Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Kasper Krone ist der berühmteste Clown Europas - und er hat ein phänomenales Gehör. Als eines Tages das Mädchen KlaraMaria - von der eine eigenartige Stille ausgeht - verschwindet, ahnt er, dass etwas Entsetzliches geschehen wird, wenn er sie nicht sucht und befreit. Autojagden, Fensterstürze, eine Flucht durch das Kopenhagener Kanalisationssystem und eine Naturkatastrophe: Peter Høeg ist ein Meister der Spannungsliteratur. Doch er erzählt auch von der Suche nach Weisheit und dem Sinn des Lebens - und von der großen Liebe.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 599
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Kasper Krone ist der berühmteste Clown Europas — und er hat ein phänomenales Gehör. Als eines Tages das Mädchen KlaraMaria — von der eine eigenartige Stille ausgeht — verschwindet, ahnt er, dass etwas Entsetzliches geschehen wird, wenn er sie nicht sucht und befreit. Autojagden, Fensterstürze, eine Flucht durch das Kopenhagener Kanalisationssystem und eine Naturkatastrophe: Peter Høeg ist ein Meister der Spannungsliteratur. Doch er erzählt auch von der Suche nach Weisheit und dem Sinn des Lebens - und von der großen Liebe.
Peter Høeg
Das stille Mädchen
Roman
Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle
Carl Hanser Verlag
Gott die Herrin hatte einen jeglichen Menschen in seiner eigenen Tonart gestimmt, und Kasper konnte sie heraushören. Am besten in den kurzen, ungeschützten Augenblicken, in denen sie schon in seiner Nähe waren, aber noch nicht ahnten, daß er lauschte. Deshalb wartete er am Fenster, auch jetzt.
Es war kalt. So kalt, wie es nur in Dänemark kalt werden konnte, und auch nur im April. Wenn die Leute in geistesverwirrter Verzückung über das Licht die Heizung ausgestellt, den Pelz beim Kürschner abgegeben, die langen Unterhosen vergessen hatten und ausgegangen waren. Und viel zu spät bemerkten, daß die Temperatur auf den Gefrierpunkt gefallen war, die Luftfeuchtigkeit neunzig Prozent betrug, der Wind aus Norden blies und Stoff und Haut durchdrang und sich ums Herz legte und es mit sibirischer Tristesse erfüllte.
Der Regen war kälter als Schnee und fein, dicht und grau wie ein Seidenvorhang. Durch diesen Vorhang rollte ein langer schwarzer Volvo mit getönten Scheiben heran. Dem Auto entstiegen ein Mann, eine Frau und ein Kind. Der Auftakt war verheißungsvoll.
Der Mann war groß und breit und schien gewohnt, seinen Willen durchzusetzen und seinen Mitmenschen, falls er ihn einmal nicht durchsetzen konnte, den Kopf zurechtzurücken. Die Frau war blond wie ein Gletscher, glich einem one million dollar baby und sah aus, als wäre sie clever genug gewesen, die Million selbst verdient zu haben. Das Mädchen trug teure Sachen und hatte Würde. Die Szene ähnelte dem Auszug der heiligen und hochvermögenden Familie.
Als sie etwa die Mitte des Hofs erreicht hatten, gewann Kasper einen ersten Eindruck von ihrer Tonart. Es war ein d-Moll in seiner schlimmsten Form. Wie in der Toccata und Fuge in d-Moll. Mächtige, schicksalsschwangere Säulen aus Musik.
Dann erkannte er das Mädchen. Zeitgleich mit dem Wiedererkennen trat die Stille ein.
Sie währte kurz, vielleicht eine Sekunde, vielleicht nicht einmal das. Aber während sie andauerte, riß sie die Mauern der Wirklichkeit nieder. Sie beseitigte den Hof, die Übungsmanege, Daffys Büro, das Fenster. Das schlechte Wetter. Den April. Dänemark. Die Gegenwart.
Dann war sie vorbei. Als hätte es sie nie gegeben.
Er hatte sich am Türrahmen festgehalten. Es mußte sich eine natürliche Erklärung finden lassen. Unwohlsein hatte ihn ergriffen. Ein Blackout. Ein vorübergehender Blutpfropf. Niemand verbringt ungestraft zwei Nächte hintereinander von zehn Uhr abends bis acht Uhr morgens am Kartentisch. Oder war es ein Beben gewesen? Die ersten großen Erdbeben hatte man sogar hier draußen spüren können.
Vorsichtig blickte er sich um. Daffy saß hinter ihm am Schreibtisch, als wäre nichts geschehen. Auf dem Hof kämpften die drei Menschen gegen den Wind an. Die Erde hatte nicht gebebt. Es war etwas anderes gewesen.
Talent ist die Fähigkeit, die Spreu vom Weizen zu trennen. Im Aussondern hatte er 25 Jahre Erfahrung. Ein Wort, und Daffy würde seine Anwesenheit leugnen.
Er öffnete die Tür und streckte ihnen die Hand entgegen.
»Avanti«, sagte er. »Kasper Krone. Herzlich willkommen!«
In dem Moment, in dem die Frau seine Hand ergriff, begegnete er dem Blick des Mädchens. Ganz schwach, nur für ihn wahrnehmbar, schüttelte es den Kopf.
Er begleitete sie in den Übungssaal, sie blieben stehen und sahen sich um. Ihre Sonnenbrillen waren ausdruckslos, aber ihr Klang war angespannt. Sie hatten mehr Finesse erwartet. Etwas in der Art des Großen Saals, in dem das Königliche Ballett repetiert. Etwas wie die Empfangsräume im Schloß Amalienborg. Mit Merbauholz und sanften Farben und vergoldeten Paneelen.
»Sie heißt KlaraMaria«, sagte die Frau. »Sie ist nervös. Sie ist angespannt. Sie wurden uns vom Bispebjerg Krankenhaus empfohlen. Von der Kinderpsychiatrie.«
Selbst im System eines geübten Lügners ruft die Lüge ein feines Schnarren hervor. Auch bei ihr. Das Mädchen blickte zu Boden.
»Es kostet zehntausend pro Sitzung«, sagte er.
Das war die Eröffnung. Protestierten sie, käme ein Dialog in Gang. Und er hätte die Möglichkeit, sich tiefer in ihre Systeme hineinzuhorchen.
Sie protestierten nicht. Der Mann zog eine Brieftasche hervor. Sie entfaltete sich wie der Balg eines Akkordeons. Kasper hatte solche Brieftaschen bei den Roßhändlern gesehen, als er noch auf Märkten auftrat. In dieser hier hätte jedenfalls ein kleines Pferd Platz finden können, sagen wir ein Fallabella. Ihr entstiegen zehn steife, druckfrische Tausendkronenscheine.
»Ich muß Sie leider um zwei Sitzungshonorare im voraus bitten«, sagte er. »Auf Anweisung meines Finanzberaters.«
Zehn weitere Scheine wurden zutage gefördert.
Er zog eine seiner alten Visitenkarten aus der Tasche, in Stahlstichdruck, und den Füllfederhalter.
»Übrigens hat gerade jemand abgesagt«, sagte er, »zufälligerweise. Ich könnte sie dazwischenschieben. Ich muß sowieso erst den Muskeltonus und den Körperrhythmus untersuchen. Das dauert keine zwanzig Minuten.«
»In den nächsten Tagen«, sagte die Frau.
Er schrieb seine Telefonnummer auf die Karte.
»Und ich muß dabeisein«, sagte sie.
Er schüttelte den Kopf.
»Tut mir leid. Nicht, wenn man so intensiv mit den Kindern arbeitet.«
Es geschah etwas im Raum, die Temperatur fiel, die Anzahl der Schwingungen sank, alles erstarrte.
Er schloß die Augen. Als er sie wieder öffnete, nach fünfzehn Sekunden, lagen die Banknoten noch da. Er nahm sie an sich, ehe es zu spät war.
Sie drehten sich um. Gingen durch das Büro hinaus. Daffy hielt ihnen die Eingangstür auf. Sie überquerten den Hof, ohne zurückzublicken. Setzten sich in den Wagen. Der Wagen rollte in den Regen hinaus und verschwand.
Er lehnte seine Stirn an die kalte Scheibe. Er wollte den Füller in die Tasche stecken, in die warme Tasche zu dem Geld. Es war weg.
Vom Schreibtisch her kam ein Geräusch. Ein Rischeln. Wie wenn man ein neues Kartenspiel von Piaget mischt. Vor Daffy, auf der Tischplatte, lag der niedrige, mahagonibraune Stapel frischer Banknoten.
»In deiner rechten Außentasche«, sagte der Verwalter, »stecken noch zweihundert Kronen. Für eine Rasur. Und eine warme Mahlzeit. Eine Nachricht ist auch noch drin.«
Die Nachricht war auf einer Spielkarte notiert, der Pikzwei. Auf der Rückseite stand, mit seinem eigenen Füller geschrieben: »Reichskrankenhaus. Aufgang 52.03. Nach Vivian fragen. Daffy.«
In dieser Nacht schlief er im Stall.
Es waren einige zwanzig Tiere dageblieben, Pferde und ein Kamel, die meisten waren alt oder wertlos. Der Rest war noch für die Wintersaison bei französischen oder süddeutschen Zirkussen.
Er hatte seine Geige dabei. Er legte das Laken und die Bettdecke in die Box zu Roselil, halb Berber, halb Araber. Sie war hiergeblieben, weil sie ausschließlich ihrem Kunstreiter gehorchte. Und nicht einmal ihm richtig.
Er spielte die Partita in a-Moll. Eine einsame Birne an der Decke warf ein weiches, goldenes Licht auf die lauschenden Tiere. Die spirituellsten Menschen stehen den Tieren am nächsten, hatte er bei Martin Buber gelesen. Ebenso bei Meister Eckhart. In Das Reich Gottes ist nahe. Gott soll man bei den Tieren suchen. Er dachte an das Mädchen.
