Der Prager Frühling - Martin Schulze Wessel - E-Book

Der Prager Frühling E-Book

Martin Schulze Wessel

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Beschreibung

Der Prager Frühling 1968: Aufstand der demokratischen Kräfte gegen ein autoritäres Gewaltsystem und ein Laboratorium für neue Gesellschaftsentwürfe, das in der kollektiven Erinnerung Europas bis heute fortwirkt. Der prominente Osteuropahistoriker Martin Schulze Wessel veranschaulicht die Prager Reformbewegung um Alexander Dubček als ein Zukunftsprojekt, als den Versuch, die Annäherung zwischen sowjetischem System und westlicher Gesellschaftsform in der Mitte Europas zu realisieren. Er zeichnet den Prager Frühling zudem als ein Projekt der Vergangenheitsbewältigung nach, im Zuge dessen die Schauprozesse der fünfziger Jahre, beispielsweise gegen Rudolf Slánský, erstmals öffentlich diskutiert wurden.Die Denkwelten der Reformer des Prager Frühlings, dargelegt anhand neuen Quellenmaterials, sind zeitgebunden und aktuell gleichermaßen. Darin liegt ein Teil ihrer historischen Anziehungskraft, die auch heute noch, nach einem halben Jahrhundert, von ihnen ausgeht.

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Martin Schulze Wessel

Der Prager Frühling

Aufbruch in eine neue Welt

Reclam

Durchgesehene und aktualisierte Ausgabe

 

2018 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: zero-media.net

Coverabbildung: Alexander Dubček, von Fotografen und Anhängern umringt (Prag 1968). Foto: akg-images / AP

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2018

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961312-3

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020548-8

www.reclam.de

Inhalt

EinleitungDer Prager Frühling global und nationalDer Prager Frühling in der Erinnerungskultur1 Vergangenheit im Prager FrühlingDie ProzesseOpfer der politischen Justiz und Protagonisten des Prager FrühlingsIn kleinen Schritten zur Rehabilitierung2 Zukunft im Prager FrühlingKafka und das Problem der EntfremdungDie »wissenschaftlich-technische Revolution« und Radovan Richtas Zivilisation am ScheidewegMehr Empirie wagen. Ota Šiks WirtschaftsreformLektionen aus der Vergangenheit. Zdeněk Mlynářs Neuentwurf des politischen SystemsZeiträume im Reformdiskurs3 FrühlingStaatsmacht und StudentenprotestNovotnýs SturzNeuanfang oder Wachablösung?Revolution der ÖffentlichkeitWahlkampfDemoskopieEin Parteiprogramm als MeilensteinErrungenschaften in Gefahr? Die führende Rolle der Arbeiterklasse und die Gleichberechtigung von Mann und Frau4 SommerDie Rückkehr der Vergangenheit als Pressure-GroupsMaifeiernWissen und Macht in der internationalen PolitikIm Zwielicht5 Winter im SommerDas Gespenst der Slánský-Prozesse2000 WorteNach Warschau? Nach Moskau!DanachBibliographieArchiveGedruckte QuellenLiteraturDanksagungZum AutorPersonenregister

Einleitung

»Es war hörbar, sichtbar, greifbar, und doch nicht zu fassen. Jemand klopfte am Mittwoch früh an unsere Hoteltür und rief: ›Wir sind besetzt.‹« So erlebte Heinrich BöllBöll, Heinrich den Morgen des 21. August 1968, als sowjetische Truppen im Verbund mit Armee-Einheiten anderer Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei einrückten, um dem Reformprozess dort ein Ende zu machen. Die meisten Westdeutschen verfolgten die Niederschlagung des Prager Frühlings nicht wie BöllBöll, Heinrich von einem Prager Hotelzimmer aus, sondern an Radioempfängern und im Fernsehen. Wie kaum ein anderes Ereignis des Kalten Kriegs – vergleichbar allenfalls mit dem Ungarn-Aufstand, der Kuba-Krise, dem innerdeutschen Mauerbau und der Verhängung des Kriegsrechts in Polen – prägte sich die sowjetische Invasion mit den Bildern von den Panzerkolonnen auf dem Prager Wenzelsplatz in das europäische Gedächtnis ein. Von Anfang an gingen die Deutungen der Invasion auseinander. »Die Schüsse«, so BöllBöll, Heinrich weiter, »erklärten deutlich: Europa hat keinen Frieden, es lebt im Zustand unterschiedlicher Waffenstillstände, hier wurde ein Waffenstillstand gebrochen, in Prag.«1BöllsBöll, Heinrich Sorge galt zuerst dem Frieden. Das war für die westdeutsche Rezeption charakteristisch. Hingegen sahen sich die Tschechen und Slowaken vor allem ihrer Freiheit beraubt. Auch viele Ostdeutsche, die im Frühjahr und Sommer 1968 als Touristen die Tschechoslowakei besucht hatten und in ihrem Land auf eine Reform nach tschechoslowakischem Vorbild hofften, teilten diese Sicht.

Längst sind die unmittelbaren Eindrücke der Zeitgenossen durch die Literatur und vor allem durch Spielfilme überformt worden. Dem internationalen Publikum hat sich besonders der Film Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins von 1988 eingeprägt, den der amerikanische Regisseur Philip KaufmanKaufman, Philip nach dem gleichnamigen Roman von Milan KunderaKundera, Milan gedreht hat. Er verband Dokumentaraufnahmen des 21. August mit gespielten Szenen und führte ein akustisches Element ein, um die Überwältigung der Reformbewegung zu signalisieren: Das Klirren der Fensterscheiben und der Weingläser in den Vitrinen kündigt die einrückenden Panzer der Besatzungsmacht an. Das Geräusch weckt die überraschten Bürger, die immer noch arglos an die Friedfertigkeit des großen Verbündeten glauben. Mit ganz ähnlichen ästhetischen Verfahren arbeiteten nach 1989 tschechische Filme wie Jan HřebejksHřebejk, JanKuschelnester (Originaltitel: Pelíšky, 1999) und – als Reminiszenz an den Prager Frühling – Jan SvěráksSvěrák, JanKolya (Originaltitel: Kolja, 1996). So etablierte sich ein Verfahren, das die Spezifik dieser militärischen Invasion, nämlich das überraschende Eindringen einer mit Panzern bewaffneten Macht in die schlafende Metropole, symbolisiert.

In der Memoirenliteratur der Akteure des Prager Frühlings spielt das Ereignis der Invasion eine wichtige, aber keine überragende Rolle. Die Zeitzeugen wie auch ein großer Teil der Geschichtsschreibung waren gefesselt von der Einzigartigkeit des Reformexperiments, das sich in den wenigen Monaten vom Januar bis August 1968 in der Tschechoslowakei vollzog. Sie sahen darin den weltweit ersten Versuch, eine sozialistische Gesellschaftsordnung nicht nur mit marktwirtschaftlichen Elementen, sondern auch mit Demokratie und Gewaltenteilung zu verbinden. Für einige Monate schien der Widerspruch zwischen Ost und West überbrückbar. In dem Bestreben, den Systemgegensatz zu überwinden, liegt auch weiterhin ein großer Teil der Faszination, welche die Frühlings- und Sommermonate 1968 in der historischen Rückschau ausüben. Doch fragt die neuere Zeitgeschichtsschreibung immer drängender nach den Phänomenen der »langen Dauer«: nach der allmählichen Vorbereitung des Reformprozesses seit der ersten Hälfte der sechziger Jahre und den langfristigen Wirkungen, die vom Prager Frühling und seiner Niederschlagung ausgingen.2

Hier knüpft dieses Buch an: Es gewinnt aus der Vorgeschichte, die in den fünfziger Jahren beginnt, ein neues Verständnis der Reformepoche. Der Prager Frühling wurde, so die These, von zweierlei vorangetrieben: erstens von den Zukunftsvorstellungen einer neuen Gesellschaft, die auf eine Humanisierung des Sozialismus oder eine Konvergenz mit den liberalen, marktwirtschaftlich geprägten Demokratien des Westens hinausliefen, und zweitens von der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der fünfziger Jahre. Deren Hypothek bestand darin, dass die bis 1968 amtierende Führung der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KSČ) für die Justizverbrechen dieser Zeit zum Teil persönliche Verantwortung trug und deshalb an einer rückhaltlosen Aufarbeitung der Geschichte kein Interesse hatte. Ohne die öffentliche Rehabilitierung der politischen Opfer von damals und die namentliche Identifizierung der Schuldigen bestand aber keine Aussicht, eine wirksame gesellschaftliche Dynamik für umfassende Reformen anzustoßen. Das Jahr 1968 stand deshalb in der Tschechoslowakei ebenso im Zeichen von Zukunftsentwürfen, wie es von einer Debatte über die Vergangenheit geprägt war.

Die Geschichte des Prager Frühlings ist von seinen führenden Akteuren und der Geschichtsschreibung zumeist als Ideologiegeschichte erzählt worden. Auf der einen Seite standen demnach die »Reformer« mit Alexander DubčekDubček, Alexander als Galionsfigur und auf der anderen Seite die »Dogmatiker« und »Konservativen«. Diese Kategorisierung in einem Links/Rechts-Schema ist naheliegend, denn die Protagonisten des Prager Frühlings setzten sich in der Tat für Veränderungen ein, während die gegnerische Gruppe die bestehenden Verhältnisse verteidigte. Insofern ist die Darstellung entlang der ideologischen Linien von »links« und »rechts« nicht falsch, aber sie greift in zweierlei Hinsicht zu kurz:

Erstens wird allzu oft übersehen, dass es sich bei dem Gegensatz von »Reformern« und »Konservativen« um Positionen handelte, die die Akteure selbst konstruierten. In der Auseinandersetzung zwischen den beiden Flügeln der KSČ war es alles andere als selbstverständlich, dass sich eine Gruppierung, die Elemente der westlichen Gesellschaftsordnung in das eigene System implementieren wollte, als »progressiv« bezeichnen konnte. In der Geschichte des Kommunismus gibt es viele vergleichbare Bestrebungen, die sofort als »Rechtsabweichung« oder »Revisionismus« gebrandmarkt wurden. Der Gruppierung um Alexander DubčekDubček, Alexander hingegen gelang es, sich als »Erneuerer« und »Reformer« im Sinne der ursprünglichen Ideen des Sozialismus und damit als Fortsetzer der linken Tradition darzustellen. Mit dieser Sprachstrategie ließ sie ihre innerparteilichen Gegner als »Dogmatiker« und »Konservativen«, also als »Rechte«, erscheinen. Darin lag für das DubčekDubček, Alexander-Lager ein großer Erfolg. Nicht von ungefähr setzte die sowjetische Führung, als sie sich für den Gewaltakt gegen den Prager Frühling entschied, zuerst im Warschauer Pakt eine neue Sprachregelung durch: Die »Reformer« hießen jetzt »Konterrevolutionäre«. Erst danach schickte sie die Panzer. Ideologie war also weit mehr als eine Bemäntelung von politischen Interessen. Deshalb interessiert sich dieses Buch dafür, wie die »linken« bzw. »konservativen« Positionen konstruiert wurden: Wie entwarf eine Gruppierung, die den Status quo verändern wollte, von sich selbst das Bild einer »progressiven« Kraft im Sinne eines »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«? Wie reagierte das Gegenlager der Status-quo-Bewahrer darauf, und wie erhob die sowjetische Politik schließlich den Vorwurf der »Konterrevolution«?

