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Der New-York-Times-Bestseller: klug, überraschend, nervenaufreibend spannend
Einst wurde Jake Finch Bonner in New York als Autor gefeiert. Doch sein großer Wurf liegt Jahre zurück und mittlerweile unterrichtet er Kreatives Schreiben an einem kleinen College in der Provinz. Als einer seiner ehemaligen Studenten stirbt, bevor er seinen ersten Roman fertiggestellt hat, übernimmt Jake dessen perfekte Geschichte. Das Buch wird über Nacht zum Bestseller. Dann erreicht Jake plötzlich eine anonyme E-Mail, die nur einen Satz enthält: "Du bist ein Dieb". Mit jeder neuen Nachricht werden die Drohungen schärfer, und was eben noch eine Frage der Ehre und Karriere war, wird bald zu einem lebensgefährlichen Katz-und-Maus-Spiel.
"Wahnsinnig lesenswert" Stephen King
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Seitenzahl: 406
DASBUCH
»Kurze Zeit später, als Jake wieder im Auto saß, las er die erste Nachricht. Sie war ihm über das Kontaktfeld auf seiner Website weitergeleitet worden (Danke, dass Sie meine Website besuchen! Haben Sie Fragen oder Anregungen? Bitte unten eintragen!), etwa zur gleichen Zeit, als er im Radio mit Randy Johnson auf Sendung gegangen war. Seit etwa neunzig radioaktiven Minuten tickte die Bombe nun schon in seinem E-Mail-Eingang. In dem Moment, als sein Blick darauf fiel, stürzte alles in sich zusammen, was an jenem Vormittag – um nicht zu sagen im ganzen letzten Jahr – gut gelaufen war. Die Nachricht stammte von einem gewissen [email protected]. Und so knapp der Text gehalten war, so klar war sein Inhalt: Du bist ein Dieb.«
»Wenn Sie Geschichten mögen, in denen eine einzige schlechte Entscheidung einen gewaltigen, nicht mehr beherrschbaren Schneeballeffekt auslöst, dann ist dies Ihr Buch. Hier kommt eine spektakuläre Lawine.« The New York Times
DIEAUTORIN
Jean Hanff Korelitz hat Buchkritiken, Essays, Theaterstücke, Kinderbücher und Romane veröffentlicht. Ihr New York Times-Bestseller »Du hättest es wissen können« wurde 2020 von HBO unter dem Titel »The Undoing« mit Nicole Kidman, Hugh Grant und Donald Sutherland erfolgreich verfilmt. Korelitz lebt mit ihrem Mann, dem irischen Dichter Paul Muldoon, und ihrer Tochter in New York City.
JEAN HANFF KORELITZ
DER
PLOT
EINE TODSICHERE
GESCHICHTE
Aus dem Amerikanischen
von Sabine Lohmann
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel THEPLOT bei Celadon Books/Macmillan, New York.
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Copyright © 2021 by Jean Hanff Korelitz
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarker Str. 28, 81673 München
Redaktion: Thomas Brill
Herstellung: Mariam En Nazer
Umschlaggestaltung: Favoritbuero unter Verwendung
von Shutterstock.com (Elnur, Miloje)
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-29724-4V003
www.heyne.de
Gute Schriftsteller leihen, große Schriftsteller stehlen.
T. S. Eliot
(aber vermutlich gestohlen von Oscar Wilde)
ERSTER TEIL
1
Jeder kann Schriftsteller werden
Jacob Finch Bonner, der einst vielversprechende Autor des in der New York Times Book Review unter »Neu & Nennenswert« vorgestellten Romans Staunen, schloss das ihm zugewiesene Büro im zweiten Stock der Richard Peng Hall auf, stellte seine abgewetzte, lederne Aktentasche auf den leeren Schreibtisch und sah sich mit einem leisen Gefühl der Verzweiflung um. Das Büro, sein inzwischen viertes in der Richard Peng Hall in ebenso vielen Jahren, war keine sonderliche Verbesserung gegenüber den früheren drei, aber wenigstens blickte es auf eine halbwegs repräsentative Baumallee hinaus anstatt auf den Parkplatz der Jahre zwei und drei oder die Mülltonnen des ersten (ironischerweise hatte er sich damals noch auf der Höhe seines literarischen Ruhms befunden). Das Einzige, dem in diesem Raum irgendetwas Literarisches anhaftete, war die alte Ledertasche, die Jakes Laptop und die Texte seiner demnächst eintreffenden Studenten enthielt. Er hatte die Tasche kurz vor der Veröffentlichung seines ersten Romans auf dem Flohmarkt erstanden, denn sie passte zu dem Image, dem er zu entsprechen versuchte: hochgepriesenerjunger Romanautor trägt noch immer die alte Ledertasche, die ihn durch seine mageren Anfangsjahre begleitet hat! Alle Hoffnung, eines Tages zu dieser Person zu werden, war seit Langem dahin. Und selbst wenn es nicht so gewesen wäre, ließen sich die Kosten für eine neue Tasche keinesfalls rechtfertigen. Nicht mehr.
Richard Peng Hall war eine Sechzigerjahre-Erweiterung des Ripley Campus, ein unschöner Bau aus weißen Betonblöcken. Der Namensgeber Richard Peng war ein Student der Ingenieurwissenschaften aus Hongkong gewesen, und obwohl er seinen späteren Reichtum wohl mehr dem Institut verdankte, das er nach dem Ripley College besuchte (nämlich das MIT), hatte dieses es abgelehnt, ein Gebäude in seinem Namen zu bauen, zumindest nicht für die Summe, die er dafür zur Verfügung stellen wollte. Ursprünglich hatte der Bau den Ingenieurstudiengang beherbergen sollen; er hatte immer noch etwas Technisches, mit seinen seelenlosen Betonmauern und der Glaskasten-Lobby, in der nie jemand saß. Doch als Ripley 2005 seinen Ingenieurfachbereich einstellte (und gleichzeitig all seine natur- und sozialwissenschaftlichen Fächer), um sich, in der überschäumenden Rhetorik seines Aufsichtsrats, »ganz dem Studium und der Praxis der Kunst und der Geisteswissenschaft zu widmen, in einer Welt, welche dieser unterschätzten Werte zunehmend bedarf«, wurde der Masterstudiengang Fiktionales Erzählen, Lyrik und biografisches Schreiben eingerichtet.
Und so waren die Schriftsteller zum Ripley Campus im nördlichen Vermont, dem sogenannten Northeast Kingdom, gepilgert. Natürlich gab es am College schon seit den Fünfzigern Creative-Writing-Kurse, doch bislang nie in wirklich ambitionierter Form. Als Ripley dann in den späten Achtzigern seine große Krise durchmachte und sich einer nüchternen Bestandsaufnahme unterzog, war es – Überraschung! – ausgerechnet diese Sparte, die am meisten Zukunftspotenzial aufwies. Und so hatte Ripley sein erstes (und bislang einziges) Graduiertenprogramm ins Leben gerufen: die Ripley Symposien in Creative Writing. Der Hochglanz-Werbebroschüre sowie der attraktiven College-Website zufolge war Schreiben keine elitäre Beschäftigung, die nur wenigen vom Schicksal Begünstigten vorbehalten war. Jeder Mensch besaß eine eigene Stimme und eine Geschichte, die kein anderer erzählen konnte. Und jeder – besonders mit der Anleitung und Unterstützung der Ripley Symposien – konnte Schriftsteller werden.
