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Ein geniales Familienepos
Von außen gesehen ist das Leben der wohlhabenden Familie Oppenheimer aus New York City eine Erfolgsgeschichte. Doch die Ehe von Salo und Johanna ist distanziert und von einem Unglück überschattet. Auch ihre Drillinge spüren keinerlei familiäre Bindung und können es kaum erwarten, einander zu entkommen. Als Harrison, Lewyn und Sally aufs College gehen, trifft Johanna die einsame Entscheidung, ein viertes Kind zu bekommen: die letzte, vor siebzehn Jahren eingefrorene Eizelle. Welche Rolle wird diese Nachzüglerin in der zerrissenen Familie spielen?
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Seitenzahl: 653
Das Buch
Von außen gesehen ist das Leben der wohlhabenden Familie Oppenheimer aus New York City eine Erfolgsgeschichte. Doch die Ehe von Salo und Johanna ist distanziert und von einem Unglück überschattet. Auch ihre Drillinge spüren keinerlei familiäre Bindung und können es kaum erwarten, einander zu entkommen. Als Harrison, Lewyn und Sally aufs College gehen, trifft Johanna die einsame Entscheidung, ein viertes Kind zu bekommen: die letzte, vor siebzehn Jahren eingefrorene Eizelle. Welche Rolle wird diese Nachzüglerin in der zerrissenen Familie spielen?
Zur Autorin
Jean Hanff Korelitz hat Essays, Theaterstücke, Kinderbücher und Romane veröffentlicht. Eines ihrer Bücher, Du hättest es wissen können, wurde 2020 von HBO unter dem Titel The Undoing mit Nicole Kidman, Hugh Grant und Donald Sutherland erfolgreich verfilmt. Ihr Thriller Der Plot war 2021 ein New York Times-Bestseller. Korelitz lebt mit ihrem Mann, dem irischen Dichter Paul Muldoon, in New York City.
JEAN HANFF KORELITZ
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Sabine Lohmann
Blessing
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel THELATECOMER bei Celadon Books/Macmillan, New York
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Das Motto stammt aus:
Evelyn Waugh, Wiedersehen mit Brideshead, Übersetzt von pociao, Diogenes, Zürich, 2013, S. 325 f.
Copyright © 2022 by Jean Hanff Korelitz
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2024 by Karl Blessing Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Angelika Lieke
Umschlaggestaltung: Favoritbüro, München
Umschlagabbildung: © The Good Brigade/Getty Images
Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-32710-1V001
www.blessing-verlag.de
Für Leslie Vought Kuenne,in memoriam
»Ich habe ihn […] mit einem verborgenen Haken und einer unsichtbaren Leine gefangen, die lang genug ist, um ihn bis ans Ende der Welt wandern zu lassen und dann mit einem kleinen Ruck an der Schnur wieder zurückzuholen.«
C. K. Chesterton, in: Evelyn Waugh, Wiedersehen mit Brideshead
Die Oppenheimer-Drillinge – die von niemandem, der sie kannte, als »die Oppenheimer-Drillinge« bezeichnet wurden – hatten sich seit ihren Anfängen in der gemeinsamen Petrischale immer schon auf der Flucht voreinander befunden. Keiner der drei – Harrison (der Schlaue), Lewyn (der Schräge) oder Sally (das Mädchen) – empfand auch nur einen Hauch von Zuneigung für einen der anderen, hatte Bruder oder Schwester je mit geschwisterlicher Verbundenheit wahrgenommen, geschweige denn als Gegenüber in einer liebevollen und unauflöslichen Familienbeziehung.
Und das, wohlgemerkt, trotz des jahrelangen Bemühens zumindest eines Elternteils, ganz zu schweigen von den unermesslichen Privilegien, die sie genossen hatten, angefangen mit den nicht unbeträchtlichen Summen, die allein für ihr Zustandekommen aufgewendet wurden! Nein, ein tief verwurzeltes Unbehagen überschattete diese drei, schon seit sie alt genug waren, ihre Entstehungsgeschichte zu begreifen, ihre Eltern zu verurteilen und sich ein grundlegendes Urteil über die Geschwister zu bilden. Achtzehn Jahre lang waren sie zusammen gewesen, vom Ursprung in der Petrischale über die Monate, die sie dicht gedrängt im mütterlichen Bauch verbracht hatten, bis zum gemeinsamen Zuhause an der Brooklyn Esplanade (und dem Sommerhaus auf Martha’s Vineyard) sowie den Jahren der Schulerziehung (oder der Indoktrination, aus Harrisons Sicht) an der hochgelobten Walden School in Brooklyn Heights, deren sozialistisches Ethos in krassem Kontrast zur Höhe der Schulgelder stand. Und zu keinem Zeitpunkt hatten sie sich je einander angenähert, nicht mal aus Mitleid mit ihrer Mutter, die sich zeit ihres Lebens nichts mehr wünschte als das.
Und eines Tages waren sie dann achtzehn und damit nicht nur flügge geworden, sondern geradezu verzweifelt darauf aus, drei vollkommen getrennte Erwachsenenleben zu beginnen, was auch ganz sicher passiert wäre, hätte die Geschichte der Familie Oppenheimer nicht eine unerhörte Wendung genommen. Aber sie tat es – wir taten es –, und das hat alles verändert.
1972 – 2001
In dem Salo Oppenheimer auf einen Felsbrocken trifft
Mom hatte eine Art, immer gleich auszuweichen, wenn jemand fragte, wie sie und unser Vater sich kennengelernt hatten. Meist sagte sie, es sei bei einer Hochzeit in Oak Bluffs gewesen, zu der sie von dem Bruder des Bräutigams mitgenommen worden sei, und unter den Gästen habe sich ihr zukünftiger Ehemann befunden, als Trauzeuge für seinen Bundesbruder aus der Studentenverbindung. Beides stimmte zwar einerseits, war andererseits aber glatt gelogen. Denn unsere Eltern hatten sich vorher schon einmal getroffen, unter wirklich schaurigen Umständen, weswegen wir alle einsahen, dass es unserer Mutter einfach nicht möglich war, ehrlich zu antworten. Im Grunde ist es eine ganz harmlose Frage – Wo habt ihr beide euch eigentlich kennengelernt? –, auf die eine unverfängliche Antwort folgt, die den Auftakt bildet für ein Leben in Zweisamkeit mit all seinen Folgen, inklusive Nachwuchs (in unserem Fall sogar jeder Menge Nachwuchs). Aber was, wenn dieser Moment mit dem allerschlimmsten Ereignis im Leben eines jungen Menschen zusammenfällt? Wer würde sich das nicht lieber ersparen – und ebenso der Person, die so arglos gefragt hat? Der Schock. Das Entsetzen. Das ganze Grauen.
Tatsache war, dass unsere Eltern sich in New Jersey kennengelernt hatten, in einer konservativen Synagoge, die wie ein brutalistischer Ostblockbau aussah. Sie hieß Beth Jacob, befand sich in Hamilton Township, und der traurige Anlass war das Begräbnis eines neunzehnjährigen Mädchens namens Mandy Bernstein, das vier Tage zuvor in einem Auto ums Leben gekommen war, das ihr Freund steuerte, unser Vater, Salo Oppenheimer. Mandy war ein dynamisches, vor Leben nur so sprühendes junges Mädchen gewesen, mit strahlendem Lächeln und langem dunklen Haar, der älteste Spross und ganze Stolz ihrer Familie (die Bernsteins aus Lawrenceville, New Jersey, und Newton, Massachusetts). Sie studierte im zweiten Jahr Psychologie an der Cornell University und betrachtete sich als die glückliche Auserwählte und zukünftige Lebenspartnerin von Salo Oppenheimer. Mandy Bernstein war eine von zwei Cornell-Studenten, die bei dem Unfall ums Leben gekommen waren; das andere Opfer war Salos Freund und Bundesbruder Daniel Abraham, ein liebenswerter Junge, der zum ersten oder zweiten Mal mit der anderen Person auf dem Rücksitz verabredet gewesen war. Diese Person lag noch im Krankenhaus in Ithaca. Nur Salo war beinah unverletzt aus dem Autowrack gestiegen.
Selbst damals hatte niemand ihm einen Vorwurf gemacht. Wirklich niemand! Trotz aller Wut und Trauer der Familien Abraham und Bernstein und der vielen Freunde dieser zwei jungen Menschen, die so unfassbar schlagartig nicht mehr da waren, hielten alle in der Synagoge (wie in der folgenden Woche auch alle bei Daniel Abrahams Gedenkgottesdienst in der E. Bernheim & Sons Bestattungskapelle in Newark, New Jersey) eisern an der Überzeugung fest, dass Salo Oppenheimers nagelneuer Laredo mit völlig statthafter Geschwindigkeit unterwegs gewesen war, als er auf einen losen Felsbrocken traf und sich – unvermittelt, völlig unbegreiflich – überschlug und auf dem Dach landete, halb am Straßenrand, halb im Graben. Es hatte den Anschein, als ob die Hand Gotteshöchstselbst das Fahrzeug hochgerissen und auf die Erde zurückgeschleudert hätte. Wer konnte das Rätsel ergründen? Wer den Verlust begreiflich machen?