Im Alter von etwa neunzehn Jahren, in der Zeit seines endgültigen Durchbruchs, hatte er entdeckt, daß mit der Fähigkeit, einen Zugang zur akustischen Essenz der Menschen zu finden, Geld zu machen war — besonders, wenn es sich um Kinder handelte. Er hatte sofort Kapital daraus geschlagen. Nach zwei Jahren hatte er zehn Privatschüler am Tag, genauso viele wie Bach in Leipzig.
Es waren Tausende von Kindern gewesen. Spontane Kinder, zerstörte Kinder, Wunderkinder, katastrophale Kinder.
Am Schluß kam das Mädchen.
Er legte die Violine in den Kasten, den er in seine Arme schloß wie eine stillende Mutter ihr Kind. Das Instrument kam aus Cremona, eine Guarneri, das letzte, was ihm aus den großen Jahren geblieben war.
Er verrichtete sein Abendgebet. Die Nähe der Tiere hatte ihm einen großen Teil der Angst genommen. Er lauschte der Müdigkeit, sie strebte aus allen Richtungen gleichzeitig heran. In dem Augenblick, in dem er ihre Tonart bestimmen wollte, kristallisierte sie und ging in Schlaf über.
Er erwachte viel zu früh. Die Tiere bewegten sich. Die Glühbirne brannte noch. Aber das Morgengrauen hatte sie verblassen lassen. Vor der Box stand so etwas wie ein Kardinal und sein Ministrant. In langen schwarzen Mänteln.
»Mørk«, sagte der ältere. »Justizministerium. Wir würden Ihnen gern eine Mitfahrgelegenheit anbieten.«
Es war, als brächten sie ihn nach Moskau zurück. Anfang der achtziger Jahre hatte er drei Wintersaisons beim russischen Staatszirkus zugebracht. Er hatte im »Haus des Zirkus« gewohnt, Twerskaja, Ecke Gnesdnikowskistraße. Die vorrevolutionäre Klasse dieses Gebäudes hatte er im Palais der Kopenhagener Steuerverwaltung in der Kampmannsgade wiedergefunden. Es war nun schon das dritte Mal innerhalb der letzten sechs Monate, daß man ihn herbrachte. Aber es war das erste Mal, daß man ihm einen Wagen geschickt hatte.
Das Gebäude war dunkel und verriegelt. Aber der Kardinal hatte einen Schlüssel, mit dem er auch die obersten Etagen erreichen konnte; sie waren auf dem Tableau des Aufzugs nämlich nur per Schlüssel zu bedienen. Kierkegaard hatte irgendwo geschrieben, alle Menschen besäßen ein mehrgeschossiges Haus, aber keiner steige bis zur Beletage hinauf. Kierkegaard hätte an diesem Morgen dabeisein sollen, sie fuhren nämlich bis ins oberste Stockwerk.
Die marmorne Eingangshalle mit den elektrischen Bronzefackeln war nur ein Präludium gewesen. Der Aufzug öffnete sich auf einen Treppenabsatz, auf dem ein Turnierbillardtisch hätte Platz finden können, aus großen Dachfenstern flutete das frühe Licht herein. Zwischen Aufzug und Treppe befand sich ein Glaskasten, in dem ein junger Mann saß. Weißes Hemd und Schlips, schmuck wie Ole Lukøie bei Andersen. Aber der Klang, der ihm innewohnte, tönte wie ein Stechschritt. Ein elektrischer Türschließer summte, die Tür, vor der sie standen, ging auf.
Dahinter lag ein breiter, langer Flur. Mit Parkett und behaglichem Lampenlicht und hohen Flügeltüren, die in geräumige Nichtraucherbüros führten, in denen Menschen wie im Akkord arbeiteten. Was für ein Vergnügen zu sehen, daß das Geld der Steuerzahler nicht zum Fenster hinausgeworfen wurde, hier brummte es geschäftig wie auf einem Zirkusplatz beim Zeltaufbau. Was Kasper bedenklich stimmte, war der Zeitpunkt. Als sie am S-Bahnhof Nørrebro vorbeifuhren, hatte er eine Uhr gesehen. Sie zeigte drei Viertel sechs in der Früh.
Mørk öffnete eine der letzten Türen und ließ Kasper eintreten.
In einem Empfangszimmer mit der Akustik eines Kirchenvorraums saßen zwei breitschultrige Mönche im Anzug, der jüngere mit Vollbart und Pferdeschwanz. Sie nickten Mørk zu und erhoben sich.
Eine Tür stand offen, sie gingen hinein. Im Flur war die Temperatur angenehm gewesen, hier war es kalt. Das Fenster, das auf den Sankt-Jørgen-See hinausging, stand offen, der hereinströmende Wind kam wahrscheinlich aus der Äußeren Mongolei. Die Frau am Tisch glich einem Kosaken, muskulös, schön, ausdruckslos.
»Warum ist er denn dabei?« fragte sie.
Vor dem Schreibtisch standen im Halbkreis einige Stühle, sie nahmen Platz.
Die Frau hatte drei Mappen vor sich liegen. An ihrem Revers steckte ein kleines Abzeichen, das die auserwählten Glückspilze tragen dürfen, denen Ihre Majestät die Königin das Ritterkreuz verliehen hat. Auf einem Regal an der Wand hinter ihr waren heidnische Silberpokale mit ausgestanzten Pferdeleibern zur Schau gestellt. Kasper nahm die Brille ab. Sie waren im modernen Fünfkampf errungen worden. Mindestens ein Pokal stammte von einer Nordischen Meisterschaft.
Sie hatte sich auf einen schnellen Sieg gefreut. Ihr herrliches helles Haar war wie bei einem Samurai stramm zurückgebunden. Nun hatte sich eine leichte Verwirrung in ihr Klangsystem gestohlen.
Mørk nickte den Mönchen zu.
»Er hat die Rückgabe seiner dänischen Staatsbürgerschaft beantragt. Die Abteilung Ausländerkriminalität ist schon dabei, seinen Fall im Auftrag des Amtes für staatsbürgerliche Angelegenheiten zu prüfen.«
Als Kasper zum erstenmal vorgeladen worden war, einen Monat nach seiner Ankunft in Kopenhagen, hatten sie ihm einen gewöhnlichen Gerichtsvollzieher zugewiesen. Beim nächstenmal war es schon die Amtmännin Asta Borello. Bei ihrem ersten Termin waren sie beide allein gewesen, in einem kleinen Visitationszimmer, etliche Stockwerke tiefer. Er hatte gewußt, daß sie da nicht hingehörte. Hier war sie dagegen zu Hause. An ihrer Seite saß ein blondgelockter Jüngling im Anzug vor einem Textverarbeitungsgerät, der nur darauf wartete, das Protokoll aufnehmen zu dürfen. Das Büro war hell und groß genug, um eine Kunstfahrarena auf den Boden zu kreiden. Das Fahrrad stand an der Wand, ein graues Rennrad aus gebürstetem Leichtmetall. Weiter hinten standen niedrige Tische und Sofas für zwanglose und informelle Gespräche. Außerdem zwei rechtwinklige Stühle und zwei Tonbandgeräte in Studioqualität für Erklärungen, die in Anwesenheit von Zeugen abgegeben wurden.
»Wir haben die amerikanischen Zahlen erhalten«, sagte sie. »Aus The Commissioner of Internal Revenue. Mit Hinweis auf das Doppelbesteuerungsabkommen vom Mai ’48. Sie gehen bis 1971 zurück, dem Jahr, in dem er augenscheinlich sein erstes selbständiges Einkommen erhalten hat. Sie belegen Honorare von mindestens zwanzig Millionen Kronen. Wovon weniger als siebenhunderttausend in der Steuererklärung auftauchen.«
»Vermögen?«
Die Frage kam vom älteren der beiden Mönche.
»Hat er nicht. Seit ’91 waren wir durch das Steuerkontrollgesetz befugt, auch sein im Ausland befindliches Vermögen einzufrieren. Als wir uns in der Sache an Spanien wenden, werden wir zunächst abgewiesen. Es heißt, Varietékünstler und Flamencotänzerinnen genießen eine Art gesetzeswidriger, diplomatischer Immunität. Aber dann sprechen wir mit einem internationalen Gerichtsentscheid erneut vor. Und es zeigt sich, daß er das bißchen Wohnungseigentum, das ihm noch blieb, liquidiert hat. Über die letzten Bankkonten, im ganzen einige Millionen, haben wir mittlerweile die Kontrolle.«
»Kann er sonst noch irgendwo Geld haben?«
»Kann man nicht ausschließen. In der Schweiz ist Steuerbetrug kein Verbrechen. Eher eine religiöse Tugend. Aber er würde das Geld nicht nach Dänemark schaffen können. Die Nationalbank würde ihm die Transaktion nie und nimmer erlauben. Er wird nie wieder ein Bankkonto eröffnen können. Er wird nicht mal mehr eine Tankkarte bekommen.«
Sie faltete die Hände und lehnte sich zurück.
»Paragraph 13 des Steuerkontrollgesetzes sieht Geldbußen — in der Regel zweihundert Prozent der hinterzogenen Steuer — und Haftstrafen vor, wenn es sich um vorsätzliche oder grob fahrlässige Hinterziehung handelt. Der vorliegende Fall wird mit einem Jahr Gefängnis ohne Bewährung und einer kombinierten Buß-Rückzahlung von nicht unter vierzig Millionen Kronen geahndet. Im Oktober haben wir den Antrag auf Untersuchungshaft gestellt. Er wurde abgelehnt. Allerdings sind wir der Überzeugung, daß dieser abschlägige Bescheid nicht weiter aufrechterhalten werden kann.«
Es wurde still. Sie war am Ende angelangt.
Mørk beugte sich vor. Die Atmosphäre des Raums veränderte sich. Ein Aspekt von a-Moll breitete sich aus. Wenn es am stärksten ist. Insistierend und ernst. Im Gegensatz zu der Frau sprach der Beamte Kasper direkt an.
