Der Preis ist dein Leben - Sabine Bruns - E-Book

Der Preis ist dein Leben E-Book

Sabine Bruns

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Beschreibung

Lea wurde als Kind vom Boss ihrer Mutter vergewaltigt. Als investigativ arbeitende Journalistin hilft sie Frauen, die von ihren Partnern unterdrückt und misshandelt werden, bis sie während einer Recherche fast ermordet wird. Ein Fremder rettet sie und sie verliebt sich zum ersten Mal in ihrem Leben. Doch manchmal ist die Realität nicht so, wie sie zu sein scheint. Lea schwebt in höchster Gefahr, ohne es zu ahnen.

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Lea wurde als Kind vom Boss ihrer Mutter vergewaltigt. Als investigativ arbeitende Journalistin hilft sie Frauen, die von ihren Partnern unterdrückt und misshandelt werden, bis sie während einer Recherche fast ermordet wird.

Ein Fremder rettet sie und sie verliebt sich zum ersten Mal in ihrem Leben. Doch manchmal ist die Realität nicht so, wie sie zu sein scheint. Lea schwebt in höchster Gefahr, ohne es zu ahnen.

Dieser Thriller spielt an realen Orten, in die fiktive Elemente integriert wurden. Die Handlung ist frei erfunden. Ähnlichkeiten zu lebenden oder toten Personen wären rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

1

Oktober 2019

«Sehr gut, du alter Wichser, mach dir einen netten Abend und lass mich ein paar hübsche Fotos schießen», murmelte Lea, während sie mit dem Zeigefinger ungeduldig auf das Lenkrad klopfte.

Durch den hohen, kunstvoll verzierten, Eisenzaun und das trockene Geäst einer Hecke, beobachtete sie die drei Männer. Noch vor wenigen Wochen war hier alles so dicht belaubt gewesen, dass sie vom Haus nichts hätte sehen können, jetzt im Herbst hatte man den freien Blick auf das Grundstück. Der anonyme Hinweis war zur rechten Zeit gekommen.

Die Villa wirkte kleiner, als sie sie in Erinnerung hatte. Für ein Kind war das Haus so beeindruckend und prächtig wie das Märchenschloss einer Prinzessin gewesen, jetzt empfand sie es nur noch als protzig und geschmacklos.

Die dunkle Limousine mit den getönten Scheiben stand vor dem Haupteingang der Villa. Die beiden Bodyguards stiegen vorne ein, Matteo Lorenzo hinten. Sie erkannte ihn an der Halbglatze und dem vorgewölbten Bäuchlein. Der Typ sah so harmlos aus, wie ihr Biologielehrer in der Highschool. Kaum zu glauben, dass er eines der brutalsten Gesichter in der Pädophilenszene war ... und jemand, mit dem sie eine alte Rechnung offen hatte. Fangen Spielen hatte er es damals genannt. Ratte! In Leas Mund sammelte sich bitterer Speichel, während ihre Erinnerungen lebendig wurden. Sie schüttelte unwillig den Kopf, um die ungebetenen Bilder aus ihrem Verstand zu vertreiben. Ablenkung konnte sie jetzt nicht gebrauchen.

Der Rolls fuhr langsam an, und das elektrische Tor an der Zufahrt zur Straße öffnete sich. Lea startete den Motor ihres uralten Nissans. Sie schob sich das letzte Stück Schokolade in den Mund und fegte die leere Packung mit einer ungeduldigen Bewegung vom Beifahrersitz in den Fußraum. Dann blinkte sie und ordnete sich in den laufenden Verkehr ein. Konzentriert starrte sie nach vorne, um ihr Opfer nicht aus den Augen zu verlieren.

Lorenzos Limousine fuhr drei Wagen vor ihr. Seit so vielen Jahren jagte sie ihn, unzählige Male war er aufgrund von Indizien fast in den Knast gewandert und hatte sich doch mithilfe gekaufter Zeugen retten können. Aber Lea gab nicht auf. Nun hatte sie einen Tipp darüber bekommen, wo das Schwein heute seine Geschäfte tätigen würde. Vielleicht war der Zeitpunkt, um Rache zu üben, endlich gekommen.

Nur wegen Kerlen wie ihm war sie Journalistin geworden, nur, um solche Arschlöcher in den Knast zu bringen.