Salo jedenfalls nicht. Bei der Trauerfeier seiner Freundin saß er in der zweiten Reihe, mit vier Stichen in der Kopfhaut und einer elastischen Binde (nicht mal ein Gips!) am linken Handgelenk, beinahe katatonisch vor Schock und Schuldgefühlen, kaum in der Lage, Mandys zahllose Verwandtschaft und Schulfreunde wahrzunehmen und dazu noch das Kontingent an Bernsteins, die schon vor Jahren nach Israel gezogen, nun aber hier in Hamilton Township plötzlich furchtbar präsent waren. Alle weinten sie bitterlich und sahen zu ihm hin, und dennoch: Ihm gaben sie nicht die Schuld. Zumindest Salo gegenüber schien jeder der Meinung zu sein, schuld sei allein … der Jeep.
Warum ein Jeep? Warum nurein Jeep? Es gab doch genug Autos zur Auswahl, und tatsächlich war er drauf und dran gewesen, einen metallic-grauen 300-D Benz aus Manhattan zu kaufen, als seine Großmutter seine Mutter anrief und sich beschwerte, es sei eine Schande für jeden Juden, einen Mercedes zu fahren; ob Salo sich denn so weit von seinem Judentum entfernt habe, so unberührt sei von dem Schicksal seines Märtyrer-Vorfahren Joseph Oppenheimer (Goebbels’ Jud Süß!), ob er denn nicht wisse, dass die Firma Zwangsarbeiter aus Konzentrationslagern eingesetzt hatte, um Waffen und Flugzeugmotoren herzustellen? Die Antwort darauf war: Ja, Salos jüdische Identität war nicht besonders ausgeprägt, weder in religiösem noch, mit seinen neunzehn Jahren, in spezifisch historischem Sinn. Sicher wusste er um den mythischen Jud Süß – »Hofjude« beim Herzog von Württemberg in den 1730ern, nach dem plötzlichen Ableben seines Herrn einer Reihe angeblicher Verbrechen beschuldigt und gehenkt, darauf noch sechs Jahre am Galgen außerhalb von Stuttgart zur Schau gestellt –, aber das war doch alles tiefstes achtzehntes Jahrhundert, und Salo war von den 1960ern geprägt, als die ganze Kultur sich um den jugendlichen Elan seiner eigenen Generation drehte und die Vergangenheit nicht mehr viel zu melden hatte. Außerdem hatte dieser Benz ihm wirklich gefallen, die elegante Karosserie und die Ledersitze, dieser Hauch von europäischer Kultiviertheit, der ihn da am Steuer umgab. Nach jenem Anruf aber kam das natürlich nicht mehr infrage, und irgendein Instinkt trieb ihn in die entgegengesetzte Richtung, von der Nazifirma Mercedes-Benz zu dem Vorzeige-Amerikaner (und Antisemiten) Henry Ford.
Später wurde die miserable Straßenlage dieser 1970er-Jeeps ja fast zu einem Klischee, doch damals stand so ein robustes Vehikel mit Allradantrieb für Aufbruch und Expansion, es suggerierte Kompetenz, nicht Kompromiss. Und wenn Salo Oppenheimer denn schon gewillt war, bei der Anschaffung seines ersten eigenen Wagens auf die luxuriöse Innenausstattung und das schicke Design einer deutschen Edelmarke mit langer Firmentradition (wie auch Zwangsarbeit) zu verzichten, dann nur für den zusätzlichen Anreiz, selbst bei den fürchterlichen Straßenverhältnissen im winterlichen Ithaca, seiner Universitätsstadt, über Stock und Stein brettern zu können. Ein Jeep für Schluchten und vereiste Highways! Ein Jeep für die kurvigen Landstraßen von Upstate New York! Ein Jeep für Spritztouren mit Kumpels und Freundinnen, einfach munter ins Blaue hinein, wie an jenem schicksalsträchtigen Samstagmorgen.
Hinterher konnte er sich nicht mehr an den Felsbrocken auf der Straße erinnern und auch nicht an den entsetzlichen Halbkreisflug durch die Luft, mit der grellen Wintersonne in den Augen. Im Gedächtnis blieb ihm nur das Kreischen des gestauchten Metalls – dieses absurde Sardinenbüchsendach, das sich beim Aufprall nach innen dellte – und der überrascht aufklappende Mund von Mandy Bernstein, deren niedliche sommersprossige Nase er sofort hinreißend gefunden hatte, als er sie bei einem Empfang für jüdische Studienanfänger zum ersten Mal sah. Mandy war ein sonniges Menschenkind, immer zum Lachen aufgelegt, in ständiger Verbindung zu ihren Eltern und jüngeren Schwestern in New Jersey. (Wenn sie nicht in ihrem Zimmer war, dann steckte sie meist in der Telefonzelle am Ende des Korridors und sprach Lisa oder Cynthia wegen irgendwelcher Schulprobleme oder subjektiv empfundener elterlicher Ungerechtigkeiten Trost zu.) Auch mit ihren Cousins und Cousinen in Newton, dem Mutterschiff der Familie Bernstein, hatte sie in engem Kontakt gestanden. Sie trug ihr Haar zum Pferdeschwanz gebunden, manchmal mit einem roten Bandanatüchlein (ein modisches Detail, das sie von einem sommerlichen Kibbuz-Besuch in der Schulzeit mitgebracht hatte), dazu abwechselnd drei heiß geliebte Jeans mit Schlag, die sie immer weiter bestickte: Schmetterlinge, Regenbogen, ein Konterfei des Familienpudels Poochkin in Lavendelblau. Im Dezember ihres ersten Studienjahres »gingen« sie miteinander, was im Prinzip bedeutete, dass Salo sie zu Footballspielen mitnahm oder sie zu ihrem Wohnheim begleitete, wenn die Bibliothek schloss. Im neu eröffneten, exotischen Innenstadtlokal Moosewood probierten sie etwas, das »Tofu« hieß, ansonsten versorgten sie sich auf dem abendlichen Rückweg zu ihren Campuswohnheimen oft am Hot Truck. Mandy hatte eine Vorliebe für die riesigen Pizzasandwiches.
Er hatte sie nur ein Mal mit nach Hause genommen, als sie in der Stadt war, um sich für ein Sommerpraktikum bei der UJA-Federation zu bewerben (wofür sie auch eine Zusage erhielt, in einem Brief, der eine Woche nach dem Unfall eintraf). Die Einführung bei seiner Familie war ganz gut gelaufen, auch wenn die Bernsteins offensichtlich nicht zu ihren Kreisen gehörten (und obwohl Selda Oppenheimer sich eigentlich eine Sachs, eine Schiff oder sogar eine Warburg für ihren Sohn erhoffte). Mandy war einfach so entzückend, so umwerfend charmant und so unverkennbar bis über beide Ohren verliebt in Salo Oppenheimer. Sie liebte seinen Verstand und seine Manieren und auch seinen spindeldürren Körper, so hochgewachsen und fragil, ohne jegliche Muskelmasse. Sie liebte eine spezielle Güte, die sie in ihm sah, welche Salo allerdings – ganz ehrlich – nie vorgegeben hatte zu besitzen. Es stimmte auch nicht ganz, dass sie in ihm den Wunsch weckte, ein besserer Mensch zu sein; es war eher der Wunsch, wirklich zu wünschen, er wäre ein besserer Mensch. Zu jener Zeit schien ihm das zu genügen.
Er hatte ihr keinen Heiratsantrag gemacht. Sie waren nicht verlobt, obwohl er diesen Umstand später absichtlich im Unklaren beließ, weil er wusste, dass es Mandys Eltern viel bedeutete. Es lag doch ein beträchtlicher Unterschied zwischen »Sie war ein tolles Mädchen, mit dem zusammen zu sein jeder sich hätte glücklich schätzen können« und »Sie war die Liebe meines Lebens, ich wollte sie heiraten«. Also entschied unser Vater sich – vernünftigerweise – dafür, ihre Eltern glauben zu lassen, was immer ihnen half, den Schmerz leichter zu ertragen. In jenem schrecklichen Winter und Frühjahr und auch noch während der folgenden paar Jahre ließ er zu, dass die Bernsteins ihn als Mandys zukünftigen Verlobten, Ehemann und Vater der Kinder, die sie nie haben würde, in ihre Trauer einbezogen. Dann heiratete er Johanna Hirsch, die Schulfreundin ihrer Tochter, und der Kontakt brach ab.
Mandy Bernstein war Johannas große Schwester gewesen, nicht im buchstäblichen Sinne, sondern im Ortsverband der B’nai B’rith Girls. Sie nahm die Aufgabe ernst, hinterließ Überraschungsgeschenke (Bagels und Frischkäse, Chocolate Chip Cookies) an der Haustür der Hirschs, wenn sie wusste, dass Johanna für eine Schulaufgabe lernte, und half Johanna bei ihren Hilfsprojekten, wie dem Autowaschen zugunsten des Hebräischen Pflegeheims oder den Freundschaftsbriefen an Kinder in Israel. Die »Schwestern« waren zufällig gewählt, aber Johanna war überglücklich, als ihr die hübsche und allseits beliebte Mandy Bernstein zugeteilt wurde. Mandy Bernstein! Nie hätte sie sich getraut, ihr im Gewimmel ihrer New Jersey Highschool die Freundschaft anzutragen, wo ein Jahr Altersunterschied alles bedeutete und subjektiv wahrgenommene Defizite in Bezug auf Aussehen, Reichtum und Coolness unüberbrückbar waren.