Alles, was Jacob Finch Bonner je hatte sein wollen, war Schriftsteller. Und zwar solange er zurückdenken konnte, bis hin zu der Vorstadtsiedlung in Long Island, dem letzten Ort auf Erden, wo ein ernsthafter Künstler herkommen sollte, wo er aber nichtsdestotrotz das Pech gehabt hatte, als einziges Kind eines Steueranwalts und einer Schulpsychologin aufzuwachsen. Niemand wusste so genau, warum er ausgerechnet denen nacheifern wollte, die unter Autoren aus Long Island ein Nischendasein in der örtlichen Leihbücherei fristeten, aber im Elternhaus des jungen Schriftstellers blieben seine Ambitionen nicht unbemerkt. Sein Vater (der Steueranwalt) brachte schwerwiegende Einwände hervor (Schriftsteller verdienten kein Geld! Außer Sidney Sheldon. Wollte Jake etwa behaupten, er sei der nächste Sidney Sheldon?), und seine Mutter (die Schulpsychologin) ließ es sich nicht nehmen, ihn unentwegt daran zu erinnern, dass seine schulischen Leistungen im sprachlichen Bereich höchstens mittelmäßig gewesen waren. (Es war Jake furchtbar peinlich, dass er sogar in Mathe besser abgeschnitten hatte.) Dies alles waren beträchtliche Hürden, die es zu überwinden galt, doch welcher Künstler musste denn keine Hürden überwinden? Er hatte seine ganze Kindheit hindurch beharrlich weitergelesen (immer schon wetteifernd und neiderfüllt), mehr und mehr vom Schulpensum abweichend, die landläufigen Jugendschmöker gleich überspringend, um das Feld seiner zukünftigen Rivalen zu erkunden. Dann hatte er sich an der Wesleyan University eingeschrieben, um Creative Writing zu studieren, wo er zu einer Gruppe von aufstrebenden Jungliteraten gehörte, die alle so ehrgeizig waren wie er selbst.
Der junge Jacob Finch Bonner hatte unentwegt von den Romanen geträumt, die er eines Tages schreiben würde. (Der Name »Bonner« war freilich nicht ganz authentisch – Jakes Urgroßvater väterlicherseits hatte vor gut einem Jahrhundert Bernstein durch Bonner ersetzt –, das »Finch« hatte Jake sich als Schüler zugelegt, als Tribut an das Buch von Harper Lee, das seine Liebe zur Literatur geweckt hatte.) Bei Büchern, die er besonders liebte, stellte er sich manchmal vor, dass er sie selbst geschrieben hatte und Kritikern Interviews dazu gab (stets bescheiden das Lob des Interviewers abwehrend) oder einem zahlreichen, begierigen Publikum in einer Buchhandlung oder irgendeinem voll besetzten Saal daraus vorlas. Er stellte sich sein Foto auf der Rückseite eines Buchumschlags vor (als Vorbild diente ihm das veraltete Modell Schriftsteller-mit-Schreibmaschine oder Schriftsteller-mit-Pfeife) und sah sich viel zu oft beim Signieren seiner Bücher für eine endlos lange Schlange von Lesern. Danke, würde er wohlwollend zu jedem sagen, das ist aber nett von Ihnen. Ja, das ist auch eins meiner Lieblingsbücher.
Es war nicht so, dass Jake nie an das tatsächliche Schreiben seiner zukünftigen Romane dachte. Bücher, das war ihm klar, schrieben sich nicht von selbst. Echte Arbeit, echte Ideen, echte Ausdauer waren nötig, um seine eigenen etwaigen Bücher zur Welt zu bringen. Es war ihm auch klar, dass eine ganze Menge junger Leute eines Tages Bücher schreiben wollten, und es war sogar möglich, dass manche von ihnen mehr Talent besaßen als er, möglicherweise auch mehr Einfallsreichtum oder schlicht und einfach mehr Disziplin. Diese Überlegungen machten ihm wenig Freude, aber er ließ sich von ihnen nicht beirren, das musste man ihm lassen. Jake wusste, er wollte weder Englischlehrer werden (»falls es mit dem Schreiben nichts wird«) noch den Zulassungstest für die juristische Fakultät machen (»warum nicht?«). Er hatte seine Berufung gefunden, und er würde nicht eher ruhen, bis er sein eigenes Buch in Händen hielte und die Welt endlich begreifen würde, was er schon so viele Jahre lang wusste.
Er war ein Schriftsteller.
Ein großer Schriftsteller.
So hatte er sich das jedenfalls ausgemalt.
Es war Ende Juni, und es hatte fast die ganze Woche geregnet in Vermont, als Jake die Tür zu seinem neuen Büro aufschloss. Beim Eintreten merkte er, dass er schmutzige Fußstapfen im Flur und im Zimmer hinterlassen hatte. Er blickte auf seine abgeranzten Sportschuhe hinab – einst weiß, nun bräunlich und durchnässt und natürlich noch nie zu Sportzwecken benutzt – und fand keinen Sinn darin, sie jetzt noch auszuziehen. Er hatte den ganzen langen Tag damit verbracht, von New York hierherzufahren, auf dem Rücksitz zwei Plastiktüten mit Klamotten und die alte Ledertasche, in der sein fast ebenso alter Laptop steckte (darauf der Roman, an dem er gerade arbeitete, wenn auch mehr theoretisch als tatsächlich) sowie die Schnellhefter mit den eingereichten Texten seiner Studenten. Jedes Mal, wenn er die Reise gen Norden antrat, hatte er weniger Gepäck dabei. Im ersten Jahr? Einen großen Koffer, vollgestopft mit fast seiner gesamten Garderobe (denn was sollte man bloß anziehen, wenn man drei Wochen lang umgeben war von sich einschmeichelnden Studenten und gewiss neidischen Professorenkollegen?) sowie diversen Ausdrucken seines zweiten Romans, über dessen Abgabetermin er sich bei jeder Gelegenheit beklagte. Dieses Jahr hatte er hingegen bloß zwei Plastiktüten mit ein paar Jeans und Hemden sowie den Laptop mitgebracht, den er mittlerweile fast nur noch für Essensbestellungen und YouTube nutzte.
Falls er diesen deprimierenden Job nächstes Jahr immer noch machte, würde er den Laptop vermutlich gar nicht mehr mitnehmen.
Nein, Jake freute sich nicht auf das bevorstehende Symposium. Er freute sich nicht auf das Wiedersehen mit seinen öden und nervigen Kollegen, von denen er keinen einzigen als Schriftsteller schätzte, und noch weniger freute er sich darauf, Interesse an einem neuerlichen Bataillon eifriger Studenten zu heucheln, die wahrscheinlich allesamt davon überzeugt waren, eines Tages den großen amerikanischen Roman zu schreiben – oder vielleicht schon geschrieben zu haben.
Am allerwenigsten aber freute er sich darauf, so tun zu müssen, als sei er selbst noch Schriftsteller, ein erfolgreicher obendrein.
Selbstverständlich hatte er keinerlei Vorbereitungen für das beginnende Semester getroffen. Er hatte keinen blassen Schimmer, was ihn in diesen ärgerlich dicken Schnellheftern erwartete. Als er in Ripley anfing, hatte er sich eingeredet, dass »guter Lehrer« ein rühmlicher Zusatz zu »großer Schriftsteller« sein könnte, und er hatte den Texten dieser Leute, die viel Geld hinlegen mussten, um bei ihm studieren zu können, jede Menge Aufmerksamkeit geschenkt. Aber die Hefter, die er nun aus seiner Ledertasche zog und mit deren Durchsicht er schon vor Wochen hätte beginnen sollen, als Ruth Steuben (die hocheffiziente Sekretärin) sie ihm zugeschickt hatte – diese Hefter hatten ihren Weg vom Briefkasten in die Tasche gefunden, ohne ein einziges Mal geöffnet geschweige denn gelesen worden zu sein. Jake warf ihnen einen bösen Blick zu, als wären sie selbst schuld an dem schauderhaften Abend, der ihm bevorstand.