Zum anderen greift die Literatur zum Prager Frühling aber auch deshalb vielfach zu kurz, weil sie dessen Geschichte in dem Gegensatz von »Reformern« und »Konservativen« aufgehen lässt. Die Links-Rechts-Schemata waren im Prager Frühling höchst wirkungsvoll, aber die Auseinandersetzung stand nicht nur unter den ideologischen Vorzeichen des Kalten Krieges. Vielmehr ist der Prager Frühling auch als eine Auseinandersetzung um die kulturellen Grundlagen der Nation zu begreifen. Eine große Rolle spielte dabei die Aufarbeitung der Justizverbrechen der fünfziger Jahre. Im Laufe der sechziger Jahre drängten Opfer der politischen Justiz auf ihre Rehabilitierung und wurden dabei von Kommunisten unterstützt, die von der Aufarbeitung der Verbrechen eine Selbstreinigung der Partei und eine Rückkehr zu den »ursprünglichen« Traditionen des Marxismus erhofften.3 Dieser Konflikt berührte die Gemengelage von alten, ethnisch codierten Konflikten, zu denen auch der Antisemitismus der fünfziger Jahre gehörte, und bewegte sich in der Tradition von Nationalitätenkonflikten der Zwischenkriegszeit. Auch die slowakischen Kommunisten waren von den Prozessen in besonderer Weise betroffen. Tatsächlich erforderte die Aufarbeitung der Vergangenheit mehr als nur eine Rehabilitierung der zu Unrecht verurteilten ideologischen »Abweichler«. Es ging auch darum, einen Antisemitismus zu erkennen und zu entkräften, welcher den Justizverbrechen der fünfziger Jahre eine rassistische Begründung geliefert hatte. Der Prager Frühling führte einen Kampf gegen dieses Ressentiment. Erst damit schuf er die Bedingungen für die Möglichkeit von umfassenden Reformen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Dieser Zusammenhang ist bislang zu wenig beachtet worden, ihm will dieses Buch besondere Aufmerksamkeit schenken.

Schließlich geht es um die Frage nach der Gestaltbarkeit von Wandel. Die Zeitgenossen knüpften an den Prager Frühling oftmals hochfliegende Hoffnungen, die sie auf die Protagonisten des Reformprozesses wie Alexander DubčekDubček, Alexander projizierten. Nach der sowjetischen Invasion erzählten viele Beteiligte das Geschehen als ein Lehrstück, in dem die Rollen von Heldentum und Verrat eindeutig verteilt waren,4 oder auch als eine Tragödie, in der die Gründe für das Scheitern auch im Handeln der Reformpolitiker gesucht wurden.5 Anderen enttäuschten Beobachtern erschien der Prager Frühling als eine Farce, in der die Akteure, gefangen in stereotypen Vorstellungen über die Rolle der Intellektuellen, die Macht des Wortes überschätzten und zu einer verantwortlichen Politik nicht in der Lage waren.6 Fünfzig Jahre nach dem Prager Frühling sind die Deutungsschlachten der Beteiligten weitgehend geschlagen. Aus heutiger Sicht erscheint der Prager Frühling gewiss nicht als Farce, vielmehr als ein herausragendes Beispiel für die Erneuerungsfähigkeit einer Gesellschaft. 1968 gewann die tschechoslowakische Politik, so das Argument dieses Buches, durch die Aufarbeitung ihrer stalinistischen Vergangenheit eine Glaubwürdigkeit in der Öffentlichkeit zurück, die den Reformkurs der Partei erst ermöglichte. Während der Frühjahrs- und Sommermonate des Epochenjahrs blieb die Verwirklichung der Zukunftsentwürfe der Partei daran gebunden, dass diese neue moralische Grundlage der Gesellschaft, z. B. die Verurteilung von Antisemitismus, erhalten blieb. Das gelang zunächst. Dennoch wurden die Gestaltungsspielräume der Reformpolitik im Sommer 1968 immer schmaler, was nicht nur auf die sowjetischen Drohungen, sondern auch auf interne Dilemmata des Prager Frühlings zurückzuführen ist.

Der Prager Frühling global und national

1968 hatte, global gesehen, viele Schauplätze, von Berkeley über Paris und Berlin bis Tokyo. Jede Geschichte dieses Jahres kann in der Zeit oder im Raum ›gelesen‹, d. h. entweder von ihren spezifischen historischen Voraussetzungen her oder als Ergebnis von transnationalen Ideentransfers begriffen werden.1 Zweifellos vollzog sich auch die Entwicklung in der Tschechoslowakei in einem globalen Zusammenhang, sie empfing Impulse von außen und wirkte anregend auf Bewegungen in aller Welt. Viele Ideen waren 1968 allgegenwärtig, so dass sich kaum klären lässt, woraus sie entstanden ist und wer sie auffing. Phänomene der globalen Jugendkultur wie Beatmusik, lässige Kleidung und lange Haartracht waren 1968 auch in der Tschechoslowakei zu beobachten. Jugendliche in Prag oder Bratislava teilten mit den Jugendlichen in anderen Metropolen den Glauben an die Gestaltbarkeit der Zukunft. Die Überzeugung, dass das Morgen vom Heute unterschieden sein kann, dass die Zukunft ein Reservoir von Möglichkeiten enthält und dass Unerwartetes, Brüche oder Sprünge im Zeitverlauf möglich sind, gehörte zu den wirksamen Leitvorstellungen des Epochenjahrs.2 Überall beherrschten Intellektuelle die Szene. Im globalen Jahr 1968 traten wie in kaum einer anderen Periode der modernen Geschichte die Sozialwissenschaften prägend in Erscheinung, die die Bewegung analysierten und selbst vorantrieben.

Die grenzüberschreitenden Transfers und Gemeinsamkeiten wurden spezifisch gedeutet und aufgenommen. Dabei kam es zu Bedeutungsverschiebungen: Lässige Kleidung symbolisierte in den westlichen Metropolen die Abkehr von der Konsumkultur, in der Tschechoslowakei bedeutete sie dagegen eine Teilhabe am Konsum und signalisierte den Wunsch, zur globalen Jugendkultur dazuzugehören. Außerdem war ein auf Eigensinn bestehender Habitus in der Tschechoslowakei bis zum Vorabend des Prager Frühlings mit viel höherem persönlichen Risiko verbunden und insofern politischer als im Westen.

Die üblichen Bezeichnungen für das weltweite Phänomen »1968« wie »Studentenbewegung«, »Jugendrebellion« und »Generationenrevolte« treffen auf das Geschehen in der Tschechoslowakei nicht zu. Studenten bildeten hier zwar eine wichtige soziale Gruppe, aber sie prägten nicht die politische Atmosphäre wie in Deutschland oder Frankreich. Der Prager Frühling stellte auch keine Rebellion dar, denn anders als in den USA und in Westeuropa wurde die Entwicklung in der Tschechoslowakei von der Partei- und Staatsspitze angestoßen. Ursprünglich eine Reform von oben, setzte er allerdings eine Dynamik in Gang, die die Gesellschaft viel stärker mobilisierte und veränderte, als es die Politik vorausgesehen hatte. Am wenigsten stellte er einen Generationenkonflikt dar, im Gegenteil fanden sich in ihm verschiedene Altersgruppen – von den Studenten bis zu den meist über 50-jährigen Justizopfern der StalinStalin, Josef Wissarionowitsch-Zeit – in einem gemeinsamen Projekt zusammen.

Im Gegensatz zu vielen Bewegungen im Westen war der Prager Frühling undogmatisch. Der Wandel in der Tschechoslowakei eröffnete eine ganze Vielzahl von neuen ideellen Perspektiven. Über die Vereinbarkeit von Demokratie und Sozialismus nachzudenken war eine davon. Auch der Genossenschaftssozialismus, wie ihn sich TitosTito, Josip Broz Jugoslawien auf die Fahnen geschrieben hatte, unterlag keinen Denkverboten mehr. Programmatisch möglich wurde aber auch der Rückgriff auf Altes, scheinbar Überwundenes, wie die Traditionen der bürgerlichen Ersten Tschechoslowakischen Republik der Zwischenkriegszeit. Deren Geschichte fand speziell unter Studenten großes Interesse.

Mit den 1968er-Bewegungen in Westeuropa und den USA teilte der Prager Frühling eine formale Gemeinsamkeit: Die Veränderung trat als ein unerwartetes Ereignis ein und hatte langfristige Folgen.3 So wie in Frankreich noch wenige Tage vor dem Mai 1968 in einem Leitartikel von Le Monde formuliert werden konnte: »Frankreich langweilt sich«,4 so traf der Machtwechsel vom Januar 1968 in der Tschechoslowakei die Beobachter völlig unvorbereitet. Zwei Monate dauerte es, bis die tschechoslowakische Öffentlichkeit begriff, dass sich auf dem Hradschin mehr als eine bloße Wachablösung an der Spitze der Partei vollzogen hatte. Dann allerdings, ab dem März 1968, setzte eine alles hinwegreißende Dynamik ein, von der die Architekten des Prager Frühlings selbst überrascht und auch überfordert waren. Niemand langweilte sich mehr.