Bei der Beerdigung war Johanna eine von Dutzenden junger Frauen, die alle persönlich betroffen um Mandy trauerten. Wer der junge Mann mit dem verbundenen Handgelenk war, sprach sich schnell herum, und man kann sagen, dass Salo Oppenheimer das Objekt einer gewissen romantischen Faszination war. Wie er sich wohl fühlen mochte? Selbst noch so jung und schon für den Tod von zwei Menschen verantwortlich, die genauso jung gewesen waren. Wie würde er den Verlust seiner geliebten Mandy je verkraften können, dieser strahlenden, cleveren (Ivy League!) Person, das Goldstück ihrer Familie? In den voll besetzten Kirchenbänken der Beth-Jacob-Synagoge war Johanna vielleicht nicht die Einzige, die sich fragte, wem es am Ende wohl gelingen würde, diesen tief verstörten Salo Oppenheimer aus seinem Mahlstrom aus Schuld und Schmerz zu erretten. Vielleicht war sie nicht die Einzige, die sich vorstellte, wie viel Liebe und Mitgefühl es brauchen würde, um Salo Oppenheimer ins Leben zurückzuholen.
Unsere Mutter war nicht so bemerkenswert wie Mandy Bernstein. Sie war ein ganz gewöhnliches Mädchen aus einer so durchschnittlichen Familie, dass sie sich für deren Mittelmäßigkeit schämte und dann wiederum für ihren Mangel an Loyalität. Ihr Vater war Buchhalter an dem berühmten Internat von Lawrenceville, und den Job hatte er angenommen, damit Johannas jüngerer Bruder, unser Onkel Bobby, die Chance bekam, dort aufgenommen zu werden (Lawrenceville war noch einige Jahre entfernt von gemischten Klassen – nicht, dass unser Großvater sich je um Chancengleichheit für seine Töchter geschert hätte). Lawrenceville und die Chancen, die es bedeutete, waren an unseren Onkel Bobby allerdings komplett verschwendet; er war entschieden antiintellektuell (womit man in den Siebzigern in Lawrenceville noch durchkam) und Haschdealer (womit man nicht durchkam, zumindest nicht, wenn man erwischt wurde). Nach diesem desaströsen Einstieg musste er an die Lawrence High überwechseln, wo seine Schwestern zur Schule gingen, und dort fand er jede Menge neue Kunden. (Auf lange Sicht erwies sich der Geschäftssinn unseres Onkels als durchaus von Vorteil. In den frühen Neunzigern war er bereits als Bauunternehmer mit eigener Protzimmobilie in Point Pleasant etabliert. Das Dealen hatte er mittlerweile aufgegeben, und eines Tages würde er – Wunder über Wunder! – ein eigenes Kind nach Lawrenceville schicken.) Phil Hirsch, unser Großvater, fühlte sich sicher gedemütigt von diesem Lauf der Dinge, seine Stellung an der Schule aber behielt er bei, bis er in Rente ging. Vielleicht war es seine Art, das Gesicht zu wahren.
Aus Sicht unserer Mutter hatten ihre Eltern den echten Star der Familie vollkommen übersehen, der natürlich nicht Bobby war und schon gar nicht sie selbst. Unsere Tante Debbie, die Älteste, war ebenso klug wie ehrgeizig, in der unauffälligen Art von Mädchen, die während der zweiten Welle der Frauenbewegung in den Siebzigern gerade erwachsen wurden; der Tatsache gewärtig, dass Türen sich öffneten und dass es erlaubt war – auch wenn man sich nicht unbedingt ermutigt fühlte – hindurchzugehen. Debbie wählte das ruhige (wenn auch unter der Oberfläche brodelnde) Mount Holyoke College zum Studieren und absolvierte danach einen Einzelhandelslehrgang bei Macy’s, aus dem simplen Grund, dass sie Kaufhäuser immer noch irgendwie aufregend fand. Das gab sich allerdings bald, als sie ihre Tage damit zubrachte, Kartons auszupacken und Inventur zu machen. Irgendwann jedoch wurde ihr bewusst, wie viele Ideen sie zur Optimierung von Bestellmodalitäten und Lieferketten beisteuern konnte, und alles pendelte sich wieder ein. Unbegreiflicherweise waren ihre Vorgesetzten aber nicht an Debbie Hirschs Ideen interessiert, also ging sie zur Business School und fand schließlich jemanden, der Interesse hatte. Zu der Zeit, als ihre jüngere Schwester Johanna sich gerade in ihrem Eheleben einrichtete und ihre schicksalhafte »Fruchtbarkeitsodyssee« antrat, war Debbie Hirsch Krieger Geschäftspartnerin in einer Unternehmensberatung, wohnte mit Mann und Söhnen in einer klassischen Sechszimmerwohnung an der Park Avenue und verbrachte den Sommerurlaub in Bridgehampton.
Zwischen dem verkannten Star, der Debbie war, und dem permanenten Ärgernis, das ihr Bruder Bobby darstellte, versuchte unsere Mutter einfach nur, durch ihre Jugendjahre zu kommen, ohne irgendwo anzuecken. Johanna war eine mittelmäßige Schülerin, saß bei ihrem Volleyballteam meist auf der Reservebank und hielt Abstand zu den beiden Cliquen, die an ihrer Schule den Ton angaben (bekannt als dieSchönen und dieSchrägen). Befreundet war sie mit einer Handvoll Mädchen, die sie noch aus der Grundschulzeit kannte, sie nahm sich vor Jungen in Acht und gab ihren Eltern niemals Anlass zur Sorge (oder überhaupt Anlass, in irgendeiner Form auf sie aufmerksam zu werden). Auf Debbies Rat hin, die im Begriff stand, aufs College zu gehen, und sich sorgte, ihre Schwester würde dann gänzlich vereinsamen, war sie den B’nai B’rith Girls beigetreten. Dort traf sie auf die wunderbare Mandy Bernstein – offensichtlich eine von den Schönen und schon in der Abschlussklasse –, die Johanna Hirsch mit ihrem magischen Feenstaub verzauberte. Monate später war Mandy fort, aufs College. Ein Jahr danach war sie fort für immer.
»Es tut mir so leid«, sagte Johanna zu Salo Oppenheimer nach der Trauerfeier. Sie war eine von an die vierzig jungen Frauen, die mit ausgestreckter Hand auf ihn zutraten und genau diese Worte aussprachen, und es gab keinen Grund, weshalb er sich an sie erinnern sollte, was er auch nicht tat, obwohl das weniger mit Johannas Unauffälligkeit zu tun hatte als mit der pausenlos kreischenden Stimme im Kopf unseres Vaters, die ihn während der ganzen Zeremonie quälte. Johanna fuhr dann in einem der Wagen zum Friedhof und sah Mandys gebrochene Eltern und Schwestern rote Tonerde auf den Sarg werfen, sah auch Salo Oppenheimer rote Tonerde auf den Sarg werfen, und bis sie endlich selbst am offenen Grab stand, war nichts mehr zu werfen übrig. Danach war Salo Oppenheimer von einem würdevollen älteren Paar in einem Lincoln Town Car mitgenommen worden, und Johanna sah ihn einige Jahre nicht wieder, bis zu der Rudnitsky-Hochzeit in Oak Bluffs.
Inzwischen war Johanna in ihrem zweiten Studienjahr in Skidmore. Sie war allerdings nicht mit dem Herzen dabei, weder was ihr Hauptfach (Soziologie) noch was das Studieren überhaupt betraf. Sie mochte auch Saratoga nicht so besonders, das im Sommer voller Tanzbegeisterter und Pferdenarren und den Rest des Jahres brutal kalt war; dazu kam, dass ihre Schwärmereien für irgendwelche Mitstudenten immer mit irgendeiner Variation von Es liegt nicht an dir, es liegt an mir endeten, meist bei einem Glas schalen Biers in einer der Innenstadtkneipen. Hätte man Johanna Hirsch gefragt, was in aller Welt ihr denn wirklich wichtig sei, wäre ihr kaum etwas eingefallen, schon gar nicht sie selbst. Eigentlich ließ sie sich nur treiben, wie schon immer, früher im Rinnstein ihrer Familie und nun im Rinnstein ihrer Studentenzeit. Bis auf einmal nichts mehr war wie zuvor.
Es war einer jener Es-liegt-nicht-an-dir,-es-liegt-an-mir-Typen, der sie zur Hochzeit seines Bruders auf Martha’s Vineyard eingeladen hatte. Joshua Rudnitsky hatte ihr allerdings nicht gesagt, dass ihre Rolle die einer Vorzeigefreundin sein sollte, hinter der er sich als Nicht-Geouteter verstecken konnte; immerhin hatte er sie aber gewarnt, dass es am Hochzeitswochenende leicht zu einer familiären Krise kommen könne: Sein Bruder heirate eine Schwartze (wie seine Eltern sagten), und seine Mutter befinde sich deswegen schon das ganze Frühjahr am Rande eines Nervenzusammenbruchs. (Mit anderen Worten, es war nicht der Moment, ohne passende weibliche Begleitung aufzukreuzen.) Johanna machte bereitwillig mit. Sie war noch nie auf der berühmten Insel gewesen, wo vor ein paar Jahren der schreckliche Unfall mit dem jungen Senator und seiner Mitarbeiterin passiert war, und sie war neugierig auf die Eltern ihres Begleiters, die jemanden unverblümt als Schwartze bezeichneten, und auf jenen Bruder, der mutig – oder widerspenstig – genug war, eine Wahl zu treffen, die sie offenbar als Provokation empfanden. (Ehrlich gesagt hatte ihre Mutter ganz genauso reagiert, als sie ihr davon erzählte.)
