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Peter Høegs Weltbestseller – von Bille August mit Julia Ormond in der Hauptrolle verfilmt – führt mitten in Eis und Finsternis. Wenige Tage vor Weihnachten wird im Kopenhagener Hafenviertel ein sechsjähriger Junge gefunden: tot. Er ist offenbar vom Dach eines Lagerhauses gestürzt, und da man nur seine Spuren und die keines anderen auf dem Dach sieht, scheint der Fall klar: ein Unfall. Smilla Jaspersen, die im selben Haus wohnt wie der Junge, geht der Sache nach, und ihre aufregende Odyssee führt sie bis ins grönländische Eismeer…
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Seitenzahl: 719
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Hanser E-Book
PETER HØEG
FRÄULEIN SMILLAS
GESPÜR FÜR
SCHNEE
Roman
Aus dem Dänischen von
Monika Wesemann
Carl Hanser Verlag
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
Frøken Smillas fornemmelse for sne
1992 bei Rosinante/Munksgaard, Kopenhagen
© 1992 Peter Høeg
ISBN 978-3-446-24866-3
Alle Rechte der deutschen Ausgabe
© 1994/2014 Carl Hanser Verlag München
Schutzumschlag: Peter-Andreas Hassiepen unter Verwendung eines Fotos von H.Wendler/Image Bank
Satz: Reinhard Amann, Aichstetten
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Kreutzfeldt digital, Hamburg
I
1Es friert, außerordentliche 18 Grad Celsius, und es schneit. In der Sprache, die nicht mehr meine ist, heißt der Schnee qanik, er schichtet sich zu Stapeln, fällt in großen, fast schwerelosen Kristallen und bedeckt die Erde mit einer Schicht aus pulverisiertem, weißem Frost.
Das Dezemberdunkel kommt aus dem Grab, das grenzenlos wirkt wie der Himmel über uns. In dieser Dunkelheit sind unsere Gesichter nur noch blaß leuchtende Scheiben, aber trotzdem spüre ich die Mißbilligung des Pastors und des Kirchendieners, die sich gegen meine schwarzen Netzstrümpfe richtet und gegen Julianes Jammern, das noch dadurch verschlimmert wird, daß sie heute morgen ein paar Antabus genommen hat und der Trauer jetzt fast nüchtern begegnet. Sie denken, sie und ich hätten weder das Wetter noch die tragischen Umstände respektiert. Dabei sind die Strümpfe und die Tabletten auf ihre Weise ganz einfach eine Huldigung an die Kälte und an Jesaja.
Die Frauen um Juliane, der Pastor und der Kirchendiener, alle sind sie Grönländer, und als wir Guutiga, illimi singen, Du mein Gott, Julianes Beine unter ihr nachgeben, sie zu weinen anfängt, dieses Weinen langsam anschwillt, und der Pastor schließlich auf westgrönländisch mit der Lieblingsstelle der Herrnhuter bei Paulus von der Erlösung durch das Blut anfängt, kann man sich bei nur leichter Zerstreutheit nach Upernavik, Holsteinsborg oder Qaanaaq versetzt fühlen.
Doch aus der Dunkelheit ragen wie ein Schiffssteven die Gefängnismauern von Vestre Fængsel, wir sind in Kopenhagen.
Der Grönländerfriedhof ist ein Teil des Vestre Kirkegaard. Mit Jesaja in seinem Sarg ist eine Trauergemeinde hierhergekommen, die aus den Bekannten von Juliane, die sie jetzt stützen, aus dem Pastor und dem Kirchendiener, dem Mechaniker und einer kleinen Gruppe von Dänen besteht, von denen ich nur den amtlichen Pfleger und den Assessor erkenne.
Der Pastor sagt jetzt irgend etwas, das mich denken läßt, er müsse Jesaja tatsächlich einmal getroffen haben, obwohl Juliane, soweit mir bekannt ist, nie in die Kirche geht. Dann verschwindet seine Stimme, denn nun weinen die Frauen mit Juliane.
Viele sind gekommen, vielleicht zwanzig, und nun lassen sie sich von der Trauer wie von einem schwarzen Fluß durchströmen, in den sie eintauchen und von dem sie sich auf eine Weise mitreißen lassen, die kein Außenstehender verstehen kann und niemand, der nicht in Grönland aufgewachsen ist, und selbst das reicht vielleicht nicht aus. Ich kann ihnen auch nicht folgen.
Zum erstenmal schaue ich den Sarg genauer an. Er ist sechseckig. Zu einem bestimmten Zeitpunkt nehmen Eiskristalle diese Form an.
Nun senken sie ihn in die Erde. Er ist aus dunklem Holz und sieht sehr klein aus, es liegt bereits eine Schicht Schnee darauf. Die Flocken sind groß wie kleine Federn, so ist der Schnee nun mal, er ist nicht notwendigerweise kalt. In diesem Augenblick weint der Himmel um Jesaja, und die Tränen werden zu einem Frostflaum, der sich auf ihn legt. Es ist das All, das auf diese Weise eine Decke über ihn zieht, damit er nie mehr frieren muß.
In dem Moment, als der Pastor Erde auf den Sarg geworfen hat und wir uns eigentlich umdrehen und gehen sollten, entsteht eine Stille, die endlos lang wirkt. In dieser Stille schweigen die Frauen, niemand rührt sich, es ist eine Stille, die darauf wartet, daß etwas zerbirst. Von mir aus gesehen geschehen zwei Dinge.
Das erste ist, daß Juliane auf die Knie fällt, das Gesicht gegen die Erde preßt und die Frauen sie in Ruhe lassen.
Das zweite Ereignis ist ein innerliches, es ist in mir, und was da aufbricht, ist eine Einsicht.
Ich muß die ganze Zeit über ein weitreichendes Abkommen mit Jesaja gehabt haben: daß ich ihn nicht im Stich lassen werde, niemals, auch jetzt nicht.
2Wir wohnen im Weißen Schnitt.
Auf einem Grundstück, das man der Wohnungsbaugesellschaft geschenkt hat, hat sie ein paar vorfabrizierte Schachteln aus weißem Beton aufeinandergestapelt, für die sie vom Verein zur Verschönerung der Hauptstadt eine Prämie erhalten hat.
Das Ganze, einschließlich Prämie, macht einen billigen und notdürftigen Eindruck; die Mieten allerdings haben nichts Kleinliches, sie sind so hoch, daß hier nur Leute wohnen können wie Juliane, für die der Staat aufkommt, oder wie der Mechaniker, der nehmen mußte, was er kriegen konnte, oder die eher marginalen Existenzen wie zum Beispiel ich.
Die Leute haben offenbar sehr gut begriffen, was Leukotomie ist. So ist der Spitzname für uns, die hier wohnen; das ist zwar verletzend, im großen und ganzen aber korrekt.
Es gibt Gründe dafür, hier einzuziehen, und Gründe, hier auch wohnen zu bleiben. Mit der Zeit ist das Wasser für mich wichtig geworden. Der Weiße Schnitt liegt direkt am Kopenhagener Hafen. In diesem Winter konnte ich sehen, wie sich das Eis bildete.
Der Frost setzte im November ein. Ich habe Respekt vor dem dänischen Winter. Die Kälte – nicht die meßbare, die auf dem Thermometer, sondern die erlebte – hängt mehr von der Windstärke und vom Feuchtigkeitsgrad der Luft ab als davon, wie kalt es ist. Ich habe in Dänemark mehr gefroren als je in Thule. Sobald die ersten klammen Regenschauer mir und dem November ein nasses Handtuch ins Gesicht peitschen, begegne ich ihnen mit pelzgefütterten Capucines, schwarzen Alpakaleggings, langem Schottenrock, Pullover und einem Cape aus schwarzem Goretex.
Dann fällt die Temperatur allmählich. Irgendwann hat die Meeresoberfläche minus 1,8 Grad Celsius, die ersten Kristalle bilden sich, eine kurzlebige Haut, die der Wind und die Wellen zu frazil Eis zerschlagen, das zu dem seifigen Mus verknetet wird, das man Breieis, grease ice, nennt; es bildet allmählich freitreibende Platten, pancake ice, das dann an einem Sonntag in einer kalten Mittagsstunde zu einer zusammenhängenden Schicht gefriert.
Es wird kälter, und ich freue mich, denn ich weiß, daß der Frost jetzt zugelegt hat, das Eis bleibt liegen, und die Kristalle haben Brücken gebildet und das Salzwasser in Hohlräumen eingekapselt, die eine Struktur haben wie die Adern eines Baumes, durch die langsam die Flüssigkeit hindurchsickert; daran denkt kaum jemand, der zur Marineinsel Holmen hinüberschaut, es ist aber ein Argument für die Ansicht, daß Eis und Leben auf mehrfache Weise zusammenhängen.
Wenn ich auf die Knippelsbrücke komme, ist das Eis normalerweise das erste, wonach ich Ausschau halte. An diesem Tag im Dezember aber sehe ich etwas anderes. Ich sehe das Licht.
Es ist gelb, wie das meiste Licht in einer Winterstadt; es hat geschneit, und deshalb hat es, auch wenn es nur ein zartes Licht ist, einen starken Widerschein. Es scheint unten bei einem der Packhäuser, den Speichern, die sie, als sie unsere Wohnblocks bauten, in einem schwachen Moment beschlossen haben stehenzulassen. Auf der Giebelseite, zur Strandgade und nach Christianshavn zu, rotiert das Blaulicht eines Streifenwagens. Ich sehe einen Polizisten. Die provisorische Absperrung aus weiß-roten Plastikbändern. Das, was dort abgesperrt ist, kann ich als kleinen dunklen Schatten auf dem Schnee ausmachen.