»Wir haben einen Ausflug nach London gemacht und zusammen mit Interpol mit der Anwaltskanzlei De Groewe gesprochen, die Ihre Verträge untersucht. Vor einem Jahr haben Sie innerhalb von 24 Stunden sämtliche eingehenden Verträge gekündigt, und zwar aufgrund eines ärztlichen Attests, das die WVVF nicht anerkannt hat. Man hat stillschweigend alle größeren internationalen Bühnen für Sie gesperrt. Während man den Fall vorbereitet. Er wird in Spanien aufgerollt. Parallel zu der spanischen Steuersache. Unsere Experten sagen, daß beide Fälle eindeutig sind. Die Rückzahlungsforderung beläuft sich auf mindestens 250 Millionen. Zusätzlich werden Sie wegen Trunkenheit am Steuer belangt, Sie sind schon zweimal verurteilt worden, das letztemal mit sofortigem Entzug des Führerscheins. Das gibt mindestens fünf Jahre Haft ohne Bewährung. Die Sie in Alhaurín el Grande verbüßen werden. Man sagt, das Gefängnis hat sich seit der Inquisition nicht verändert.«
Die Frau war schockiert. Sie versuchte Ruhe zu bewahren. Es gelang ihr nicht.
»Steuerhinterziehung ist gewöhnlicher Diebstahl«, rief sie. »Am Staat! Es ist unser Fall! Er muß hier vor Gericht!«
Die Gefühlsentladung offenbarte ihr wahres Wesen. Kasper konnte sie hören. Sie hatte schöne Seiten. Sehr dänische Seiten. Christliche. Sozialdemokratische. Ihr Haß auf den wirtschaftlichen Sumpf. Auf Exzesse. Übertriebenen Konsum. Wahrscheinlich hatte sie ihr Politologiestudium ohne Darlehen absolviert. Hatte auch schon für die Rente gespart. Fuhr mit dem Rad zur Arbeit. Ritterkreuz vor dem vollendeten vierzigsten Lebensjahr. Es war rührend. Er empfand uneingeschränkte Sympathie für sie, sie besaß eine ideale Charakterstruktur. Die er liebend gern selbst gehabt hätte.
Mørk ignorierte sie. Er konzentrierte sich ganz auf Kasper.
»Jansson hier hat einen Haftbefehl in der Tasche«, sagte er. »Wir können dich auf der Stelle zum Flughafen bringen. Kurzer Abstecher nach Hause, Zahnbürste und Paß einpacken, und ab geht die Post!«
Der Klang der anderen ebbte ab. Die Jungs und die Polizeibeamten waren nur Staffage gewesen. Die Frau hatte die Kadenzen gespielt. Aber die Partitur hatte Mørk die ganze Zeit über in Händen gehalten.
»Vielleicht gäbe es da noch eine andere Möglichkeit«, sagte der Beamte. »Angeblich sollst du ja jemand sein, zu dem die Menschen immer wieder zurückkehren. Du hattest eine kleine Schülerin namens KlaraMaria. Wir haben uns gedacht, daß sie vielleicht noch mal zu dir gekommen ist.«
Vor Kaspers Augen drehte sich alles. Wie nach einem dreifachen Purzelbaum, wenn man sich wieder aufrichtet. Orientierung bei weiteren Sprüngen vorwärts gleich Null.
»Kinder und Erwachsene«, sagte er, »kommen in Scharen wieder. Aber die einzelnen Namen …«
Er lehnte sich zurück, zurück in die Ausweglosigkeit. Der Druck im Zimmer war ungeheuer. Gleich würde etwas bersten. Er hoffte, es werde nicht er sein. Er spürte, wie das Gebet von selbst einsetzte.
Es war die Frau, die stolperte.
»Siebzehntausend«, sagte sie. »Für einen Anzug!«
Er war erhört worden. Es war eine minimale Blöße. Aber das würde ihm reichen.
Seine Finger schlossen sich um die Ärmel seiner Jacke. Maßgeschneiderte Jackenärmel haben echte Knöpfe am Handgelenk. Die Knöpfe an Konfektionsware sind dagegen nur Dekoration.
»Vierunddreißigtausend«, sagte er sanft. »Die siebzehntausend waren für den Stoff. Das ist Casero. Das Nähen hat noch mal siebzehntausend gekostet.«
Die Verwirrung von eben breitete sich in ihrem System aus. Noch hatte die Frau sie unter Kontrolle.
Kasper nickte Mørk, den Polizisten und den beiden Jungs zu. Zum erstenmal konnte er Astas Blick auffangen.
»Könnten die vielleicht mal für einen Moment den Raum verlassen?« fragte er.
»Sie sind unter anderem deshalb hier, um die Rechtssicherheit des Vorgeladenen zu garantieren.«
Ihre Stimme war tonlos.
»Es geht nur dich und mich etwas an, Asta.«
Die Amtmännin rührte sich nicht.
»Du hättest den Anzug nicht erwähnen sollen. Lediglich für Banken, Konten bei Privatunternehmen und Betriebe gilt die Auskunftspflicht über Schulden und Zinsen. Jetzt wissen sie es.«
Keiner sagte ein Wort.
»Dieses Doppelspiel!« sagte Kasper. »All diese demütigenden Treffen. Ohne daß wir einander berühren dürfen. Das schaffe ich nicht. Dazu habe ich keine Kraft mehr.«
»Das ist völlig absurd«, sagte sie.
»Du mußt darum bitten, von diesem Fall entbunden zu werden, Asta.«
Sie sah Mørk an.
»Ich habe ihn beschatten lassen«, sagte sie. »Es wurde ein Bericht eingereicht. Ich verstehe nicht, wieso ihr ihn nicht einkassiert habt. Ich verstehe nicht, wieso uns Informationen vorenthalten wurden. Irgend jemand muß die Hand über ihn halten.«
Sie hatte ihre Stimme nicht mehr unter Kontrolle.
»Deshalb haben wir das mit dem Anzug gewußt. Aber ich habe nie privat mit ihm verkehrt. Niemals.«
Kasper stellte sich ihr Parfüm vor. Der Duft vom Leben in der Steppe. Mit einem Akzent auf den wilden Kräutern der Taiga.
»Ich habe mich entschieden«, sagte er. »Du gibst deine Stelle auf. Wir studieren eine Nummer ein. Du nimmst fünfzehn Kilo ab. Und trittst im Netztrikot auf.«
Er legte seine Hand auf ihre.
»Wir heiraten«, sagte er. »In der Manege. Wie Diana und Marek.«
Sie war wie gelähmt. Dann riß sie ihre Hand zurück. Wie vor einer Vogelspinne.
Sie stand auf, ging um den Tisch herum und trat auf ihn zu. Mit der körperlichen Sicherheit einer Athletin, aber ohne klares Motiv. Vielleicht wollte sie ihm die Tür weisen. Vielleicht wollte sie ihn zum Schweigen bringen. Vielleicht wollte sie nur ihrer Wut Luft verschaffen.
Sie hätte sitzen bleiben sollen. In derselben Sekunde, in der sie sich erhob, war sie chancenlos.
In dem Augenblick, als sie seinen Stuhl erreichte, kippte dieser nach hinten. Für die anderen sah es aus, als hätte sie ihn umgestürzt. Nur sie beide wußten, daß sie ihn nicht einmal gestreift hatte.
Er rollte über den Boden.
»Asta«, sagte er, »keine Gewalt!«
Sie war in Bewegung, sie wollte ihm ausweichen, es gelang ihr nicht. Sein Körper wurde über den Boden geschleudert, für die Zuschauer sah es aus, als hätte sie ihn getreten. Er rollte gegen das Fahrrad, das auf ihn fiel. Sie griff danach. Es sah aus, als höbe sie ihn vom Boden hoch und schlüge ihn gegen den Türrahmen.
Sie riß die Tür auf. Vielleicht wollte sie hinaus, vielleicht wollte sie um Hilfe rufen, jetzt sah es aus, als schleuderte sie ihn durch das Vorzimmer. Sie folgte ihm. Griff nach seinem Arm. Hastig warf er einen prüfenden Blick auf die Türen, dann ließ er sich erst gegen die eine, dann gegen die andere prallen.
Sie gingen auf. Zwei Männer traten heraus. Weitere Leute aus anderen Büros. Auch Ole Lukøie war auf dem Weg.
Kasper rappelte sich auf. Strich seinen Anzug glatt. Er zog sein Schlüsselbund aus der Tasche, machte einen Schlüssel los und ließ ihn vor der Frau auf den Boden fallen.
»Hier«, sagte er, »dein Wohnungsschlüssel.«
Sie spürte die Blicke ihrer Kollegen. Dann warf sie sich auf ihn.
Sie kam nicht so weit. Der Seniormönch hatte sie an dem einen Arm gepackt, Mørk an dem andern.
Kasper zog sich rückwärts auf den Treppenabsatz zurück.
»Meinen Körper, Asta«, sagte er, »kannst du trotz allem nicht zum Pfand nehmen.«
Die Treppe erreichte man durch eine Tür in der Trennwand aus gehärtetem Glas gleich neben dem Kasten, Ole Lukøie hatte sie offengelassen, er war mit auf den Treppenabsatz hinausgetreten.
Kasper kramte in seiner Tasche nach einem Stück Papier, er fand einen Hundertkronenschein. Er benutzte die Glaswand als Unterlage und schrieb auf den Schein: »Ich habe eine Geheimnummer bekommen. Ich habe mein Schloß ändern lassen. Ich schicke dir den Ring zurück. Laß mich in Ruhe. Kasper.«
»Das ist für Asta«, sagte er. »Ich mache Schluß. Wie heißt dies set-up hier eigentlich?«
»Abteilung H.«
An der Tür waren keine Schilder gewesen. Er reichte dem jungen Mann den Schein mit der Nachricht. Er war Ende Zwanzig. Kasper dachte mit Wehmut an die Leiden, die einen jungen Menschen erwarten. Man konnte sie nicht einmal darauf vorbereiten. Konnte ihnen nichts ersparen. Höchstens versuchen, sie die bittren Erfahrungen, die man einst selbst hatte machen müssen, behutsam erahnen zu lassen.