Als sie am Nachmittag vor der Hochzeit dort eintrafen, wurde sie gleich bei den Brautjungfern abgeliefert: acht Mädels aus Spellman plus Wendy Rudnitsky, die Schwester von Joshua und Michael, dem Bräutigam. Es war Johanna ein wenig peinlich, nicht weil sie weiß war (Braut und Brautjungfern hießen sie herzlich willkommen), sondern weil die Frauen so vertraut miteinander umgingen, während sie selbst sich als Fremdkörper fühlte. Sie versuchte, sich wenigstens vor dem Probeessen zu drücken, aber die anderen bestanden darauf, sie zu dem Gasthof in Lambert’s Cove mitzuschleppen, und das war der Ort, an dem sie Salo Oppenheimer wiedertraf, der ihr seit jenem schrecklichen Begräbnis von Zeit zu Zeit noch durch den Kopf spukte. Nachdem die Toasts auf das Brautpaar ausgesprochen worden waren, zogen sich die älteren Familienmitglieder allmählich zurück, und nur das Brautpaar und seine Freunde blieben plaudernd an dem langen Tisch sitzen. Unsere Mutter sah Salo mit einem Glas Champagner am Terrassengeländer lehnen, ging zu ihm, stellte sich vor und streckte ihm abermals die Hand hin.
»Es tut mir leid, dich daran zu erinnern, wo wir uns schon mal getroffen haben«, sagte sie.
Unser Vater drehte sich zu ihr um. »Oh«, sagte er nach einem Moment. »Daniel oder Mandy?«
Daniel war wohl der andere gewesen, wurde ihr klar. Der Freund.
»Mandy. Ich kannte sie.«
»Sie war so ein guter Mensch«, sagte Salo.
»Ja. Ich bin Johanna. Ich bin mit Michaels Bruder Joshua hier.«
»Oh«, sagte Salo. »Ich dachte, Joshua ist homosexuell.«
Erst da ging ihr auf, was Es liegt nicht an dir, es liegt an mir zu bedeuten hatte.
»Wir sind bloß Freunde«, sagte unsere Mutter, womit sie sich aller Hoffnungen entledigte, die sie, seien wir ehrlich, trotz allem noch in den Bruder des Bräutigams gesetzt hatte. Von da an ging es ihr nur noch um unseren Vater, und es wurde zu ihrer Lebensaufgabe, ihn genug zu lieben, um ihm die schwere Last seiner Schuld zu erleichtern, ihn aus diesem grausamen Zeitsplitter herauszulösen, in dem er so unfair gefangen war, und Balsam für die Wunde zu sein, die nicht heilen wollte. Es kam ihr viele Jahre lang nie in den Sinn, dass sie nicht diejenige – die Einzige – war, der das je gelingen könnte.
In dem Salo Oppenheimer ins Taumeln gerät und Johanna Oppenheimer zu begreifen beginnt, worauf sie sich eingelassen hat
Wenn ich mir vorstelle, wie der Jeep unseres Vaters die Bodenhaftung verlor und das Band der Schwerkraft sich dehnte und immer weiter dehnte, bis es plötzlich zerriss, nehme ich ein Geräusch wahr wie ein geschocktes Nach-Luft-Schnappen, und ich sehe wie in Zeitlupe ein schauerlich anmutiges Durcheinanderrutschen von vier Körpern in dem wirbelnden Innenraum, sich umschlingend und verdrehend in einem fatalen Ballett. Das Gefühl des Fallens hätte fast angenehm sein können, hätte sich die physische Empfindung von dem Begreifen dessen, was da geschah, abkoppeln lassen. Und es würde ihn nie mehr verlassen. Manchmal, ob schlafend oder wach, fand er sich plötzlich in Mandys überraschte Augen blickend oder hörte Daniels seltsam unbeschwert klingendes »Hey!« vom Rücksitz, oder er spürte die vierte Person, die unsichtbare Freundin, irgendwo hinter ihm in der ganzen Verwirrung: ein Schatten, der dunkel über sein rechtes Handgelenk fiel. Und all das trug zu seiner neuen, sehr spezifischen lebenslangen Herausforderung bei: Wie war es möglich weiterzuatmen, nachdem man den Tod zweier Menschen verschuldet hatte?
Uns hat er nie erzählt, was er getan hatte. Er gab keinem von uns je die Gelegenheit, ihn zu verstehen.
Selbst vor dem Unfall war unser Vater schon ein geübter Heuchler gewesen, der routinemäßig krasse Unwahrheiten unwidersprochen ließ – wie zum Beispiel die, dass er mit Mandy Bernstein verlobt oder auch nur in sie verliebt gewesen sei. Bevor er sie tötete, war der Hauptgrund für seine mangelnde Offenheit, dass er ihre Gefühle nicht verletzen wollte; nachdem er sie getötet hatte, wollte er den Schmerz ihrer Familie nicht noch verschlimmern. Außerdem war es viel leichter, einfach zuzustimmen, wenn die Leute irgendetwas annahmen, und alle nahmen dasselbe an, aus gutem Grund: Mandy hatte nicht nur sehr an ihm gehangen, sondern auch bereitwillig in seiner Studentenbude mit ihm geschlafen (es waren die frühen Siebzigerjahre, als viele wohlerzogene Mädchen so etwas nicht taten). Durchaus möglich, dass die beiden zusammengeblieben wären und geheiratet hätten. Warum auch nicht? Man brauchte sich nur umzusehen – viele Männer gaben sich mit weit weniger als einer wie Mandy Bernstein zufrieden! Aber Liebe, wie er und einige seiner Kinder sie irgendwann erleben sollten – nein, das war es nicht. So etwas hatte er überhaupt noch nie empfunden und konnte es auch nicht recht glauben, wenn jemand anders es von sich behauptete.
Wie dem auch sei, heucheln war nicht dasselbe wie lügen, vor allem, wenn es darum ging, die Trauernden zu schonen, von denen es so viele gab, inklusive, wie der Zufall es wollte, Johanna Hirsch. Unsere Mutter war so vorsichtig, Salo nie nach Mandy zu fragen; sie glaubte offenbar, dass sein Herz (sein Herz!) ohnehin niemals ganz ihr gehören würde, da es zum Teil ja noch jenem armen, für immer verlorenen Mädchen verbunden bleiben musste. Außerdem fand Salo ein gewisses Maß an Täuschung nicht verwerflich, wenn einem manche Fähigkeiten nun mal nicht gegeben waren (Kopfrechnen, beispielsweise, oder Weitsprung, oder tiefe Gefühle für einen anderen Menschen). Solche Schwachstellen gab es in unserer Familie viele, und manche davon bedauerte er weit mehr als das Unvermögen, die Frau zu lieben, die er angeblich hatte heiraten wollen (oder auch die, die er dann tatsächlich heiratete). Es mangelte ihm zum Beispiel an jeglicher Musikalität; das war bitter. Zudem war er nicht zu der lockeren Verbindlichkeit fähig, die er bei anderen Leuten sah. Vor allem aber, und erst recht seit dem Unfall, fehlte ihm das selbstverständliche Gefühl, in seinem Leben zu Hause zu sein, fast als hätte er nie aufgehört, haltlos durch die Luft zu wirbeln. Immer und immer wieder versuchte er, sich aufzurichten, und manchmal musste er gegen den Drang ankämpfen, einfach Schluss zu machen. Die mangelnde Lebensfreude – das vergällte ihm den ganzen Rest.
Salos physische Wunden heilten so schnell, dass er sich dessen schämte. Nach wenigen Wochen war er wieder zurück im Studentenheim, zurück in seinen Vorlesungen und Seminaren, obwohl er von nun an die Leute mied, mit denen er vorher zu tun gehabt hatte. Er schleppte sich durch seine Kurse und schaffte relativ mühelos einen mittelmäßigen Abschluss, und im Sommer flog er nach Europa und ließ sich treiben. Den Leuten, denen er in Zügen oder Museen begegnete, erzählte er nur wenig von sich – New Yorker, College-Absolvent, zukünftiger Bankier – und kein einziges Wort über das Unheil, das den Mittelpunkt seines Lebens bildete. Er war nicht verzweifelt; er war nur ein Opfer der Schwerkraft, die sich auf einmal in eine derart schreckliche Schwerelosigkeit verwandelt hatte. Niemand konnte das verstehen, wieso dann davon reden?
Er begann seine Reise in Rom und ließ sich nordwärts treiben, durch Mailand, Genf, Paris. Das Alleinsein machte ihm nichts aus, auch wenn die anderen jungen Leute, die rudelweise mit dem neuen Studententicket unterwegs waren, sich über ihn wunderten. Ein Tourist in ihrem Alter, offenbar gut bei Kasse – er schlief in Hotels, nicht in Jugendherbergen –, weshalb immer allein? Aber natürlich war er nicht immer allein. Er fühlte sich ganz wohl unter den Leuten, die er zufällig traf. Er lud sie gern zum Essen ein – er konnte es sich ja leisten – oder zahlte ihnen den Eintritt zu irgendeiner touristischen Sehenswürdigkeit. Und wenn sie als Nächstes an einen Ort reisen wollten, der nicht schlechter klang als irgendein anderer, schloss er sich ihnen oft an, weil es ihn nirgends besonders hinzog. Was spielte es denn für eine Rolle, wo er sich befand? Wenn die Welt andauernd unter einem wegkippt, selbst wenn man sitzt, ja sogar, wenn man schläft (besonders, wenn man schläft), dann ist ein Ort so gut wie der andere.
All das, wie auch alles andere, was ihn ganz persönlich betraf, würde er nur einer Person anvertrauen, die es uns dann eines Tages weitererzählen würde.