Denn wie interessant konnten diese Leute schon sein, die gerade aus allen Richtungen ins nördliche Vermont strömten, in die sterilen Konferenzräume der Richard Peng Hall und, sobald die Einzelbesprechungen begannen, in dieses Büro? Diese eifrigen Aspiranten würden von ihren Vorgängern nicht zu unterscheiden sein: Berufstätige, die sich nach zehn oder zwanzig Jahren im Arbeitsleben einbildeten, Bestseller wie die von Clive Cussler aus dem Ärmel schütteln zu können, oder Hausfrauen, die Blogs über ihre Kinder schrieben und nicht einsahen, wieso sie das nicht zu regelmäßigen Auftritten in Good Morning America berechtigte, oder frisch Pensionierte, die »zur Schriftstellerei zurückkehren« wollten (im festen Glauben, dass die Schriftstellerei nur auf sie gewartet hatte?). Am schlimmsten waren diejenigen, die Jake an ihn selbst erinnerten: Jungliteraten, zutiefst von sich überzeugt und voller Groll auf all jene, die es geschafft hatten. Den Clive Cusslers und Bloggerinnen konnte man vielleicht noch weismachen, dass Jake ein »hoch angesehener« junger (nunmehr »relativ junger«) Autor war, aber den Möchtegern-David-Foster-Wallaces und -Donna-Tartts, die sicher auch in diesem Stapel zu finden waren? Wohl eher nicht. Diese Gruppe wüsste ganz genau, dass Jacob Finch Bonner zwar bei seinem ersten Versuch mit mehr Glück als Verstand ins Schwarze getroffen hatte, jedoch weder einen annährend so guten zweiten Roman hervorgebracht noch einen dritten begonnen hatte, woraufhin er aufs Abstellgleis für ehemals vielversprechende Talente geschoben worden war, von wo aus kaum jemand den Weg zurückfand. (Abgesehen davon stimmte es gar nicht, dass Jake keinen dritten Roman verfasst hatte, doch in dem Fall war die Unwahrheit der Wahrheit vorzuziehen. Zwar gab es einen dritten Roman und sogar einen vierten, aber diese Manuskripte, die fast fünf Jahre seines Lebens verschlungen hatten, waren von allen Verlagen abgelehnt worden, angefangen mit dem einflussreichen Verleger von Staunen über die respektable University Press, die sein zweites Buch Widerhall herausgegeben hatte, bis hin zu den vielen, vielen kleinen Verlagen, die er unter erheblichem Kostenaufwand erfolglos angeschrieben hatte. Angesichts dessen ließ er seine Studenten lieber in dem Glauben, dass er immer noch verzweifelt mit der Fertigstellung seines zweiten Romans beschäftigt war.)
Auch ohne ihre Texte gelesen zu haben, hatte Jake das Gefühl, seine neuen Studenten schon so eingehend zu kennen wie ihre Vorgänger, also wesentlich eingehender, als ihm lieb war. Er wusste zum Beispiel, dass sie viel weniger begabt waren, als sie glaubten, oder vielleicht genauso miserabel, wie sie heimlich befürchteten. Er wusste, dass sie allesamt Erwartungen an ihn hegten, die er unmöglich erfüllen konnte. Er wusste auch, dass jeder von ihnen scheitern würde und dass sie am Ende dieses Kurses auf Nimmerwiedersehen aus seinem Leben verschwinden würden; was letztlich ja auch das war, was er von ihnen wollte.
Doch vorher musste er dem Ripley-Mythos Genüge tun, der darin bestand, dass sie alle, »Studierende« wie »Lehrkörper«, Kunstschaffende auf Augenhöhe waren, jeder mit seiner einzigartigen Stimme und besonderen Geschichte, alle gleichermaßen wert, diesen magischen Titel zu tragen: Schriftsteller.
Es war kurz nach sieben, und es regnete immer noch. Wenn Jake am folgenden Abend seine neuen Studenten bei der Welcome-Grillparty treffen würde, müsste er den optimistischen Strahlemann geben und so viel Führungsqualität ausstrahlen, dass jeder glauben mochte, der »begnadete« (Philadelphia Inquirer) und »vielversprechende« (Boston Globe) Autor von Staunen täte nichts lieber, als sie persönlich in das Shangri-La des literarischen Ruhms zu geleiten.
Unglücklicherweise führte der einzige Weg von hier nach dort durch diese zwölf Schnellhefter.
Er knipste die Standard-Schreibtischlampe an, ließ sich auf dem Standard-Schreibtischstuhl nieder, der ein gequältes Quietschen von sich gab, und verbrachte erst einmal eine ganze Weile damit, die schmuddeligen Bürowände anzustarren, um den zutiefst freudlosen Abend, der ihm bevorstand, bis zum letzten Moment hinauszuzögern.
Wie oft in den nächsten Jahren, wenn er an diesen Abend zurückdachte, den allerletzten Abend jener Zeit, die er später stets als »davor« ansehen würde – wie oft würde er sich noch wünschen, er hätte sich damals nicht so fatal geirrt? Wie oft, trotz des unfassbaren Glücks, das eine dieser Arbeiten für ihn bereithielt, wie oft würde er sich noch wünschen, er hätte unverzüglich das Weite gesucht, die Spur seiner schmutzigen Fußstapfen aus diesem unpersönlichen Büro hinaus durch den Flur zurückverfolgt, wäre in sein Auto gestiegen und die vielen Stunden nach New York zurückgefahren, zurück zu seinem ganz gewöhnlichen, alltäglichen Scheitern? Aber dafür war es zu spät.
2
Auftritt des Helden
Als die Grillparty am nächsten Nachmittag begann, war Jake schon am Ende seiner Kräfte, denn er hatte sich am Morgen in die Fakultätssitzung geschleppt, obwohl er höchstens drei Stunden geschlafen hatte. Immerhin war es ein kleiner Sieg, dass Ruth Steuben ihm dieses Jahr die Studenten, die sich selbst als Dichter bezeichneten, vom Hals gehalten und Lehrkräften zugeteilt hatte, die sich ebenfalls für Dichter hielten. (Als Prosa-Autor konnte Jake aufstrebenden Lyrikern ohnehin nichts Wertvolles beibringen.) So konnte er wenigstens davon ausgehen, dass die ihm zugeteilten Studenten, ein Dutzend an der Zahl, Prosa verfassten. Aber was für Prosa das war! Die ganze Nacht hatte er sich, befeuert durch Red Bull, durch Texte gekämpft, in denen die Erzählperspektive hin und her sprang, als sei der Erzähler ein Floh, der von einer Figur zur anderen hüpfte und deren Handlung so schwach und zugleich überdreht war, dass sie im schlimmsten Fall keinen Sinn ergab und im besten Fall nicht genug. Die Zeitformen wechselten ständig innerhalb eines Abschnitts (manchmal innerhalb eines Satzes!), und gelegentlich wurden Wörter in einer Weise verwendet, die eindeutig darauf schließen ließ, dass sich der Verfasser über ihre Bedeutung nicht im Klaren war. Was die Grammatik betraf, so ließen die Schlimmsten unter ihnen Donald Trump wirken wie Stephen Fry, und die meisten verfassten Sätze, die man einfach nur … gewöhnlich nennen konnte.
Die Arbeiten in den Schnellheftern enthielten beispielsweise den schockierenden Fund einer verwesenden Leiche an einem Strand (deren Brüste unbegreiflicherweise als »reife Honigmelonen« bezeichnet wurden), eine träge erzählte Charakterstudie von Mutter und Tochter, die zusammen in einem alten Haus lebten, oder den Anfang eines Romans, der in einem Biberbau »im tiefen Wald« spielte. Manche dieser Kostproben erhoben keinen Anspruch auf literarische Qualität, sodass er einfach den Plot straffen und die Prosa mit dem Rotstift disziplinieren konnte; das müsste genügen, um sein Gehalt zu rechtfertigen und seiner Verantwortung nachzukommen. Aber die literarisch ambitionierteren Texte (manche davon waren ironischerweise die stilistisch beklagenswertesten) würden ihn fertigmachen. Das wusste er. Es fing schon an.