Weil ich renne und es erst gut fünf Uhr und der Nachmittagsverkehr noch nicht vorbei ist, schaffe ich es, einige Minuten vor dem Krankenwagen dort zu sein.
Jesaja liegt mit angezogenen Beinen da, das Gesicht im Schnee und die Hände um den Kopf, als wollte er sich gegen den kleinen Scheinwerfer, der ihn beleuchtet, abschirmen, als sei der Schnee ein Fenster, durch das er tief unter der Erde etwas gesehen hat.
Der Polizist müßte mich sicher fragen, wer ich bin, meinen Namen und meine Adresse aufnehmen und überhaupt die Arbeit der Kollegen vorbereiten, die jetzt bald von Haus zu Haus gehen und klingeln müssen. Aber er ist ein junger Mann mit einem kranken Ausdruck in den Augen. Er vermeidet es, Jesaja direkt anzuschauen. Als er sich vergewissert hat, daß ich sein Absperrband nicht übertrete, läßt er mich stehen.
Er hätte ein größeres Stück absperren können. Doch das hätte keinen Unterschied gemacht. Die Packhäuser werden teilweise umgebaut. Menschen und Maschinen haben den Schnee hartgetrampelt wie einen Terrazzoboden.
Selbst im Tod hat Jesaja etwas Abgewandtes, als wollte er von Mitleid nichts wissen.
Hoch oben, außerhalb des Scheinwerferlichts, ahnt man einen Dachfirst. Das Packhaus ist hoch, sicher so hoch wie ein sieben- oder achtstöckiges Wohnhaus. Das angrenzende Haus wird umgebaut. An der Giebelseite, die auf die Strandgade hinausgeht, steht ein Gerüst. Dort gehe ich hin, während sich der Krankenwagen über die Brücke arbeitet und dann zwischen den Gebäuden durchwindet.
Das Gerüst deckt die Giebelseite bis zum Dach hinauf ein. Die untere Leiter ist heruntergeklappt. Die Konstruktion scheint immer zerbrechlicher zu werden, je höher man kommt.
Sie bauen ein neues Dach. Über mir türmen sich die dreieckigen Dachsparren. Sie sind mit einer Persenning zugedeckt, die über die halbe Gebäudelänge reicht. Die andere Hälfte, auf der Hafenseite, ist eine verschneite Fläche. Darauf sind die Spuren von Jesaja.
An der Schneekante hockt ein Mann, der seine Knie umklammert hält und sich hin und her wiegt. Selbst zusammengekauert wirkt der Mechaniker noch groß, und noch in dieser Haltung totaler Resignation wirkt er zurückhaltend.
Es ist so hell. Vor einigen Jahren hat man das Licht bei Siorapaluk gemessen. Von Dezember bis Februar, drei Monate, in denen die Sonne weg ist. Man stellt sich immer eine ewige Nacht vor, aber es sind Mond und Sterne da, und ab und zu das Nordlicht. Und der Schnee. Man registrierte dieselbe Anzahl Lux wie außerhalb von Skanderborg in Jütland. Genau so erinnere ich meine Kindheit. Daß wir immer draußen spielten, und daß es immer hell war. Damals war das Licht eine Selbstverständlichkeit. So viele Dinge sind für ein Kind selbstverständlich. Mit der Zeit fängt man dann an, sich zu wundern.
Jedenfalls fällt mir auf, wie hell das Dach vor mir ist. Als sei es die ganze Zeit über der in einer vielleicht zehn Zentimeter dicken Schicht liegende Schnee gewesen, der das Licht dieses Wintertages geschaffen hat, und als glühe es in punktweisem Glitzern wie kleine, graue, leuchtende Perlen immer noch nach.
Am Boden schmilzt der Schnee ein bißchen, selbst bei schwerem Frost, wegen der Wärme der Stadt. Hier oben jedoch liegt er locker, so wie er gefallen ist. Nur Jesaja hat ihn betreten.
Selbst wenn keine Wärme da ist, kein neuer Schnee, kein Wind, selbst dann verändert sich der Schnee. Als würde er atmen, als würde er sich verdichten, sich heben und senken und sich zersetzen.
Jesaja hat Turnschuhe getragen, auch im Winter, und es ist seine Spur, die abgetretene Sohle seiner Basketballstiefel mit der gerade noch sichtbaren Zeichnung konzentrischer Kreise unter der Wölbung der Fußsohle, um die sich der Spieler drehen muß.
Er ist dort, wo wir stehen, in den Schnee hinausgetreten. Die Spuren laufen schräg auf die Dachkante zu und führen daran entlang weiter, vielleicht zehn Meter. Dann halten sie an. Um sich dann zur Ecke und zur Giebelseite hin fortzusetzen. Wo sie der Dachkante in einem Abstand von ungefähr einem halben Meter bis an die Ecke zum angrenzenden Packhaus hin folgen. Von dort aus ist er vielleicht drei Meter zur Mitte zurückgelaufen, um Anlauf zu nehmen. Dann führt die Spur direkt zur Kante, wo er gesprungen ist.
Das andere Dach besteht aus glasierten schwarzen Ziegeln, die zur Dachrinne hin in so steilem Winkel abfallen, daß der Schnee nicht liegengeblieben ist. Es gab nichts zum Festhalten. So gesehen hätte er ebensogut direkt in den leeren Raum springen können.
Außer Jesajas Spuren gibt es keine anderen. Auf der Schneefläche ist außer ihm niemand gewesen.
»Ich habe ihn gefunden«, stellt der Mechaniker fest.
Es wird für mich nie leicht sein, Männer weinen zu sehen. Vielleicht, weil ich weiß, wie fatal das Weinen für ihre Selbstachtung ist. Vielleicht, weil es für sie so ungewohnt ist, daß es sie immer in ihre Kindheit zurückverfrachtet. Der Mechaniker ist in dem Stadium, wo er es aufgegeben hat, sich die Augen zu trocknen, sein Gesicht ist eine Maske aus Schleim.
»Putz dir die Nase«, sage ich. »Es kommen Leute.«
Die beiden Männer, die aufs Dach kommen, sind über unseren Anblick nicht sonderlich erfreut.
Der eine schleppt die Fotoausrüstung und ist außer Atem. Der andere erinnert ein wenig an einen verwachsenen Nagel. Flach und hart und voll ungeduldiger Gereiztheit.
»Wer sind Sie?«
»Die Nachbarin von oben«, sage ich. »Und der Herr ist der Mann von unten.«
»Gehen Sie bitte runter.«
Dann sieht er die Spuren und ignoriert uns.
Der Fotograf macht die ersten Bilder, mit Blitz und einer großen Polaroidkamera.
»Nur die Spuren des Verstorbenen«, sagt der Nagel. Er redet, als fertige er im Kopf bereits seinen Bericht an. »Die Mutter betrunken. Da hat er halt hier oben gespielt.«
Dann fällt sein Blick erneut auf uns.
»Gehen Sie jetzt bitte runter.«
Zu diesem Zeitpunkt sehe ich nichts klar, es geht alles durcheinander. Das allerdings so sehr, daß ich davon abgeben kann. Ich bleibe also stehen.
»Komische Art zu spielen, nicht wahr?«
Manche Leute meinen vielleicht, ich sei eitel. Das will ich eigentlich nicht abstreiten. Ich kann ja auch Gründe dafür haben.
Jedenfalls ist es meine Kleidung, die ihn jetzt zuhören läßt. Der Kaschmir, die Pelzmütze, die Handschuhe. Er hat zwar Lust und auch das Recht, mich hinunterzuschicken. Aber er sieht, daß ich aussehe wie eine Dame. Auf den Dächern von Kopenhagen begegnet man nicht so vielen Damen.
Einen Augenblick lang zögert er also.
»Wieso?«
»Als Sie in dem Alter waren«, sage ich, »und Vater und Mutter noch nicht aus dem Kohlenbergwerk zurück waren und Sie allein auf dem Dach der Obdachlosenbaracke gespielt haben, sind Sie da in gerader Linie die Dachkante entlanggelaufen?«
Daran kaut er ein wenig.
»Ich bin in Jütland aufgewachsen«, sagt er dann. Doch sein Blick läßt mich nicht los, während er das sagt.
Dann dreht er sich zu seinem Kollegen um.
»Wir brauchen Lampen hier oben. Und wenn du gleich noch die Dame und den Herrn runterbringen würdest.«
Mir geht es mit der Einsamkeit wie anderen mit dem Segen der Kirche. Sie ist für mich ein Gnadenlicht. Ich mache nie hinter mir die Tür zu, ohne mir bewußt zu sein, daß ich damit für mich eine Tat der Barmherzigkeit vollbringe. Cantor veranschaulichte seinen Schülern den Unendlichkeitsbegriff, indem er erzählte, es sei einmal ein Mann gewesen, der ein Hotel mit einer unendlichen Zahl von Zimmern gehabt habe, und das Hotel sei voll belegt gewesen. Dann sei noch ein Gast gekommen. Der Wirt habe den Gast von Zimmer Nummer eins nach Nummer zwei, den von Nummer zwei nach Nummer drei, den von drei nach vier verlegt, und so fort. Damit sei das Zimmer Nummer eins für den neuen Gast frei geworden. Was mich an dieser Geschichte freut, ist die Tatsache, daß alle Beteiligten, die Gäste und der Wirt, es ganz in Ordnung finden, eine unendliche Anzahl von Operationen durchführen zu müssen, damit ein einzelner Gast in einem Zimmer für sich Ruhe und Frieden finden kann. Das ist eine große Verbeugung vor der Einsamkeit.