»Nichts ist von Dauer«, sagte er. »Nicht einmal die Liebe einer Amtmännin.«
Die Kampmannsgade war weißgrau vor Frost. Aber als er auf den Bürgersteig trat, traf ihn grelles Sonnenlicht. Die Welt lächelte ihm zu. Er hatte einen Tropfen lebendigen Wassers in den vergifteten Brunnen der Traurigkeit fallen lassen und ihn dadurch zum Heilquell gemacht. Wie Maxim Gorki so treffend über den großen Dressurclown Anatoli Anatoljewitsch Durow geschrieben hatte.
Er wollte sich in Trab setzen, aber ihm schwindelte. Er hatte in den letzten 24 Stunden nichts zu sich genommen. An der Ecke Farimagsgade war eine Lotterieannahmestelle mit Imbiß, er rettete sich hinein.
Durch die Palette der Pornomagazine in den Zeitschriftenständern konnte er die Straße beobachten, sie war leer.
Ein Verkäufer beugte sich zu ihm herüber. Er hatte noch einen Schein in der Tasche, er hätte sich ein Sandwich und eine Cola kaufen sollen, aber er wußte, daß er nichts herunterkriegen würde, nicht jetzt. Statt dessen kaufte er ein Achtellos der Dänischen Klassenlotterie.
Im Laufschritt erschienen die Mönche auf dem Bürgersteig, aber ihre Glieder waren noch steif, sie waren noch ganz benommen von den Ereignissen. Sie blickten die Straße hoch und runter. Der ältere sprach in ein Mobiltelefon, vielleicht mit seiner Mutter. Dann setzten sie sich in einen großen Renault und waren verschwunden.
Kasper wartete, bis am Bahngraben ein Autobus hielt. Dann überquerte er die Farimagsgade.
Der Bus war fast voll, er fand noch einen Platz auf der letzten Bank, wo er sich in die Ecke sinken ließ.
Er wußte, daß er keinen echten Vorsprung hatte. Er sehnte sich nach Musik, etwas Definitivem. Er fing an zu summen. Die Frau neben ihm rückte von ihm ab. Was man ihr nicht verdenken konnte. Es war der zerrissene Beginn der Toccata in d-Moll. Nicht der dorischen, sondern des Jugendwerks. Er spielte mit dem Lotterieschein. Die Dänische Klassenlotterie war ausgeklügelt. Hohe Prämien. Gewinnchance eins zu fünf. Ausschüttung 65 Prozent. Eine der weltbesten Lotterien. Der Schein war ein Trost. Ein kleines verdichtetes Feld von Möglichkeiten. Eine kleine Kampfansage an das Universum. Mit diesem Schein forderte er Gott die Herrin heraus. Um herauszufinden, ob es sie gab. Sie sollte sich als Gewinn outen. Inmitten der trostlosen statistischen Unwahrscheinlichkeit des Monats April.
Für das gewöhnliche Gehör und Bewußtsein breiten sich Kopenhagen und seine Vororte waagerecht aus. Für Kasper hatte die Stadt immer an der Innenwand eines Trichters gelegen.
Oben am Rand, wo Licht und Luft und die Meeresbrise waren, die in den Baumkronen raschelte, lagen Klampenborg und Søllerød und zur Not noch Holte und Virum. Schon bei Bagsværd und Gladsaxe begann der Abstieg, und mit Glostrup hatte man praktisch den Tiefpunkt erreicht. Über der Wüstenei knauseriger Parzellen herrschte ein klaustrophobisches Echo, mit Glostrup und Hvidovre bekam man einen Vorgeschmack auf Amager, so als sänge man geradewegs in das Trichterrohr hinein.
Die bedeutende polnische Nonne Faustina Kowalska hatte einmal gesagt, wenn man nur innig genug bete, könne man sich in der Hölle komfortabel einrichten. Das konnte die Heilige nur sagen, weil sie nie in Glostrup gewesen war, hatte Kasper früher immer gedacht. Jetzt wohnte er seit sechs Monaten hier. Und hatte es liebgewonnen.
Er liebte die Grillbars. Die Jitterbugtanzschulen. Die Gruppen von Hell’s-Angels-Supporters. Die Sarggeschäfte. Die Bratwürste in den Fleischereien. Die Discountläden. Das besondere Licht über den Gärten der Einfamilienhäuser. Den existentiellen Hunger in den Gesichtern, die ihm auf der Straße entgegenkamen, den Hunger nach einem Sinn im Dasein, er kannte das von sich selbst. Manchmal versetzte ihn das in einen absonderlichen Glückszustand. Auch jetzt, am Rande des Abgrunds. Er stieg in Glostrup aus, maßlos glücklich, aber sehr hungrig. Es konnte nicht so weitergehen. Selbst Buddha und Jesus hatten bloß dreißig, vierzig Tage gefastet. Und hinterher gesagt, dann sei es auch echt nicht mehr lustig gewesen. Er blieb vor dem chinesischen Restaurant an der Ecke Siestavej stehen und warf einen diskreten Blick ins Innere. Heute arbeitete die älteste Tochter hinter der Theke. Er trat ein.
»Ich wollte auf Wiedersehen sagen«, sagte er. »Mein Typ wird verlangt. In Belgien. Zirkus Carré. Varieté Zeebrügge. Und dann das amerikanische Fernsehen.«
Er lehnte sich über die Theke.
»Nächstes Frühjahr komme ich wieder und hole dich ab. Ich kaufe eine Insel. Bei Ryukyu. Ich baue dir einen Tempelpavillon. An einer murmelnden Quelle. Moosbewachsene Felsen. Schluß mit den Frittierpfannen. Und während wir uns den Sonnenuntergang über dem Meer ansehen, improvisiere ich.«
Er beugte sich zu ihr herüber und sang:
Aprilmond schimmert
In Tropfen aus Tau
Ihr Kleid ist klamm
Sie beachtet es nicht
Lang spielt sie
Auf silberner Laute
Und fürchtet die einsame
Nacht im Gemach.
Zwei LKW-Fahrern blieb der Bissen im Halse stecken. Das Mädchen sah ihn ernst an, ein Blick unter weichen, gebogenen pechschwarzen Wimpern.
»Und was«, sagte sie, »soll ich dafür machen?«
Er senkte den Kopf, so daß seine Lippen beinah ihr Ohr berührten. Ein weißes Ohr. Wie eine Kreideböschung. Geschwungen wie eine Muschel, gefunden bei Gili Trawangan.
»Einmal gebratenes Gemüse«, flüsterte er. »Mit Reis und Tamari. Und meine Post.«
Sie stellte ihm das Essen auf den Tisch und entschwebte wie eine Tempeltänzerin am Hofe in Jakarta. Sie kam mit einem Brieföffner zurück und legte einen Stapel Umschläge neben seinen Teller.
Es war keine Privatpost dabei. Er machte die Briefe nicht auf. Aber jeden hielt er einen Moment in der Hand, ehe er ihn fallen ließ. Er lauschte seiner Freiheit, Beweglichkeit, Reiseerfahrung nach.
Eine Postkarte lud zu einer Ausstellung moderner italienischer Möbel, bei denen nicht einmal der Spumante darüber hinwegtäuschen konnte, daß man dermaßen schlecht darin saß, daß man von einem Chiropraktiker nach Hause begleitet werden mußte. Es gab düster schimmernde Umschläge von Inkassobüros mit Absenderadressen im Kopenhagener Nordwesten. Es gab Premierenkarten für die neue Oper. Rabattofferten von amerikanischen Luftfahrtgesellschaften. Ein Schreiben eines englischen Verlags über das Nachschlagewerk Great Personalities in 20th Century Comedy. Er ließ alles fallen.
Ein Telefon klingelte. Das Mädchen erschien mit dem Apparat auf einem goldenlackierten Tablettchen.
Sie sahen sich beide an. Kasper hatte eine private Postfachadresse im Gasværksvej. Von dort wurden ihm seine Briefe und Pakete zweimal die Woche hier ins Restaurant gebracht. Gemeldet war er c/o Zirkus Blaff am Grøndals Parkvej. Dort holte er sich alle vierzehn Tage die Behördenschreiben ab. Die private Postfachfirma unterlag der Schweigepflicht. Sonja im Grøndals Parkvej wäre für ihn auf den Scheiterhaufen gestiegen. Eigentlich hätte ihn niemand finden dürfen. Selbst das Finanzamt hatte das Handtuch werfen müssen. Nun hatte es doch jemand geschafft. Er hielt den Hörer ans Ohr.
»Würde es Ihnen passen, wenn wir in einer Viertelstunde vorbeikämen?«
Es war die Blondine.
»Ja, ausgezeichnet«, sagte er.
Sie legte auf. Er blieb mit dem summenden Hörer in der Hand sitzen.
Er erreichte das Bispebjerg-Krankenhaus über die Auskunft. Er wurde mit der Kinderpsychiatrie verbunden. Zusammen mit der schulpsychologischen Beratungsstelle hatten sie so ziemlich alle Informationen über Kinder aus dem Bereich Groß-Kopenhagen.
Die Zentrale stellte ihn zu Dr. von Hessen durch.
Sie war Professorin für Kinderpsychiatrie, er hatte mit ihr zusammengearbeitet, es ging damals um einige schwere Fälle. Für die Kinder war der Prozeß heilend gewesen. Für sie eher komplex.
»Hier ist Kasper. Ich habe Besuch von einem Mann, einer Frau und einem Kind bekommen, einem Mädchen, zehn Jahre alt. Sie heißt KlaraMaria. Sie sagen, du habest sie geschickt.«
Sie war zu überrascht, um Fragen zu stellen.
»Ein Kind mit diesem Namen hatten wir nicht. Nicht in meiner Zeit. Und wir würden nie jemanden überweisen. Nicht ohne Vereinbarung.«
Sie fing an zu rekapitulieren. Schmerzliche Teile der Vergangenheit.
»Jemanden an dich zu überweisen«, sagte sie, »würden wir unter allen Umständen möglichst vermeiden. Ob mit oder ohne Vereinbarung.«
Irgendwo im Hintergrund spielte Schuberts Klaviertrio in Es-Dur. Im Vordergrund summte ein Computer.
