloße Auge. Denn es dauerte nur sehr kurz. Und dann trotzdem noch sehr lange Zeit danach.
Zur Beschreibung dieser kurzen Tiefenwirkung schlug sie das Wort »Erniedrigung« vor, das ich akzeptierte. Also hatte sie doch verstanden.
Die äußeren Fakten, also die außerhalb des Laboratoriums, waren jederzeit frei zugänglich.
Im Mai 1971, nach fast zwei Jahren an der Schule, zwei Jahren, in denen an mir nichts auszusetzen gewesen war, wo man in die Akte eingetragen hatte, daß ich gut funktionierte und normal begabt sei, fiel es mir ganz plötzlich schwer, morgens rechtzeitig dazusein. Samstags und sonntags, wenn die anderen zu Hause waren und ich allein in der Schule, schlief ich am Tag oder gar nicht und war in der Nacht wach, und das färbte ab auf den Rest der Woche.
Ich wandte mich an den Schularzt, damit nicht der Verdacht der Faulheit oder mangelnden guten Willens entstand, sondern weil festgestellt werden sollte, daß es eine Krankheit war, gegen die man selber nichts ausrichten konnte, nicht einmal mit zwei Weckern, von denen der eine sehr groß war.
Er war der Amtsarzt, der für die Schule zuständig war, und er verordnete, daß ich jeden Morgen von Flakkedam geweckt werden sollte, und eine Zeitlang war ich da, wenn ich dasein sollte, jedoch sehr müde. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich den großen Plan gesehen, und ich begann, eine Katastrophe zu befürchten.
Darum schickte ich den Brief. Es war der erste Brief meines Lebens, es hatte nie jemanden gegeben, an den ich hätte schreiben können.
Ich hatte sie auf dem Hof gesehen, mit Biehl, unter dem Soli Deo Gloria.
Biehl stand morgens immer unter der Inschrift über dem Rundbogen, um diejenigen zu begrüßen, die rechtzeitig da waren, und um die zu identifizieren, die zu spät kamen. Sobald man wachzuwerden begann, erinnerte man sich daran, daß er dort stehen würde. So daß er in gewisser Weise schon zwischen Träumen und Wachsein anwesend war.
Man hatte keine Verbindung zu den anderen Klassen, vor allem die höheren Klassen waren weit weg, und sie war zwei Klassen über mir. Eine Zeitlang war sie nicht da gewesen, vielleicht ein halbes Jahr. Als sie zurückkam, war sie Internatsschülerin, keiner wußte, warum. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich sie gesehen, immer noch aus großer Entfernung.
Eines Morgens sah ich sie auf dem Hof, sie war zu spät gekommen, es wirkte verkehrt, sie war nicht der Typ.
Als sie ein paar Tage später wieder auf dem Hof war, begann ich zu zählen, an vierzehn Schultagen zählte ich sie sechsmal. Da wußte ich, daß etwas nicht stimmte.
Das sechste Mal hatte Biehl sie beiseite gezogen.
Er hatte sie zur Mauer geschoben und ließ alle anderen vorbei. Er war über sie gebeugt, er war sehr konzentriert. Dadurch gab es die Möglichkeit, dicht heranzukommen, so daß man ihre Gesichter sehen konnte. Sie neigte sich ein wenig zu ihm hin, und sie sah ihn direkt an. Ich war nahe genug, um ihre Augen zu sehen, es war, als suche sie nach etwas.
Da kam mir der Gedanke, wir könnten vielleicht von Vorteil füreinander sein.
Es verging eine lange Zeit, in der ich nichts hörte, schließlich war ich nahe daran, aufzugeben. Ich hatte sie auf den Klassenbildern in den Jahresberichten der Schule gefunden, sie hieß Katarina. Eines Tages, auf dem Weg zur Morgenandacht, war sie direkt hinter mir auf der Treppe.
»Bibliothek«, sagte sie.
Es war das erste Mal, daß ich ihre Stimme hörte. Sie sagte nur das eine Wort.
Es war verboten, nicht unten auf dem Hof zu sein, nachdem es geläutet hatte, die einzige Ausnahme war die Bibliothek, die ans Lehrerzimmer grenzte, dort konnte man in der großen Pause sitzen, wenn man sich bilden wollte.
Jetzt war sie leer, abgesehen von Katarina und mir.
Sie saß lange Zeit da, bis sie soweit war, etwas zu sagen.
»Ich mach’ es mit Absicht«, sagte sie. »Ich komme mit Absicht zu spät.«
Das war schon auf dem Hof deutlich gewesen. Wenn Biehl jemandem nahekam, versuchte der, sich wegzudrehen, das kam von selbst, es war eine Regel. Sie hatte sich zu ihm geneigt und ihm in die Augen gesehen. Als wollte sie von dem Augenblick so viel wie möglich haben.
Sie las etwas von einem Blatt Papier vor. Es sah aus wie ein Brief.