Im übrigen weiß ich, daß ich meine Wohnung wie ein Hotelzimmer eingerichtet habe. Ohne den Eindruck vermeiden zu können, daß diejenige, die hier wohnt, sich auf der Durchreise befindet. Wenn ich mir das zuweilen selbst erklären muß, dann denke ich daran, daß die Familie meiner Mutter und auch sie selbst eine Art Nomaden waren. Als Entschuldigung ist das eine fadenscheinige Erklärung.
Aber ich habe zwei große Fenster zum Wasser hin. Ich sehe die Holmenskirche, das Gebäude der Seeassekuranz und die Nationalbank, deren Marmorfassade heute abend die gleiche Farbe hat wie das Eis im Hafen.
Ich habe mir gedacht, daß ich trauern will. Ich habe mit den Polizisten geredet, Juliane eine Schulter hingehalten und sie zu Bekannten begleitet, dann bin ich zurückgekommen, und die ganze Zeit über habe ich die Trauer mit der linken Hand weggehalten. Jetzt muß ich wohl an der Reihe sein, jetzt muß ich unglücklich sein dürfen.
Doch es ist noch nicht soweit. Die Trauer ist ein Geschenk, etwas, um das man sich verdient machen muß. Ich habe mir eine Tasse Pfefferminztee gemacht und mich ans Fenster gestellt. Aber es stellt sich nichts ein. Vielleicht, weil noch eine Winzigkeit zu tun bleibt, weil noch etwas unfertig ist und den Gefühlsprozeß bremsen kann.
Ich trinke also meinen Tee, während der Verkehr auf der Knippelsbrücke spärlicher und zu vereinzelten roten Lichterstrichen in der Nacht wird. Allmählich überkommt mich eine Art Ruhe. Schließlich reicht es zum Einschlafen.
3An einem Tag im August vor anderthalb Jahren begegne ich Jesaja zum erstenmal. Eine bleierne und feuchte Hitze hat Kopenhagen in eine Brutstätte des unmittelbar drohenden Wahnsinns verwandelt. Ich habe in der typischen Druckkochtopfatmosphäre eines Busses gesessen, in einem neuen Kleid aus weißem Leinen, mit tiefem Rückenausschnitt und Valenciennevolants. Es hat lange gedauert, bis ich sie mit dem Dampfbügeleisen zum Stehen gebracht habe, in der allgemeinen Depression jedoch haben sie sich wieder gelegt.
Es gibt Leute, die fahren in dieser Jahreszeit nach Süden. Runter in die Wärme. Ich persönlich bin nie südlicher als bis nach Køge gekommen. Ungefähr fünfzig Kilometer südlich von Kopenhagen. Und weiter werde ich auch nicht kommen, bis der Atomwinter Europa abgekühlt hat.
Es ist so ein Tag, an dem man nach dem Sinn des Daseins fragen könnte und die Antwort bekommen würde, daß es keinen gibt. Und auf der Treppe, ein Stockwerk unter meiner Wohnung, kraucht irgend etwas herum.
Als in den dreißiger Jahren allmählich die ersten größeren Ladungen von Grönländern nach Dänemark kamen, schrieben sie mit als erstes nach Hause, die Dänen seien Schweine, sie hielten Hunde im Haus. Einen Moment lang glaube ich, daß auf der Treppe ein Hund liegt. Dann sehe ich, daß es ein Kind ist, und an diesem Tag ist das auch nicht sehr viel besser.
»Hau ab, Rotzzwerg«, sage ich.
Jesaja sieht auf.
»Peerit«, sagt er, »hau doch selber ab.«
Nur wenige Dänen sehen es mir an. Sie meinen, irgend etwas Asiatisches zu spüren, vor allem, wenn ich unter den Wangenknochen einen Schatten aufgelegt habe. Doch der Junge auf der Treppe sieht mich gerade an, mit einem Blick, der direkt trifft, was er und ich gemeinsam haben. Es ist ein Blick, wie ihn auch Neugeborene haben. Danach verschwindet er und kommt zuweilen bei sehr alten Menschen wieder. Mag sein, daß ich mein Leben nie mit Kindern beschwert habe, weil ich unter anderem zuviel darüber nachgegrübelt habe, weshalb die Menschen den Mut verlieren, sich direkt anzuschauen.
»Willst du mir vorlesen?«
Ich habe ein Buch in der Hand. Das hat seine Frage ausgelöst.
Man könnte sagen, er sieht aus wie ein Waldgeist. Aber da er dreckig ist, nur Unterhosen anhat und vor Schweiß glänzt, kann man auch sagen, er sieht aus wie ein Seehund.
»Verpiß dich«, sage ich.
»Magst du keine Kinder?«
»Ich fresse Kinder.«
Er tritt zur Seite.
»Salluvutit, du lügst«, sagt er, als ich vorbeigehe.
In diesem Moment sehe ich zwei Dinge, die mich in gewisser Weise an ihn fesseln. Ich sehe, daß er allein ist. Wie jemand im Exil es immer sein wird. Und ich sehe, daß er die Einsamkeit nicht fürchtet.
»Is’n das für ’n Buch?« ruft er hinter mir her.
»Euklids Elemente«, sage ich und knalle die Tür zu.
Es blieb bei Euklids Elementen.
Ich will sie mir noch am selben Abend vornehmen, als es an der Tür klingelt und er draußen steht, noch immer in Unterhosen, und mich einfach anstarrt. Ich trete zur Seite, und er tritt in die Wohnung und in mein Leben ein, um eigentlich nie mehr hinauszugehen. Ich nehme Euklids Elemente aus dem Regal. Wie um ihn wegzuscheuchen. Wie um sofort klarzumachen, daß ich keine Bücher habe, die ein Kind interessieren könnten, daß er und ich uns weder über einem Buch noch sonst irgendwie begegnen können. Wie um irgend etwas zu entgehen.
Wir setzen uns auf das Sofa. Er sitzt mit gekreuzten Beinen auf der Kante, so wie die Kinder aus Thule bei Inglefield, die im Sommer auf der Kante des Schlittens saßen, der im Zelt als Pritsche diente.
»›Ein Punkt ist das, was sich nicht teilen läßt. Eine Linie ist eine Länge ohne Breite.‹«
Es ist das Buch, das er nie kommentieren wird und auf das wir zurückkommen. Ich versuche es auch mal mit anderen Büchern. Einmal leihe ich in der Bibliothek Petzi am Nordpol aus. Mit abgeklärter Ruhe hört er der Erläuterung der ersten Bilder zu. Dann legt er einen Finger auf Rasmus Klump.
»Wie schmeckt der?« fragt er.
»›Ein Halbkreis ist die Figur, die von einem Durchmesser und von der durch den Durchmesser abgeschnittenen Peripherie umschlossen wird.‹«
Für mich durchläuft die Lektüre an diesem ersten Abend im August drei Phasen. Zuerst nur die Gereiztheit über diese ganze unpraktische Situation. Dann die Stimmung, die mich bei dem bloßen Gedanken an dieses Buch packt, die Feierlichkeit. Die Gewißheit, daß es die Grundlage, die Grenze ist. Daß man, wenn man sich zurückarbeitet, vorbei an Lobatschewski und Newton und so weit zurück wie möglich, bei Euklid endet.
»›Auf der größeren von zwei gegebenen ungleich großen geraden Linien ...‹.«
Irgendwann sehe ich dann nicht mehr, was ich lese. Irgendwann ist nur noch meine Stimme und das Sonnenuntergangslicht aus dem Südhafen im Raum. Und dann nicht einmal mehr die Stimme, dann sind nur noch ich und der Junge da. Irgendwann höre ich auf. Wir sitzen einfach da und schauen vor uns hin, als sei ich fünfzehn und er sechzehn, und wir am point of no return angelangt. Irgendwann steht er dann ganz still auf und geht. Ich schaue in den Sonnenuntergang, der in dieser Jahreszeit drei Stunden dauert. Als habe die Sonne zum Abschied doch noch Qualitäten in der Welt entdeckt, die sie jetzt nur widerstrebend Abschied nehmen lassen.
Natürlich hat ihn der Euklid nicht abgeschreckt. Natürlich war es nicht wichtig, was ich las. Ich hätte ebensogut aus dem Telefonbuch vorlesen können. Oder aus Lewis’ und Carrisas Detection and Classification of Ice. Er wäre trotzdem gekommen und hätte mit mir auf dem Sofa gesessen.
Zuweilen kam er jeden Tag. Dann wieder konnten vierzehn Tage vergehen, in denen ich ihn nur einmal sah, und auch das nur von weitem. Doch wenn er kam, dann gern beim Einbruch der Dunkelheit, wenn der Tag vorbei und Juliane sinnlos betrunken war.
Ab und zu steckte ich ihn in die Badewanne. Er mochte heißes Wasser nicht. Mit kaltem konnte man ihn aber nicht sauber kriegen. Ich stellte ihn in die Badewanne und drehte die Dusche auf. Er protestierte nicht. Er hatte es längst gelernt, sich mit Widerwärtigkeiten abzufinden. Doch nicht einen Moment lang wandte er seinen vorwurfsvollen Blick von meinem Gesicht ab.