»Elizabeth«, sagte er, »schreibst du gerade eine Kontaktanzeige?«
Sie hielt den Atem an.
»Anzeigen haben eine viel zu begrenzte Reichweite«, sagte er. »Die Liebe erfordert, daß man sich öffnet. Die Kontaktfläche muß größer sein als das Internet. Körpertherapie, das wäre was für dich. Und etwas mit der Stimme. Ich könnte dir Gesangsstunden geben.«
Sie schwieg. In der Stille erkannte er Isaac Stern an der Violine. Das Sanfte sehr sanft. Das Harte sehr hart. Die Technik kein Problem. Und die Trauer an der Grenze des Unerträglichen.
Er spürte, daß jemand neben ihm stand, es war das Mädchen. Sie legte ihm einen Bogen Papier hin. Er war weiß.
»Das Lied«, sagte sie, »das Gedicht. Schreib’s mir auf.«
Darf Blünows Stallungen und Ateliers bestanden aus vier Gebäuden, die einen großen Hof umschlossen: einem Verwaltungsgebäude mit drei kleinen Büros, zwei Ankleideräumen und einem Übungssaal, einer Probemanege, die wie ein achteckiger Turm gebaut war, einer niedrigen Halle, hinter der sich Ställe, Auslauf- und Longiergehege befanden, sowie einem Lagerhaus mit Werkstätten, Nähstube und Speichern.
Der Zementboden im Hof war von einer dünnen Schicht stillen, klaren Regenwassers bedeckt. Kasper blieb am Eingangstor stehen. Die Sonne zeigte sich, der Wind machte eine kurze Atempause. Die Wasserfläche erstarrte zu einem Spiegel. Wo der Spiegel endete, hielt der schwarze Volvo.
Er ging bis zur Mitte und blieb, bis zu den Knöcheln im Wasser, stehen. Schuhe und Strümpfe sogen sich voll wie Schwämme. Es war, wie wenn man am Ersten Mai am Zeltplatz bei Rørvig Havn in den Fjord hinauswatete.
Die Autotür ging auf, das Mädchen trippelte an der Hauswand entlang. Die Kleine trug eine Sonnenbrille. Hinter ihr die Dame mit den gletscherblonden Haaren. Er ging zu ihnen und machte ihnen auf.
Er betrat die Manege, die kleine Leuchte am Klavier brannte, er schaltete das Oberlicht an.
Es befand sich noch eine vierte Person im Raum, ein Mann, Daffy mußte ihn eingelassen haben. Er saß sechs Sitzreihen weiter hinten, gleich neben dem Notausgang, die Feuerwehr hätte das nicht gern gesehen. Er hatte etwas am Ohr, das Licht war nicht sehr hell, vielleicht war es ein Hörgerät.
Kasper klappte einen Klappstuhl auf, hakte die Frau unter und führte sie an die Bande.
»Ich muß ganz nah dabeibleiben«, sagte sie.
Er lächelte sie an. Und er lächelte das Kind und den Mann am Notausgang an.
»Sie setzen sich hier hin«, sagte er ruhig. »Oder Sie müssen alle raus.«
Sie zögerte einen Moment. Dann setzte sie sich.
Er ging zum Klavier zurück, setzte sich davor, zog die Schuhe aus und die Strümpfe und wrang sie aus. Das Mädchen stand gleich neben ihm. Er klappte den Deckel hoch. Die Atmosphäre war leicht angespannt. Man muß Süße und Licht verbreiten. Er entschied sich für die Arie aus den Goldbergvariationen. Geschrieben, um die schlaflosen Nächte zu lindern.
»Ich bin entführt worden«, sagte das Mädchen.
Sie stand so nah am Klavier, daß sie es fast berührte. Sie war weiß im Gesicht. Das Thema modulierte zu einer Art Fuge, rhythmisch wie ein Guanaco, einschmeichelnd wie ein Wiegenlied.
»Ich bringe dich von ihnen weg«, sagte er.
»Dann tun sie meiner Mutter was an.«
»Du hast keine Mutter.«
Er fand, seine Stimme klang, als gehörte sie einem anderen.
»Du hast es nur nicht gewußt«, sagte sie.
»Haben sie sie auch?«
»Sie können sie finden. Sie können alle finden.«
»Die Polizei?«
Sie schüttelte den Kopf. Die Frau richtete sich auf. Der kleine CD-Spieler, den er für das Morgentraining benutzte, stand auf dem Klavier. Er suchte eine CD aus und drehte das Gerät, damit der Mann und die Frau genau in der Stereolinie saßen. Er zog das Mädchen in den Schallschatten und kniete sich vor sie hin. Hinter ihm schlug Richter die ersten Akkorde an, als wollte er den Flügel mit Steinen pflastern.
»Wie hast du’s geschafft, daß sie dich hergebracht haben?«
»Sonst hätte ich etwas nicht für sie getan.«
»Und zwar?«
Sie antwortete nicht. Er fing von unten an. Die Anspannung in Waden, Schenkeln, Gesäß und Unterleib war erhöht. Aber nicht krampfhaft. Ein sexueller Übergriff oder dergleichen lag jedenfalls nicht vor. Das hätte eine Stasis oder resignierte Unterspannung provoziert, sogar bei ihr. Aber ab dem Solarplexus, wo das Zwerchfell an der Bauchwand haftete, war alles dicht. Die Muskeln des doppelten Rückenstreckers waren gespannt wie zwei Stahltrossen.
Ihre rechte Hand, die dem Blick der Zuschauer entzogen war, suchte seine linke. In seiner Handfläche spürte er ein Stück fest zusammengefaltetes Papier.
»Du findest meine Mutter. Und dann kommt ihr mich holen.«
Die Musik verklang.
»Leg dich hin«, sagte er. »Wo meine Finger dich berühren, tut es weh. Du machst dich mit dem Schmerz vertraut und lauschst ihm. Dann vergeht er.«
Der Ton kam wieder. Richter spielte, als wollte er die Tasten durch den Eisenrahmen schlagen. Die Frau und der Mann hatten sich erhoben.
»Wo halten sie dich fest«, sagte er. »Wo schläfst du?«
»Nicht mehr fragen.«
Seine Finger fanden einen Muskelknoten, doppelseitig, unter der scapula. Er horchte hinein und vernahm Qualen, die einem Kind nicht bekannt sein sollten. Ein heller, gefährlicher Zorn stieg in ihm hoch. Die Frau und der Mann betraten die Manege. Das Mädchen richtete sich auf und blickte ihm in die Augen.
»Du tust, was ich gesagt habe«, sagte sie still. »Sonst siehst du mich nie mehr wieder.«
Er hob seine Hände an ihr Gesicht und nahm ihr die Sonnenbrille ab. Ein Schlag hatte sie am Rand der Augenbraue getroffen, das Blut hatte sich unter der Haut oberhalb des Kieferknochens gesammelt. Das Auge schien unverletzt zu sein.
Sie begegnete seinem Blick. Ohne zu blinzeln. Sie nahm ihm die Sonnenbrille aus der Hand. Setzte sie auf.
Er machte ihnen die Tür auf.
»Kontinuität ist ganz wichtig, gerade am Anfang«, sagte er. »Es wäre schön, wenn sie morgen wiederkommen könnte.«
»Sie muß in die Schule.«
»Man arbeitet am besten, wenn man die Zusammenhänge kennt«, sagte er. »In welcher Situation befindet sie sich, sind Vater und Mutter geschieden, gibt es Schwierigkeiten? Ein paar Informationen würden schon helfen.«
»Wir begleiten sie nur«, sagte die Frau. »Wir brauchen zuerst die Zustimmung der Familie.«
Das Gesicht des Mädchens war ausdruckslos. Kasper trat einen Schritt vom Auto weg, es rollte ins Meer hinaus.
Er steckte die Hand in die Tasche, um einen Zettel zu finden, auf dem er schreiben konnte. Er fand die Spielkarte. Mit dem Füller notierte er sich das Kennzeichen. Solange er sich noch daran erinnern konnte. Wenn man die Vierzig erreicht hat, läßt das Kurzzeitgedächtnis zunehmend nach.
Er spürte die Kälte von unten. Ihm fiel ein, daß er barfuß war. An seinen Fußsohlen klebte noch das Sägemehl der Manege.
Hinter der Manege, neben einer Reihe von Stromkästen und Wasseranschlüssen, stand das Wohnmobil. Er machte das Licht an und setzte sich aufs Sofa. Das Mädchen hatte ihm ein etliche Male gefaltetes, zu einem kleinen, harten Päckchen zusammengedrücktes DIN-A5-Blatt in die Hand gedrückt. Er faltete es ganz langsam auseinander. Es war eine Postquittung. Sie hatte die Rückseite beschrieben.
Es ähnelte einer Seeräuberkarte, entworfen von einem Kind. Sie hatte ein Haus gezeichnet mit einer Art Wirtschaftsgebäude auf jeder Seite; unter der Zeichnung stand »Krankenhaus«. Darunter drei weitere Wörter: »Lone Hebamme« und »Kain«. Mehr nicht. Er drehte den Zettel um und sah auf die Quittung. Der Absender war sie selbst, sie hatte nur ihren Vornamen vermerkt, KlaraMaria. Den Empfängernamen konnte er zunächst nicht entziffern, weil sein Gehirn aussetzte. Er schloß die Augen und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Dann las er den Namen.
Er stand auf. Aus dem Regal bei den Noten zog er eine kleine gebundene Ausgabe von Bachs Klavierbüchlein hervor und schlug sie auf. Es war nicht das Klavierbüchlein, es war ein Paß darin verborgen, zwischen den letzten Seiten lag ein Zettel mit mehreren Telefonnummern.
Er ging mit dem Telefon zum Couchtisch und wählte die erste Nummer auf dem Zettel.
»Rabiastift. Guten Tag.«
Es war eine junge Stimme, die er nicht kannte.