Die Wirkungen von 1968 sind in ihrer Longue durée hingegen nur strukturhistorisch zu bemessen. Das globale Epochenjahr ist auch nach fünfzig Jahren nicht vollständig historisiert, in Deutschland sorgen dafür schon die immer wieder neuen Selbstdeutungen der Protagonisten von damals. Hier ist es aber weithin Konsens geworden, mit Jürgen Habermas die »Fundamentalliberalisierung« als das eigentliche Erbe von 1968 anzusehen.5 Zwar waren die deutschen Rebellen von damals keineswegs Liberale und nicht einmal in allen Fällen lupenreine Demokraten, aber wie so oft stehen hier die Beweggründe der historischen Akteure und ihre langfristigen Wirkungen in einem paradoxen, wenn nicht ironischen Verhältnis zueinander.

Damit verglichen erscheint die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte des Prager Frühlings schwerer auf einen Nenner zu bringen. Dessen unmittelbare Folge war nach der sowjetischen Okkupation das Trauma einer autoritären Herrschaft, die nicht nur das Jahr 1968, sondern auch die relativ liberale Phase seit 1963 ungeschehen machen wollte. Selbst der Antisemitismus wurde wieder hoffähig. In der von politischer Verfolgung und Konsumversprechen geprägten Epoche der »Normalisierung« in den siebziger Jahren ging sicherlich der Glaube an eine Demokratie- und Sozialreform von oben verloren, aber wohl kaum der grundlegende Gedanke an die Veränderbarkeit der Verhältnisse. Insofern steht 1989 in der Tschechoslowakei, strukturgeschichtlich betrachtet, durchaus in der Folge von 1968, auch wenn die Intentionen der damaligen Akteure und die langfristigen Folgen in einem ähnlich paradoxen Verhältnis stehen wie im deutschen Fall.

Der Prager Frühling in der Erinnerungskultur

Der tschechische Kulturhistoriker Jan MervartMervart, Jan, lange nach 1968 geboren, publizierte 2014 eine Anthologie mit dem Titel Die Inspiration Prager Frühling. »Wir glauben«, so MervartMervart, Jan in seiner Einleitung, »dass die Niederlage dieses großartigen Traums nicht bedeutet, dass die Ideen, die an seiner Wiege standen, falsch sind. Die Geschichte hat Zeit genug.«1 Der Reformprozess sei »nicht auf dem Feld der Gedanken und Meinungen […] geschlagen worden, sondern durch militärische Macht«.2 Als große unvollendete Geschichte, als eine »unterbrochene Revolution«, so der Titel der umfangreichen Darstellung des englischen Historikers Harold Gordon SkillingSkilling, H. Gordon, eignete sich der Prager Frühling für Mythenbildungen und Deutungskämpfe.3

Der Streit um die Interpretation des Prager Frühlings begann noch im Jahr 1968 in der Weihnachtsausgabe der Literaturzeitschrift Listy (»Blätter«). Milan KunderasKundera, Milan Artikel »Das tschechische Schicksal« eröffnete eine hitzige Debatte. Der SchriftstellerKundera, Milan legte dar, wie er nach der Invasion der Warschauer-Pakt-Truppen am 21. August in vielen Gesprächen immer wieder zu dem Schluss gekommen sei, »dass es auf der Welt kein Volk gibt, dass eine vergleichbare Prüfung ähnlich wie wir bestanden und so viel Festigkeit, Verstand und Einheit bewiesen hat«. Den Prager Frühling selbst bewertete erKundera, Milan als einen Versuch, »endlich (und zum ersten Mal in der Weltgeschichte) einen Sozialismus ohne Geheimpolizei mit der Freiheit des geschriebenen und des gesprochenen Worts, mit einer öffentlichen Meinung, die gehört wird, und mit einer Politik, die sich auf diese stützt, mit einer sich frei entfaltenden modernen Kultur und mit Menschen, die die Angst verloren haben«. Mit dem Projekt des Prager Frühlings stünden die »Tschechen und Slowaken erstmals seit dem Mittelalter wieder im Zentrum der Weltgeschichte und adressierten ihre Herausforderung an die Welt«.4

KunderasKundera, Milan Essay ermutigte die Tschechen und provozierte die Slowaken – beginnend mit dem Titel, der eine tschechoslowakische Erfahrung kurzerhand zu einer tschechischen machte. Tatsächlich hatte der »Prager« Frühling wichtige Ursprünge in der Slowakei. Die welthistorische Mission, die KunderaKundera, Milan aus dem gescheiterten Reformversuch ableitete, verwies aber unverkennbar auf einen tschechischen – und nicht slowakischen – Mythos, und zwar auf die Reformation von Jan HusHus, Jan. KunderaKundera, Milan ordnete den Prager Frühling in die von Hus ausgehende tschechische missionarische Fortschrittstradition ein, die in der slowakischen Geschichte keine Entsprechung hatte.

Václav HavelHavel, Václav reagierte auf KunderasKundera, Milan Essay mit einer bissigen Polemik. ErHavel, Václav ironisierte KunderasKundera, Milan historisierendes Pathos und ordnete den Text in eine Reihe von nationalphilosophischen Sinnstiftungsversuchen aus dem 19. Jahrhundert ein: Beim »Tschechischen Schicksal« habe man es mit »einer neuen und sehr gefälligen Variante einer alten und sehr kurzsichtigen Camouflage« zu tun. Viel nüchterner als KunderaKundera, Milan bewertete HavelHavel, Václav den Gehalt des Prager Frühlings: »Wenn wir uns einreden, dass ein Land, das die Meinungsfreiheit einführen – was in den meisten Ländern der zivilisierten Welt eine Selbstverständlichkeit ist – und die Willkür der Geheimpolizei beenden wollte, deshalb im Mittelpunkt der Weltgeschichte steht, werden wir nichts anderes als selbstgefällige Schmocks sein, lächerlich in unserem provinziellen Messianismus.«5

Beide Schriftsteller, KunderaKundera, Milan und HavelHavel, Václav, hatten den Reformkurs Alexander DubčeksDubček, Alexander unterstützt. In der Kontroverse über den Sinn des Prager Frühlings traten nun ihre unterschiedlichen Positionen klar zutage. KunderasKundera, Milan Leben war eng und konfliktreich mit der Geschichte der Partei verbunden. HavelHavel, Václav dagegen, in einer großbürgerlichen Familie geboren, war nie Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen. Seit der Machtergreifung der Kommunisten im Jahr 1948 waren für ihn alle Bildungs- und Karrierewege versperrt. Während KunderaKundera, Milan den Prager Frühling auch als sein persönliches Drama erlebte, beobachtete HavelHavel, Václav das Geschehen aus der Perspektive des Außenseiters.

Zunächst konnten weder KunderaKundera, Milan noch HavelHavel, Václav ihre Deutungen des Prager Frühlings durchsetzen. Als die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei (KSČ) seit 1969 ihre führende Rolle mit repressiven Mitteln und Konsumangeboten für die Bevölkerung erfolgreich wiederherstellte, veröffentlichte ihr Zentralkomitee die Broschüre »Lehren aus der krisenhaften Entwicklung« und etablierte damit die nun für viele Jahre gültige Doktrin, dass es sich beim Prager Frühling um eine gescheiterte Konterrevolution gehandelt habe.6 Erst im Dezember 1989 distanzierte sich die KSČ von diesem Dokument und entschuldigte sich bei den Reformpolitikern, die sie in den siebziger Jahren ausgeschlossen hatte. Sie war aber zu diesem Zeitpunkt geschichtspolitisch so diskreditiert, dass sie mit dem Versuch einer Wiedergutmachung weder innerhalb der Partei noch in der Gesellschaft eine neue Diskussion über den Prager Frühling anstoßen konnte. Die »Samtene Revolution« von 1989 leitete ihre Legitimation dann nicht vom Bestreben des Prager Frühlings ab, eine Synthese von Demokratie und Sozialismus zu finden. Vielmehr begab sich die Tschechoslowakei bald zusammen mit den anderen ostmitteleuropäischen Staaten auf den Weg einer schnellen politischen und wirtschaftlichen Transformation unter den radikal liberalen Vorzeichen der neunziger Jahre. Bezeichnend war, dass kaum ein Repräsentant des Prager Frühlings bei der Neubegründung der tschechoslowakischen Demokratie eine führende Rolle spielte. Alexander DubčekDubček, Alexander wurde zwar umjubelt, als er in der Samtenen Revolution am 22. November 1989 in Bratislava und zwei Tage später zusammen mit Václav HavelHavel, Václav auf dem Prager Wenzelsplatz auftrat, und er galt zunächst als aussichtsreicher Kandidat für das Amt des Staatspräsidenten. Schließlich fiel ihm aber nur das repräsentative Amt des Präsidenten des tschechoslowakischen Parlaments zu. Eine wichtige politische Rolle spielte erDubček, Alexander bis zu seinem Tod 1992 nicht mehr. Auch sonst gab es zwischen dem Prager Frühling und der Zeit nach der Samtenen Revolution kaum personelle Kontinuität. HavelHavel, Václav verkörperte zwar den demokratischen Gedanken von 1968, doch stand er nicht in der reformkommunistischen Tradition des Prager Frühlings.

Symbolisch und personell verzichtete die neue Republik also auf die Reformtradition der sechziger Jahre. Mit der Wahl Václav HavelsHavel, Václav zum Staatspräsidenten war auch die Entscheidung zugunsten seiner Geschichtsdeutung gefallen. Nach der Samtenen Revolution galt 1968 als innerkommunistische Angelegenheit, als bloße Episode der tschechoslowakischen Geschichte, allenfalls als unvollkommener und gescheiterter Vorläufer der nach 1989 etablierten liberalen Ordnung. In dieser Hinsicht knüpfte der liberal-konservative Václav Klaus an den Humanisten Václav HavelHavel, Václav an, so sehr die beiden sonst als die Antipoden der tschechischen Politik galten. Václav Klaus, vor 1989 ein durchaus regimekonformer Mitarbeiter im Prognostischen Institut der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften, gründete seit 1992 seine Regierungsmacht auf einen antikommunistischen Grundkonsens, der Sympathien mit dem reformkommunistischen Prager Frühling ausschloss. Für die Slowakei ist Ähnliches zu beobachten: Die neunziger Jahre wurden hier von Vladimír MečiarMečiar, Vladimír geprägt, vor 1989 linientreuer Kommunist und seit 1990 autoritär und nationalistisch agierender Regierungschef in Bratislava (zunächst des slowakischen föderalen Teilstaats, dann ab 1993 der unabhängigen Slowakei). Noch weniger als in Tschechien entstand in der Slowakei eine politische Atmosphäre, die einer positiven Bewertung des Prager Frühlings förderlich gewesen wäre.