Zum Glück war die Fakultätssitzung nicht sonderlich anstrengend. Die Professoren kamen relativ gut miteinander aus, und auch wenn Jake nicht behaupten würde, er sei mit irgendwem von ihnen befreundet, pflegte er sich regelmäßig auf ein Bier mit Bruce O’Reilly zu treffen, einem ehemaligen Dozenten für englische Literatur am Colby College und Autor einer Handvoll Romane, herausgegeben von einem unabhängigen Verlag in seiner Heimat Maine. Dieses Jahr gab es zwei Neuzugänge im Konferenzraum, eine nervöse Lyrikerin namens Alice, die in Jakes Alter zu sein schien, sowie einen Mann, der sich als »Multisparten-Schriftsteller« bezeichnete und seinen Namen, Frank Ricardo, auf eine Weise betonte, als ginge er davon aus, dass sie ihn kennen müssten. (Frank Ricardo? Tatsächlich hatte Jake zu dem Zeitpunkt aufgehört, andere Schriftsteller noch groß zu beachten, als sein vierter Roman eine Ablehnung nach der anderen kassiert hatte – es war einfach zu schmerzhaft geworden – doch er nahm auch nicht an, dass er einen Frank Ricardo kennen müsste.) Nachdem Ruth Steuben ihre Aufzählung beendet und den Lehrplan kurz umrissen hatte, entließ sie alle mit der lächelnd hervorgebrachten Ermahnung, dass die Grillparty für Lehrkräfte eine Pflichtveranstaltung sei. Jake machte, dass er rauskam, bevor irgendeiner seiner Kollegen – ob bekannt oder neu – das Wort an ihn richten konnte.
Die Wohnung, die er gemietet hatte, befand sich ein paar Meilen östlich von Ripley, in einer Straße namens Poverty Lane. Sie gehörte einem örtlichen Farmer – oder vielmehr seiner Witwe – und blickte über die Straße auf einen baufälligen Stall hinaus, der einst Milchkühe beherbergt hatte. Nun verpachtete die Witwe das Land an einen von Ruth Steubens Brüdern und betrieb eine Kindertagesstätte im Farmhaus. Keine Ahnung, meinte sie, was Jake da wohl treibe oder wie so was wie Bücherschreiben in Ripley gelehrt werde oder wer dafür auch noch gutes Geld hinlege – aber seit seinem ersten Jahr in Ripley hatte sie die Wohnung für ihn reserviert; ruhig, höflich, zuverlässig waren wohl Eigenschaften, die man bei Mietern allzu oft vergeblich suchte. In jener Nacht war er um vier Uhr morgens ins Bett gefallen und hatte bis zehn Minuten vor Beginn der Fakultätssitzung geschlafen. Es hatte nicht gereicht.
Die Grillparty wurde auf dem weitläufigen Rasen im Innenhof des Colleges abgehalten, der von den ältesten Ripley-Gebäuden umgeben war, die – anders als die Richard Peng Hall – vertrauenerweckend altertümlich und pittoresk aussahen. Jake belud sich einen Pappteller mit Hühnchen und Maisbrot und wollte sich gerade eine Flasche Heineken aus einer der Kühlboxen holen, als ein blond behaarter Arm seinen eigenen rüde aus dem Weg schob.
»Sorry, Mann«, sagte der wie aus dem Nichts aufgetauchte Rüpel, während seine Finger sich um die Bierflasche schlossen, nach der Jake eben hatte greifen wollen.
»Kein Problem«, entgegnete Jake automatisch.
Wie jämmerlich. Er musste an die Bodybuilding Cartoons in alten Comics denken, in denen ein Kerl wie ein Schrank einem Hänfling Sand ins Gesicht kickte. Der Typ (mittelgroß, mittelblond, breitschultrig) hatte sich schon abgewandt, den Kronkorken ploppen lassen und die Flasche an die Lippen gesetzt. Das Gesicht von dem Arsch konnte Jake nicht sehen.
»Mr. Bonner.«
Jake straffte die Schultern. Eine Frau stand neben ihm. Es war die neue Professorin. Alice … irgendwas. Die Nervöse.
»Hi, Alice, nicht wahr?«
»Alice Logan, ja. Ich wollte Ihnen nur sagen, wie sehr ich Ihr Werk schätze.«
Wie immer stellte sich bei Jake dieses Gefühl ein, das er jedes Mal empfand, wenn jemand diesen Satz aussprach, was durchaus noch von Zeit zu Zeit vorkam. In diesem Kontext konnte »Werk« nur Staunen meinen, ein ruhiger Roman, der in Jakes Heimat Long Island spielte und von einem jungen Mann namens Arthur handelte. Dieser Arthur – der im Leben und in den Ideen Isaac Newtons Trost und Halt findet, als sein Bruder überraschend stirbt – war keineswegs eine Art junger Jake. (Jake hatte keine Geschwister, und er hatte intensiv recherchieren müssen, um einen Protagonisten zu erschaffen, der sich mit dem Leben und den Ideen von Isaac Newton auskannte.) Staunen wurde zur Zeit der Veröffentlichung, und vermutlich immer noch, von jungen Leuten gelesen, die sich intensiv mit Literatur auseinandersetzten. Nicht ein einziges Mal hatte jemand mit dem Satz »ich schätze Ihr Werk« seinen Roman Widerhall gemeint (eine Sammlung von Kurzgeschichten, die sein erster Verleger abgelehnt hatte). Nein, viel Widerhall hatte Widerhall wahrlich nicht gefunden, obwohl unzählige Rezensionsexemplare pflichtschuldig verschickt worden waren (was jedoch keine einzige Rezension zur Folge hatte).
Es hätte sich gut anfühlen sollen, auf Bewunderung zu stoßen, aber irgendwie tat es das nicht. Irgendwie fühlte Jake sich mies. Aber mal ehrlich, tat er das nicht bei allem?
Sie setzten sich an einen der Picknicktische. Nachdem ihm das Heineken weggeschnappt worden war, hatte er es versäumt, sich ein neues Bier zu holen.
»Ihr Buch war toll«, nahm sie das Thema wieder auf. »Und Sie waren … was, fünfundzwanzig, als Sie es geschrieben haben?«
»Ungefähr, ja.«
»Also, mich hat es umgehauen.«
»Danke, das ist nett, dass Sie das sagen.«
»Ich habe es während meines Masterstudiums gelesen. Ich glaube, wir beide waren im gleichen Programm, wenn auch nicht zur gleichen Zeit.«
»Ach ja?«
Jakes Studium, wie offenbar auch das von Alice, war keines von diesem neuartigen Typus mit wenig Campuspräsenz gewesen, sondern eher von der klassischen Sorte, wo man sein Leben an den Nagel zu hängen und sich voll und ganz seiner Kunst zu verschreiben hatte. An eine Universität im Mittleren Westen angeschlossen, war das Programm deutlich prestigeträchtiger als das von Ripley; seit Jahren gingen daraus Dichter und Romanautoren von großer Bedeutung für die amerikanische Literatur hervor, und es war so schwer, aufgenommen zu werden, dass Jake drei Jahre dafür gebraucht hatte. Während dieser drei Jahre wohnte er in einer winzigen Wohnung in Queens und arbeitete für eine Literaturagentur, die auf Science-Fiction und Fantasy spezialisiert war. Das waren keine Genres, die ihn persönlich interessierten, aber unter aufstrebenden Autoren schienen sie jede Menge … Bekloppte anzuziehen. Nicht, dass Jake in dieser Beziehung viele Vergleiche hatte: Keine der renommierten Agenturen, bei denen er sich nach dem College beworben hatte, wollte von seinen Talenten Gebrauch machen. Fantastic Fictions, ein Zweimannbetrieb in Hell’s Kitchen (genau genommen im beengten Hinterzimmer der Privatwohnung des Inhabers, die auf die Bahngleise hinausging), hatte einen Kundenstamm aus etwa vierzig Autoren, von denen die meisten sofort zu größeren Agenturen wechselten, sobald es mit ihnen bergauf ging. Jakes Job war es, solch undankbaren Autoren den Anwalt auf den Hals zu hetzen, chronische Vielschreiber davon abzuhalten, ihre zehnbändigen Romanreihen mit den Agenten besprechen zu wollen, und vor allem, Manuskript um Manuskript zu lesen, in denen es um dystopische Welten auf fernen Planeten ging, um finstere Strafkolonien tief unter der Erde und Legionen von postapokalyptischen Rebellen, die sich gegen sadistische Warlords auflehnten.