In Brügge probierte er zum ersten Mal Cannabis, in der vagen Hoffnung, dass es helfen könnte – tat es aber nicht. In Amsterdam traf er eine Kunststudentin in einem Café, aß mit ihr zu Abend und ging sogar mit ihr ins Bett, in ihrer WG, die sie mit einem Bildhauer und einem staatlich registrierten Heroinsüchtigen teilte, beides nette Kerle. Ihr Name war Margot, und es gab eine Ausstellung in Krefeld, die sie sehen wollte, also faltete Salo seine langen Beine in ihren braunen Peugeot und fuhr mit ihr Richtung Osten. Als er an der Grenze seinen amerikanischen Pass vorzeigte, musterte der Wachmann ihn durchdringend, und Salo lief es kalt über den Rücken. Es war ihm nicht in den Sinn gekommen, dass dieser Ausflug, dieser Übertritt, nicht so harmlos verlaufen würde. Das Auto wurde durchgewunken, und Margot fuhr weiter. Er war zum ersten Mal in Deutschland.
Krefeld lag nicht weit entfernt von der Grenze. Margot sprach über den Mann, dessen Werk sie anschauen wollte; früher hatte er Suppendosen und Bananen gemalt, jetzt aber machte er Filme von Leuten, die vor sich hin starrten oder einfach schliefen. Sie schien überrascht, dass unser Vater noch nie von dem Künstler gehört hatte, doch er erzählte ihr von den Gemälden, mit denen er in der New Yorker Wohnung seiner Familie aufgewachsen war, den flämischen Landschaften und Porträts von üppigen Frauen und selbstzufriedenen, wohlhabenden Männern. Er erzählte ihr nicht, dass etliche dieser Gemälde einen Monat vor seinem Aufnahmeantrag der Universität übergeben worden waren; vermutlich war ihm bewusst, wie extrem amerikanisch ihr so etwas vorkommen musste. Er blickte aus dem Fenster, hinter dem das Land – dieses schauerliche Land – vorbeizog, und wunderte sich, wie normal hier alles aussah: Lebensmittelläden, Parkplätze, Sportplätze, auf denen Fußball gespielt wurde und Eltern vom Rand aus zuschauten. Er dachte an diese gleichen Städte und Felder und Straßen zu der Zeit von Joseph Oppenheimer, unserem mythischen Urahn, und zu der Zeit von Goebbels’ Jud Süß. Er überlegte, warum jemand eine Banane malen sollte und weshalb ein Film von schlafenden Menschen als Kunst betrachtet wurde. Es schien ihm aber nicht angebracht, Margot über diese Dinge auszufragen.
Die Kunstmuseen Krefeld: zwei nebeneinanderstehende Ziegelbauten, große flache Kästen, wie eine Mittelschule in einem gesichtslosen amerikanischen Vorort. Salo und Margot waren fast drei Stunden unterwegs gewesen, und sie ging erst mal zur Toilette, während er die Eintrittskarten kaufte. Als sie wiederauftauchte, fragte sie den Wärter, wo die Fotos aus Warhols Schlaffilm gezeigt wurden, und machte sich zielstrebig auf den Weg. Salo folgte ihr. Er befand sich in Krefeld, Germany, mit einem Mädchen, auf dessen Gesellschaft er keinen weiteren Wert legte. Zugleich aber war er auch, wie immer, an jenem anderen Ort, wo sich alles überschlug, der Ort, an den er mittlerweile gewöhnt war – und wenn nicht, dann wurde es höchste Zeit, dass er sich daran gewöhnte, denn es würde sich nie mehr ändern. Er wusste nicht mehr, wie es war zu gehen, als ob der Boden nicht jederzeit unter ihm wegkippen könnte, aber das war nun einmal eine Fertigkeit, die er würde erlernen müssen, und es gelang ihm auch immer besser. Er betrat den ersten Museumssaal.
Die Gemälde, mit denen unser Vater an der Fifth Avenue aufgewachsen war, meist wässrige Landschaften aus fernen Jahrhunderten, sagten ihm so wenig wie die Peter-Max-Poster an den Wänden seines Studentenheims oder die gerahmten Eliot-Porter-Fotografien, die seine Collegefreunde in ihren New Yorker Wohnungen aufhängten. Sie sagten ihm nichts, er bemerkte sie kaum. Zwei Jahre, bevor Salo sich im Schlepptau eines Mädchens, das er nie wiedersehen sollte, in den Kunstmuseen Krefeld befand, waren die Hälfte der alten Meister aus der elterlichen Wohnung in einem plötzlichen Exodus zum Herbert F. Johnson Museum of Art an der Cornell University umgezogen, ohne dass unsere Großeltern es für nötig hielten, ihn zu fragen, ob er eins der Bilder, oder mehrere, oder gar alle, behalten wollte. (Warum auch? Er hatte sich ja nie dafür interessiert!) Als er in jenem Sommer von seinem Job im Feriencamp von Androscoggin zurückgekommen war, hatte er die leere Stelle neben seiner Zimmertür bemerkt, wo Junge mit Löffel (Bartholomeus van der Helst, 1643) seit jeher gehangen hatte. Junge mit Löffel hatte das Haus verlassen, zusammen mit elf anderen, und als das Bild schließlich in I.M. Peis nagelneuem Betonbau auftauchte, während unser Vater noch an der Cornell studierte, ging er es nicht einmal anschauen. So wenig hatte ihn jenes Gemälde – oder irgendein anderes – bislang berührt.
Beim ersten Schritt in den Museumssaal kam Salo seine schwer erkämpfte Balance mit einem Mal abhanden. Der Boden schoss beinahe spielerisch unter ihm davon, und Salo knallte der Länge nach hin, schlug erst mit einer knochigen Hüfte auf, dann mit dem Ellbogen und schließlich mit der Wange, die mit dem Rest seines Kopfs in der Waagrechten zur Ruhe kam. Ergeben schloss er die Augen, gar nicht unglücklich, nur voller Staunen über das, was er gesehen hatte, ehe er fiel: Es hatte sich eingeprägt. Doch dann – viel zu früh – wurde ihm aufgeholfen. Es waren Museumswärter, hochgewachsene Männer in Kakiuniformen mit sirrenden Walkie-Talkies; sie zogen ihn hoch wie ein kraftloses Neugeborenes und setzten ihn auf einen Klappstuhl, der eigens für derartige Notfälle bereitgehalten wurde.
»Stendhal-Syndrom« war die Bezeichnung für diesen Zustand, wie unser Vater später erfuhr. Schwindel, Verwirrtheit, ja sogar Ohnmachtsanfälle, welche zumeist ausländische Museumsbesucher beim Anblick großer Kunst erlitten. Es war nach dem französischen Autor benannt, der diesen seltsamen Zustand als Erster beschrieben hatte: Ich befand mich in einer Art Ekstase … in Bewunderung der erhabenen Schönheit versunken … ich war auf dem Punkt der Begeisterung angelangt, wo sich die himmlischen Empfindungen, wie sie die Kunst bietet, mit leidenschaftlichen Gefühlen gatten … mir klopfte das Herz, mein Lebensquell war versiegt, und ich fürchtete umzufallen …
Salo bedankte sich bei den Wärtern, vor allem aber hoffte er, sie würden endlich weggehen und ihn in Ruhe schauen lassen, was sie dann auch taten.
Das Gemälde, das es ihm angetan hatte, war groß und quadratisch, der rehbraune Hintergrund fast völlig verdeckt durch fieberhaft hingeworfene Kringel in Rot und Orange, die wild über die Leinwand taumelten. Er konnte die Augen nicht von diesem Orange, diesem Rot lassen, konnte sich nicht sattsehen an diesem manischen, rhythmischen Geschmiere.
Ist das da tatsächlich Kunst?
Wieso hilft es?
Kann man mehr davon zu sehen bekommen?
Margot kam in Begleitung einer der Wärter zurück und beugte sich zu Salo herab: »Alles okay mit dir? Die sagen, du bist in Ohnmacht gefallen?«
»Kann sein«, sagte Salo.
»Bist du krank?« Es klang, als wäre es ihr lästig. Sie wollte keinen Kranken drei Stunden lang nach Amsterdam zurückkutschieren und sicher auch mit keinem Kranken die Nacht in Krefeld verbringen.
»Ach Quatsch«, versuchte er abzuwiegeln, ohne die Augen von dem Bild zu wenden.
»Ah, du magst also doch moderne Kunst«, stellte sie fest.
»Ich mag das da«, sagte er. »Ich weiß nicht, was das ist.«
Sie ging darauf zu und spähte auf das Kärtchen am Rand. »Ohne Titel. Sehr hilfreich. Amerikaner.« Sie versuchte, den Namen auszusprechen, brachte es aber nur zu so etwas wie »tomb-ley«. »Schau mal, er hat Wandfarbe und Wachsmalstifte verwendet. Nicht gerade wie bei deinen flämischen Landschaftsmalern.«
Nein, wirklich nicht, stimmte unser Vater zu.
»Willst du dir den Rest der Ausstellung auch ansehen?«
Lieber nicht, nein, aber sie könne sich ruhig weiter umschauen. Er wollte, dass sie ihn mit dem Bild allein ließ. Die ganze Welt sollte ihn mit dem Bild allein lassen.