4In meinem Leben kommen einige Internate vor. Ich arbeite täglich daran, das zu verdrängen, und über lange Zeiträume hinweg gelingt es mir sogar. Nur momentweise schafft es vielleicht eine vereinzelte Erinnerung, sich ans Licht hochzuarbeiten. Wie jetzt die ganz spezielle Stimmung in einem Schlafsaal. In Stenhøj bei Humlebæk, nördlich von Kopenhagen, lagen wir in Schlafsälen. Einer war für Mädchen, einer für Jungs. In der Nacht mußten die Fenster offen sein. Und unsere Decken waren zu dünn.
In der Morgue, im Leichenschauhaus der Amtsgemeinde Kopenhagen, im Keller des Gerichtsmedizinischen Instituts des Reichskrankenhauses, schlafen die Toten in bis knapp über den Gefrierpunkt gekühlten Schlafsälen den letzten, kalten Schlaf.
Überall ist es sauber, modern und endgültig. Sogar im Schauraum, der wie ein Wohnzimmer gestrichen ist, in den man ein paar Stehlampen gestellt hat und wo eine Grünpflanze den Mut zu bewahren sucht.
Über Jesaja liegt ein weißes Laken. Jemand hat einen kleinen Blumenstrauß darauf gelegt, als habe er versucht, die Topfpflanze zu unterstützen. Jesaja ist vollständig zugedeckt, doch an dem kleinen Körper und dem großen Kopf sieht man, daß er es ist. Die französischen Schädelmesser hatten in Grönland große Probleme. Sie arbeiteten mit der Theorie, daß zwischen der Intelligenz eines Menschen und seiner Schädelgröße ein kausaler Zusammenhang bestehe. Bei den Grönländern, die sie für eine Übergangsform der Affen hielten, fanden sie die größten Schädel der Welt.
Ein Mann in weißem Kittel hebt das Laken vom Gesicht. Jesaja sieht so intakt aus, als habe man ganz vorsichtig Blut und Farbe abgelassen und ihn schlafen gelegt.
Juliane steht neben mir. Sie ist in Schwarz und bereits den zweiten Tag nüchtern.
Als wir den Flur entlanggehen, ist der weiße Kittel bei uns.
»Sie sind Angehörige«, schlägt er vor. »Eine Schwester?«
Er ist nicht größer als ich, aber breit, und hat eine Haltung wie ein Widder, der zum Stoßen ansetzt.
»Arzt«, sagt er. Er zeigt auf seine Kitteltasche und merkt, daß dort kein Schild ist, das ihn ausweist.
»Tod und Hölle«, sagt er.
Ich gehe weiter. Er ist dicht hinter mir.
»Ich habe selber Kinder«, sagt er. »Wissen Sie, ob es ein Arzt war, der ihn gefunden hat?«
»Ein Mechaniker«, antworte ich.
Er fährt im Fahrstuhl mit hinauf. Plötzlich habe ich das Bedürfnis zu wissen, wer Jesaja angefaßt hat.
»Haben Sie ihn untersucht?«
Er antwortet mir nicht. Vielleicht hat er mich nicht gehört. O-beinig eiert er vor uns her. An der Glastür zieht er plötzlich ein Stück Pappe heraus, wie ein Exhibitionist, der den Mantel aufreißt.
»Meine Karte. Jean Pierre, wie der Flötist. Lagermann, wie die dänische Lakritze.«
Juliane und ich haben kein Wort zueinander gesagt. Doch als sie sich in das Taxi gesetzt hat und ich gerade die Tür zumachen will, greift sie nach meiner Hand.
»Die Smilla«, sagt sie, als rede sie von einer nicht Anwesenden, »ist eine feine Dame. Hundertprozentig, verdammt noch mal.«
Das Auto fährt los, und ich richte mich auf. Es ist fast zwölf. Ich habe eine Verabredung.
»Reichsobduzentur für Grönland« steht an der Glastür, auf die man stößt, wenn man den Frederik V.-Vej zurück und am Teilum-Gebäude und Gerichtsmedizinischen Institut vorbei zum neuen Trakt des Reichskrankenhauses gegangen ist und den Fahrstuhl genommen, die Stockwerke, in denen den Fahrstuhlknöpfen zufolge die Grönländische medizinische Gesellschaft, das Polarzentrum und das Institut für Arktische Medizin untergebracht sind, passiert hat und hinauffährt in den fünften Stock, eine Dachetage.
Heute morgen habe ich das Polizeipräsidium angerufen, das mich zur Abteilung A durchgestellt hat, die mich mit dem Nagel verbunden hat.
»Sie können ihn in der Morgue sehen«, sagt er.
»Ich will auch mit dem Arzt sprechen.«
»Loyen«, sagt er. »Sie können mit Loyen reden.«
Hinter der Glastür führt ein kurzer Flur zu einem Schild, an dem Professor steht und in kleineren Buchstaben J. Loyen. Unter dem Schild ist eine Tür, hinter der Tür eine Garderobe und dahinter ein kühles Büro mit zwei Sekretärinnen unter Fotoabzügen von Eisbergen auf blauem Wasser und in strahlender Sonne, dahinter fängt das richtige Büro an.
Hier drinnen haben sie keinen Tennisplatz angelegt. Nicht, weil kein Platz wäre, sondern sicher, weil Loyen ein paar in seinem Garten in Hellerup und zwei weitere am Dünenweg in Skagen hat. Und weil es die gewichtige Feierlichkeit des Raumes beeinträchtigt hätte.
Auf dem Fußboden liegt ein dicker Teppich, zwei Wände sind von Büchern bedeckt; Panoramafenster mit Aussicht über die Stadt und über den Fælledpark, ein in die Mauer eingelassener Safe, goldgerahmte Gemälde, ein Mikroskop über einem Lichttisch, eine Glasvitrine mit einer vergoldeten Maske, die aussieht, als käme sie aus einem ägyptischen Sarkophag, zwei Sofaecken, zwei abgeschaltete Bildschirme auf einem Sockel und noch immer so viel Platz, daß man, wenn man die Schreibtischhockerei satt hätte, einen Bürolauf machen könnte.
Der Schreibtisch ist eine große Mahagoniellipse, und von dort her erhebt er sich und kommt mir entgegen. Er ist zwei Meter groß und um die Siebzig, aufrecht, im weißen Kittel und sonnengebräunt wie ein Wüstenscheich, mit dem freundlichen Ausdruck von jemandem, der auf dem Kamel sitzt und zuvorkommend auf den Rest der Welt herabblickt, der unten im Sand vorbeikrabbelt.
»Loyen.«
Den Titel läßt er zwar weg, aber er klingt trotzdem mit. Der Titel und die Tatsache, die wir nicht vergessen dürfen, daß der Rest der Weltbevölkerung mindestens einen Kopf tiefer steht, und es hier, unter seinen Füßen, jede Menge Ärzte gibt, die es nicht bis zum Professor gebracht haben; über seinem Kopf hat er nur die weiße Decke, den blauen Himmel und den lieben Gott, und vielleicht nicht einmal das.
»Nehmen Sie Platz, gnädige Frau.«
Er strahlt Zuvorkommenheit und Dominanz aus, und ich sollte glücklich sein. Andere Frauen vor mir sind glücklich gewesen, und viele andere werden es noch sein – kann man sich in den schweren Augenblicken des Lebens etwas Besseres zum Anlehnen wünschen als zwei Meter gutpolierte ärztliche Selbstsicherheit, und das auch noch in einer so geborgenen Umgebung wie hier?
Auf dem Tisch steht eine gerahmte Fotografie der Arztgattin, des Airedaleterriers und von Vatis drei großen Jungs, die sicher Medizin studieren und in allen Prüfungen, einschließlich der klinischen Sexologie, eine Eins kriegen.
Ich habe nie behauptet, ich sei vollkommen. Vor Menschen, die Macht haben, sie genießen und ausnutzen, werde ich ein anderer, minderwertigerer und schlechterer Mensch.
Aber ich zeige es nicht. Ich setze mich auf die Stuhlkante und lege die dunklen Handschuhe und den Hut mit dem dunklen Schleier an den Rand der Mahagoniplatte. Professor Loyen hat, wie so oft, eine schwarze, trauernde, fragende, unsichere Frau vor sich.
»Sie sind Grönländerin?«
Dank seiner fachlichen Erfahrung sieht er das.
»Meine Mutter kam aus Thule. Sie haben Jesaja ... untersucht?«
Er winkt bestätigend.
»Was ich gerne wissen möchte: Woran ist er gestorben?«
Die Frage überrumpelt ihn etwas.
»Am Sturz.«
»Aber was heißt das, rein physisch?«
Einen Moment lang denkt er nach, er ist es nicht gewöhnt, das Selbstverständliche formulieren zu müssen.
»Er ist schließlich vom sechsten Stockwerk gefallen. Der Organismus als Ganzes bricht ganz einfach zusammen.«
»Aber er hat irgendwie so unbeschädigt ausgesehen.«
»Das ist bei Sturzunfällen normal, meine Liebe. Aber ...«
Ich weiß, was er sagen will. ›Nur, bis wir sie aufmachen. Dann ist alles nur noch Knochensplitter und innere Blutungen.‹
»Aber sie sind es nicht«, vollendet er.
Er richtet sich auf. Er hat anderes zu tun. Das Gespräch nähert sich seinem Ende, ohne in Gang gekommen zu sein. Wie so viele Gespräche zuvor und danach.
»Hat es Spuren von Gewaltanwendung gegeben?«
Ich überrasche ihn nicht. In seinem Alter und seinem Beruf läßt man sich nicht so leicht überraschen.
»Nicht die geringste«, sagt er.
Ich bleibe ganz still sitzen. Es ist immer interessant, Europäer der Stille zu überlassen. Für sie ist sie eine Leere, in der die Spannung steigt und ins Unerträgliche wächst.