Einmal hatte er tatsächlich ein vielversprechendes Projekt aus dem Berg von Schrott ausgegraben. Die Story hatte eindeutig Potenzial gehabt, doch die zwei Versager, die ihn angestellt hatten, ließen das Manuskript auf ihrem Schreibtisch vergammeln und winkten bloß ab, wenn er sie daran erinnerte. Schließlich hatte Jake aufgegeben, und als er ein Jahr später in Variety las, dass das Buch an die Filmproduktionsfirma Miramax verkauft worden war (mit Sandra Bullock in der Hauptrolle), hatte er den Artikel sorgfältig ausgeschnitten. Sechs Monate später, als er endlich in das Masterprogramm aufgenommen wurde und seinen Job kündigte – Oh Happy Day! –, hatte er seinem Boss den Zeitungsausschnitt auf den Schreibtisch gelegt, mitten auf das verstaubte Manuskript. Jake hatte seinen Job gemacht. Er hatte schon immer einen Riecher für einen guten Plot gehabt.
Anders als viele seiner Mitstudenten (von denen manche schon einiges publiziert hatten, meist in literarischen Zeitschriften) hatte Jake keinen Moment dieser kostbaren zwei Jahre seines Studiums vergeudet. Pflichtbewusst hatte er jedes Seminar besucht, jede Vorlesung, jeden Workshop, und es erfolgreich vermieden, sich in eine Schreibblockade (an sich schon ein Mythos) hineinzusteigern. Zwei Jahre später hatte er eine erste Fassung von Staunen zu Papier gebracht. Er reichte es als seine Masterarbeit ein und für jeden infrage kommenden Preis, der im Rahmen des Studiengangs vergeben wurde. Einen gewann er sogar. Und was noch wichtiger war, er verschaffte ihm einen Agenten.
Wie sich herausstellte, war Alice nur wenige Wochen nach Jakes Fortgang auf dem Campus im Mittleren Westen angekommen. Als im folgenden Jahr sein Roman erschien, hing eine Kopie des Covers am Schwarzen Brett.
»Ich meine, das ist doch fantastisch! Nur ein Jahr nach Ihrem Abschluss!«
»Ja, Wahnsinn.«
Die Stimmung zwischen ihnen drohte zu kippen. Schließlich sagte Jake: »Sie schreiben also Gedichte.«
»Ja. Ich habe meine erste Sammlung letzten Herbst herausgebracht. Mit der University of Alabama Press.«
»Gratuliere. Ich wünschte, ich würde mehr Lyrik lesen.«
Das stimmte zwar nicht, aber er wünschte, er würde sich wünschen, mehr Lyrik zu lesen, das musste doch auch gelten.
»Und ich wünschte, ich könnte einen Roman schreiben.«
»Vielleicht können Sie das ja.«
Alice schüttelte den Kopf. Sie schien … es war absurd, aber flirtete diese Dichterin etwa mit ihm? Wozu?
»Ich wüsste nicht, wie. Ich meine, ich lese gern Romane, aber es strengt mich unheimlich an, auch nur eine Zeile zu schreiben. Ich kann mir das gar nicht vorstellen, Seite um Seite, und immer so weiter, ganz zu schweigen davon, dass die Figuren sich authentisch anfühlen müssen und die Story originell. Verrückt, dass Leute so was überhaupt können. Und auch noch mehr als ein Mal! Ich meine, Sie haben doch noch ein zweites Buch geschrieben, oder?«
Und ein drittes und ein viertes, dachte er. Ein fünftes, wenn man das mitzählte, was sich zurzeit auf seinem Laptop befand, das er sich aber seit fast einem Jahr nicht mehr angeschaut hatte. Er nickte.
»Als ich diesen Job bekommen habe, waren Sie der Einzige, dessen Werk ich kannte. Ich dachte mir, wenn Sie hier sind, dann wird’s schon okay sein.«
Jake nahm einen vorsichtigen Bissen von seinem Maisbrot: trocken, wie zu erwarten. Seit Jahren hatte er keine solche Anerkennung mehr erfahren; es war unglaublich, wie schnell die narkotisierend warmen Gefühle zurückgeflutet kamen. So fühlte es sich also an, bewundert zu werden, und zwar von jemandem, der genau wusste, wie schwer es war, eine richtig gute Zeile Prosa zu schreiben. Früher hatte er gedacht, sein Leben würde voll von solchen Begegnungen sein, mit Schriftstellerkollegen und interessierten Lesern (die sein beständig wachsendes und an Tiefe gewinnendes Œuvre lasen) sowie mit Studierenden, die überglücklich wären, von dem gefeierten jungen Autor Jacob Finch Bonner unterrichtet zu werden. Ein Dozent, mit dem man nach dem Seminar ein Bier trinken konnte!
Nicht, dass Jake je mit einem seiner Studenten ein Bier trinken gegangen wäre.
»Wirklich sehr nett von Ihnen, das zu sagen.« Er lächelte Alice mit gespielter Bescheidenheit an.
»Im Herbst fange ich als feste Lehrkraft an der Johns Hopkins an, aber ich habe noch nie unterrichtet. Wer weiß, vielleicht bin ich damit ja komplett überfordert.«
Er sah sie an, und seine letzte Reserve an Wohlwollen schmolz dahin. Ein Lehrauftrag an der Johns Hopkins University war nicht zu verachten. Wahrscheinlich hatte sie dafür ein paar Hundert Lyrikerinnen aus dem Feld geschlagen. Ihre Publikation bei einer University Press war sicher auch das Resultat eines Preises, fiel ihm jetzt ein. Möglicherweise war diese Frau sogar eine große Nummer, zumindest in der Welt der Lyrik. Der Gedanke raubte ihm das letzte bisschen Kraft.
»Ich bin sicher, Sie kriegen das gut hin«, sagte er. »Im Zweifelsfall ermutigen Sie die Studenten einfach. Dafür werden wir ja schließlich bezahlt.« Er rang sich ein Grinsen ab. Es fühlte sich furchtbar angestrengt an.
Nach kurzem Zögern erwiderte Alice sein Grinsen, wirkte jedoch genauso unentspannt wie er.
»Hey, braucht ihr den noch?«, tönte es hinter ihnen.
Jake blickte auf. Auch wenn er das Gesicht nicht erkannte, der Arm war unverkennbar, an seinem Ende ein ausgestreckter Zeigefinger. Auf der rot karierten Plastikdecke lag ein Flaschenöffner.
»Wie bitte?«, sagte Jake. »Ach so, nein.«
»Die Leute suchen den nämlich. Er sollte drüben beim Bier liegen bleiben.«
Der Vorwurf lag auf der Hand: Jake und Alice, zwei offensichtlich vollkommen unbedeutende Zeitgenossen, hatten diesem Ausnahmetalent und seinen Freunden den dringend benötigten Zugang zum Getränk ihrer Wahl vorenthalten.
»Also, ich nehm den jetzt mit«, sagte der Blonde und schnappte ihn sich. Die beiden Professoren beobachteten schweigend den ihnen zugewandten Rücken dieses mittelgroßen, mittelblonden, breitschultrigen Studenten, der seinen Arm mit dem Flaschenöffner triumphierend in die Höhe reckte.
»Charmant«, brach Alice das Schweigen.
Der Typ marschierte zurück an einen der anderen Tische, voll besetzt mit Studenten, die sich dicht auf den Bänken drängten und Klappstühle dazugestellt hatten.
Schon gleich am ersten Abend hatte diese Gruppe sich offensichtlich als Alpha-Clique etabliert, und dem Heldenempfang nach, den die Tischgenossen dem Blonden bereiteten, war er ihr Mittelpunkt.