Die tschechische und slowakische Geschichtswissenschaft blieb von der politischen Entwicklung nicht unberührt. Zwar entstanden in der Tschechischen Republik viele Untersuchungen, auch in der Slowakei wurde zum Prager Frühling gearbeitet. Der dezidierte Antikommunismus der Regierungspolitik hinterließ aber in beiden Staaten Spuren in der Wissenschaft. In der Tschechischen Republik ist dies an den parlamentarischen Diskussionen über die Gründung des »Instituts für das Studium der totalitären Regime« (Ústav pro studium totalitních režimů) ablesbar. Die Politik entschied nicht nur über den Namen des Instituts, sondern legte auch fest, mit welchem Zeitraum sich die Erforschung der »totalitären Regime« zu beschäftigen habe. Es sollte um die gesamte Zeit gehen, in der die KSČ Regierungsmacht besaß, also um die Jahre von 1948 bis 1989. Damit wurde auch der Prager Frühling, der aus der Sicht KunderasKundera, Milanund vieler anderer Intellektueller eine Sternstunde der tschechoslowakischen Geschichte und Kultur darstellte, dem problematischen Begriff Totalitarismus zugeordnet.7

Die slowakische Regierung schuf ein ähnliches Zeitgeschichtsinstitut, das »Institut des Gedächtnisses der Nation« (Ústav Pamäti Národa), das seine Arbeit jedoch auf die Jahre von 1939 bis 1945 konzentriert. Damit entschied sich die slowakische Politik für eine Schwerpunktsetzung auf die Zeit der eigenen Nationalstaatlichkeit, als man sich in Abhängigkeit vom nationalsozialistischen Deutschland befand. Der Prager Frühling ist in diesem Institut, wie in der slowakischen Diskussion überhaupt, ein eher nachrangiges Thema.

Die Vorgaben der Politik haben nicht verhindert, dass in Tschechien und in der Slowakei sehr beachtliche Forschungen zum Prager Frühling entstanden sind. Besonders intensiv widmet sich das Prager »Institut für Zeitgeschichte« (Ústav pro soudobé dějiny) dieser Zeit.8 Auch slowakische Historiker und Historikerinnen haben eine Reihe von Veröffentlichungen vor allem zu den kulturellen Ursprüngen des Prager Frühlings in der Slowakei vorgelegt.9

Ungeachtet der gehaltvollen empirischen Forschung, die in den beiden Nachfolgestaaten der Tschechoslowakei zum Jahr 1968 betrieben wird, wird der Prager Frühling heute kaum noch als Ereignis der Inspiration gewürdigt. Der engagierte Hinweis Jan MervartsMervart, Jan auf diesen »großartigen Traum« wirkt heute wie ein einsames Fanal. Nach Jahrzehnten der Vorherrschaft des neoliberalen Diskurses, der in Ostmitteleuropa die alternativlose Anpassung an den globalen Wettbewerb predigte, ist vielen Tschechen und Slowaken – genauso wie den meisten anderen Europäern – die Fähigkeit zum Entwurf großer Reformideen verlorengegangen. Der Prager Frühling erinnert, nicht nur die Tschechen und Slowaken, an die Gestaltbarkeit der Welt und den Wert der Freiheit. Große Staatsfeiern zum Jahrestag von 1968 sind allerdings weder in Prag noch in Bratislava zu erwarten.

1 Vergangenheit im Prager Frühling

Der Prager Frühling war auch ein Projekt der Vergangenheitsbewältigung. Politische Reden auf Massenversammlungen, Essays und Feuilletons in den großen Tageszeitungen und Kulturzeitschriften und schließlich die Gesetzgebung in der Nationalversammlung drehten sich 1968 um die Verbrechen der fünfziger Jahre, die 1968 in der Tschechoslowakei noch euphemistisch »Zeit der Deformation« genannt wurden. Kein Genre thematisierte den historischen Stoff so eindringlich wie der tschechoslowakische Kinofilm. Dabei griffen die Regisseure in vielen Fällen auf literarische Vorlagen von Erzählungen oder Romanen zurück, die in den Jahren unmittelbar vor dem Umbruch von 1968 erscheinen waren. So entstand eine Reihe von Filmen, deren Dreharbeiten 1968 begonnen, aber nicht rechtzeitig fertiggestellt wurden, um eine Vorführung noch in der liberalen Periode zu ermöglichen. Viele Filme des Prager Frühlings gelangten erst nach der »Samtenen Revolution« von 1989 in die Kinos.

Ein Beispiel ist der nach Jan ProcházkasProcházka, Jan Erzählung Das Ohr (Úcho) gedrehte gleichnamige Film des Regisseurs Karel KachyňaKachyňa, Karel, der das beklemmende Psychodrama eines hohen Regierungsbeamten und seiner Frau in den frühen fünfziger Jahren zeigt. Die Eheleute Ludvík und Anna kehren nach einem Abendessen mit Parteifunktionären spätabends in ihre Villa zurück, die im trüben Dunkel zum alleinigen Schauplatz der bedrückenden Handlung wird. Das Ehepaar findet Anzeichen für eine bevorstehende Verhaftung: Das Telefon ist tot, ein Schlüssel fehlt. Auch wenn sie in ihrem Haus physisch allein sind, teilen sie den Raum mit einer unsichtbaren, allgegenwärtigen Abhöreinrichtung, »dem Ohr«, das, wie Ludvík und Anna überzeugt sind, ihre Gespräche verfolgt. In der angespannten Situation beginnt die Frau, das »Ohr« anzusprechen, es anzuschreien, auszulachen und einmal, vom Ehemann bedroht, sogar um Hilfe zu bitten. Gegenüber der emotional handelnden Anna agiert ihr Ehemann Ludvík wie ein unliebsam gewordener, ausgestoßener Bestandteil des Machtapparats, verängstigt und eingeschüchtert. Aus dieser Spannung der Zweierbeziehungen mit einem fiktiven Dritten, dem Ohr, entfaltet sich die zerstörerische Kraft des Dramas.1

Auch der Film Der Scherz (Žert) verlagert die Problematik der politischen Verfolgung der fünfziger Jahre ins Psychologische. Gedreht nach der Vorlage des gleichnamigen Romans von Milan KunderaKundera, Milan, zeichnet der Film das Porträt des Intellektuellen Ludvík Jahn, der als Student und engagierter Kommunist den Fehler seines Lebens begeht. Der Film baut auf dem Plot des Buches auf: Als seine Freundin Markéta auf eine Parteischulung fährt, statt Zeit mit ihm zu verbringen, schreibt Ludvík ihr auf einer Postkarte: »Optimismus ist das Opium der Menschheit! Ein gesunder Geist stinkt nach Dummheit! Es lebe Trotzki! Ludvík.« Auf Betreiben seines Freunds Pavel wird er aus der Partei ausgeschlossen, von der Universität verwiesen, zum Militär eingezogen und dort bei den »Schwarzen« eingesetzt, die als Systemgegner oder Kriminelle im Untertagebau Kohle fördern. Das eigentliche Drama des Films ist aber Ludvíks Suche nach Rache und Genugtuung, die er in der Verführung der Frau seines einstigen Freunds und Verräters Pavel sucht. Das läuft ins Leere, denn Pavel hat längst eine neue Liebe.2

Jiří MenzelsMenzel, Jiří Film Lerchen am Faden (Skřívánci na niti), dessen Drehbuch auf Motiven von Kurzgeschichten Bohumil HrabalsHrabal, Bohumil beruht, entwirft eine großartige Parabel der revolutionären Umgestaltung. Der alleinige Schauplatz der Handlung ist hier der Schrottplatz der Hütte Poldina bei Kladno. Im Mittelpunkt steht ein heterogenes Kollektiv von Menschen, die die Revolution von 1948 zu Außenseitern der sozialistischen Gesellschaft gemacht hatte: ein ehemaliger Fabrikant, ein Friseur, dessen Arbeit nicht mehr als notwendig erschien, ein renitenter Staatsanwalt, der darauf bestanden hatte, dass die Anklage und Verteidigung im Prozess voneinander zu trennen seien, ein Jude, der gegen offizielle Anweisungen den Sabbat geehrt hatte, und sogar ein überzeugter Kommunist, der aufgrund seiner Prinzipientreue mit der Staatsmacht in Konflikt geraten war. Sie alle wurden zur Strafe in das Hüttenwerk geschickt, damit sie aus Schrott Edelstahl machten. Zugleich diente die Zwangsarbeit ihrer eigenen Transformation – die Reste der bourgeoisen Gesellschaft sollten durch »ehrliche Arbeit« in »neue Menschen« verwandelt werden.

Auf dem Schrottplatz, den man mit Michel Foucault als Heterotopie, d. h. als »Widerlager oder Gegenplatzierung« zur sozialistischen Gesellschaft auffassen kann, entfaltet sich das Ideal einer Gemeinschaft von Außenseitern, die gegen die Macht des politischen Systems nicht bestehen können und ihr Schicksal gelassen annehmen. In ihren Gesichtern liegt Ruhe, manchmal auch der Ausdruck von bescheidenem Glück. In der Harmonie der Gruppe realisiert sich auf paradoxe Weise die Utopie, die die Herrschaftsideologie des Sozialismus für sich beansprucht: die Unterschiede der Bildung und der Herkunft verschwinden in ihrem gemeinsamen Dasein im Hüttenwerk, in der wechselseitigen Wertschätzung und Solidarität. Hier sind alle tatsächlich gleich, der Intellektuelle und der Handwerker, der ehemalige Fabrikant und der gefallene Kommunist. In Lerchen am Faden geht es nicht um Realismus – sonst müsste man einwenden, dass die Bedingungen von Zwangsarbeit so idyllische Verhältnisse kaum zuließen und die Hölle der Gefangenenlager oft gerade in dem unerträglichen Zusammensein von politischen Gegnern, von Kommunisten und Nicht-Kommunisten, bestand. Die Aussage des Films liegt vielmehr auf einer symbolischen Ebene: dem Entwurf einer Gegenwelt zur politischen Herrschaft, deren Mechanismen in den Figuren des hygienebesessenen Betriebschefs, des korrupten Gewerkschaftssekretärs und des Ministers, der mit seinem weißen Haarkranz dem kommunistischen Kultusminister Zdeněk NejedlýNejedlý, Zdeněk nachgebildet ist, durchaus realistisch gezeichnet werden. In ihrer Unbeugsamkeit und in ihrer Naivität scheitern die Mitglieder des Arbeitskollektivs an den Exponenten der Arbeitermacht: Der überzeugte Kommunist, der seine kleine Molkerei aufgegeben hatte, um als einfacher Milchmann zu arbeiten, erinnert hartnäckig daran, dass die Erhöhung von Arbeitsnormen vom Betrieb nicht einfach verfügt werden dürfe, sondern mit den Arbeitern auszuhandeln sei. Er verschwindet in einem Auto der Geheimpolizei. Die übrigen Arbeiter bleiben auch nach dieser Verhaftung unerschrocken. Als der Minister das Hüttenwerk besucht, fragt einer der Arbeiter ohne böse Absicht, aber direkt, keine Ausflucht duldend: »Wo ist der Milchmann?« Bald verschwindet auch er. Am Ende, als die gesamte Gruppe, zu einer höheren Strafe verurteilt, in einen Grubenschacht einfährt, stellt der Milchmann, der überzeugte Kommunist, die prinzipielle Frage: »Wo ist die Wahrheit geblieben? Jungs, sie haben uns die Wahrheit geklaut, verdammt!«3