»Hier ist der Amtsarzt. Guten Tag«, sagte er. »Ich möchte gern die stellvertretende Direktorin sprechen.«
Es verging eine Minute. Dann näherte sich ein Körper dem Telefon.
»Ja?«
Es war eine appetitliche Stimme. Die Frau, der sie gehörte, hatte er vor einem Jahr getroffen. Ein Bissen hätte einen sämtliche Zähne kosten können, in Ober- und Unterkiefer. Aber nicht heute. Heute war die Stimme heiser und beinah leblos vor Trauer.
Er legte auf. Er hatte nur das eine Wort gehört, das reichte. Es war eine Stimme, der ein Kind abhanden gekommen war.
Er wählte die nächste Nummer.
»Die Internationale Schule.«
»Hier Kasper Krone«, sagte er, »Truppführer bei den Freien Vögeln, ich habe eine Nachricht für eine meiner jungen Pfadfinderinnen, KlaraMaria, eins unserer Treffen ist verlegt worden.«
Die Stimme räusperte sich, versuchte sich zu sammeln. Versuchte sich trotz des Schocks daran zu erinnern, was sie in einem solchen Fall zu sagen hatte.
»Sie ist zwei, drei Tage in Jütland. Bei Verwandten. Kann ich ihr was ausrichten, wenn sie wieder da ist, kann sie Sie irgendwie erreichen?«
»Bestellen Sie ihr nur einen Pfadfindergruß«, sagte er. »Von der Einheit in Ballerup.«
Er lehnte sich im Sofa zurück. So blieb er sitzen. Bis alles normal war. Mit Ausnahme der Kälte und der Angst, die sich zu einem Punkt im Magen zusammengezogen hatten.
Seit sich James Stuart der Ältere Mitte des 19. Jahrhunderts im Pariser Zirkus Medranos hatte guillotinieren lassen und daraufhin seinen abgetrennten Kopf aufgehoben und die Manege unter apokalyptischem Applaus verlassen hatte, war es keinem mehr vergönnt gewesen, den Tod auf die Bühne zu bringen, es war das allerschwierigste überhaupt. Kasper hatte es zwanzig Jahre lang erfolglos versucht. Die Machtlosigkeit übernahm das Ruder, auch jetzt wieder.
Er überquerte den Blegdamsvej und benutzte einen der Nebeneingänge zum Fælledpark. Das Reichskrankenhaus glich dem Backstage-Bereich eines grauen Zirkus in der Unterwelt: das gedämpfte Licht der weißen Vorhänge, die Nacktheit der Menschen, die uniformierten Beamten. Die Hierarchien. Die Charakterrollen. Die Ansammlung polierten Stahls. Das Geräusch einer unsichtbaren Maschinerie. Der Geschmack von Adrenalin im Speichel. Das Gefühl, an einer Grenzlinie zu stehen.
Er stieg aus dem Fahrstuhl. Mit der Spielkarte in der Hand buchstabierte er sich durch das weiße Labyrinth der Bettentrakte, suchte das richtige Zimmer und öffnete die Tür.
Draußen in den Fluren hatten Leuchtstoffröhren und Rauchverbot geherrscht. Jetzt schwammen vor ihm antike englische BestLites in einem Nebel aus blauem Tabaksqualm. Knapp über dem Boden, auf einem in einem breiten Rahmen aus Kirschbaumholz ruhenden Bett hockte ein Mann im Schneidersitz, umgeben von einem Ring aus Seidenkissen, und rauchte eine Zigarette. Ohne Filter, aber mit seinen Initialen in Goldprägung.
»Ich muß in einer halben Stunde im Gericht sein«, sagte er. »Komm rein und sag Vivian der Schrecklichen guten Tag.«
Die Frau war Mitte Sechzig und trug einen Arztkittel. Die Haut war blaß, fast transparent, sehr dünn, er konnte das Blut hindurchhören, Blut und Leben. Sie gab ihm die Hand, sie war trocken, warm und fest. Ihre Tonart war As-Dur, unter anderen Umständen hätte er ihr stundenlang zuhören können.
»Ist bloß fünf Monate her, daß du zuletzt hier warst«, sagte der Kranke. »Ich hoffe, es bereitet dir nicht allzu große Umstände.«
»Ich habe gespielt. Im Süden.«
»Seit Monte Carlo bist du nirgendwo mehr angekündigt gewesen. Du hast Dänemark nicht verlassen.«
Kasper setzte sich auf einen Sessel. Auf dem Boden lag ein echter Karsamra, an der einen Wand standen Bücherregale, ein Kleinklavier gab es auch, an den Wänden hingen Richard Mortensens Zirkusbilder, und der Fernseher war so groß wie der Kasten der durchgesägten Dame.
»Ich sehe besser aus, als du dachtest, was?«
Kasper betrachtete seinen Vater. Maximillian Krone hatte mindestens fünfzehn Kilo verloren. Die Brille wirkte zu groß. Die Kissen waren nicht zu seiner Bequemlichkeit da, sondern um ihn aufrecht zu halten.
»Ich habe vornehmen Besuch gehabt«, sagte Maximillian. »Vom Justizministerium. Sah aus wie ein Leichenbestatter. Wollte deine Adresse. Ich bat ihn, sich zum Teufel zu scheren. Er behauptete, es laufe eine Steuersache gegen dich. Und noch was Schlimmeres in Spanien. Er sagte, die WVVF habe dich auf die schwarze Liste gesetzt. Stimmt das?«
Der Kranke musterte ihn fragend.
»Man konnte sich nie richtig auf dich verlassen. Aber ein Kamikazetyp warst du auch nicht …«
Er hielt einige Papiere in der Hand.
»Das Reichskrankenhaus hatte Laboratorien und Nebengebäude in der Innenstadt. Und ich bin ja Rechtsberater in Versicherungsangelegenheiten. Nur deshalb kann ich hier in diesem Theater aus Tausendundeiner Nacht vor mich hin vegetieren. Während Vivians Patienten auf den Gängen verbluten. Ich habe eine Liste der Experten mitgehen lassen, die vom Staat und von der Stadt in der Angelegenheit konsultiert worden sind.«
Es waren fünf Seiten mit vielleicht zweihundert Namen, dänischen und ausländischen, Unternehmen und Einzelpersonen wild durcheinandergewürfelt. Ein Name war unterstrichen.
Kasper las ihn und reichte das Blatt zurück. Er stand auf, ließ die Hände über die Requisiten des Zimmers gleiten. Den Palisander des Bücherregals, die Krümmung der Lampen. Die weißlackierten Rahmen der großen Leinwände.
»Das muß sie sein«, sagte Maximillian.
Es waren neue Gardinen aufgehängt worden, wie Rideaus. Kasper raffte den schweren Brokat zwischen den Fingern.
»Was bedeutet Abteilung H?« fragte er.
Ein zarter Ton der Angst begann irgendwo im Raum zu singen, als wäre eine Stimmgabel angeschlagen worden.
»Die gibt es nicht, das ist ein Gerücht, wer hat dir das denn erzählt? Sie soll in den neunziger Jahren eingerichtet worden sein. Entstanden aus der Zusammenarbeit zwischen der Abteilung für Wirtschaftskriminalität, der mobilen Ermittlungsgruppe, der Finanzaufsicht und der Zoll- und Steuerbehörde. Außerdem den Finanzämtern und dem Amt für Wettbewerbsaufsicht. Zusammen mit der Kontrollabteilung der Kopenhagener Effektenbörse. Nach den großen feindlichen Übernahmen und Unternehmenszerschlagungen. Um den neuen Formen dieser Art von Profitkriminalität entgegenzutreten. Angeblich haben sie etwas entdeckt. Etwas Großes. Was geheimgehalten wurde. Weswegen ein Sonderbüro eingerichtet wurde. Ich glaube keinen Fatz von der ganzen Sache. Und sie hätten sich bestimmt nicht in die banalen Steuersachen eines kleinen Hochstaplers eingemischt. Wo hast du das bloß her?«
Die großen Krankheiten beginnen jenseits des Physischen, Kasper hatte es schon früher gespürt, bisweilen Monate bevor es durchbrach. Auch bei Maximillian. Irgend etwas hatte sich verändert, etwas Fremdes hatte sich in seinem Klangbild eingenistet.
»Wie sieht es mit Gewalt gegen Kinder aus, wie hart darf man eigentlich zuschlagen?« fragte Kasper.
»Paragraph 387 vom 14. Juni 1995 mit einem Nachtrag von 1997: ›Das Kind muß mit Respekt für seine Person behandelt werden und darf keiner körperlichen Bestrafung oder einer anderen kränkenden Handlung ausgesetzt werden.‹ In der Praxis bedeutet das, daß du den Polizeigriff anwenden darfst. Aber keinen Handkantenschlag. Erwartest du ein Kind?«
»Es geht um eine Schülerin.«
»Eine neue kleine Footit?«
Der englische Clown Tudor Hall, alias Footit, war der erste gewesen, der damit Geld verdient hatte, daß er ein Kind, seinen dreijährigen Sohn, in die Manege mitnahm.
Kasper stand auf.
»Wieviel ist es?« sagte Maximillian. »Wie hoch sind deine Schulden? Ich weiß es. Der Leichenbestatter hat’s mir verraten. Vierzig Millionen. Ich bezahle das. Ich verscheuere den ganzen Dreck. Vierzig Millionen kriege ich zusammen. Ich bekomme meine Bestallung wieder zurück. Ich gehe für dich vor Gericht. Mit Tropf und allem Drum und Dran, mir egal. Ich werde sie schon kleinkriegen.«
Kasper schüttelte den Kopf.
Maximillian ließ seine Hand auf die Papiere fallen.
»Die buchten dich ein! Die weisen dich aus! Du schaffst es nicht, du wirst nicht an sie rankommen!«
Er drückte sich an der Bettkante hoch. Wie ein Reckturner, der sich in den Handstand hochstemmen will.
»Du hast ein schlechtes Herz«, sagte er heiser. »Nicht gut für einen Clown. Pißt auf die Hand, die ihm entgegengestreckt wird. Vergeigt die Chance. Nachdem sie einem Schädiger wie dir jahrelang nicht mehr ausgesetzt gewesen war.«
Er wandte sich an die Frau.