»Hoffentlich ist er kein Lyriker«, seufzte Alice.
Unwahrscheinlich, dachte Jake. Alles an dem Typ schrie ROMANSCHRIFTSTELLER, obwohl die Spezies als solche sich in verschiedene Kategorien unterteilen ließ:
1. Großer amerikanischer Schriftsteller
2. New York Times-Bestsellerautor
Oder die seltene Mischform …
3. Großer amerikanischer Bestsellerautor
Ob der triumphierende Retter des entführten Flaschenöffners Jonathan Franzen oder James Patterson nacheifern wollte, machte praktisch gesehen keinen Unterschied. Ripley unterschied nicht zwischen hoher Literatur und Mainstream, also würde dieses Nonplusultra an Selbstgefälligkeit am nächsten Morgen höchstwahrscheinlich in Jakes Seminar auftauchen. Und er konnte absolut nichts dagegen tun.
3
Evan Parker/Parker Evan
Und siehe da: Am nächsten Morgen um zehn kam er auch schon hereinstolziert ins Peng 101 (das Seminarzimmer im Erdgeschoss), warf einen kurzen Blick zum Kopfende des Tisches, ohne Jake (Jacob Finch Bonner!) im Geringsten zur Kenntnis zu nehmen, und nahm Platz. Er langte nach dem Stapel Fotokopien in der Mitte des Tisches, und Jake sah ihn mit abfälliger Miene durch die Seiten blättern, um sie dann neben Collegeheft, Stift und Wasserflasche abzulegen. (Das College händigte die Flaschen bei der Einschreibung aus, und das war auch das Einzige, was es gratis gab.) Anschließend begann er ein lautes Gespräch mit seinem Nachbarn, einem rundlichen Gentleman aus Cape Cod, der sich Jake wenigstens am Vorabend vorgestellt hatte.
Mit fünf Minuten Verspätung begann der Unterricht.
Es war wieder ein regnerischer Tag, und die Studenten – neun an der Zahl – fingen an, sich nach und nach aus ihren Jacken zu schälen, während der Workshop langsam in Gang kam. Jake spulte sein Standardprogramm ab: Er stellte sich der Gruppe vor, gab einen kurzen Abriss seines Werdegangs (ohne sich bei seinen Publikationen aufzuhalten; wenn sie seine Werke nicht zu schätzen wussten, wollte er es lieber nicht in ihren Mienen sehen) und erzählte ein bisschen, was in einem Creative Writing Workshop erreicht werden konnte. Er gab ein paar allgemeine Tipps (immer positiv bleiben! Persönliche Kommentare und politische Ideologien vermeiden!) und forderte die Teilnehmer dann auf, etwas über sich zu erzählen: wer sie seien, was sie schrieben, was sie sich von Ripley für ihre schriftstellerische Entwicklung erhofften. (Dies war immer eine verlässliche Methode gewesen, die Einführungsstunde herumzubringen. Wenn noch Zeit blieb, würden sie sich die drei Texte vornehmen, die er für das erste Treffen fotokopiert und ausgelegt hatte.)
Um Studierende anzulocken, spannte Ripley seine Netze weit – neuerdings gab es außer den Hochglanzbroschüren und der Website auch noch Anzeigen auf Facebook –, doch obwohl die Bewerberzahlen sicher gestiegen waren, blieb die Anzahl der Studenten pro Semester doch übersichtlich. Kurzum, jeder, der hier studieren wollte und es sich leisten konnte, war willkommen. (Andrerseits war es durchaus möglich, hinausgeworfen zu werden; dies war seit Beginn der Symposien schon etlichen Studenten gelungen, meist wegen extremer Unverschämtheit im Unterricht, dem Tragen einer Schusswaffe oder weil sie sich ganz einfach benommen hatten wie Verrückte.) Wie vorhergesehen, bestand die Gruppe praktisch zu gleichen Teilen aus Studierenden, die davon träumten, Literaturpreise zu gewinnen, und solchen, die davon träumten, ihre Bücher in Drehauslagen am Flughafen zu sehen, und da Jake keines dieser Ziele selbst erreicht hatte, wusste er, dass er als Lehrer einige Herausforderungen zu überwinden haben würde. In seinem Seminar waren gleich zwei Frauen, die Elizabeth Gilbert als ihr Vorbild bezeichneten, ein Mann, der bereits sechshundert Seiten eines autobiografischen Romans vorweisen konnte, und ein Gentleman aus Montana, der eine neue Version von Les Misérables zu schreiben plante, um Victor Hugos »Fehler« zu korrigieren.
Jake hatte den Eindruck, dass die Gruppe sich hauptsächlich deshalb einig war über die Absurdität der vorgestellten Projekte, weil der blonde Typ die ganze Zeit ein abfälliges Grinsen zur Schau trug, aber ganz sicher war er sich nicht.
Der Blonde verschränkte die Arme. Mit einem Grinsen im Gesicht hing er zurückgelehnt in seinem Stuhl, und irgendwie sah das bei ihm sogar bequem aus. »Evan Parker«, sagte er ohne Einleitung. »Aber ich überlege, das umzudrehen.«
Jake runzelte die Stirn. »Als Pseudonym, meinen Sie?«
»Ja, wegen der Privatsphäre. Parker Evan.«
Jake musste sich das Lachen verkneifen … Stephen King oder John Grisham wurden im Supermarkt wohl hin und wieder mal um ein Autogramm gebeten, aber die Privatsphäre der meisten Schriftsteller, auch derjenigen, die von ihrer Arbeit leben konnten, war privater, als ihnen lieb war.
»Und welche Art von Literatur?«
»Ich halte nicht viel von Labels.« Evan Parker/Parker Evan strich sich seine Haartolle aus dem Gesicht. Sie fiel ihm sofort wieder in die Augen, aber vielleicht war das Absicht. »Mir geht’s nur um die Story. Entweder man hat einen guten Plot oder nicht. Wenn’s kein guter Plot ist, dann hilft auch die beste Schreibe nichts. Und wenn’s ein guter Plot ist, dann macht ihn auch die mieseste Schreibe nicht kaputt.«
Dieser recht bemerkenswerte Satz wurde mit Schweigen aufgenommen.
»Schreiben Sie Kurzgeschichten? Oder einen Roman?«
»Roman«, antwortete er knapp, als hätte Jake da irgendwelche Zweifel geäußert. Die er durchaus hatte.
»Das ist ein großes Unterfangen.«
»Schon klar«, entgegnete Evan Parker bissig.
»Möchten Sie uns denn etwas über den Roman erzählen, den Sie zu schreiben planen?«
Er blickte sofort misstrauisch. »Was meinen Sie mit – ›etwas‹?«
»Na ja, etwas über den Schauplatz zum Beispiel? Die Figuren? Oder ein bisschen was über die Handlung? Haben Sie schon einen Plot entworfen?«
»Hab ich«, sagte Parker mit unverhohlener Abwehr. »Ich ziehe es vor, nicht darüber zu reden.« Er schaute sich um. »Nicht hier.«
Auch ohne die anderen direkt anzusehen, spürte Jake die allgemeine Betroffenheit, nur war er derjenige, von dem sie eine Reaktion erwarteten.
»Dann bleibt wohl bloß noch die Frage«, sagte Jake, »wie ich – wie dieses Seminar – Ihnen helfen kann, sich als Schriftsteller weiterzuentwickeln.«
»Ach«, meinte Evan Parker/Parker Evan, »ich will mich gar nicht unbedingt weiterentwickeln. Ich bin ein ganz guter Autor, und mit meinem Roman bin ich schon ziemlich weit. Ehrlich gesagt bin ich mir gar nicht so sicher, ob man gutes Schreiben überhaupt lernen kann. Ich meine, selbst vom besten Lehrer.«
Die Verunsicherung rund um den Seminartisch war mit Händen zu greifen. Ein paar der Seminarteilnehmer, dachte Jake, bereuten vielleicht schon, ihr Studiengeld vergeudet zu haben.