Er brachte es fertig, dort sitzen zu bleiben, bis das Museum am Abend schloss. Dann machten er und Margot (die von den Filmfotos ziemlich enttäuscht gewesen war) sich auf den langen, weitgehend wortlosen Rückweg nach Amsterdam und trennten sich am Dam-Platz, um sich nie wiederzusehen. Unser Vater hatte erkannt, dass er von nichts eine Ahnung hatte. Er begriff nichts von dem, was er gesehen hatte, oder wo das, was er gesehen hatte, herkam oder welche Art von Bezug zwischen diesem Bild und denen von anderen Malern bestand oder was er möglicherweise daraus lernen konnte. Ebenso wenig vermochte er sich vorzustellen, irgendwo zu leben, wo er so ein magisches Objekt an die Wand hängen und es tagtäglich anschauen könnte, jeden Morgen, jeden Abend. Es würde noch ein paar Jahre dauern, bis er über das Geld verfügte, das für ihn in einem Trust verwaltet wurde, und ein Gehalt von der Familienfirma konnte er erst beziehen, wenn er das College beendet hatte. Aber er wusste, so sicher, wie er noch nie etwas gewusst hatte, dass er dieses Bild eines Tages besitzen würde.
Zurück in der Universität, trat er aus seinem Studentenbund aus, nicht weil die Typen ihm zu unsensibel waren, sondern weil er es nicht aushielt in diesen Räumen, wo Danny Abraham fehlte. Jemand erzählte ihm, dass das Mädchen, das an jenem Unglückstag Daniels Begleitung gewesen war, nicht mehr an der Cornell war. Salo konnte sich nicht an sie erinnern; vielleicht hatte er sich nicht mal nach ihr umgedreht, als Daniel und das Mädchen in den Jeep stiegen, vielleicht hatte ihm keiner ihren Namen genannt. Er fragte nicht, wohin sie gegangen war, er war bloß erleichtert, dass er ihr nicht im Seminar oder der Cafeteria über den Weg laufen würde. Den Rest der Zeit auf dem College wollte er sich mit niemand mehr anfreunden, keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen; er wollte nur noch seinen Abschluss schaffen, ohne weiteren Mist zu bauen. Er war vernünftig genug, bei seinem Hauptfach – Wirtschaft – zu bleiben und nicht etwa zu Kunst überzuwechseln. Kunst war eine etablierte Tradition in der Familie Oppenheimer, und das reichte, um einen frühmorgendlichen Grundkurs zu rechtfertigen und einen über die Modernisten und noch einen über Pollock und seinen Kreis. Kunst war bekanntlich ein Aushängeschild für Reichtum, zudem ein geeignetes Mittel, Reichtum zu erwerben. (Selda und unser Großvater Hermann waren weder sentimental noch dumm: Die siebzehn alten Meister, die in der Wohnung an der Fifth Avenue verblieben, waren von Sotheby’s als die wertvollsten taxiert worden.) Das brauchte man Salo nicht erst zu erklären. Wenn er in der Welt der Bilder leben wollte, sobald sein Tagwerk getan war, dann war das sein gutes Recht, ja geradezu Familientradition! Doch er würde weiter Wirtschaft studieren, nach dem Abschluss dann, ohne zu murren, den Platz einnehmen, den sein Vater und dessen Vorväter ihm bereitet hatten – im Stammhaus der Wurttemberg Holdings –, und sich dort für den Rest seines Berufslebens den Oppenheimerschen Finanzgeschäften widmen.
Als er einundzwanzig wurde, zwei Monate, bevor er vom College abging, bekam er Zugang zu seinem Trust, und innerhalb von Tagen hatte er mithilfe der Marlborough Gallery den Erwerb des bewussten Bildes von der Turiner Galleria Sperone getätigt (für einen Betrag, der ihm immer absurd erscheinen würde). Vier Monate später traf die Kiste aus Italien ein, und als die Leute von der Spedition sie aufgestemmt hatten und weggingen, wäre er ihnen fast hinterhergelaufen, verstört von dem Gedanken, dass man ihm wahrhaftig zutraute, der Betreuer dieses einzigartigen Wunderwerks zu sein. Selbst in einem so banalen Umfeld hatte es nicht das Geringste von seiner Macht verloren.
Das banale Umfeld war ein modernes Apartment, das Salo in einem weißen Ziegelbau an der Third Avenue angemietet hatte, eine schlichte Zweizimmerwohnung mit Rigipswänden, einem Jennifer-Convertibles-Schlafsofa, einem Couchtisch aus Glas und Chrom und zwei Sesseln von Habitat. Jetzt war ein ikonisches Werk von einem amerikanischen Meister dazugekommen, das eines Tages siebzig Millionen Dollar wert sein würde. Unser Vater hatte erst versucht, den Twombly an einen einsamen Nagel zu hängen, den er stümperhaft und viel zu niedrig in die Wand gehämmert hatte, aber das Gewicht des Bildes riss den Nagel prompt mit einem Stück Rigips aus der Wand, und das Bild kippte nach vorn, wo Salo es gerade noch auffing, bevor es gegen den Couchtisch knallen konnte. (Einer von uns würde es kaum aushalten, als er von diesem Detail erfuhr.) Danach blieb das Bild am Boden, an die Wand gelehnt, ein Stück darüber gut sichtbar der Zacken im Rigips. Salo hatte offensichtlich nicht viel für schönes Ambiente übrig, geschweige denn für gediegene Einrichtung, nicht mal für mehr Komfort, und die Küche benutzte er kaum. An jeder Ecke seines neuen Viertels gab es einen Koreaner, und jeder Koreaner hatte eine Salatbar, also ging er nach der Arbeit dort vorbei und schaufelte sich etwas in eine Plastikschale, setzte sich zu Hause auf sein Sofa und aß mit der Plastikgabel, ohne die Augen von dem Gemälde abzuwenden. So verbrachte er sein erstes Jahr bei Wurttemberg Holdings.
Im folgenden Sommer trafen unsere Eltern sich bei jener Hochzeit auf dem Vineyard, und als Erstes fiel ihm auf, dass Johanna Hirsch aus ähnlichem Holz geschnitzt war wie Mandy Bernstein. Nicht ganz so hübsch, nicht ganz so gewitzt, aber seltsamerweise genauso liebenswürdig ihm gegenüber, als sei er ein Hauptgewinn. Er hatte am Balkongeländer gelehnt, während das Probeessen zu Ende ging, hatte ein bisschen beschwipst vor sich hin geträumt, wie es wohl wäre, hier auf der Insel zu leben, als diese Person auf einmal neben ihm stand und ihn an jene ersten furchtbaren Tage erinnerte: das beklemmende Händeschütteln, das Umarmtwerden von Fremden, die zitterten, als sie ihn an sich drückten, den Geruch der Trauer. Sie wusste, was er getan hatte, und sie war trotzdem hier. Irgendetwas in ihm kam unmerklich wieder ins Lot: Mit Liebe hatte es nichts zu tun, es war auch kein plötzliches Erkennen seiner schrecklichen Einsamkeit, nicht einmal Begehren. Als er sie ansah und ihre Nervosität spürte, ihre unerklärliche Hoffnung, einen guten Eindruck auf ihn zu machen, dachte er nur: Warum nicht? Hier war eine nette, liebenswerte junge Frau, die fest entschlossen schien, die Wiedergutmachung seiner persönlichen Tragödie zu ihrer Lebensaufgabe zu machen.
Im Herbst kehrte Johanna für ihr zweites Studienjahr nach Skidmore zurück, und Salo arbeitete weiter an der Seite seines Vaters in New York. Der Job missfiel ihm nicht, und er war auch nicht schlecht darin. Er spürte eine gewisse Erleichterung bei den Angestellten, die zumeist schon jahrzehntelang bei Wurttemberg waren, über seine pflichtbewusste Einstellung zur väterlichen Firma. Während er sich mit Aktienbeständen aus anderthalb Jahrhunderten vertraut machte, gewann er stetig mehr an Kompetenz, ja sogar an Kreativität, als er begann, eigene Deals zu tätigen. An den Wochenenden kam unsere Mutter mit dem Zug in die Stadt und wohnte bei ihm, was sie ihren Eltern gegenüber lieber unerwähnt ließ. Seit der holländischen Kunststudentin hatte Salo mit niemandem mehr geschlafen. In den frühen Siebzigern (wo selbst Frauen überkommene Vorurteile über Promiskuität abgeschüttelt hatten) schien es absurd, wie ein Asket in einem religiösen Orden zu leben, doch er hatte sich außerstande gefühlt, diese Kluft zu überbrücken. Johanna kümmerte sich darum, sodass ihm nichts anderes zu tun blieb, als sich nicht zu sträuben. Und sobald sie im Bett landeten (also praktisch sofort), stellte er zu seiner Erleichterung fest, dass sein Körper sich daran erinnerte, wie diese seltsame animalische Sache vonstattenging, und auch, wie er Gefallen daran finden konnte. Es war tröstlich, die ganze Nacht durchzuschlafen und neben Johanna aufzuwachen. Das hatte er noch nie getan, nicht mal mit Mandy Bernstein.
Meist blieben sie für sich, gingen in Museen und ins Kino, trafen sich höchstens mal mit Johannas älterer Schwester Debbie und Debbies Freund (später Verlobtem, dann Ehemann) Bruce Krieger bei Maxwell’s Plum oder P.J. Clarke’s. Debbie war ein Dynamo mit Schulterpolstern, die täglich ins Büro joggte und dazu Musik auf ihrem Walkman hörte. Sie und Bruce waren zielstrebig auf der Karriereleiter unterwegs und offensichtlich drauf und dran, sehr wohlhabend zu werden. (Salo sah ihnen an, dass sein archaisches kleines Familienunternehmen, bewusst den Blicken der Öffentlichkeit entzogen, ihnen ein wenig suspekt war.) Ein paarmal kam Johannas Bruder Bobby mit seiner jeweiligen Freundin vorbei, dann gingen sie zu viert aus und wussten nicht recht, worüber sie reden sollten. Bobby kaufte bereits Shoppingcenter und Gewerbeflächen und verkaufte sie weiter, manchmal – durch eine Reihe von vermutlich illegalen Holdingunternehmen – an sich selbst. Er brüstete sich damit, aus dem Internat geflogen zu sein, weil er seinen Mitschülern Hasch verkauft hatte (was angeblich von ihm auch noch mit Bleistiftspänen gestreckt worden war), aber dank all seiner zwielichtigen Mauscheleien residierte er bereits in einer Riesenvilla in New Jersey, voller glitzernder Dinge, die von seinem Erfolg zeugten. Bobby neigte dazu, unserem Vater zur Begrüßung kräftig auf die Schulter zu schlagen, aber eigentlich sprach es für ihn, dass er, obwohl »in derselben Branche«, Salo nie um einen Gefallen bat oder ihm auch nur einen Gartenschuppen anzudrehen versuchte.