Das Ohr, Der Scherz und Lerchen am Faden sind nur eine kleine Auwahl von tschechoslowkaischen Filmen, die 1968 um das große Thema der politischen Verfolgung der StalinStalin, Josef Wissarionowitsch-Zeit kreisten. Von keinem anderen historischen Thema war die tschechoslowakische Öffentlichkeit des Prager Frühlings so gefesselt wie von der staatlichen Repression der fünfziger Jahre. Symptomatisch erscheint aber auch, dass Kommunisten in Täter- wie Opferrollen vorkommen. Dabei stellt der überzeugte Kommunist, der in die Mühlen der politischen Justiz gerät, eine typische Figur dar. Im Prager Frühling gelangte die innerparteiliche Bruchlinie zwischen den Tätern und den Opfern an die Oberfläche; sie wurde zu einer der wichtigsten Triebfedern des Reformprozesses. Der Schriftsteller Pavel KohoutKohout, Pavel blickte kurz nach der Niederschlagung des Prager Frühlings auf sein persönliches Engagement für die Revolution in den Jahren zwischen 1945 und 1948 und auf die lange innerparteiliche Auseinandersetzung um die Justizverbrechen der späten vierziger und frühen fünfziger Jahre zurück: »Drei Jahre habe ich für den Sieg dieser Revolution gekämpft. Zwanzig Jahre für ihre Reinheit! Zwanzig Jahre dauerte ein Kampf, der schwerer war als jeder andere, denn hier lag plötzlich nicht mehr Graben gegen Graben, hier hatten die Gegner die gleiche Vergangenheit, dieselbe Sprache, dasselbe Parteibuch in der Tasche.« Zwanzig Jahre habe der »Konflikt der Kommunisten mit Kommunisten« gedauert, »der Kampf um das endgültige Gesicht der Revolution«, in dem die Genossen nicht selten zum Strick als »schlagendstem Argument« gegriffen hätten: »Wir nahmen diese Konfrontation an und haben dabei gesiegt.«4

Dabei bildeten die Kommunisten keineswegs die einzige und nicht einmal die größte Opfergruppe der kommunistischen Herrschaft. Zuvor hatte die KSČ ihre alten Feinde verfolgt: bürgerliche Oppositionelle, Sozialdemokraten und Priester. Noch vor der Machtübernahme vom Februar 1948 waren die Deutschen und teilweise die Ungarn aus der Tschechoslowakei ausgesiedelt worden. Auch bei der lokal von Massakern begleiteten Vertreibung und vor allem bei der Neubesiedlung der Grenzgebiete hatte die Kommunistische Partei maßgeblichen Einfluss. Ein typisch stalinistisches Wirtschaftsprojekt war der Uranbergbau in Jáchymov, in dem Sudetendeutsche und politische Häftlinge zu schwerer Zwangsarbeit eingesetzt wurden.

Die Prozesse

Unter allen diesen Gewalttaten ragten in der Rückschau der sechziger Jahre die politischen Schauprozesse gegen die kommunistischen Kader heraus, nicht wegen der Zahl der Opfer, sondern aufgrund ihrer Symbolik. Das spektakulärste Strafverfahren war der »Prozess gegen das staatsfeindliche Verschwörerzentrum mit Rudolf SlánskýSlánský, Rudolf an der Spitze«, der vom 20. bis 27. November 1952 vor dem Staatsgerichtshof in Prag stattfand. Die Staatsanwaltschaft legte dem Generalsekretär der KSČ, Rudolf SlánskýSlánský, Rudolf, zusammen mit dreizehn weiteren führenden Persönlichkeiten der Partei zur Last, sich zum Sturz der volksdemokratischen Ordnung verschworen und mit »zionistischen« Organisationen zusammengearbeitet zu haben. Das Drehbuch für den Schauprozess hatten Berater aus dem sowjetischen Innenministerium (NKWD) verfasst. Vor Gericht legten alle Angeklagten ein vollumfängliches Geständnis ab, jedes gesprochene Wort war zuvor auswendig gelernt worden. Die Urteile wurden im Zentralkomitee der KSČ festgelegt und vom Richter nur verkündet: Elf der vierzehn Angeklagten wurden zum Tode verurteilt und am 4. Dezember 1952 gehängt. Die übrigen drei erhielten lebenslange Haftstrafen. In politischen Schauprozessen wurden zwischen 1948 und 1952233 Todesurteile gefällt. Die Zahl der Opfer der politischen Prozesse belief sich auf etwa 250 000. Insgesamt ist mit etwa zwei Millionen Opfern der politischen Repression zu rechnen.1

In der Inszenierung von erpressten Geständnissen waren sie mit den berüchtigten Moskauer Prozessen der dreißiger Jahre vergleichbar. Die Tschechoslowakei bot die Bühne für die größten politischen Schauprozesse nach dem Zweiten Weltkrieg. Für Beobachter aus dem Westen war das Vorgehen der tschechoslowakischen Justiz der Beleg für den totalitären Charakter der kommunistischen Herrschaft auch in Ostmitteleuropa. Wer damals OrwellsOrwell, George1948 veröffentlichten dystopischen Roman 1984 gelesen hatte, konnte in den tschechoslowakischen Schauprozessen viele Merkmale des totalitären Staats als »großer Bruder« wiedererkennen, vor allem die Perversion einer nur scheinbar unabhängigen, tatsächlich politisch völlig willfährigen Rechtsprechung. Auch Hannah ArendtsArendt, Hannah1951 erschienenes Buch The Origins of Totalitarianism (dt.: Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft) lieferte den Zeitgenossen eine Folie, um die Vorgänge in der Tschechoslowakei als Totalitarismus einzuordnen, obwohl ArendtArendt, Hannah ausdrücklich nur vom deutschen Nationalsozialismus und dem sowjetischen Stalinismus sprach.

Für das Verständnis der Entwicklung, die zum Prager Frühling hinführte, ist noch etwas anderes wichtig: In keinem anderen Land des Ostblocks wurden die Fiktionen der Schauprozesse so lange aufrechterhalten wie in der Tschechoslowakei. Eineinhalb Jahrzehnte wurde den unschuldigen Opfern, den Toten wie den Überlebenden, die Rehabilitierung verweigert, während maßgebliche Verantwortliche der Justizverfahren, nicht zuletzt der Generalsekretär der KSČ Antonín NovotnýNovotný, Antonín, im Zentralkomitee der Partei und in der Regierung an den Schalthebeln der Macht blieben. Die Schauprozesse lasteten wie ein Albdruck auf dem politischen System. Was die Verantwortlichen der politischen Prozesse noch fünfzehn Jahre danach zusammenschweißte, war eine aus Angst und Schuld gespeiste Solidarität.

Die gefeierte offizielle Völkerfreundschaft zwischen der Tschechoslowakei und der Sowjetunion hatte in den Schauprozessen ihre schwärzeste Nachtseite: Der sowjetische Geheimdienst steuerte zu diesen Prozessen, wie schon zuvor in den Strafverfahren gegen Mitglieder nicht-kommunistischer Parteien, seine Erfahrungen in der Inszenierung politischer Prozesse bei. Auch die Initiative zu den Verfahren lag auf sowjetischer Seite. Dass sich der Prozess vor allem gegen jüdische Parteifunktionäre richtete – elf der vierzehn Angeklagten waren jüdischer Herkunft –, ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund der gleichzeitig verlaufenden Kampagne StalinsStalin, Josef Wissarionowitsch gegen ein angebliches Komplott jüdischer Ärzte zu erklären.

Doch gingen die Prozesse nicht allein auf die Initiative Moskaus zurück. In ihnen setzten sich die Nationalitätenkonflikte der Zwischenkriegszeit fort.2 In den Schauprozessen trafen, wie Jan GerberGerber, Jan herausgearbeitet hat, spezielle sowjetische Interessen mit dem Nachbeben der ethnischen Konflikte der zwanziger und dreißiger Jahre in Ostmitteleuropa zusammen. Ethnische und ideologische Fragen waren für die KSČ nicht zu trennen. Bereits im September 1946 hatte das kommunistisch geführte Prager Innenministerium betont, dass Juden, die zur »Germanisierung« oder »Magyarisierung«, also zur Verbreitung des Deutschen bzw. des Ungarischen im Land, beigetragen hätten, die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft verweigert werden müsse.3 Altgediente Mitglieder, die bereits in den zwanziger Jahren der Kommunistischen Partei beigetreten waren, konnten sich aufgrund ihrer jüdischen Herkunft ihres Status im sozialistischen Staat nicht sicher sein. Ein Beispiel ist der Schriftsteller Louis FürnbergFürnberg, Louis, einer der bekanntesten deutschsprachigen kommunistischen Künstler der Zeit zwischen den Weltkriegen. Obwohl erFürnberg, Louis stets treu zur Partei gestanden hatte, wurde er, als er nach dem Krieg aus dem Exil zurückkehrte, nicht zum 9. Kongress der KSČ eingeladen, auf dem die Kommunisten 1949 ihre erfolgreiche Revolution feierten. FürnbergFürnberg, Louis galt aufgrund seiner Sprache als Deutscher. Zutiefst gekränkt verfasste der ZurückgewieseneFürnberg, Louis ein kritisches Gedicht, rief sich dann aber, wie seine Witwe vierzig Jahre später offenlegte, »selbst wieder zur Ordnung«. »Um vor sich selbst diese Kränkung zu rechtfertigen«, so die Witwe, schrieb erFürnberg, Louis für die KSČ sein berüchtigtes Lied Die Partei (»Die Partei, die Partei, die hat immer recht«), das später zur inoffiziellen Hymne der SED wurde.4