»Wie sind Sie denn auf die Idee gekommen?«
›Meine Liebe‹ hat er jetzt gestrichen. Ich überhöre die Frage.
»Wieso sind dieses Büro und diese Institution eigentlich nicht in Grönland?« frage ich.
»Das Institut ist erst drei Jahre alt. Vorher hat es keine Obduzentur für Grönland gegeben. Die Staatsanwaltschaft in Godthåb benachrichtigte gegebenenfalls das Gerichtsmedizinische Institut in Kopenhagen. Diese Stelle hier ist neu und zeitlich begrenzt. Das Ganze soll im Laufe des nächsten Jahres nach Godthåb verlegt werden.«
»Und Sie?« sage ich.
Er ist es nicht gewöhnt, verhört zu werden, gleich wird er aufhören zu antworten.
»Ich leite das Institut für Arktische Medizin. Ursprünglich bin ich jedoch Gerichtspathologe. In dieser Etablierungsphase fungiere ich als amtierender Leiter der Obduzentur.«
»Führen Sie alle gerichtsmedizinischen Obduktionen an Grönländern durch?«
Ich habe blind zugeschlagen. Aber es muß ein harter, flacher Ball gewesen sein, denn jetzt zucken seine Lider.
»Nein«, erwidert er und spricht nun sehr langsam, »aber ab und zu helfe ich der dänischen Staatsobduzentur. Sie haben jedes Jahr Tausende von Fällen aus dem ganzen Land.«
Ich denke an Jean Pierre Lagermann.
»Haben Sie die Obduktion allein gemacht?«
»Wir folgen, außer in ganz speziellen Fällen, einer festen Routine. Ein Arzt arbeitet mit einem Laborangestellten und manchmal auch mit einer Krankenschwester.«
»Kann man den Obduktionsbericht einsehen?«
»Sie würden ihn sowieso nicht verstehen. Und was Sie verstehen könnten, würden Sie nicht mögen!«
Einen kurzen Moment lang hat er die Selbstbeherrschung verloren. Sie ist jedoch sofort wieder da.
»Diese Berichte gehören der Polizei, die die Obduktionen offiziell bestellt. Und im übrigen auch bestimmt, wann die Beerdigung stattfinden kann, da sie die Totenscheine unterschreibt. Das Gesetz über die Öffentlichkeit der Verwaltung gilt für zivilrechtliche Angelegenheiten, nicht für strafrechtliche.«
Er ist mittendrin im Match, und ganz vorn am Netz. Seine Stimme nimmt einen beruhigenden Klang an.
»Sie müssen schon verstehen, in einem Fall wie diesem, wo auch nur der geringste Zweifel an den Umständen des Unglücks aufkommen kann, ist die Polizei und sind wir an einem möglichst gründlichen Gutachten interessiert. Wir untersuchen alles. Und wir finden alles. In den Fällen, in denen jemandem etwas angetan worden ist, ist es so gut wie unmöglich, keine Spuren zu hinterlassen. Es gibt Fingerabdrücke, zerrissene Kleidung, das Kind verteidigt sich und hat Hautzellen unter den Nägeln. In diesem Fall nichts von alldem. Nichts.«
Das war der Satz- und Matchball. Ich erhebe mich und ziehe die Handschuhe an. Er lehnt sich zurück.
»Selbstverständlich sehen wir den Polizeibericht«, sagt er. »Aus den Spuren ging ja deutlich hervor, daß er allein auf dem Dach war, als es passierte.«
Ich wandere den langen Weg bis in die Mitte des Zimmers, und von dort aus schaue ich zu ihm zurück. Irgend etwas hatte ich zu fassen gekriegt, ich weiß nur nicht, was. Doch jetzt sitzt er wieder auf dem Kamel.
»Rufen Sie ruhig wieder an, gnädige Frau.«
Es dauert einen Augenblick, bis sich der Schwindel gelegt hat.
»Wir haben«, sage ich, »alle unsere Phobien. Irgend etwas, wovor wir richtig Angst haben. Ich habe meine, und Sie haben sicher auch Ihre, wenn Sie den schußsicheren Kittel ausziehen. Wissen Sie, was Jesajas Phobie war? Die Höhe. Er hüpfte bis zum ersten Stock, und von da ab kroch er, mit geschlossenen Augen und beiden Händen am Geländer. Stellen Sie sich das vor, jeden Tag, die Innentreppe hoch, Schweiß auf der Stirn, Wackelpudding in den Knien, fünf Minuten vom ersten bis zum dritten Stock. Seine Mutter hatte schon, bevor sie überhaupt eingezogen waren, darum gebeten, nach unten ziehen zu dürfen. Aber Sie wissen ja – wenn man Grönländer ist und Sozialhilfeempfänger ...«
Es dauert geraume Zeit, bis er antwortet.
»Nichtsdestoweniger ist er dort oben gewesen.«
»Ja«, sage ich, »das ist er wohl. Aber sehen Sie, Sie hätten mit einem Wagenheber kommen können. Oder auch mit unserem berühmten Schwimmkran Herkules, und Sie hätten ihn trotzdem keinen Meter auf das Gerüst gebracht. Was mich wundert, was ich mich in den schlaflosen Nächten frage, ist, was ihn bei dieser Gelegenheit dahinauf gebracht hat.«
Noch immer sehe ich seine kleine Gestalt unten im Keller liegen. Ich schaue Loyen nicht einmal an. Ich gehe einfach.
5Juliane Christiansen, die Mutter von Jesaja, ist eine warme Empfehlung für die heilsame Wirkung des Alkohols. Wenn sie nüchtern ist, ist sie steif, stumm und gehemmt. Wenn sie voll ist, ist sie quietschvergnügt und spritzig.
Da sie heute morgen Antabus genommen und nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus sozusagen auf die Tablette getrunken hat, tritt diese schöne Verwandlung natürlich durch den Schleier eines vergifteten Organismus zutage. Aber trotzdem geht es ihr spürbar besser.
»Smilla«, sagt sie, »ich liebe dich.«
Man sagt, in Grönland wird viel getrunken. Das ist eine vollkommen unsinnige Untertreibung. Es wird kolossal getrunken. Deshalb habe ich auch dieses spezielle Verhältnis zum Alkohol. Wenn ich Lust auf etwas Stärkeres als Kräutertee kriege, denke ich immer daran, was der freiwilligen Alkoholrationierung in Thule vorausging.
Ich bin schon öfter in Julianes Wohnung gewesen, aber wir haben immer in der Küche gesessen und Kaffee getrunken. Die eigenen vier Wände der Leute muß man respektieren. Vor allem, wenn ihr Leben ansonsten bloßliegt wie eine offene Wunde. Doch jetzt treibt mich das dringliche Gefühl, eine Aufgabe zu haben, ich spüre, daß irgend jemand etwas übersehen hat.
Ich stöbere also herum, und Juliane läßt mich machen, was ich will. Erstens hat sie ihren Apfelwein aus dem Supermarkt, und zweitens bezieht sie schon so lange Sozialhilfe und liegt schon so ewig unter dem Elektronenmikroskop der Behörden, daß sie sich schon gar nicht mehr vorstellen kann, daß man etwas ganz für sich haben kann.
Die Wohnung strahlt die spezielle Art von häuslicher Gemütlichkeit aus, die sich einstellt, wenn man lange genug mit Clogs auf den versiegelten Dielen herumgelaufen ist, genug brennende Zigaretten auf der Tischplatte vergessen und häufig seinen Rausch auf dem Sofa ausgeschlafen hat und der schwarze Fernseher, der so groß ist wie ein Konzertflügel, das einzig Neue und Funktionierende ist.
Die Wohnung hat ein Zimmer mehr als meine, das Zimmer von Jesaja. Ein Bett, ein niedriger Tisch und ein Schrank. Auf dem Fußboden ein Pappkarton. Auf dem Tisch zwei Stöcke, ein Stein zum Himmel-und-Hölle-Spielen, eine Art Saugnapf, ein Modellauto. Und alles farblos wie Strandsteine in einer Schublade.
Im Schrank Regenmantel, Gummistiefel, Clogs, Pullover, Unterwäsche, Strümpfe, alles in wildem Durcheinander hineingestopft. Meine Finger tasten unter den Kleiderstapeln und auf dem Schrank. Doch da ist nur der Staub vom letzten Jahr.
Auf dem Bett in einer durchsichtigen Plastiktüte seine Sachen aus dem Krankenhaus. Regenschutzhosen, Turnschuhe, Sweatshirt, Unterwäsche, Strümpfe. Aus seiner Hosentasche ein weißer, weicher Stein, der als Kreide gedient hat.
Juliane steht in der Tür und weint.
»Ich habe nur die Windeln weggeschmissen.«
Einmal im Monat, wenn auch seine Höhenangst zunahm, benutzte Jesaja ein paar Tage lang eine Windel. Einmal habe ich selbst welche für ihn gekauft.
»Wo ist sein Messer?«
Sie weiß es nicht.
Auf dem Fensterbrett steht, ein kostbarer Ausruf in die Gedämpftheit des Zimmers, ein Schiffsmodell. Auf dem Sockel steht: ›Motorschiff Johannes Thomsen der Kryolithgesellschaft Dänemark‹.
Ich habe noch nie versucht herauszubekommen, wie Juliane sich eigentlich über Wasser gehalten hat.
Ich lege den Arm um ihre Schultern.