Ganz allmählich, Wochenende für Wochenende, Stück für Stück zog Johanna bei Salo ein, brachte dies und das aus ihrer tristen Studentenbude in Skidmore mit, aber nichts aus ihrem Elternhaus, außer einem Hochzeitsfoto ihrer Großeltern Rose und Lou. Mehr und mehr dehnten sich ihre Wochenenden in der Third Avenue aus – erst von Freitag bis Sonntag, dann von Donnerstag bis Montag –, bis Johanna schließlich nur noch zu Pflichtveranstaltungen oder Prüfungen nach Skidmore zurückkehrte. (Auch wechselte sie im Hauptfach zu Kinderpsychologie, was ihr später allerdings in keiner Weise half, ihre eigenen Kinder besser zu verstehen.) Zu dem Bild, das solch einen dominanten Platz in der Wohnung ihres Freundes einnahm, sagte sie nichts, weil es – kaum vorstellbar – wenig Eindruck auf sie machte. Doch als sie sah, wie es auf ihn wirkte, gab sie sich wirklich Mühe. Sie erkannte, dass es sich nicht um ein Machwerk von einem der Straßenmärkte in Soho handelte oder um die Arbeit eines Kunststudenten an der Cornell. Es hatte eine komplizierte Transaktion stattgefunden, es war viel Geld geflossen, und das Ding war tatsächlich aus Europa angeliefert worden. Was ihre Verständnislosigkeit jedoch nur noch vertiefte.
Niemand hatte Salo beigebracht, wie man Kunst betrachtete. Weder seine Eltern noch der Grundkurs in Kunstgeschichte an der Cornell, der sowieso bei Akt, eine Treppe herabsteigend endete. Doch die Siebziger waren eine Zeit, in der der Wunsch eines gewöhnlichen, von der Kunstszene vollkommen unbeleckten Menschen, ein Bild zu erwerben, problemlos in Einklang zu bringen war mit dem Wunsch einer Galerie oder eines Auktionshauses, ein Bild zu verkaufen, und keiner darauf aus war, diese Transaktion unnötig zu verkomplizieren. Kunstberater würden sich erst im nächsten Jahrzehnt hervortun (unser Vater würde stets sein Vergnügen daran haben, sie achtkantig rauszuschmeißen), und die einzigen Sammler, die Interesse auf sich zogen, waren Leute, die Pollock und seinesgleichen kauften. Salo konnte jederzeit bei Christie’s oder Sotheby’s hereinschlendern, sich eine Bieterkarte holen und mit einem Bild aus der Ocean-Park-Serie von Diebenkorn oder einem »Slab Painting« von Hans Hofmann herauskommen, was er auch tat, bevor die Siebziger zu Ende gingen. Es war eine absurd publikumsarme Auktion, in der er zum ersten Mal auf die Arbeiten von Franz Kline und Agnes Martin stieß, und in Andrew Crispos Galerie, wo Crispo selbst sich gerade um einen Schweizer Sammler bemühte, stellte Salo einen Scheck für eine großformatige Arbeit von Ed Ruscha aus. Das Bild brachte er auf dem Dachgepäckträger eines hilfsbereiten Taxifahrers nach Hause in die Third Avenue.
»Also, was wissen wir über diesen Künstler?«, fragte unsere Mutter ihn eines Tages, als sie auf der Couch saßen. Das Bild befand sich an dem Platz, wo bei anderen Leuten der Fernseher stand.
Er gab ihr eine kurze Zusammenfassung, und unsere Mutter hörte zu, aber es fiel ihr schwer, sich ernsthaft für jemanden zu interessieren, der mit Wachsmalstiften auf einem Hintergrund aus Wandfarbe herumschmierte. Nicht mal ordentliche Ölfarbe! Salo selbst war auch nicht sonderlich interessiert an dem Leben oder den Ansichten dieses Malers, und das würde sich bei allen weiteren Künstlern, die er sammelte, auch nie ändern. Er kannte zwar ihre Lebensgeschichte, wusste, worum es ihnen ging, aber das hatte keinerlei Einfluss darauf, was ein Kunstwerk in ihm auslöste. In all den Jahren seiner Sammlertätigkeit fasste er niemals die Absicht, ein Werk von diesem oder jenem zu erwerben, weil er meinte, seine Sammlung solle einen Soundso enthalten, oder weil jemand ihm gesteckt hatte, Soundsos Werk werde eines Tages ein Vermögen wert sein. Er brauchte kein Vermögen zu erwerben. Das hatte er schon.
Meist sprach ihn auch niemand an, wenn er bei Castelli oder Pace oder Marlborough vorbeischaute (wo er sich einst Hilfe geholt hatte, um den Twombly zu erwerben) oder wenn er in salopper Freizeitkleidung durch die Ausstellungsräume von Sotheby’s oder Christie’s bummelte, den Kopf gesenkt, die Hände in den Taschen. Es half, dass die Maler, die ihm gefielen, nicht besonders hoch im Kurs standen, nicht als kommende Stars gehandelt wurden. Und obwohl er nicht prinzipiell darauf aus war, die Moden in der Welt der Kunst oder den Rat von Kunstexperten abzulehnen, sah er doch keine Veranlassung, ihnen in irgendeiner Form Beachtung zu schenken.
Anfangs löste kein einzelnes Werk den Gefühlssturm in ihm aus, den er in Krefeld erlebt hatte, doch je mehr er sein Auge schulte, desto mehr begann er zu begreifen, welche Ideen sich zwischen diesen Gemälden widerspiegelten. Dann, fast ein Jahr nach dem Twombly, zog es ihn immer wieder zu einem anderen quadratischen Bild hin, ein vertikal unterteiltes Feld verschiedener Grauschattierungen, so täuschend einfach und dabei unendlich komplex, von einem anderen unbekannten Maler. Das wurde sein zweiter Ankauf. Er hängte das Bild in sein Schlafzimmer, über eine braun laminierte Kommode aus der Möbelabteilung bei Bloomingdale’s. Diesmal reagierte Johanna nicht nur mit Unverständnis, sondern mit Widerwillen, wie er ihr deutlich ansah, doch sie sagte nichts. Sein dritter Ankauf war zu groß, um durch die Wohnungstür zu passen, und er musste den Hausmeister bestechen, damit er den Türrahmen entfernte. Als es dann drin war, bot nur die Wand genug Platz, an der der Twombly lehnte, also wanderte der Twombly ins Schlafzimmer. Der Zacken im Rigips bescherte dem Hausmeister ein weiteres Trinkgeld; nun musste zunächst die Wand repariert und dann – zum ersten Mal – ein professioneller Kunstinstallateur engagiert werden. Keiner der Beteiligten – Anlieferer, Hausmeister, Installateur – betrachtete Salos drei Bilder anders als mit offener Verachtung.
»Was hältst du von dem hier?«, fragte er unsere Mutter.
Sie saß auf dem Schlafsofa und musterte das neue Bild mit einiger Ratlosigkeit. Es zeigte eine weite senffarbene Fläche mit einem dünnen grünlichen Strich entlang der linken Kante und einer Kreuzschraffur am oberen Rand. Es biss sich schauerlich mit dem Sofa, das ein hellblaues Blumenmuster hatte, und mit dem Flokati-Teppich, der ebenfalls blau war.
»Was soll das darstellen?«, fragte sie.
»Seine Heimat. Er lebt in Los Angeles.«
»Und das da sind … Straßen?«
Somit war klar, dass mit der Frau, von der er bereits annahm, dass er sie heiraten würde, wohl nicht viel Gemeinsamkeit in Sachen Kunstverständnis zu erwarten war. Andererseits war unser Vater sich gar nicht so sicher, ob er seine Passion überhaupt mit jemandem teilen wollte. Er war erleichtert, es nicht tun zu müssen.
Was Salo an Johanna schätzte, war die Tatsache, dass der Erwerb kostspieliger Dinge ihr nichts bedeutete. Unsere Mutter hatte keinen Sinn fürs Shoppen; sie trug Jeans und Fair-Isle-Pullover und hochgeschnürte braune Stiefel, und zum Ausgehen hatte sie ein paar Wickelkleider, die ihre schmale Taille betonten. Es zog sie nicht in die angesagten Downtown Clubs wie das CBGB, damals schon legendär wegen seiner ikonoklastischen Bands (und seiner Versifftheit), oder später das bahnbrechende Palladium und Studio 54. Sie schien glücklich und zufrieden zu Hause mit einem Buch oder einem der neuen Kabelsender, traf sich höchstens mal mit ihren Freundinnen aus Skidmore, die langsam in Manhattan Fuß fassten. Sie begleitete ihn tapfer, wenn er ein Museum besuchen wollte, doch er wartete, bis sie zurück in Saratoga war, um dem nachzugehen, was er als seine eigentlichen Erkundungen betrachtete. Sie schien keine vergleichbare Passion zu haben; was sie im Leben am meisten interessierte – so viel war klar –, das war er selbst: sein Wohlergehen, seine Unterhaltung, seine Absolution. Salo hatte sich das nicht erbeten, aber plötzlich war es ihm in den Schoß gefallen, auch wenn er nicht wusste, was er davon halten sollte. Immer wieder fragte er sich, was wohl aus ihm geworden wäre, wenn sein Jeep nicht den Stein gerammt und sie vier dadrin durch die Luft gewirbelt hätte, aber diese theoretische Version seiner selbst konnte er sich nie so recht vorstellen; sie war ihm genauso fremd wie die ungeerdete Person auf schwankendem Boden, als die er sich empfand.