FürnbergsFürnberg, Louis Selbstkritik und Selbsterziehung waren exemplarisch für das Regime innerer Anpassungsleistungen, das die Partei nicht zuletzt durch die politischen Prozesse zu etablieren versuchte. Gefordert war die absolute Loyalität in einer Welt von Feinden: So wurden SlánskýSlánský, Rudolf und andere Genossen »als trotzkistisch-titoistische, zionistische, bürgerlich-nationalistische Verräter und Feinde des tschechoslowakischen Volkes, der volksdemokratischen Ordnung und des Sozialismus« angeklagt.5 Die wahnhaft erscheinende Aufzählung von Feinden, in deren Sold die Angeklagten vermeintlich standen, verweist auf die verschiedenen, lange über den Prozess hinaus wirksamen Motivationsschichten der kommunistischen Politik: Ein Beweggrund lag in der Ergebenheit der tschechoslowakischen Politik gegenüber StalinStalin, Josef Wissarionowitsch. So erfüllte Prag mit dem »Kampf gegen den Titoismus« die sowjetische Erwartung, einem alternativen, von Moskau unabhängigen Weg zum Sozialismus eine eindeutige Absage zu erteilen. Daneben spielten aber auch nationale, aus den Konflikten der Zwischenkriegszeit herrührende Motive eine Rolle. Ausdrücklich ging es auch um den Kampf gegen »die Feinde des tschechoslowakischen Volkes«, die die Partei nicht zuletzt im »Weltzionismus« erblickte. Nicht von ungefähr zwang man SlánskýSlánský, Rudolf, seine Selbstanklage vor Gericht, die wie der ganze Prozess vom Rundfunk landesweit übertragen wurde, mit den Worten zu beginnen: »Ich, Rudolf SlánskýSlánský, Rudolf, jüdischer Herkunft …« Dass SlánskýSlánský, Rudolf sein öffentliches Schulbekenntnis mit der Selbstbezeichnung als Jude beginnen musste, war ein deutliches Signal, in welche Richtung die kommunistischen Machthaber die kollektive Identität der tschechoslowakischen Gesellschaft verschieben wollten. »Wohin bin ich da wieder geraten?« fragte sich der junge tschechische Ökonom Ota ŠikŠik, Ota, der das KZ Mauthausen überlebt hatte, als er die Radiosendung hörte.6 Die Parteiführung sprach mit der antisemitischen Chiffre Bevölkerungsschichten an, die dem Sozialismus eigentlich fernstanden und sich in der kurzlebigen autoritären Zweiten Tschechoslowakischen Republik (1938/39) und im nationalsozialistischen »Protektorat Böhmen und Mähren« bzw. in der klerikal-faschistischen Slowakei vor 1945 anfällig für rassistische Ideologien gezeigt hatten. Sie machte darüber hinaus alle Bürger, die die Übertragung im Rundfunk mitanhörten, zu ohnmächtigen Zeugen einer verlogenen Erniedrigung. Die neue Legierung von Sozialismus und Chauvinismus war das langfristig wirksame Erbe der Schauprozesse.

Die Prozesse zerstörten auch einen Teil des moralischen Kapitals, mit dem die Kommunisten aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen waren. Im Widerstand gegen den Nationalsozialismus waren zahlreiche Kommunisten umgekommen, und in der neuen Führungsspitze der Partei gab es eine Reihe von Überlebenden der Konzentrationslager: Staats- und Parteichef Antonín NovotnýNovotný, Antonín, der führende Partei-Ideologe Jiří HendrychHendrych, Jiří und der Wirtschaftsreformer des Prager Frühlings Ota ŠikŠik, Ota hatten gemeinsam im KZ Mauthausen gesessen, einem der brutalsten deutschen Lager. Nach dem Krieg erschienen die Kommunisten den meisten Tschechen als die am wenigsten kompromittierte politische Kraft. Als einzige kommunistische Partei im östlichen Europa gelang es der KSČ1946, aus den noch relativ freien Wahlen als stärkste Kraft hervorzugehen. Die Partei besaß in den ersten Nachkriegsjahren das Selbstbewusstsein, unabhängig von Moskau einen »eigenen tschechoslowakischen Weg zum Sozialismus« zu proklamieren, der allerdings zur selben Zeit, als die politischen Prozesse in der Tschechoslowakei begannen, von der KSČ auf sowjetische Weisung hin annulliert wurde.

Die lange Entwicklung von den Schauprozessen der fünfziger Jahre bis zum Prager Frühling kennzeichnete eine Auseinandersetzung zwischen den Tätern und Opfern der Prozesse. Bedeutende Akteure des Erneuerungsprozesses von 1968 wie Josef SmrkovskýSmrkovský, Josef, Josef PavelPavel, Josef, Marie ŠvermováŠvermová, Marie, Gustáv HusákHusák, Gustáv und Eduard GoldstückerGoldstücker, Eduard hatten lange Jahren in Gefängnissen verbracht, bevor sie rehabilitiert wurden und im Prager Frühling meist in hohe politische Funktionen aufgestiegen. Nach der Okkupation und der Rückkehr einer autoritären Herrschaft verloren sie ihre Positionen und ihre Parteimitgliedschaft erneut, während die Hauptakteure der politischen Prozesse 1971 wieder in die Kommunistische Partei aufgenommen wurden. Gustáv HusákHusák, Gustáv, der Alexander DubčekDubček, Alexander1969 als Generalsekretär ablöste und ein Regime etablierte, das sich euphemistisch die »Normalisierung« der Verhältnisse zum Ziel setzte, stellte die große Ausnahme dar.

Opfer der politischen Justiz und Protagonisten des Prager Frühlings

Die Opfer der politischen Justiz und Helden des Prager Frühlings weisen viele biographische Parallelen, aber auch eine gewisse Diversität auf. Bezeichnend ist, dass sie entweder befreundet waren (wie SmrkovskýSmrkovský, Josef und GoldstückerGoldstücker, Eduard, ŠvermováŠvermová, Marie und PavelPavel, Josef) oder sich sehr genau beobachteten und einander einzuschätzen wussten (wie z. B. GoldstückerGoldstücker, Eduard und HusákHusák, Gustáv). Die grundlose Beschuldigung durch die eigene Partei, das Erdulden von Folter in der Untersuchungshaft und die Anklage in einem Schauprozess waren Erfahrungen, die bei allen Unterschieden und Gegensätzen lebenslange Verbindungen schufen. Viele Opfer der Schauprozesse hatten zuvor in Spanien gekämpft und waren während des Weltkriegs ins Londoner Exil gegangen.

In dieser Hinsicht durchlief Josef PavelPavel, Josef (1908–1973) eine typische Karriere: Er übernahm in der Zeit des Prager Frühlings das Amt des Innenministers und war als solcher verantwortlich für die Reform der Sicherheitsbehörden, eine Aufgabe, der er sich mit äußerster Konsequenz annahm. Nach der Invasion stand seine Entlassung ganz oben auf der Liste sowjetischer Forderungen. Der Kommunistischen Partei war PavelPavel, Josef bereits 1932 beigetreten. Nach einem Studium in Moskau kämpfte er als freiwilliger Interbrigadist 1937 bis 1939 in Spanien. Nach vier Jahren Gefangenschaft gelang es ihm, sich der Armee der Londoner Tschechoslowakischen Exilregierung anzuschließen, in der er 1943 bis 1945 an der Westfront kämpfte. Seine Parteikarriere nach dem Krieg begann in der Abteilung für Sicherheit des Sekretariats des Zentralkomitees. Die Organisationsarbeit der Partei und die Infiltrationstechniken des Staates kannte er von innen: In den Tagen des kommunistischen Umsturzes im Februar 1948 wirkte er als ein führender Mitarbeiter der parteieigenen Volksmilizen. Nach der kommunistischen Machtübernahme stieg er zum stellvertretenden Innenminister auf und beteiligte sich seitdem in führender Position am Aufbau der kommunistischen Diktatur und speziell des Gefängniswesens. Im Februar 1951 im Zuge der politischen Prozesse verhaftet, blieb er bis 1955 in der Haftanstalt Leopoldov interniert. In seinen unveröffentlichten Memoiren beschreibt er die typische Situation eines politischen Gefangenen, der vor dem Schauprozess mit erfundenen Vorwürfen konfrontiert wird:

»Früh im Dezember 1953 im Gefängnis in Ruzyně. Bald sind drei Jahre Isolationshaft vergangen. Schon einige Wochen wurde ich nicht mehr verhört. Das schwere Leben in der Isolationshaft ist vor einigen Tagen unterbrochen worden. Der Hauptmann rief mich zu sich und gab mir ein Protokoll, das dem Gericht vorgelegt werden sollte. Darin stand solcher Unsinn und dabei so gravierende Sachen wie mehrfacher Hochverrat, Spionage, Sabotage usw. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Der Hauptmann war ruhig, und es war vielleicht das erste Mal, dass er mich nicht malträtierte. ›Wenn Sie nicht unterschreiben wollen, lassen Sie es. Sie werden sowieso hängen. Das ist schon entschieden.‹«1

PavelPavel, Josef überlebte. Das Stigma des Unzuverlässigen konnte er nach seiner Entlassung jedoch nicht abschütteln. Erst während des Prager Frühlings kehrte er ins politische Leben zurück. Als Innenminister nahm er sofort eine Reform seines Ressorts in Angriff, die die Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes auf seine rechtmäßigen Aufgaben zurückstutzen sollte. Aus seiner eigenen Tätigkeit in den Sicherheitsbehörden während des kommunistischen Umsturzes kannte er die Grundsätze der kommunistischen Kaderorganisation. Gezielt baute er sein Ressort personell um, ohne die sowjetischen Berater, wie sonst üblich, vorher zu fragen. Dabei stieß er allerdings auf die Eigendynamik und den Widerstand von Teilen der Sicherheitsbehörden. Entgegen seinem ausdrücklichen Befehl setzten ganze Gruppen von Beamten ihre gesetzeswidrige Tätigkeit auf eigene Faust fort. Diese waren aufgrund ihrer Mitwirkung an den politischen Prozessen die natürlichen Verbündeten der dogmatischen Kommunisten und später der Invasoren.2