»Juliane«, sage ich. »Würdest du mir bitte deine Papiere zeigen.«
Wir anderen haben eine Schublade, eine Mappe, eine Klarsichthülle. Juliane hat sieben fettige Briefumschläge, in denen sie die gedruckten Zeugnisse ihres Daseins aufbewahrt. Für viele Grönländer ist die schriftliche die schwerste Seite von Dänemark. Die staatsbürokratische Papierfront aus Anträgen, Formularen und Schriftwechseln mit der jeweils zuständigen Behörde. Die Tatsache, daß selbst eine fast analphabetische Existenz wie die von Juliane einen solchen Berg von Papier eingebracht hat, entbehrt nicht einer feinen und zarten Ironie.
Die kleinen Zettel mit den Terminen für das Alkoholambulatorium Sundholm, Geburtsurkunde, fünfzig Gutscheine vom Bäcker am Christianshavn Torv, die bei fünfhundert Kronen einen kostenlosen Kuchen einbringen. Kontrollkarten vom Rudolph-Bergh-Institut für sexuell übertragbare Krankheiten. Alte Steuerkarten, Kontoauszüge von der Sparkasse. Eine Fotografie von Juliane bei Sonnenschein im Kongens Have. Krankenversicherungskarte, Paß, Inkassoauszüge von den Elektrizitätswerken. Briefe von Ribers Kreditauskunftei. Ein Bündel dünne Blätter, die aussehen wie Gehaltsstreifen und aus denen hervorgeht, daß Juliane jeden Monat 9400 Kronen Pension bezieht. Ganz unten in dem Haufen liegt ein Bündel Briefe. Ich habe es nie über mich bringen können, Briefe anderer Leute zu lesen. Die private Post überspringe ich also. Ganz unten liegen die offiziellen, maschinenschriftlichen Bescheide. Ich will sie schon zurücklegen, da sehe ich ihn.
Einen sonderbaren Brief. ›Hiermit teilen wir Ihnen mit, daß der Aufsichtsrat der Kryolithgesellschaft Dänemark auf seiner letzten Sitzung beschlossen hat, Ihnen als Witwe von Norsaq Christiansen eine Witwenpension zuzuerkennen. Sie erhalten eine Pension von monatlich 9000 Kronen, die an den Index der Lebenshaltungskosten angeglichen wird.‹ Unterzeichnet ist der Brief im Namen des Aufsichtsrats mit ›E. Lübing, Leiterin der Buchhaltung‹.
Daran ist erst mal nichts Seltsames. Aber als der Brief fertig war, hat ihn jemand um neunzig Grad gedreht. Und mit Füller schräg an den Rand geschrieben: ›Es tut mir so leid. Elsa Lübing‹.
Aus den Randnotizen kann man etwas über seine Mitmenschen erfahren. Über Fermats verschwundenen Beweis wurde viel nachgegrübelt. In einem Buch, in dem es um die nie bewiesene Behauptung ging, daß man eine Quadratzahl oft in der Summe von zwei anderen Quadratzahlen auflösen könne, daß dies jedoch bei ganzzahligen Exponenten, die größer als zwei sind, nicht möglich sei, hatte Fermat am Rand hinzugefügt: ›Für diesen Satz habe ich einen wirklich wunderbaren Beweis gefunden. Leider ist der Rand zu schmal dafür.‹
Vor zwei Jahren hat im Büro der Kryolithgesellschaft Dänemark eine Dame gesessen und einen äußerst korrekten Brief diktiert. Er hält alle Formalitäten ein, enthält keine Tippfehler und ist überhaupt, wie es sich gehört. Danach hat man ihn ihr zum Durchlesen gegeben, sie hat ihn gelesen und unterschrieben. Dann hat sie einen Augenblick dagesessen. Und dann das Papier gedreht und geschrieben: ›Es tut mir so leid.‹
»Wie ist er gestorben?«
»Norsaq? Er war bei einer Expedition an die Westküste dabei. Es war ein Unfall.«
»Was für ein Unfall?«
»Er hat etwas gegessen, was er nicht vertragen hat. Glaube ich.«
Sie sieht mich hilflos an. Die Menschen sterben eben. Man kommt nicht weiter, wenn man darüber nachgrübelt, wie oder weshalb.
»Für uns ist der Fall abgeschlossen.«
Ich habe den Nagel am Telefon. Ich habe Juliane ihren Gedanken überlassen, die sich jetzt wie Plankton in einem Meer aus süßem Wein bewegen. Vielleicht hätte ich bei ihr bleiben sollen. Aber ich bin keine Seelsorgerin. Ich kann ja kaum für mich selbst sorgen. Außerdem habe ich meine eigenen Zwangsvorstellungen, die mich das Polizeipräsidium haben anrufen lassen. Ich werde mit Abteilung A verbunden. Die mir erzählt, daß der Kriminalkommissar noch im Büro ist. Nach seiner Stimme zu urteilen, ist er das bereits viel zu lange.
»Der Totenschein ist heute nachmittag um vier unterschrieben worden.«
»Und die Spuren?« frage ich.
»Wenn Sie gesehen hätten, was ich gesehen habe, oder wenn Sie selber Kinder hätten, dann wüßten Sie, daß sie vollkommen unzurechnungsfähig und unberechenbar sind.«
Bei dem Gedanken an die Sorgen, die ihm seine Gören gemacht haben, geht seine Stimme in ein Knurren über.
»Hier geht es natürlich auch bloß um einen Scheißgrönländer«, sage ich.
Am anderen Ende wird es still. Der Kommissar ist ein Mann, der auch nach einem langen Arbeitstag noch genug Reserven hat, um den Thermostat auf schnelles Einfrieren stellen zu können.
»Nun will ich Ihnen verdammt noch mal was sagen. Wir machen keinen Unterschied, verstehen Sie? Ob da ein Pygmäe heruntergefallen ist oder ein siebenfacher Mörder oder ein Sittlichkeitsverbrecher, wir ziehen die Sache durch. Verstehen Sie? Ich habe mir den Bericht der Gerichtsmediziner geholt. Nichts spricht dafür, daß das hier kein Unglücksfall war. Ein tragischer, ja, aber einer von denen, wie wir sie hundertfünfundsiebzigmal im Jahr haben.«
»Ich werde mich beschweren.«
»Tun Sie das.«
Dann legt er auf. Ich habe natürlich nicht vor, mich zu beschweren. Aber ich habe schließlich auch einen harten Tag hinter mir.
Ich weiß ja, daß die Polizei viel zu tun hat. Ich verstehe ihn schon. Alles, was er gesagt hat, habe ich sehr gut verstanden.
Bis auf eins. Als ich vernommen wurde, vorgestern, habe ich auf einige Fragen geantwortet und auf einige nicht. Eine davon war die nach dem ›Personenstand‹.
»Das geht Sie einen Dreck an«, habe ich zu dem Polizisten gesagt. »Es sei denn, Sie hätten Interesse an einer Verabredung.«
Demnach sollte die Polizei also eigentlich nichts über mein Privatleben wissen. Woher, frage ich mich, hat der Nagel nun gewußt, daß ich keine Kinder habe? Die Frage kann ich nicht beantworten.
Es ist nur eine kleine Frage. Aber wenn es sich um eine alleinstehende und wehrlose Frau handelt, will die ganze Welt sofort wissen, warum sie, wenn sie in meinem Alter ist, keinen Mann und ein paar bezaubernde kleine Purzel hat. Mit der Zeit wird man auf diese Frage allergisch.
Ich hole ein paar Blatt Unliniertes und einen Umschlag und setze mich an den Eßtisch. Ganz oben schreibe ich: ›Kopenhagen, d. 19. Dezember 1993. An die Staatsanwaltschaft Kopenhagen. Mein Name ist Smilla Jaspersen. Ich bitte Sie, diesen Brief als Beschwerde zu behandeln.‹
6Er sieht aus wie Ende Vierzig, ist aber zwanzig Jahre älter. Er trägt einen schwarzen Thermotrainingsanzug, Spikes, eine amerikanische Baseballmütze und fingerlose Lederhandschuhe. Aus der Brusttasche holt er eine kleine braune Medizinflasche, die er mit einer geübten, fast diskreten Bewegung leert. Es ist Propranolol, ein Betablocker, der die Herzschlaggeschwindigkeit senkt. Er öffnet die eine Hand und sieht sie an. Sie ist groß und weiß, gepflegt und ganz ruhig. Er sucht sich einen Schläger Nummer eins heraus, einen Driver, taylormade, mit einem polierten, glockenförmigen Kopf aus Palisander. Er legt ihn an den Ball und holt aus. Als er zuschlägt, hat er alle Kraft und seine ganzen 85 Kilo auf einen Punkt von der Größe einer Briefmarke konzentriert, der kleine gelbe Ball scheint sich förmlich aufzulösen und zu verschwinden. Er kommt erst wieder zum Vorschein, als er auf dem Green landet, ganz außen, am Rand des Gartens, wo er sich gehorsam in die Nähe der Fahne legt.
»Caymanbälle«, sagt er. »Von McGregor. Früher habe ich immer Probleme mit den Nachbarn gehabt. Die hier machen nur die halbe Strecke.«
Der Mann ist mein Vater, diese Show hat er mir zu Ehren abgezogen, und ich durchschaue sie, sehe sie als das, was sie wirklich ist: die Bitte eines kleinen Jungen um Liebe. Ich denke nicht eine Sekunde lang daran, sie ihm zu schenken.
Von da aus betrachtet, wo ich stehe, gehört die ganze Bevölkerung Dänemarks zur Mittelschicht. Wirklich Arme und wirklich Reiche gibt es nur wenige, sie sind absolute Exoten.
Ich habe das Glück, einen Teil der Armen zu kennen, alldieweil ein Großteil von ihnen Grönländer sind.