»Nun, das würde ich so natürlich nicht unterschreiben«, sagte er mit einem gezwungenen Lächeln.
»Das will ich auch hoffen!«, rief der Mann aus Cape Cod.
»Ich bin neugierig«, sagte die Frau rechts neben Jake, die ›fiktionale Memoiren‹ über ihre Kindheit in Cleveland schrieb. »Wieso bist du hier, wenn du glaubst, dass man schreiben nicht lernen kann? Wieso schreibst du deinen Roman nicht einfach alleine?«
»Na ja«, Evan Parker/Parker Evan zuckte die Schultern, »ich bin offensichtlich nicht gegen Creative-Writing-Programme, sonst wäre ich nicht hier. Die Frage ist, ob es was bringt, das ist alles. Ich schreibe bereits an meinem Roman, und ich weiß, dass er verdammt gut ist. Aber ich dachte, selbst wenn ich nicht von dem Studiengang profitiere, gegen einen Master-Abschluss wäre nichts einzuwenden. Ein akademischer Grad kann nie schaden, oder? Und vielleicht springt am Ende noch ein Agent dabei raus.«
Lange herrschte betretenes Schweigen, und einige der Studenten blätterten verschämt in dem Lehrmaterial vor sich. Schließlich sagte Jake: »Ich bin froh, dass Sie mit Ihrem Projekt so weit fortgeschritten sind, und ich hoffe, wir können Ihnen hier und da helfen. Aber wir wissen alle, Schreiben ist eine einsame Tätigkeit. Wir verrichten unsere Arbeit im Stillen – keine Konferenzen, kein Brainstorming, kein Teambuilding. Vielleicht ist das Teilen und Vergleichen mit anderen Schriftstellern deshalb immer wichtiger geworden. Und nicht nur wegen der Gemeinschaft, sondern auch, weil wir tatsächlich anderer Leute Sicht auf unsere Texte brauchen. Wir müssen wissen, was funktioniert und, wichtiger noch, was nicht. Auf uns allein können wir uns da meist nicht verlassen. Ganz gleich, wie erfolgreich ein Autor ist – ich möchte wetten, alle haben eine Vertrauensperson, die ihre Manuskripte liest, bevor sie ein Agent oder Verleger zu Gesicht bekommen. Und um dem noch einen praktischen Aspekt hinzuzufügen, wir haben mittlerweile ein Verlagswesen, in dem die Rolle des Lektors weniger ausgeprägt ist. Heutzutage wollen die Verleger möglichst druckfertige Texte, die direkt in die Herstellung gehen können; falls Sie glauben, Maxwell Perkins warte nur auf Ihr im Werden begriffenes Manuskript, damit er die Ärmel hochkrempeln und es in den Großen Gatsby verwandeln kann: Nein, so was passiert schon lange nicht mehr.«
Zu seiner Betrübnis musste er feststellen, dass der Name »Maxwell Perkins« ihnen nichts sagte.
»Mit anderen Worten, wir tun gut daran, solche Leser zu finden und sie an unserem Schaffensprozess teilhaben zu lassen, und genau das tun wir hier in Ripley. Das kann man so förmlich oder locker angehen, wie man mag, doch ich glaube, es ist unsere Aufgabe in dieser Gruppe, zu dem Werk unserer Schriftstellerkollegen beizutragen, was wir können, und uns ihrem Rat so weit wie möglich zu öffnen. Was mich mit einschließt, nebenbei gesagt. Ich habe nicht vor, mit eigenen Textbeiträgen Ihre Zeit zu verschwenden, aber ich erwarte, eine ganze Menge von den Autoren in diesem Raum zu lernen, sowohl von der Arbeit an Ihren Projekten als auch von den Kommentaren und Vorschlägen zu dem Werk Ihrer Kommilitonen.«
Evan Parker/Parker Evan hatte während dieser halbwegs beflügelten Ansprache nicht aufgehört zu grinsen. Jetzt unterstrich er seine Belustigung mit einem Kopfschütteln. »Ich habe nichts dagegen, meine Meinung zu den Texten der anderen abzugeben, aber erwarten Sie nicht von mir, dass ich auch nur ein Komma an meinem Text ändere, weil jemand seine Nase da reinsteckt. Ich weiß, was ich hier habe. Es gibt wohl niemanden auf der Welt, egal wie miserabel er schreibt, der einen Plot wie meinen verderben könnte. Mehr will ich dazu nicht sagen.«
Und damit verschränkte er erneut die Arme und presste die Lippen zusammen, wie um zu gewährleisten, dass keine weitere Krume seiner Weisheit ihm entschlüpfte. Evan Parkers/Parker Evans großes Werk im Werden war vor den unwürdigen Augen und Ohren der Erstsemester sicher.
4
Eine todsichere Sache
Die Mutter und die Tochter in dem alten Haus: Das war sein Text. Wenn je ein Prosawerk weniger nach einem verblüffend spannenden Plot aussah, dann höchstens ein Exposé über das Trocknen von Farbe. Um sicherzugehen, dass sich hinter den öden Alltagsbeschreibungen von Mutter und Tochter kein Meisterwerk verbarg, las sich Jake die Arbeit vor seinem Treffen mit dem Verfasser besonders sorgsam durch, doch sie hatte nichts Meisterliches an sich …
Zugleich ärgerte es ihn, dass der Text gar nicht mal schlecht geschrieben war. Evan Parker – und Evan Parker würde er bleiben, bis der angedrohte Erfolg seines Buches ein privatsphärenschützendes Pseudonym rechtfertigte – Evan Parker also mochte im Seminar mit seinem angeblich spektakulären Plot übertrieben haben, doch immerhin hatte Jakes unliebsamer Student acht Seiten untadelige Prosa produziert, ohne offensichtliche Makel oder die üblichen sprachlichen Nachlässigkeiten. Anscheinend war das Arschloch ein Naturtalent, mit einem Sprachgefühl, das selbst prestigeträchtigere Colleges als Ripley nicht lehren konnten und das auch Jake keinem seiner Studenten je beigebracht hatte. Parker schrieb mit einem Auge fürs Detail und einem Ohr für die Art und Weise, wie sich Wörter zu Sätzen formen sollten. Seine Protagonisten (eine Mutter namens Diandra und ihre halbwüchsige Tochter, Ruby) sowie ihr geräumiges altes Haus in irgendeiner Ecke des Landes, wo im Winter immer Schnee lag, beschwor er mit wenigen Worten herauf, die sowohl diese zwei Menschen als auch die ungute Spannung zwischen ihnen lebendig werden ließen. Ruby, die streberhafte und schlecht gelaunte Tochter, trat schon nach ein paar Seiten als eine genau beobachtete und vielschichtige Figur in Erscheinung. Diandra, die Mutter, war weniger genau beschrieben, jedoch war ihre Anwesenheit in diesem großen Haus, aus Sicht der Tochter, stark spürbar. Selbst wenn sich die eine nicht in der Nähe der anderen befand, war ihre gegenseitige Abneigung offenkundig.
Jake war den Text schon zweimal durchgegangen; gleich am Anfang während seines nächtlichen Lesemarathons und dann noch mal nach der ersten Seminarstunde, aus purer Neugier und in der Hoffnung, mehr über diesen Wichtigtuer herauszukriegen. Als Jake begriffen hatte, dass Evan Parker der Autor jener Mutter-Tochter-Geschichte war, die zwar gut geschrieben, aber absolut handlungsarm war – von einem »unkaputtbaren« Plot konnte keine Rede sein –, hätte er fast aufgelacht.
Nun, da seine erste Sprechstunde mit ihm anstand, setzte er sich hin und las die paar Seiten zum dritten und hoffentlich letzten Mal.