»Wenn er stirbt — und irgendwann kommt er auch an die Reihe —, dann läßt er sich Räder unter den Sarg montieren. Damit er selber aus der Kapelle ins Krematorium rumpeln kann. Und keinen um Hilfe bitten muß.«
Sein Zorn war monumental. So war er immer gewesen. Aber die körperliche Grundlage war nicht mehr da. Der Kranke mußte husten, tief, lebensbedrohlich.
Die Ärztin ließ ihn aushusten, dann richtete sie behutsam seinen Oberkörper auf. Kasper legte die Spielkarte auf die Bettkante.
»Falls du immer noch«, sagte er, »jemanden kennst, der Zugang zum zentralen Kraftfahrzeugregister hat. Dann könntest du die Adresse herausfinden. Die zu dieser Nummer paßt.«
Maximillian hatte die Augen geschlossen. Kasper ging zur Tür.
»Wir haben die Übertragung aus Monte Carlo gesehen«, sagte der Kranke. »Die Verleihung und deinen Auftritt.«
Kasper blieb stehen. Maximillian langte hinter sich. Ergriff die Hand der Frau. Um die Augen herum wurde sein Gesicht so glatt wie bei einer spanischen graciosa im Theater.
»Wir haben uns gewünscht, es würde nie zu Ende gehen. Es war wie in meiner Kindheit. Es ist das einzige, das nie vergehen darf. Die Liebe. Und die großen Vorstellungen.«
Vater und Sohn sahen sich in die Augen. Ohne Maske. Der Kranke ertrug es einige Sekunden, dann wurde es ihm zuviel.
Er hob die Hände an sein Haar. Es war rot. Widerborstig wie ein Dachsfell. Er hob es ab. Es war eine Perücke. Darunter war er kahl wie eine Wassermelone.
»Enttäuschend, was? Habe ich mir nach der Chemotherapie machen lassen. Mit meinem eigenen Haar. Hut ab. Vor einem großen Künstler!«
Kasper trat ans Bett. Umfaßte den mächtigen, kahlen Schädel und zog ihn an sich. Er lauschte der Tragik, welche die meisten Menschen umlagert. Dem Geräusch all dessen, das werden könnte und nie wird.
Als Kasper ihn berührt hatte, war Maximillian erstarrt. Dann machte er sich los.
»Genug«, sagte er. »Ich fühle, ich bin Lazarus. Die Hunde lecken mich ab. Wann sehe ich dich wieder? In sechs Monaten?«
Die Ärztin hielt Kasper die Tür auf.
»Das Mädchen«, sagte Maximillian auf seinem Bett. »Die Schülerin. Du bist eigentlich nur wegen ihr gekommen? Oder?«
Die Tür schloß sich hinter Kasper, die Ärztin stand neben ihm.
»Ich fahre dich nach Hause«, sagte sie.
Die weißen Superclowns, die auf höchstem Niveau, deren Triumphe Kasper miterlebt hatte, gründeten ihren Erfolg darauf, daß ihr Partner von unten zu ihnen hinauf spielte. Ausschließlich auf sich selbst beruhende Autorität ist äußerst selten. Die Frau vor ihm besaß sie. Sie strahlte sie aus. Räumte Flure frei und öffnete Türen.
Sie wollte etwas von ihm, sie kam nicht damit heraus. In der Tiefgarage blieb sie reglos hinterm Steuer sitzen und wartete auf die Worte, sie kamen nicht.
Das Auto war lang wie ein Eisenbahnwagen. Kasper liebte die Art, mit der die Reichen Witterung voneinander aufnahmen. Wie Romeo und Julia. Noch bei der heißesten Leidenschaft und Liebe auf den ersten Blick gab es in der obersten rechten Ecke ein kleines freies Feld für den Kontostand.
Er gab ihr die Schatzkarte, die das Mädchen gezeichnet hatte. Sie entzifferte sie problemlos, ohne Fragen.
»Es gibt dreizehn Kreiskrankenhäuser und Hospitäler«, sagte sie. »Køge, Gentofte, Herlev, Glostrup, Hvidovre, das Reichskrankenhaus, Frederiksberg, Amager, Roskilde, Hillerød, hinzu kommen die mit den eingeschränkten Diensten in Hørsholm, Helsingør und Frederikssund. Keines davon liegt am Wasser. Auch die Privatkrankenhäuser nicht.«
»Kliniken?«
»Im Norden von Kopenhagen und im Süden von Avedøre Holme, alles in allem vielleicht hundert, medizinische Zentren und Spezialkliniken. Wie alt war das Kind, das die Karte gezeichnet hat?«
»Zehn Jahre.«
Sie wies auf die beiden Häuser rechts und links, die er als Nebengebäude gedeutet hatte.
»Das könnten Gebäudeflügel sein. Kinder fangen an, perspektivisch zu denken, wenn sie ungefähr acht sind. Für private Arztpraxen wären sie zu groß. Nein, es entspricht keiner Lokalität, die mir bekannt ist.«
Sie ließ den Motor an.
»Wie viele Hebammen gibt’s in Kopenhagen?«
»Fünfzehnhundert vielleicht.«
»Und wie viele heißen Lone?«
»Sie sind im Hebammenverband registriert. Ich kann das herausfinden.«
»Innerhalb einer Stunde?«
Sie nickte.
Sie überquerten die Seen und fuhren die Gothersgade hinunter. Er lauschte in sie hinein, sie wußte nicht, wo sie gerade entlangfuhr. Sie hielt an der Seite, irgend etwas blendete sie. Sie blieb sitzen und fingerte nervös am Lenkrad. Er stieg aus, um ihr Zeit und Ruhe zu gönnen. Sie standen vor dem Sperrgebiet.
Ein Zaun aus wasserfestem Sperrholz, wie man es zum Umzäumen von Bauplätzen benutzt, grenzte einen Teil der Fahrbahn und eine Reihe von Häusern zur Gammel Mønt hin ab. Fünfzig Meter weiter vorn war er von einem Glashäuschen und einem Tor unterbrochen, davor standen zwei Polizisten in Schutzkleidung.
Er ging zu dem Häuschen, hinter der Sprechmembran saß eine Frau in Zivilschutzuniform.
»Ich möchte eine kurze Nachricht für eine Bekannte hinterlassen«, sagte er. »Aus dem engsten Familienkreis. Es geht um Leben und Tod.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Wir haben hier 700 Journalisten rumschwirren. Aus der ganzen Welt.«
»Darf ich sie vielleicht anrufen?«
Sie schüttelte den Kopf. Aus dem Augenwinkel entzifferte er den obersten Namen eines Schildes, auf dem die Bergungsgesellschaften, Nothilfeorganisationen und Bauunternehmer verzeichnet waren.
»Ich bin der Sohn vom alten Hannemann«, sagte er. »Er ist eben gerade Ehrenmitglied im Golfklub Søllerød geworden. Der Lebenstraum eines greisen Mannes!«
»Das wird er wohl leider nicht mehr zu würdigen wissen. Er ist nämlich in den achtziger Jahren gestorben.«
Kasper betrachtete sein Gesicht in der Scheibe. Es war so weiß, als wäre er in voller Maske. Die Augen der Frau sahen auf einmal besorgt aus.
»Soll ich Ihnen einen Wagen rufen?«
Ihr Mitgefühl ging ihm ins Blut wie eine Glukoseinjektion. Am liebsten hätte er sich auf ihren Schoß gesetzt und sich bei ihr ausgeweint. Er deutete mit dem Kopf in Richtung Auto.
»Da hinten wartet mein Chauffeur und Leibarzt.«
»Haben Sie außer Hannemann noch einen andern Namen für mich?«
»Stine Claussen. Ingenieurin.«
»Dunkle Haare?«
Er nickte.
»Irgendwas mit?«
»Sie besteht aus Wasser.«
Sie schaute auf einen Ausdruck, der vor ihr lag.
»Sie steht auf der Abholliste. Für die Taxiunternehmen. Das ist eine Vereinbarung extra für die VIP’s. Das heißt, sie wohnt im Hotel. Im Royal oder im Tre Falke. Wenn rauskommt, daß Sie das von mir haben, werd’ ich gefeuert.«
Er atmete tief durch.
»Engel«, sagte er, »können nicht gefeuert werden.«
Er setzte sich neben die Ärztin. Sie saß noch genauso da, wie er sie verlassen hatte.
»Er stirbt jetzt«, sagte sie.
Das war es, was sie loswerden wollte, er hatte es gewußt. Für ihn persönlich war es kein Problem. Er hatte sich längst mit dem Tod versöhnt. Pater Pio hatte einmal gesagt, aus einer übergeordneten Perspektive lägen wir doch alle in den letzten Zügen. Der einzige Unterschied sei, daß manche in noch letzteren Zügen lägen als die anderen.
Also passierte hier nichts mit ihm, nein, das Drumherum veränderte sich. In dem einen Augenblick war die Stadt eine entspiegelte Ansichtskarte, in dem anderen segelte das Auto durch ein schalltotes Untergangspanorama.
»Er sah gesund aus.«
»Prednison. Eine sozusagen chemische Kontoüberziehung.«
»Weiß er es?«
Sie hatten den Zoologischen Garten und den Solbjerger Friedhof passiert. Ihm war schleierhaft, wie sie überhaupt zum Roskildevej gekommen waren.
»In der Regel gibt es einen Teil von einem selbst, der es weiß. Und einen größeren Teil, der es nicht wissen will.«
Sie nahm den Ring Richtung Glostrup, bog ins Industriegebiet ab, parkte hinter dem Platz.
Sie begann zu weinen. Still, aber hemmungslos und mit strömenden Tränen. Sie deutete auf das Handschuhfach, er reichte ihr eine Packung Papiertaschentücher.
Was das Geld anging, hatte er sich geirrt. Ihre Trauer kam von sehr weit unten, sie saß tiefer als das Wertpapierdepot.