Manchmal erinnerte unsere Mutter ihn an Mandy Bernstein: ihre unverbrüchliche Fixierung auf ihn, die Kraft ihrer bedingungslosen Liebe. Er wusste, sie hielt ihn für einen guten Menschen, niedergedrückt von seinem tragischen Schicksal, doch dank ihrer Unterstützung am Rand einer wunderbaren Erlösung. Unser Vater konnte sich nicht dazu durchringen, sie zu enttäuschen, ihr begreiflich zu machen, wie falsch sie lag. Er wollte nicht noch eine junge Frau zerstören, die sich so töricht darauf versteift hatte, ihn zu lieben, und so machte er ihr denn eines Abends unter einer der falschen Tiffanylampen bei Maxwell’s einen Heiratsantrag, mit einem Ring, der einst der Mutter seines Vaters gehört hatte. Er war Johanna zu groß – das Ringmaß, nicht der Edelstein –, doch sie war glücklich damit. Überglücklich. Sie hätte auch nichts gegen eine Hochzeit in kleinem Rahmen gehabt, nur mit ein paar Freunden aus der Studienzeit; es wurde dann aber doch eine große Feier im Harmonie Club, mit vielen geladenen Wurttemberg-Kunden. Seine Eltern zahlten das Ganze.
Inzwischen war unserer Mutter schon klarer, worauf sie sich bei den Oppenheimers eingelassen hatte, besonders, was deren Reichtum betraf. Sie hatte seine Eltern kennengelernt, den wortkargen Hermann und die hochmütige Selda (mit einer so eisigen Miene, dass Johanna nicht sicher war, ob die Missbilligung wirklich ihr galt oder ganz allgemein dem Rest der Welt). Zum Glück traf man sich im Restaurant, was das Ganze etwas abfederte. Offensichtlich waren diese Oppenheimers wesentlich wohlhabender als ihre eigene Familie; sie selbst kannte bisher nur eine Version von amerikanischem Wohlstand – die der Schüler von Lawrenceville –, aber das war kein Vergleich zu Salos Eltern. Salo hatte keinerlei Interesse an der Zurschaustellung von Reichtum; als sie sich kennenlernten, trug unser Vater fast unentwegt seine alten Schlabberhosen und Pullis über einem T-Shirt von seiner alten Schule, der Collegiate. Diese Gewohnheit änderte er auch nicht, nachdem er angefangen hatte, bei Wurttemberg zu arbeiten, bis sein Vater ihn schließlich dazu brachte, sich angemessener zu kleiden. (Johanna half ihm, sich eine Aktentasche auszusuchen, damit er aufhörte, seine Arbeitsunterlagen in einer Big Brown Bag von Bloomingdale’s durch die Gegend zu schleppen.) Sie war allerdings noch nicht New Yorkerin genug, um die Aussagekraft von Salos Eckdaten zu erkennen: Collegiate Privatschule, das Wochenendhaus am Strand von Rye, das Sommercamp, das man seit jeher mit jüdischen Familien aus einer bestimmten finanziellen Schicht assoziierte, und vor allem die Wohnung der Oppenheimers an der Fifth Avenue, in einem opulenten Sandsteingebäude von 1915, das für Juden früher absolut tabu gewesen wäre, egal, wie viel Geld sie besaßen. Dieser herrschaftliche Wohnsitz im Himmel nahm die bessere Hälfte einer hoch gelegenen Etage ein, sodass seine lange Fensterreihe auf den riesigen Teppich aus Baumkronen im Zentrum von Manhattan hinausblickte. Dort waren die Sofas sicherlich nicht von Jennifer Convertibles und die Sessel bestimmt nicht von Habitat, und die Gemälde an den schönen Wänden, die mit Sicherheit nicht aus Rigips bestanden, hatten unten kleine Bronzeschilder und oben eine diskrete Beleuchtung.
Eines Nachmittags, als Hermann und Selda in Rye waren, gingen sie in deren Wohnung, um ein Dokument aus einer Schublade in Salos altem Zimmer zu holen. Im Salon fiel ihr ein Bild über dem Kaminsims auf. Sie trat näher. Auf dem Bronzeschildchen stand doch tatsächlich … Édouard Manet.
»Ist das …?« Sie hatte schon »echt« sagen wollen, aber natürlich wusste sie ohnehin, dass es echt war. Sie würde nie mit ihren Schwiegereltern warm werden, aber dass sie nicht zu den Leuten gehörten, die sich eine Kopie ins Wohnzimmer hängten, war ihr längst klar.
»Was?«
»Ach, nichts.«
Und sie folgte ihm durch den langen Flur, immer noch fassungslos.
Es war einfach nur ein weiteres Puzzlestück in dem permanenten Rätsel, das seine Eltern für sie darstellten. Wenn sie Salo im Büro besuchte, was sie manchmal tat, kam Hermann, um sie mit einem Lächeln und einem förmlichen Händedruck zu begrüßen. Wenn sie sich zu viert zum Essen trafen, stets in einem Restaurant mit gedämpfter Atmosphäre und beängstigendem Silberbesteck, erkundigte Selda sich fürsorglich nach ihrer Mutter, ihrem Vater, Bruder, ihrer Schwester. Aber ihr Freund, dann Verlobter, dann Ehemann schien absolut nichts über seine Kindheit zu sagen zu haben, und das wenige, das er Johanna erzählte, hatte vor allem mit dem Personal zu tun. Es hatte eine Haushälterin namens Etta gegeben, die in der Dienstbotenkammer neben der Küche untergebracht war, was es seinen Eltern ermöglichte, jederzeit zu verreisen oder ohne ihn nach Rye zu fahren (und das hatten sie oft getan). Außerdem eine Nanny namens Rosa, die ihn zum Kindergarten brachte, und eine Miss James, die ihn mit dem Bus zur Schule begleitete, zumindest bis zur vierten Klasse. Abendbrot aß er am Küchentisch, manchmal mit seiner Mutter, bevor sie ausging, manchmal nur mit Etta oder Miss James, die immer alles von Etta Gekochte nachsalzte, was diese als Kränkung empfand. Sein Zimmer, weit entfernt vom Schlafzimmer seiner Eltern gelegen, hatte einen grün karierten Bettüberwurf und einen Schreibtisch für die Hausaufgaben, die er aber lieber auf seinem Sitzsack machte. (Er brauchte es ihr nicht zu beschreiben, es war ja alles unverändert geblieben.) An der Wand neben der Tür hatte ein Gemälde von einem Jungen mit einem Löffel gehangen, das allerdings nicht mehr da war. Im Übrigen, erklärte Salo, seien viele der Bilder nicht mehr da, mit denen er aufgewachsen war.
Doch an eine Unterhaltung mit seinen Eltern konnte er sich kaum erinnern oder an einen Ausflug, geschweige denn an einen Familienurlaub. Nachdem sie ihn in die Welt gesetzt hatten, schienen sie sich auf respektvollen Abstand an den Rand seiner Kindheit zurückgezogen zu haben; höflich applaudierend hatten sie ihn pflichtschuldig durch jene prägenden Jahre begleitet, aber die elterliche Zuwendung hatten sie dann doch lieber geeigneteren Leuten überlassen, was in diesem Fall hieß, niemandem. Er wollte es ihnen nicht verübeln, und Johanna hütete sich, ihm Derartiges nahezulegen. Sie hatten ihm nie einen Wunsch abgeschlagen, im Gegenteil. Jeden Sommer waren Hermann und Selda nach Androscoggin zum Feriencamp gefahren und hatten dort mit den anderen Eltern herumgestanden, um sich die Kanukünste ihrer Sprösslinge und den Wettbewerb im Bogenschießen anzusehen, und sie standen mit ihm im Temple Emanu-El (ein anderer Hermann Oppenheimer, der Großvater von Salos Großvater, war 1845 eins der Gründungsmitglieder gewesen). Doch dann kam der Abend, als die beiden nach Ithaca geeilt waren, Salo in Äther gepackt und nach New York mitgenommen hatten und niemals ein Wort darüber verloren, was er getan hatte. Sie hatten ihn sogar zu Mandys Beerdigung nach Lawrenceville gebracht und zu Daniels Beerdigung nach Newark, hatten im Café gewartet, während er tat, was er tun musste, das Richtige eben, was sie auch von sich selbst erwartet hätten, wenn – Gott bewahre – einer von den anderen am Steuer gesessen hätte und ihr eigener Sohn, ihr einziges Kind, plötzlich dahingerafft worden wäre.
Darüber sprach auch er nie, aber unsere Mutter blieb dennoch immer darauf gefasst. Sie bemühte sich, den Schutzraum für seine Selbstbezichtigungen bereitzuhalten, sollte es jemals so weit kommen.