Zu den richtig Wohlhabenden gehört mein Vater.
Er hat im Hafen von Rungsted eine 67-Fuß-Swan mit drei Mann fester Besatzung liegen. Er hat seine eigene kleine Insel an der Einfahrt zum Isefjord, wo er sich in seine norwegische Blockhütte zurückziehen und zu unbefugt herumstrolchenden Touristen sagen kann, ab geht’s, verzieht euch. Er besitzt als einer der ganz wenigen in Dänemark einen Bugatti und hat einen Mann angestellt, der ihn poliert und die zwei Mal im Jahr, die er im Oldtimerrennen des Bugattiklubs an den Start geht, das Konsistenzfett in den Lagern mit einem Bunsenbrenner erhitzen muß. Den Rest des Jahres begnügt er sich damit, ab und zu die Platte aufzulegen, die der Klub herausgegeben hat und auf der man hört, wie eins von diesen herrlichen Fahrzeugen mit der Handkurbel gestartet und gehätschelt und dann das Gaspedal durchgetreten wird.
Und er hat dieses Haus, das weiß wie Schnee ist, mit weißverputzten Zementziermuscheln, einem Dach aus Naturschiefer und einer gewundenen Treppe zum Eingang hinauf. Mit Rosenbeeten in einem Vorgarten, der zum Strandvej hin steil abfällt, und einem Garten hinter dem Haus, der für einen Neunlochübungsplatz groß genug gewesen ist und jetzt, wo er die neuen Bälle bekommen hat, gerade noch ausreicht.
Er hat sein Geld mit Spritzen verdient.
Er ist noch nie jemand gewesen, der irgendwelche Auskünfte über sich hat durchsickern lassen. Wen es interessiert, der kann im Blauen Buch, dem dänischen Who is Who, nachschlagen und nachlesen, daß er mit dreißig Chefarzt wurde, Dänemarks ersten Lehrstuhl für Anästhesiologie erhielt, als er eingerichtet wurde, und die Krankenhäuser fünf Jahre später verließ, um sich, wie es so schön heißt, seiner Privatpraxis zu widmen. Dann ist er mit seiner Berühmtheit auf Reisen gegangen. Nicht auf die Walz, sondern mit Privatflugzeugen. Er hat den Großen der Welt Spritzen verpaßt. Er hat bei den ersten, bahnbrechenden Herzoperationen in Südafrika für die Narkose gesorgt. Er war mit der amerikanischen Ärztedelegation in der Sowjetunion, als Breschnew starb. Ich habe jemanden sagen hören, es sei mein Vater gewesen, der mit seinen langen Kanülen gewedelt und in den letzten Wochen Breschnews Tod hinausgeschoben habe.
Er sieht aus wie ein Hafenarbeiter und pflegt diesen Eindruck diskret, indem er ab und zu seinen Bart stehenläßt. Einen Bart, der jetzt grau ist, aber einmal blauschwarz war und noch immer zweimal am Tag eine Naßrasur braucht, um gepflegt auszusehen.
Seine Hände sind unfehlbar sicher. Mit ihnen kann er mit einer 150-mm-Kanüle retroperitonal durch die Flanke und durch die tiefen Rückenmuskeln bis an die Aorta gehen. Dort klopft er mit der Nadelspitze leicht an die große Pulsader, um sicher zu sein, daß er dran ist, und geht dann dahinter und legt an dem großen Nervenplexus ein Depot aus Lidocain an. Das Zentralnervensystem steuert den Tonus der Blutadern. Er hat eine Theorie, daß er mit dieser Blockade etwas gegen die Kreislaufinsuffizienz in den Beinen übergewichtiger Reicher ausrichten kann.
Während der Injektion ist er so konzentriert, wie es ein Mensch überhaupt nur sein kann. Er denkt an nichts anderes, nicht einmal an die Rechnung über 10 000 Kronen, die seine Sekretärin gerade ausstellt und die vor dem 1. Januar zu begleichen ist, und Frohe Weihnachten und ein gesundes neues Jahr, der nächste, bitte.
Die letzten fünfundzwanzig Jahre hat er zu den zweihundert Golfspielern gehört, die um die letzten fünfzig Eurocards kämpfen. Er lebt mit einer Ballettänzerin zusammen, die dreizehn Jahre jünger ist als ich und ihn anschaut, als lebe sie nur in der Hoffnung, daß er ihr das Tüllröckchen und die Ballettschuhe vom Leibe reißt.
Mein Vater ist also ein Mann, der alles hat, was sich mit Händen greifen läßt. Und das meint er mir hier auf dem Platz denn auch zu zeigen. Daß er alles hat, was das Herz begehrt. Sogar die Betablocker, die er die letzten zehn Jahre genommen hat, um ruhige Hände zu haben, sind im großen und ganzen ohne Nebenwirkungen.
Wir gehen auf geharkten Kieswegen um das Haus, der Gärtner Sørensen hat die Rasenkanten im Sommer wieder mit der Friseurschere bearbeitet, und man muß aufpassen, daß man sich nicht die bloßen Füße daran schneidet. Ich trage einen Seehundspelz über einer Kombination aus bestickter Wolle mit Reißverschluß. Von außen betrachtet sind wir Vater und Tochter, voller Vitalität und strotzend vor Kraft. Bei näherem Hinsehen jedoch sind wir nur eine über zwei Generationen verteilte banale Tragödie.
Das Wohnzimmer hat Dielen aus Mooreiche und eine in rostfreien Stahl gefaßte Spiegelglaswand, die auf das Vogelbad, die Rosensträucher und das soziale Gefälle bis hinunter zum Strandvej hinausgeht. Am Kamin steht in Trikot und dicken Wollsocken Benja, sie streckt ihre Fußmuskulatur und ignoriert mich. Sie ist blaß und hübsch und sieht ungezogen aus wie eine Elfe, die Stripperin geworden ist.
»Brentan«, sage ich.
»Wie bitte?«
Sie spricht betont deutlich, wie sie es an der Königlichen Theaterschule gelernt hat.
»Für die schlimmen Füße, mein Schatz, Brentan gegen Fußpilz. Gibt es jetzt ohne Rezept.«
»Das ist kein Pilz«, sagt sie kalt. »Den kriegt man ja wohl erst in deinem Alter.«
»Auch Minderjährige, mein Schatz. Vor allem Leute, die viel trainieren. Und er breitet sich leicht zum Schritt hin aus.«
Sie zieht sich fauchend in die angrenzenden Räume zurück. Sie hat viel bullige Kraft, aber sie hat auch eine behütete Jugend gehabt und schnell Karriere gemacht. Noch hat sie die Widrigkeiten des Daseins nicht erlebt, die notwendig sind, um eine Psyche zu entwickeln, die immer wieder kontern kann.
Señora Gonzales serviert den Tee an einem Sofatisch, der aus einer über einen glatten Marmorblock gelegten, siebzig Millimeter dicken Glasplatte besteht.
»Es ist lange her, Smilla.«
Er redet ein bißchen von seinen neuen Gemälden, von seinen Erinnerungen, an denen er schreibt, und davon, was er auf dem Flügel übt. Er schindet Zeit, um sich auf die Wucht des Schlages vorzubereiten, der auf ihn niedersausen wird, wenn ich ein Anliegen vorbringe, das nichts mit ihm zu tun hat. Er ist dankbar dafür, daß ich ihn reden lasse. In Wirklichkeit aber machen wir uns nichts vor.
»Erzähl mir von Johannes Loyen«, sage ich.
Mein Vater war Anfang Dreißig, als er nach Grönland kam und meine Mutter kennenlernte.
Der Polareskimo Aisivak erzählte Knud Rasmussen, daß die Welt am Anfang nur von zwei Männern bewohnt gewesen sei, die beide große Zauberer waren. Da sie gern zahlreicher werden wollten, habe der eine seinen Körper so umgemodelt, daß er gebären konnte; und danach hätten die beiden viele Kinder gezeugt.
In den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts registrierte der grönländische Katechet Hanseeraq im Tagebuch der Brüdergemeinde, Diarium Friedrichstal, mehrere Fälle von Frauen, die wie Männer jagten. Beispiele dafür gibt es auch in Rinks Sagensammlung und in den Nachrichten aus Grönland, Meddelelser fra Grønland. Besonders verbreitet war das wohl nie, doch es kam vor. Die Ursache waren Frauenüberschuß, Todesfälle, Not und das in Grönland selbstverständliche Wissen, daß beide Geschlechter das jeweils andere als Möglichkeit in sich tragen.
In der Regel aber mußten sich die Frauen dann wie Männer kleiden und auf ein Familienleben verzichten. Einen Geschlechtswechsel konnte das Kollektiv ertragen, einen fließenden Übergangszustand jedoch nicht.
Bei meiner Mutter war das anders. Sie lachte, gebar ihre Kinder, tratschte hinter dem Rücken ihrer Freunde und reinigte die Felle wie eine Frau. Und zugleich schoß sie, fuhr Kajak und schleppte das Fleisch nach Hause wie ein Mann.
Als sie ungefähr zwölf war, ging sie mit ihrem Vater im April aufs Eis. Er schoß auf einen uuttoq, einen Seehund, der sich auf dem Eis sonnte. Er schoß vorbei. Bei anderen Männern hätte man sich für diesen Patzer verschiedene Gründe denken können. Bei meinem Großvater gab es nur einen. Daß sich etwas Nichtwiedergutzumachendes anbahnte. Es war die Verkalkung des Sehnervs. Nach einem Jahr war er vollkommen blind.