Sie schnaubte sich die Nase.
»Erzähle mir was von ihm«, sagte sie. »Aus der Zeit, als du klein warst.«
Er horchte in seine Kindheit hinein, er hörte das Geräusch von Kartoffeln.
»Ich war zehn, wir wohnten in Skodsborg. Sie waren immer Nomaden gewesen, auch nachdem er angefangen hatte, Geld zu verdienen. Sie haben immer für jeden ein Zimmer eingerichtet plus meines, genau wie im Wohnwagen. Der Rest blieb verschlossen, um Heizung zu sparen. Wir zogen jedes Jahr um, Skodsborg war unser Rekord, da wohnten wir fast vier Jahre, da gab es aber auch drei Fluchtmöglichkeiten: den Sund, die Küstenbahn und den Strandvej. In Skodsborg habe ich mit dem Jonglieren angefangen. Ich habe mit Kartoffeln geübt. Ich habe Bettdecken und Plaids auf dem Boden ausgebreitet, trotzdem gab es immer eine kleine Erschütterung, wenn ich danebengriff. Eines Tages muß er es gehört haben, denn plötzlich stand er in der Tür.«
Er schloß die Augen und sah die Szene vor sich.
»Wir befinden uns in den frühen siebziger Jahren, richtiggehende Armut gab es eigentlich nicht mehr, aber er hatte sie noch erlebt. Als Junge hatte er gehungert und Nelken verkauft und in den Höfen gesungen, er ist nie darüber hinweggekommen, das ist wie bei den Künstlern, die während des Krieges im Konzentrationslager gewesen waren, das geht nie vorbei. Deshalb gab er den Zirkus auf, er sah nur einen Ausweg: eine hervorragende Ausbildung und sichere Einkünfte. Und jetzt stand er also in der Tür. Die Schulbücher lagen auf dem Tisch, ich hatte sie nicht aufgeschlagen. Er sah mich an. Es ist mehr als dreißig Jahre her. Er hätte mich nach Herlufsholm ins Internat stecken können, er hätte mich in die Farbenhändlerlehre schicken können, er hätte mich wirklich zur Schnecke machen können. Aber er blieb einfach in der Tür stehen, ganz still. Und dann habe ich gemerkt, was in ihm vorging. Wir konnten es beide merken. Daß er verstand, daß die Sehnsucht zuweilen größer ist als der Mensch. Und der Mensch zugrunde geht, wenn man sie stoppt. Er ging also hinaus, rückwärts, ohne etwas zu sagen, und schloß die Tür, ganz still. Wir haben nie darüber gesprochen. Aber er ist nie wieder in mein Zimmer gekommen, ohne vorher anzuklopfen.«
Sie hing an seinen Lippen. Wer sich mit fünfundsechzig verliebte, empfand offensichtlich das gleiche wie ein Fünfzehnjähriger. Wenn er ihr Dias gezeigt und Anekdoten von Maximillian erzählt hätte, wäre sie drei Monate lang zu seinen Füßen sitzen geblieben.
»Für Momente wie diese liebe ich ihn«, sagte er.
Die Situation war gewissermaßen volltönend. Und wenn’s am schönsten ist, soll man gehen. Er stieg aus dem Wagen.
Sie stieg auf ihrer Seite aus und ging um den Kühler herum.
»Und außerhalb dieser Momente«, sagte sie, »was war da?«
In puncto Verliebtsein hatte er sich wohl doch geirrt. Wer fünfundsechzig ist, will mehr, ein größeres Ganzes.
»Da versuchten sie sich gegenseitig den Kopf abzureißen«, sagte er. »Außerhalb dieser Momente gab es Mord und Totschlag ohne Ende.«
Er war ein paar Schritte gegangen, sie hatte zu ihm aufgeschlossen.
»Kannst du ihm nicht verzeihen, wie sieht’s aus?«
»Es ist dreißig Jahre her. Ich habe alles verziehen.«
Sie ergriff seinen Arm.
»Du hast ihm nur einen Bruchteil verziehen. Wenn wir den Prozentsatz ein wenig erhöhen könnten, wäre es für eine glückliche Kindheit noch nicht zu spät.«
Er wollte sich losmachen, es gelang ihm nicht, sie hatte einen Griff wie ein Feuerwehrmann.
»Das geht mir zu nahe«, sagte er. »Er und ich, wir sind beide schwer traumatisiert.«
»Ihr seid zwei Streithammel. Ihr habt euch vierzig Jahre gefetzt. Jetzt habt ihr höchstens noch drei Wochen, um Frieden zu schließen.«
Sie ging zum Auto zurück. Er folgte.
»Drei Wochen?«
Sie setzte sich in den Wagen.
»Er ist stark wie ein Brauereipferd«, sagte er.
»Ich leite das Hospiz des Reichskrankenhauses. Ich habe fünfzehnhundert Tode mitverfolgt. Ihm bleiben höchstens drei Wochen.«
Sie wollte die Tür zuziehen, er hinderte sie daran.
»Der Tod ist kein Abschluß. Ich bin tief religiös. Nach dem letzten Atemzug kommt eine Generalpause. Danach kommt das Bewußtsein in einem neuen Körper zum Ausdruck, und die Musik spielt wieder.«
Sie blickte ihm in die Augen.
»Was nutzt mir«, sagte sie, »wenn ich allein in meinem Bett liege, das Wissen, daß es irgendwo auf der Welt einen Säugling gibt, der die Brust kriegt, und daß in diesem Säugling das Bewußtsein meines Geliebten wohnt?«
Er stützte sich am Auto ab.
Auf den unbebauten Flächen lag noch Reif auf dem Gras.
»Ich liebe ihn«, sagte er.
»Ich auch«, sagte sie.
Er beugte sich zu ihr hinunter.
»Könnte der Umstand, daß wir uns in dieser tiefen Empfindung einig sind, eventuell die Grundlage für einen Kredit von fünftausend Kronen bilden?«
Sie suchte ihr Portemonnaie, öffnete es und gab ihm zwei Tausendkronenscheine. Zog die Tür zu und ließ das Fenster herunter.
»Was ist mit dem Kind?« fragte sie. »Und der Zeichnung?«
Ihre Augen waren geräumig. Er hätte sich mit seiner ganzen Trauer in ihnen niederlassen können, und es wäre immer noch Platz darin gewesen. Er schüttelte den Kopf.
»Täusche dich nicht in mir«, sagte sie. »Ich will Zinsen. Diskont plus zwei Prozent.«
Das Fenster ging zu, das Auto sprang an und beschleunigte. Wie auf der Zielgeraden auf dem Jütlandring. Er empfand eine unfreiwillige Bewunderung für seinen Vater. Dafür, daß sich Maximillian trotz seiner Abweichlerpsychologie ein Elefantenweibchen hatte kapern können.
Er betrat das Büro und legte Daffy die zweitausend Kronen auf den Tisch.
»Ein Abschlag auf die Miete«, sagte er.
Der Verwalter überreichte ihm einen Brief, ohne Marke, abgestempelt von einem Botendienst. Und einen Brieföffner.
Der Umschlag besaß eine übersinnliche Finesse, die nicht naturwissenschaftlich erklärt werden kann, sondern dann entsteht, wenn sich ein Brief darin befindet, der mit einem Scheck verbunden ist. Der Brief bestand aus zwei maschinengeschriebenen Zeilen.
»Hiermit möchten wir Ihnen mitteilen, daß KlaraMaria nicht mehr zum Unterricht erscheint. Anbei 20.000.«
Keine Unterschrift. Es war ein Bankscheck.
Er setzte sich auf einen Stuhl. Wenn man den Tiefpunkt erreicht hat, kann man nicht mehr tiefer fallen. Das ist immerhin ein Vorteil.
Die Tür öffnete sich. Der Junge mit den Weihrauchgefäßen hielt sie auf. Mørk trat ein.
»Du wirst ausgewiesen«, sagte er. »Du hast achtzehn Stunden, um deine Sachen zu packen. Morgen früh wirst du in eine Maschine nach Madrid gesetzt.«
Vielleicht gibt es gar keinen Tiefpunkt. Vielleicht gibt es nur einen ewigen Fall. Kasper stand auf. Öffnete die Tür. Trat auf den Hof.
Er streifte seine Jacke ab. Zog das Hemd aus. Zwei Gruppen von Handwerkern hockten auf den Bänken vor den Lagerhäusern herum. Einige Kostümnäherinnen, die frei hatten, saßen an einem der Tische und tranken Kaffee. Er zog Schuhe und Strümpfe aus. Und die Hose. Nun hatte er nur noch die Boxershorts am Leib. Mit Harlekinmuster. Aus Seide. Er hatte eine Schwäche für Seide. Wie Wagner.
»Alles muß weg«, sagte er zu den Näherinnen. »Darum geht’s: Man muß alles weggeben. Der reiche Mann im Gleichnis tat es. Liszt tat es. Wittgenstein. Longchen Rabjam tat es siebenmal. Wenn einem nichts mehr weggenommen werden kann, ist man frei.«
Er wartete. Vielleicht hatte er Mørk erschreckt. Ausweisungen müssen auch schriftlich vorliegen, um juristisch Bestand zu haben.
Papier raschelte, Mørk stand hinter ihm.
»Sagt dir der Name Kain etwas?«
»Ist mir durchaus vertraut. Aus der biblischen Geschichte.«
»Josef Kain.«
Kasper sagte nichts.
»Die Ausweisung«, sagte der Beamte. »In deiner Jacke liegt ein Taxigutschein. Mit einer Telefonnummer. Falls dir noch was einfällt. Zu der kleinen Schülerin.«
Kasper schloß die Augen. Als er sie wieder aufmachte, war Mørk verschwunden. Jemand legte eine Decke um seine Schultern, es war Daffy.
Sie saßen sich am Schreibtisch gegenüber. Kasper war in die Decke gehüllt, sie war lang wie ein Ballkleid. Er spürte nichts. Vielleicht war es die Kälte.
Vor Daffy lag der Brief, er mußte ihn gelesen haben.