Sogar oben in ihrem Schlafzimmer konnte Ruby hören, wie ihre Mutter unten telefonierte. Sie konnte zwar nicht genau verstehen, was sie sagte, doch sie wusste genau, wenn Diandra in ihrer Hellseher-Hotline hing, weil ihre Stimme dann immer viel höher klang, so als ob Diandra (oder zumindest ihr Hellseher-Alias, Sister Dee Dee) über allem schwebte und auf die arme Seele, die da angerufen hatte, herabblickte. Wenn die Stimme ihrer Mutter normal und unbeteiligt klang, wusste Ruby, dass Diandra gerade einem ihrer Kundenservice-Jobs nachging. Und wenn sie sich gurrend und säuselnd anhörte, war es der Telefonsex-Chat, der während der letzten zwei Jahre der Soundtrack zu Rubys Leben gewesen war.
Ruby saß unten in der Küche an einer Geschichtsarbeit, die sie freiwillig nachholte. Es ging darin um den Bürgerkrieg, und sie hatte eine Frage falsch beantwortet, nämlich was ein Carpetbagger war und wo das Wort herkam. Es war nur ein kleiner Fehler, der allerdings verhindert hatte, dass sie wie immer Klassenbeste wurde. Natürlich hatte sie umgehend um fünfzehn neue Fragen gebeten.
Mr. Brown hatte versucht, ihr klarzumachen, dass 94 Punkte ihre Note nicht gefährden würden, aber sie wollte das nicht gelten lassen.
»Ruby, du hast eine Frage verfehlt. Das ist nicht das Ende der Welt. Außerdem wirst du dich auf die Weise immer daran erinnern, was ein Carpetbagger ist. Darum geht’s.«
Darum ging es eben nicht. Es ging darum, die maximale Punktzahl zu erreichen, weil Ruby damit direkt aufs College wechseln konnte – hoffentlich mit einem Stipendium und hoffentlich weit, weit weg von diesem Haus. Nicht, dass sie die geringste Lust verspürte, das Mr. Brown zu erklären. Aber sie bettelte um eine zweite Chance, und schließlich gab er nach.
»Okay. Aber schreib die Arbeit zu Hause. Lass dir Zeit. Schlag in aller Ruhe nach.«
»Ich mach’s gleich heute Abend. Und ich schwöre, ich werde ganz bestimmt nichts nachschlagen.«
Seufzend setzte er sich hin, um weitere fünfzehn Fragen zu formulieren, nur für sie.
Sie schrieb gerade länger als nötig an einem Aufsatz über den Ku-Klux-Klan, als ihre Mutter in die Küche kam, das Telefon zwischen Schulter und Ohr geklemmt, die Hand nach der Kühlschranktür ausgestreckt.
»Schätzchen, sie ist ganz in der Nähe. Ich spüre sie.«
Stille. Ihre Mutter sammelte wohl gerade Informationen. Ruby versuchte, sich wieder dem Ku-Klux-Klan zuzuwenden.
»Ja, sie vermisst dich auch. Sie wacht über dich. Sie wollte mir eine Botschaft für dich mitgeben … was sagst du, Schätzchen?«
Diandra stand jetzt vor dem offenen Kühlschrank und langte nach einer Dose Dr Pepper light.
»Eine Katze? Sagt dir das was?«
Stille. Ruby blickte auf ihr Arbeitsblatt. Sie hatte noch neun Fragen zu beantworten, konnte sich aber nicht konzentrieren.
»Ja, sie sagt, es war eine getigerte Katze. Wie geht’s denn der Katze, Schätzchen?«
Ruby lehnte sich auf der Eckbank zurück. Sie hatte Hunger, aber sie hatte sich vorgenommen, nichts zum Abendessen zu machen, bis sie die Arbeit fertig und ihrem Lehrer bewiesen hatte, was sie beweisen wollte. Wie immer, wenn die Woche zu Ende ging, war der Kühlschrank ziemlich leer, doch sie hatte nachgesehen, es gab eine Tiefkühlpizza und noch ein paar grüne Bohnen.
»Oh, das ist gut zu wissen. Das wird sie freuen. Nun, Schätzchen, die halbe Stunde ist fast um. Hast du noch mehr Fragen an mich? Soll ich noch in der Leitung bleiben?«
Jetzt wandte Diandra sich zurück zur Treppe, und Ruby sah ihr nach. Das Haus war uralt. Es hatte ihren Großeltern gehört und davor schon den Eltern ihres Großvaters, und obwohl es einige Veränderungen gegeben hatte, neue Tapeten und Wandfarbe und im Wohnzimmer einen Teppichboden, der mal beige gewesen war, konnte man an einigen Wänden noch das alte Schablonenmuster erkennen. Im Flur, zum Beispiel, rings um die Haustür: eine Bordüre aus ziemlich krumm geratenen Ananas. Den Sinn dieses Motivs hatte Ruby nie verstanden, bis sie auf einem Schulausflug in ein Volkskundemuseum dem gleichen Muster begegnet war. Anscheinend war die Ananas ein Symbol der Gastfreundschaft, womit sie in ihrem Haus ganz und gar fehl am Platz war, denn Diandras ganzes Leben war das Gegenteil von gastfreundlich. Ruby konnte sich nicht mal mehr erinnern, wann zuletzt jemand auf eine Tasse von dem scheußlichen Kaffee vorbeigekommen war, den ihre Mutter kochte.
Ruby beugte sich wieder über ihre Schulaufgabe. Die Tischplatte war noch klebrig vom Frühstückssirup oder den Käsemakkaroni gestern Abend. Sie und ihre Mutter aßen nie zusammen. Ruby vermied es so weit wie möglich, sich in Ernährungsdingen auf ihre Mutter zu verlassen, die ihre mädchenhafte Figur – von hinten sahen Mutter und Tochter sich zum Verwechseln ähnlich – offenbar der Beschränkung auf Selleriestangen und Dr Pepper verdankte. Diandra hatte aufgehört, für ihre Tochter zu kochen, als Ruby neun war und gelernt hatte, sich ihre Dosenspaghetti selbst aufzumachen.
Paradoxerweise wurden sie sich äußerlich immer ähnlicher, je weniger sie sich zu sagen hatten. Nicht, dass sie je eine liebevolle Beziehung gehabt hätten; Ruby konnte sich an kein Kuscheln vor dem Schlafen erinnern, keine Puppenteepartys, Geburtstagstorten oder Weihnachtsbescherungen und an keine mütterlichen Ratschläge oder liebevollen Gesten, wie sie sie manchmal in Disneyfilmen sah (meist kurz bevor die Mutter starb oder verschwand). Diandra erfüllte nur das Minimum an mütterlichen Pflichten, sie also stellte sicher, dass Ruby geimpft wurde und ein Dach über dem Kopf hatte (wenn auch in einer eisigen alten Bruchbude), zur Schule ging (wenn man diese anspruchslose Provinzanstalt überhaupt Schule nennen konnte). Ebenso wie Ruby schien Diandra es kaum erwarten zu können, dass das alles endlich vorbei war.
Aber so sehr wie Ruby konnte sie es sich gar nicht wünschen. Nicht einmal annähernd.
Seit dem vorigen Sommer jobbte Ruby in der örtlichen Bäckerei. Seit diesem Herbst passte sie zusätzlich jeden Sonntagvormittag auf die kleineren Kinder der Nachbarn auf, während der Rest der Familie in die Kirche ging. Die Hälfte von dem, was sie verdiente, wanderte in die Haushaltskasse, die andere Hälfte jedoch versteckte Ruby in einem Chemiebuch, sicher der letzte Ort, an dem ihre Mutter danach suchen würde. Es war nicht einfach, die Schule und ihre zwei Jobs unter einen Hut zu bekommen. Doch das war alles Teil des Plans gewesen, der etwa zu der Zeit Gestalt annahm, als sie ihre erste Dose Spaghetti aufgemacht hatte. Der Plan hieß Mach-dass-du-hier-rauskommst, und sie war nie auch nur eine Sekunde lang davon abgerückt. Nun war sie fünfzehn und in der Elften, nachdem sie die erste Klasse übersprungen hatte. In zwei Monaten würde sie sich am College bewerben können. In einem Jahr würde sie endgültig auf und davon sein.