PavelPavel, Josef war ein öffentlich kaum sichtbarer, aber doch sehr wirksamer Protagonist des Prager Frühlings. Seine starke Motivation, allen Widerständen zum Trotz an der Überwindung der totalitären Sicherheitsstrukturen zu arbeiten, bezog er aus seiner eigenen Hafterfahrung. Seine intime Kenntnis der Sicherheitsstrukturen wiederum befähigte ihn zur effizienten Behördenreform. Diese Aufgabe setzte ihn aber auch unter eine große Spannung. Kurz nach seiner Ernennung zum Minister besuchte er Marie ŠvermováŠvermová, Marie, die davon in ihren Memoiren berichtet:

»Der meist gut gelaunte und witzige Josef PavelPavel, Josef kam offensichtlich in gedrückter Stimmung. Als neuer Minister hatte er nämlich eine Auskunft über die Zahl der Personen verlangt, die sich zur Zusammenarbeit mit den Sicherheitsdiensten verpflichtet hatten. Von ihrer hohen Zahl war Pavel erschreckt. Er war sich bewusst, dass es zum größten Teil um Leute ging, die sich durch die Umstände gezwungen für diese dreckige Arbeit hatten gewinnen lassen und deshalb zutiefst unglücklich waren.«3

Schon am 30. August 1968, nur zehn Tage nach der Invasion, wurde erPavel, Josef auf sowjetischen Druck hin als Innenminister abberufen.4

Marie ŠvermováŠvermová, Marie (1902–1992) hatte eine kommunistische Musterbiographie: Schon als Siebzehnjährige Mitglied einer sozialistischen Jugendorganisation, trat sie im Gründungsjahr 1921 in die KSČ ein. Mit nur 27 Jahren wurde sie ins Zentralkomitee der Partei gewählt. Während des Zweiten Weltkriegs begab sie sich anders als Josef PavelPavel, Josef nicht nach London, sondern nach Moskau, was für ihre Karriere nach dem Krieg günstige Voraussetzungen schuf, galt doch das sowjetische Exil in den Augen StalinsStalin, Josef Wissarionowitsch – im Gegensatz zum Aufenthalt im Westen – als unverdächtig. ŠvermováŠvermová, Marie erhielt noch 1945 einen Sitz im Präsidium des Zentralkomitees, wurde Parlamentsabgeordnete und rückte in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren in den engsten Führungszirkel der KSČ auf. Für ihre Partei betrieb sie auch öffentliche Kampagnen, so z. B. im ersten kommunistischen Schauprozesses, der gegen die volksozialistische Politikerin Milada HorákováHoráková, Milada geführt wurde, die als Frauenrechtlerin, Widerstandskämpferin gegen den Nationalsozialismus, Insassin des KZ Theresienstadt und Abgeordnete eine große Reputation besaß. ŠvermováŠvermová, Marie sammelte Unterschriften für eine öffentliche Petition, die für HorákováHoráková, Milada die Todesstrafe forderte. Trotz internationaler Proteste wurde HorákováHoráková, Milada1950 zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Noch im selben Jahr begann ŠvermovásŠvermová, Marie eigener Fall: Sie verlor ihre Position im Präsidium des Zentralkomitees, wurde bald darauf aus der Partei ausgeschlossen und inhaftiert. Nach dem Muster des SlánskýSlánský, Rudolf-Prozeses klagte man sie zusammen mit anderen Parteifunktionären im Januar 1954 an, ein »Verschwörerzentrum« gebildet zu haben. Sie wurde zu lebenslanger Haft verurteilt und verbrachte fünf Jahre unter härtesten Bedingungen im Gefängnis. Dabei mag auch persönliche Rache eine Rolle gespielt haben: ŠvermováŠvermová, Marie hatte einen Heiratsantrag Václav KopeckýsKopecký, Václav, des nach Staatspräsident Klement GottwaldGottwald, Klement mächtigsten Mannes in Staat und Partei, abgewiesen und ein Verhältnis mit Otto ŠlingŠling, Otto gehabt, der im SlánskýSlánský, Rudolf-Prozess zum Tode verurteilt worden war.5

Die Etappen ihrer Amnestierung und Rehabilitierung waren ähnlich weit gestreckt wie bei den anderen Justizopfern. Nach fünf Jahren aus der Haft entlassen, wurde sie 1963 rehabilitiert. Erst 1968 anerkannte die Partei öffentlich ihre Unschuld an den ihr vorgeworfenen Verbrechen. Zugleich begann eine öffentlichen Kampagne gegen sie, in der aber nicht ihre Mitverantwortung für die Hinrichtung Horákovs zur Sprache kam. Vielmehr begegneten ihr die Vorwürfe einer »kapitalistisch-zionistischen Verschwörung« erneut, aufgrund derer sie eineinhalb Jahrzehnte zuvor verurteilt worden war. Wie eine Kampagne von Anhängern des alten stalinistischen Parteikurses zeigte, waren die Ressentiments der fünfziger Jahre noch lebendig.6 Gleichwohl engagierte sich ŠvermováŠvermová, Marie im Prager Frühling und nahm zusammen mit Spitzenpolitikern der Erneuerungsbewegung an der ersten großen öffentlichen Diskussionsveranstaltung teil, die im März 1968 im überfüllten Slavischen Haus (Slovanský dům) stattfand. Hier kamen mehrere tausend, überwiegend junge Menschen zusammen, um die Wahrheit über die Vergangenheit zu erfahren. An die einstige Musterkommunistin richteten sich viele Fragen; die Geschichte der politischen Prozesse drängte gerade in den ersten Monaten des Prager Frühlings nach vorn. Über ihre eigene Verantwortung drückte sie sich 1968 unbestimmt aus – ob HorákováHoráková, Milada schuldig gewesen sei, könne sie nicht beurteilen, jedenfalls sei die Strafe unangemessen gewesen. ŠvermováŠvermová, Marie spielte in der Anfangsphase des Prager Frühlings eine wichtige öffentliche Rolle, übernahm aber, anders als viele politische Häftlinge der fünfziger Jahre, kein politisches Amt. Sie engagierte sich für den Verband der Frauen (Svaz žen), den ihr angebotenen Vorsitz übernahm sie aber nicht.7 Nach dem Prager Frühling erneut aus der Partei ausgeschlossen, gehörte sie ein knappes Jahrzehnt später zu den Unterstützern der tschechoslowakischen Bürgerrechtsbewegung Charta 77, die 1977 einen öffentlichen Protest gegen die Verletzung von Menschen- und Bürgerrechten in der Tschechoslowakei richtete.

Josef SmrkovskýSmrkovský, Josef (1911–1974) prägte neben DubčekDubček, Alexander das öffentliche Erscheinungsbild des Prager Frühlings. Der »Volkstribun« überragte die anderen Reformpolitiker mit seinem rhetorischen Talent. 1968 bekleidete er das Amt des Parlamentspräsidenten, das weit mehr als eine nur repräsentative Funktion hatte. Wie Josef PavelPavel, Josef hatte auch er seine Parteikarriere in der Zwischenkriegszeit begonnen; er trat 1933 der KSČ bei, nachdem er schon zuvor in der Jugendorganisation der Partei aktiv gewesen war. Die Zeit der deutschen Okkupation verbrachte er allerdings nicht im Exil, sondern im inländischen Widerstand; als Mitglied der Gruppe Předvoj gab er illegal die Parteizeitung Rudé právo (»Rotes Recht«) heraus. Er organisierte den Prager Aufstand, der sich kurz vor Kriegsende gegen die deutsche Besatzungsherrschaft richtete. Nach der Befreiung begann SmrkovskýsSmrkovský, Josef rascher Aufstieg in der Partei und im Staat: 1945 wurde er Mitglied des Zentralkomitees der Partei, ein Jahr später Abgeordneter der Tschechoslowakischen Nationalversammlung. Wie Josef PavelPavel, Josef hatte er eine Schlüsselfunktion bei den Volksmilizen inne, als im Februar 1948 die Kommunisten die Macht in der Tschechoslowakei übernahmen. In der neuen Regierung erhielt er die Funktion des stellvertretenden Landwirtschaftsministers und rückte in das Parteipräsidium auf. Seine Karriere verlief in vieler Hinsicht parallel zu der Josef PavelsPavel, Josef, mit der Ausnahme, dass SmrkovskýSmrkovský, Josef nicht im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft hatte und später nicht im Londoner Exil war, womit ihm zwei typische Lebensstationen der Opfer der politischen Prozesse fehlten. Dennoch wurde auch SmrkovskýSmrkovský, Josef1951 des Hochverrats und der Sabotage beschuldigt. Auch unter Folter legte er kein Geständnis ab, wurde aber in einem inszenierten Prozess ohne Beweise zu fünfzehn Jahren Gefängnis verurteilt. 1955 amnestiert, wurde ihm eine volle Rehabilitation bis zum Prager Frühling vorenthalten.8

Wie SmrkovskýSmrkovský, Josef und PavelPavel, Josef war auch Eduard GoldstückerGoldstücker, Eduard (1913–2000) seit den dreißiger Jahren Mitglied der Kommunistischen Partei, in den fünfziger Jahren ein politisch Verfolgter und 1968 eine Schlüsselfigur des Prager Frühlings. Wegen seiner jüdischen Herkunft hatte erGoldstücker, Eduard1939 Prag verlassen und war ins Londoner Exil gegangen. Nach der kommunistischen Machtübernahme 1948 übernahm erGoldstücker, Eduard den Posten des tschechoslowakischen Botschafters in Israel. 1951 in einem politischen Prozess angeklagt, wurde erGoldstücker, Eduard zu einer langen Haftstrafe verurteilt und verbrachte dreieinhalb Jahre Haft im Gefängnis in Leopoldov und in Jáchymov. Verhört wurde Eduard GoldstückerGoldstücker, Eduard von Vladimír Kohoutek, den er in seinen Memoiren als »einen der führenden Experten unseres Lands für Terrormethodik« beschreibt. GoldstückerGoldstücker, Eduard berichtet eine Grundszene der politischen Prozesse:

»Überzeugt von meiner Schuldlosigkeit und davon, daß sich dieser wahnwitzige Irrtum irgendwie aufklären würde, wagte ich zu fragen, welches Vergehen man mir zur Laste legte, worauf Kohoutek antwortete: ›Das sagen nicht wir Ihnen, sondern Sie uns. Glauben Sie nicht, daß Sie nur für eine Woche oder einen Monat oder bloß ein Jahr hier sind. Wir haben Geduld, wir haben genügend Zeit, geben Sie sich also keinen Illusionen hin, Sie werden es am Ende doch sagen.‹«9