»Über die Sache mit dem Schlaf und mit der Konzentration hinaus gibt es auch andere Dinge, die niemandem gegenüber erwähnt wurden. Ganze Tage, die verschwinden, und kurze Augenblicke, die werden wie die Ewigkeit.«
»Erzähl«, sagte sie.
Nun war es nicht so, daß ich etwas abstreiten wollte, aber wer diesen Brief auch immer geschrieben hat, sagte ich, ging ohne Zweifel ein großes Risiko ein, indem er zugab, so krank zu sein. Was konnten wir tun, um dieses Risiko zu verringern, konnte er vielleicht als Gegenleistung etwas von ihr erfahren?
»Ich bin dabei, ein Experiment vorzunehmen«, sagte sie.
So redete sie. Ein Experiment vornehmen.
»Kann man sicher sein, daß man danach rechtzeitig da ist?« sagte ich.
Das verneinte sie.
Wenn sie etwas versprochen hätte, hätte ich ihr nicht geglaubt, dann wäre es nicht möglich gewesen, weiterzumachen. Nun sagte sie aber die Wahrheit, also versuchte ich es.
Das erste, was ich ihr zu erklären versuchte, war die Morgenandacht, und zwar aufgrund eines Gesetzes, das uns Karin Ærø verraten hatte.
Es war nicht normal, daß Karin Ærø sprach, das Normale war, daß sie die Leute zum Singen brachte, und dann ging sie die Reihen entlang, um zu hören, wer richtig sang und wer falsch, und auf diese Weise zu bestimmen, wer im Chor sang und wer nicht und wer auf der Grenze war. Während sie zuhörte, sprach sie manchmal gleichzeitig, und dann war das, was sie sagte, oft sehr wichtig, eines der grundlegenden Gesetze, wie das vom Goldenen Schnitt.
Bei einer solchen Gelegenheit hatte sie gesagt, daß der Anfang eines Musikstücks, wenn es ein intelligentes und genaues Stück war, in sehr kurzer Form unausweichlich den Rest festlegte, was er enthielt und wie er verlief.
Wie bei der Morgenandacht. In kurzer Form enthielt sie den Rest des Tages. Den Rest der Schulzeit. Vielleicht den Rest des Lebens.
Darum begann ich damit, aber zuerst war es nicht möglich. Es schien undenkbar, daß sie es je verstehen könnte, weil sie ein Mädchen war, vor allem aber, weil sie innerhalb war und die Zeit immer als gegeben akzeptiert hatte.
Da läutete die Glocke.
Sie hatte keine Armbanduhr, das konnte einem nicht entgehen. Doch das war nicht das Wichtigste. Das Wichtigste war, daß sie die Glocke nicht hörte, als sie läutete.
Mich überraschte sie, aber ich hörte sie.
Sie hörte sie nicht. Weil sie mir zuhörte. Also wußte sie nicht alle Antworten im voraus.
Da erzählte ich ihr von der Morgenandacht und von der Furcht. Während die Zeit verging und das Risiko, daß wir entdeckt würden, zunahm.
Biehls Privatschule war eine Belohnung nach dem dritten Vergewaltigungsversuch, wobei nicht ich die Vergewaltigung versucht hatte, sondern sie an mir versucht worden war.
Ich war damals an der Königlichen Erziehungsanstalt, die auch Die Thorupsche Stiftung heißt, aber von den Schülern Die Brotkantenschule genannt wurde, am Strandvejen 109.
Weil Valsang, der es getan hatte, ein Lehrer der Schule war, und weil dem soviel vorausgegangen war, war die Schulleitung sehr bekümmert über den Zwischenfall, und ich beschloß, einen gewissen Druck auf sie auszuüben.
Zu diesem Zeitpunkt war bereits klar, daß es nicht gut war, an der Schule zu bleiben. Oscar Humlum – der mich in der Telefonzelle gerettet hatte und der mein einziger Freund war, auch er kam aus einem Kinderheim – war ein Jahr länger dort als ich, und er kam nur zurecht, indem er Geld dafür nahm, verschiedene Dinge zu essen, eine Krone für einen Regenwurm und einen Fünfer für einen Frosch, es war offensichtlich, wo das hinführte.
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich die ersten Schwierigkeiten mit der Zeit, und am Abend des Tages, an dem er mich gerettet hatte, versuchte ich ihm zu erzählen, daß sich die Zeit an der Schule spiralförmig nach unten wand. Da wir nun beide Zeugen waren, sollten wir versuchen, ein Geschäft mit ihnen zu machen, um beide wegzukommen.
Es war, als ob er mich nicht verstünde, er träumte davon, Koch auf den Schwedenfähren zu werden, ich dachte, daß er vielleicht glaubte, er sei kurz davor, eine Lehrstelle zu finden. Er antwortete mir nicht, er schüttelte nur den Kopf, und später, im Büro, sagte er auch nichts, übte aber allein durch seine Anwesenheit einen gewissen Druck auf sie aus. Sie versprachen, sie würden versuchen, mich an Biehls Privatschule unterzubringen, die in den letzten Jahren ab und zu verhaltensgestörte Heimkinder aufgenommen hatte und einen guten Ruf besaß.
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