An diesem Tag im April, als ihr Vater weiterging, um nach einer Langleine zu sehen, blieb meine Mutter stehen. Auf dem Eis hatte sie Zeit, an ihren verschiedenen Zukunftsmöglichkeiten herumzukauen. Es gab die Sozialhilfe, die in Grönland zwar heute noch unter dem Existenzminimum liegt, damals aber ein unfreiwilliger Witz war. Oder den Hungertod, der keineswegs ungewöhnlich war. Oder ein Leben, bei dem man sich auf Verwandte stützen mußte, die selber nicht klarkamen.
Als der Seehund wieder hochkam, schoß sie ihn.
Bis dahin hatte sie mit der Pilkschnur Seeskorpione und schwarzen Heilbutt geangelt. Mit diesem Seehund wurde sie Robbenfängerin.
Ich glaube, daß sie nur selten einen Schritt zurücktrat und ihre Rolle von außen betrachtete. Einmal zelteten wir im Sommerlager bei Atikerluk, einem Fjäll, auf dem im Sommer Krabbentaucher einfallen, schwarze Vögel mit weißen Köpfen, und es sind so viele, daß man sich von der Menge nur einen Begriff machen kann, wenn man sie gesehen hat. Sie überschreitet alles Meßbare.
Wir waren von Norden gekommen, wo wir von kleinen Dieselkuttern aus Narwale gefangen hatten. An einem Tag hatten wir acht Tiere erwischt, teils weil das Eis sie in ein begrenztes Gebiet eingeschlossen hatte, teils weil die drei Boote den Kontakt zueinander verloren hatten. Acht Narwale, das ist zu viel Fleisch, selbst für Hundefutter. Viel zuviel Fleisch.
Der eine Wal war ein schwangeres Weibchen. Die Brustwarze sitzt direkt über der Geschlechtsöffnung. Als meine Mutter mit einem einzigen Schnitt die Bauchhöhle öffnete, um die Eingeweide herauszunehmen, rutschte ein anderthalb Meter langes, engelweißes und vollständig fertiges Junges aufs Eis.
Ungefähr vier Stunden lang standen die Walfänger fast schweigend da, sahen in die Mitternachtssonne, die zu dieser Jahreszeit das Licht endlos macht, und aßen mattak, Walhaut. Ich bekam nicht einen Bissen hinunter.
Eine Woche später liegen wir beim Vogelfjäll und haben seit vierundzwanzig Stunden nichts gegessen. Man muß, das ist die Technik, mit der Landschaft verschmelzen, warten und den Vogel dann mit einem großen Kescher fangen. Beim zweiten Versuch erwischte ich drei.
Es waren Weibchen, die auf dem Weg zu ihren Jungen waren. Sie brüten in Löchern an den Steilhängen. Von dort her machen die Jungen einen höllischen Lärm. Die Mütter verstecken die Würmer, die sie finden, in einer Art Schnabeltasche. Man tötet sie, indem man ihnen aufs Herz drückt. Drei Vögel hatte ich.
Es war nicht das erste Mal, davor hatte es viele andere Male gegeben. So viele Vögel. Getötet, in Lehm gebacken und gegessen, es waren so viele, daß ich mich an die Zahl nicht mehr erinnern kann. Und trotzdem sehe ich jetzt plötzlich ihre Augen als Tunnel, an deren Ende die Jungen warten, und die Augen dieser Jungen sind ebenfalls Tunnel, an deren Ende das Narwaljunge ist, dessen Blick wiederum nach innen und weg führt. Ganz langsam drehe ich den Kescher um, in einer kurzen Lärmexplosion steigen die Vögel in die Luft.
Meine Mutter sitzt ganz still direkt neben mir. Sie schaut mich an, als sähe sie etwas zum erstenmal.
Ich weiß nicht, was mich zurückhielt. Mitleid ist in der Arktis keine Qualität, sondern eher eine Art Fühllosigkeit, das fehlende Gespür für die Tiere, die Umgebung und das jeweils Notwendige.
»Smilla«, sagt sie, »ich habe dich im amaat getragen.«
Es ist Mai, ihre Haut hat einen dunkelbraunen, tiefen Glanz, wie ein Dutzend Firnisschichten. Sie trägt goldene Ohrringe und um den Hals eine Kette mit zwei Kreuzen und einem Anker. Das Haar hat sie im Nacken zum Knoten aufgesteckt, sie ist groß und schön. Noch jetzt ist sie, wenn ich an sie denke, für mich die schönste Frau, die ich je gesehen habe.
Ich muß um die fünf Jahre alt sein. Ich weiß nicht genau, was sie damit sagen will, doch zum erstenmal verstehe ich, daß wir vom selben Geschlecht sind.
»Trotzdem«, sagt sie, »bin ich stark wie ein Mann.«
Sie hat ein rot-schwarz kariertes Baumwollhemd an, krempelt einen Ärmel auf und zeigt mir ihren Unterarm, der so breit und hart ist wie ein Paddel. Dann knöpft sie langsam das Hemd auf. »Komm, Smilla«, sagt sie ruhig. Sie küßt mich nie und faßt mich nur selten an. Doch in Augenblicken großer Vertrautheit läßt sie mich die Milch trinken, die immer noch da ist, unter der Haut ist wie das Blut. Sie spreizt die Beine, damit ich dazwischentreten kann. Wie die anderen Jäger trägt sie Bärenfellhosen, die nur notdürftig gegerbt sind. Sie liebt Asche, sie ißt sie zuweilen direkt aus dem Feuer und hat sich damit jetzt unter den Augen eingeschmiert. In diesem Duft aus verbrannter Kohle und Bärenfell gehe ich zu ihrer Brust, sie ist leuchtend weiß und hat eine große, zartrosa Aureole, und ich trinke dann immuk, die Milch meiner Mutter.
Später hat sie mir einmal zu erklären versucht, daß in einem Monat dreitausend Narwale in derselben Bucht versammelt sind und das Wasser vor Leben kocht, und im nächsten Monat hat das Eis sie eingeschlossen, und sie sind erfroren. Daß es im Mai und im Juni so viele Krabbentaucher gibt, daß sie die Klippen schwarz färben, und im nächsten Monat eine halbe Million Vögel verhungert ist. Auf die ihr eigene Art und Weise will sie zeigen, daß dem Leben der arktischen Tiere schon immer eine extreme Fluktuation der Populationen zugrunde liegt. Und daß in diesem Auf und Ab das, was wir uns nehmen, weniger als nichts bedeutet.
Ich verstand sie, ich verstand jedes Wort. Damals und später. Doch es änderte nichts. Im Jahr darauf – es war das Jahr, bevor sie verschwand – wurde mir beim Fischen übel. Ich muß etwa sechs gewesen sein. Nicht alt genug, um über die Ursache nachzugrübeln. Aber alt genug, um zu verstehen, daß es sich um eine Naturentfremdung handelte. Daß mir ein Teil der Natur nicht mehr so selbstverständlich zugänglich war wie zuvor. Vielleicht fing ich bereits damals an, das Eis verstehen zu wollen. Verstehen wollen heißt, daß wir etwas zurückzuerobern versuchen, was wir verloren haben.
»Professor Loyen ...«
Er spricht den Namen mit dem Interesse und dem gewappneten Respekt aus, mit dem ein Brontosaurus den anderen betrachtet und immer betrachtet hat.
»Sehr tüchtiger Mann.«
Er läßt seine weiße Handfläche über Wange und Kinn gleiten. Es ist eine genau einstudierte Bewegung, die ein Geräusch macht, wie wenn man mit einer Schruppfeile ein Stück Treibholz raspelt.
»Institut für Arktische Medizin, das hat er aufgebaut.«
»Und welches Interesse hat er an der Gerichtsmedizin? Er hat sich als Obduzent für Grönland einsetzen lassen.«
»Ursprünglich ist er Gerichtspathologe. Aber er nimmt alles mit, womit er sich verdient machen kann. Er meint wohl, daß das nach oben führt.«
»Was treibt ihn?«
Hier kommt eine Pause. Den größten Teil seines Lebens hat mein Vater den Kopf unter dem Arm getragen. Auf seine alten Tage jedoch beschäftigen ihn die Motive der Leute sehr.
»In meiner Generation gibt es drei Arten von Ärzten. Einmal die, die als Oberärzte hängenbleiben oder in einer Privatpraxis landen. Es sind viele großartige Leute darunter. Dann die, die sich habilitieren, was – wie du weißt – die willkürliche, lächerliche und vollkommen unzulängliche Bedingung dafür ist, daß man im System nach oben befördert wird. Diese Leute enden als Chefärzte. Alles kleine Könige in der jeweiligen medizinischen Lokalszene. Und dann gibt es noch die dritte Sorte. Das sind wir, die hochgeklettert und hoch hinaus gekommen sind.«
Er sagt das ohne jede Spur von Selbstironie. Man könnte meinen Vater durchaus dazu bringen, allen Ernstes zu erklären, eines seiner Probleme sei, daß er von sich nicht halb so eingenommen sei, wie er es mit guten Gründen hätte sein können.
»Diese letzten Schwimmzüge verlangen einem eine besondere Kraft ab. Es braucht dazu einen starken Willen, einen Ehrgeiz. Nach Geld. Oder Macht. Oder vielleicht Einsicht. In der Geschichte der Medizin hat man dieses Streben immer durch das Feuer abgebildet. Die ewige Flamme des Alchimisten unter der Retorte.«
Er sieht vor sich hin, als halte er eine Spritze in der Hand, als habe die Nadel ihre Stelle fast gefunden.