Für GoldstückerGoldstücker, Eduard wie auch für die anderen inhaftierten Kommunisten war nicht die Erfahrung von Rechtlosigkeit an sich so grundstürzend. Auf Verfolgung und Erdulden von Gewalt vorbereitet zu sein gehörte für die Kommunisten der ersten Stunde wie PavelPavel, Josef, SmrkovskýSmrkovský, Josef, GoldstückerGoldstücker, Eduard oder HusákHusák, Gustáv zum revolutionären Selbstverständnis. Dies galt nicht nur für die Mitglieder des Inlandswiderstands, die stets von Inhaftierung und Haft in einem Konzentrationslager bedroht waren, sondern im Grunde für alle Parteimitglieder, die sich an der revolutionären Memoirenliteratur geschult hatten. Sie erschütterte jedoch der Umstand, dass die Gewalt von der eigenen Partei ausging. Für den ersten Tag seiner Haft notierte GoldstückerGoldstücker, Eduard: »Wenn ich von Feinden festgenommen worden wäre, würde ich mich bis zum letzten Atemzug verteidigen, da mich aber die eigene Partei festnehmen ließ, schlug sie mir damit die Waffe aus der Hand.«10

1955 entlassen, kehrte GoldstückerGoldstücker, Eduard an die Karls-Universität zurück, wo er sich auf die deutsch-jüdische Prager Literatur spezialisierte. Er sprach 1963 als Initiator und Hauptredner auf der legendär gewordenen ersten KafkaKafka, Franz-Konferenz in Liblice, die als Auftakt des Prager Frühlings gilt. 1968 wählte ihn der Tschechoslowakische Schriftstellerverband zu seinem Vorsitzenden, in dieser Funktion nahm er auch an den Sitzungen des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei teil. GoldstückerGoldstücker, Eduard gehörte zu den engagiertesten Autoren und Rednern des Prager Frühlings. Mehr noch als SmrkovskýSmrkovský, Josef wurde er von den konservativen Gegnern der Erneuerungsbewegung angegriffen, ja verunglimpft, wobei der ganze paranoide Komplex von dogmatischem Sozialismus und Antisemitismus, der die Schauprozesse geprägt hatte, noch einmal auflebte.

Gustáv HusákHusák, Gustáv (1913–1991) fällt aus der Reihe der Persönlichkeiten, die als Justizopfer im Prager Frühling in die Politik zurückkehrten, schon deshalb heraus, weil er nach der Invasion selbst an der Liquidierung des Prager Frühlings mitwirkte. Zuvor war aber auch erHusák, Gustáv einer der markanten Wortführer des Prager Frühlings. Zu Beginn des Erneuerungsprozesses gab erHusák, Gustáv sich sogar als besonders radikal und forderte zu einem frühen Zeitpunkt eine durchgreifende Demokratisierung der Gesellschaft.11 Tatsächlich machte sich der aus der Slowakei stammende FunktionärHusák, Gustáv nur ein Reformziel des Prager Frühlings wirklich zu eigen, nämlich die Neuordnung des Verhältnisses von Tschechen und Slowaken.

Seine Karriere bis zum Jahr 1968 verlief in den typischen Bahnen eines in jungen Jahren schon aktiven Kommunisten, der sich in der Zeit des Nationalsozialismus im Widerstand engagierte und in den fünfziger Jahren in die Mühlen der politischen Justiz geriet. In der Nähe von Bratislava in einer Arbeiterfamilie geboren, trat er 1929 als Sechzehnjähriger in die kommunistische Jugendorganisation und vier Jahre später als Jurastudent der Comenius-Universität Bratislava in die KSČ ein. In den dreißiger Jahren erwarb er an seiner Universität den Doktor der Rechtswissenschaft und erlangte in kurzer Zeit auch den Rang eines habilitierten Wissenschaftlers. Im Krieg stellte er sich gegen den von Jozef TisoTiso, Jozef geschaffenen klerikal-faschistischen slowakischen Staat und beteiligte sich in führender Position am Slowakischen Nationalaufstand.

Nach dem Krieg stieg HusákHusák, Gustáv politisch rasch auf: Er leitete von 1946 bis 1950 das Regierungsorgan des Slowakischen Nationalrats und war unmittelbar für die Sicherheitsorgane zuständig. Der Bruch kam im Jahr 1950, als erHusák, Gustáv zusammen mit Vladimir ClementisClementis, Vladimir angeklagt wurde. HusákHusák, Gustáv, so die Anklage, habe sich das Verbrechen des »bürgerlichen Nationalismus« zuschulden kommen lassen. 1951 wurde HusákHusák, Gustáv inhaftiert, aber erst 1954 – noch nach StalinsStalin, Josef Wissarionowitsch und GottwaldsGottwald, Klement Tod – zu lebenslanger Haft verurteilt. Seine Inhaftierung dauerte bis 1960; damit gehörte er zu den letzten Amnestierten der politischen Prozesse. Während der mehrjährigen Untersuchungshaft war HusákHusák, Gustáv gefoltert worden, hatte jedoch seine erpressten Geständnisse stets widerrufen.12

Eduard GoldstückerGoldstücker, Eduard zollte ihm noch nach dem Prager Frühling Respekt für »den Mut und die Standfestigkeit«, die er während seiner Haft bewiesen hatte. Bei allen politischen Gegensätzen bewahrten die ehemaligen politischen Häftlinge ein Gefühl der Verbundenheit. GoldstückerGoldstücker, Eduard hegte zwar 1968 sehr früh den Verdacht, dass HusákHusák, Gustáv auf die sowjetische Karte setzen und sich nur allzu bereitwillig zeigen würde, die Macht zu übernehmen. Er sah in ihm den »Prototyp eines diktatorischen Charakters, […] überhaupt nichts Demokratisches«. Dennoch blieb er HusákHusák, Gustáv bis zur sowjetischen Invasion aufgrund der gemeinsamen Hafterfahrung verbunden. Als sich die beiden 1968 nach langer Zeit wiedersahen, stellte sich zwischen ihnen sofort ein Einvernehmen her. »Er saß neben mir«, so GoldstückerGoldstücker, Eduard, »und wir unterhielten uns wie alte Freunde. So sprachen wir immer miteinander. Bis zum August.«13

Zu den Erfahrungen der Opfer der politischen Prozesse gehörte, dass sie noch lange nach der Freilassung auf ihre volle Rehabilitierung warten mussten. Selbst als es im Zentralkomitee der Partei keinen Zweifel mehr daran gab, dass die Verfahren unrechtmäßig verlaufen waren, verwehrte man den politischen Häftlingen zunächst die Wiederherstellung ihrer Rechte und ihrer Ehre. Ihre Rückkehr in das öffentliche Leben erfolgte in einem langen, zähen Prozess, der die lange Nachgeschichte des Stalinismus in der Tschechoslowakei widerspiegelte. Noch 1955, zwei Jahre nach dem Tod StalinsStalin, Josef Wissarionowitsch, wurde in Prag nach über fünfjähriger Bau- und Planungszeit ein StalinStalin, Josef Wissarionowitsch-Denkmal vollendet, das mit seinen riesigen Ausmaßen die größte Gruppenskulptur in Europa darstellte und vom Letná-Hügel aus das Stadtbild beherrschte.14 Paradoxerweise begann die schrittweise Amnestierung und Rehabilitierung der Opfer der stalinistischen Prozesse etwa zu dem Zeitpunkt, als in Prag am 1. Mai 1955 das StalinStalin, Josef Wissarionowitsch-Denkmal feierlich eingeweiht wurde. So langsam und fast unmerklich die Revision der Justizverbrechen auch verlief, war deren tiefgreifende Wirkung auf die tschechoslowakische Gesellschaft kaum zu unterschätzen. Jede Amnestie und erst recht jede weitere Rehabilitierung erschütterte den Glauben an die Unfehlbarkeit der Partei. Noch konnten sich die einfachen Parteimitglieder und große Teile der Bevölkerung die Schuldlosigkeit von Rudolf SlánskýSlánský, Rudolf und den anderen Verurteilten kaum vorstellen.

Einen guten Eindruck davon, wie undenkbar die Justizverbrechen in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre für viele Parteimitglieder waren, gibt der Bericht des kommunistischen, später reformorientierten Publizisten Jiří PelikánPelikán, Jiří über eine zufällige Begegnung mit dem Politiker Artur LondonLondon, Artur während eines Sommerurlaubs in Bulgarien. Artur LondonLondon, Artur war als Angeklagter in einem der politischen Prozesse nur knapp der Todesstrafe entgangen und zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Als er, 1956 freigelassen, Jiří PelikánPelikán, Jiří seine Geschichte erzählte, stieß er bei diesem auf Unglauben: »Obgleich ich wußte«, so PelikánPelikán, Jiří, »daß erLondon, Artur ein absolut ehrlicher, vertrauenswürdiger Mensch ist, der in Spanien und Frankreich tapfer gegen den Faschismus gekämpft hat, fragte ich mich, ob er nicht übertrieb, ob es sich nicht nur um einen tragischen Ausnahmefall handle.«15 Erst die Rehabilitierung machte es für gläubige Kommunisten zur Gewissheit, dass die Partei geirrt und ein Verbrechen zu verantworten hatte.

In kleinen Schritten zur Rehabilitierung

Die allmähliche Revision der politischen Prozesse war der wichtigste Schrittmacher der Liberalisierung der Tschechoslowakei in den sechziger Jahren. Die Fragen nach der Rechtmäßigkeit der Prozesse ließen sich in der Tschechoslowakei nicht lange unterdrücken. Nach dem Vorbild der sowjetischen Aufarbeitung der stalinistischen Prozesse unter Nikita ChruschtschowChruschtschow, Nikita Sergejewitsch setzte die tschechoslowakische Regierung 1955 eine Kommission ein, welche die Verbrechen der politischen Justiz aufklären sollte. Dass der Überprüfung enge Grenzen gesetzt waren, kam schon in der Besetzung der Kommission zum Ausdruck: Diese wurde von Rudolf BarákBarák, Rudolf geleitet, der als Innenminister für die Prozesse des Jahres 1954 direkt verantwortlich gewesen war. Die Aufarbeitung des SlánskýSlánský, Rudolf-Prozesses fiel ausdrücklich nicht in die Kompetenz der Kommission.1