Die Limousine fuhr aus der Stadt hinaus. Erst ein Stück am Hudson entlang, dann weg vom Fluss durch kleine Orte in die Berge hinein. Zum Glück war viel Verkehr, sodass es dem Fahrer der Bonzenkarre nicht auffiel, dass ihm eine verrostete Schrottkiste folgte.

Kurz vor Scranton bogen sie endlich in die Zufahrt zu einem Industriegebiet ein und Lea vergrößerte ihren Abstand, um nicht aufzufallen. Um diese Tageszeit wurde hier nicht mehr gearbeitet, die Gegend war wie ausgestorben.

Vor einem massiven, mindestens zwei Meter hohen, Gittertor hielt die Limousine an, das Tor wurde von einem in schwarz gekleideten Typen aufgerollt und sie fuhr hinein. Es war das Gelände einer stillgelegten Konservenfabrik. Überall lag Müll herum und die eisernen Tore an den LKW-Laderampen wirkten verrostet und schief.

Lea fuhr an der Fabrik vorbei, bog um eine Ecke und parkte hinter einem Müllcontainer.

Mittlerweile war es ganz dunkel geworden. Sie rieb die schweißnassen Hände an der Jeans ab. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Selten hatte sie bei einer Recherche so ein mieses Gefühl, wie an diesem Abend. Sie konnte nicht wirklich begründen, warum. Vielleicht, weil der Tipp so narrensicher wirkte, dass er kaum real sein konnte. Und doch würde sie sich auf keinen Fall die Chance entgehen lassen, endlich Beweise gegen ihren Erzfeind in die Finger zu bekommen.

Sie folgte einem anonymen Hinweis, der eine Falle sein könnte und sie hatte sich nicht abgesichert. Normalerweise weihte sie Sammy in ihre Pläne ein, doch dieses Mal hatte sie das nicht getan, denn sie wusste genau, dass er alles getan hätte, um sie von dieser Tour abzubringen. Aber sie konnte ihm jetzt noch Bescheid geben. Sie griff zum Handy, öffnete Whatsapp und tippte los:

Hi Sam, ich folge einer Spur zu Matteo Lorenzo. Falls ich nicht wieder auftauche, sind hier die Koordinaten meines Autos, und lies die ausgedruckte Mail, die auf meinem Schreibtisch liegt. Ciao.

Sie schickte die Nachricht ab und stellte das Telefon auf Flugmodus, damit kein verräterisches Vibrieren oder gar Piepen ihr Vorhaben ruinierte.

Als sie ausstieg und bis zur Straßenecke zurückging, beobachtete sie, wie ein Lieferwagen ebenfalls durch das Tor rollte.

Eine Windbö animierte sie, den Kragen ihrer Jacke hochzuklappen. Ihre Ohrmuscheln schmerzten vor Kälte. Manchmal hätten längere Haare doch einen Nutzen. Trotzdem würde sie niemals ihren Schwur aufgeben, für den Rest ihres Lebens kurzhaarig herumzulaufen, damit sie nie wieder von einer Männerhand auf diese widerliche Art gepackt werden konnte.

Sie musterte den massiven Zaun. In dem anonymen Brief hatte es geheißen, an der Rückseite des Geländes wäre es leichter, einzudringen.

Um vom Schein der Straßenlaternen nicht erfasst zu werden, bewegte sie sich eng an der hohen Mauer einer Lagerhalle entlang. Regentropfen piksten wie feine Nadeln ihre Wangen und eine magere Katze huschte über die Straße. Scheiß Gegend hier.

Ein weiterer Lieferwagen bog um eine Ecke und kam Lea entgegen. Für einen kurzen Moment erfasste sie der Scheinwerferkegel, doch schnell sprang sie zur Seite und zog sich die Kapuze ihres Hoodys tief in die Stirn. Der Wagen fuhr an ihr vorbei. Sie drehte sich um und beobachtete, wie er ebenfalls auf das Gelände der alten Fabrik rollte.

Ihr Herz schlug schneller. Hier war tatsächlich in dieser Nacht was los. Der Brief war kein Fake gewesen, aber es könnte eine Falle sein. Verflucht, sie würde das Risiko eingehen. Wenn es ihr gelänge, Fotos zu schießen, konnte sie die direkt ins Department und an die Presse schicken. Dann nützten diesen Arschlöchern ihre Kontakte zu Politikern und Staatsanwälten nichts mehr.

Lea gab Informationen grundsätzlich immer an die Polizei und die Medien. Nur wenn die breite Öffentlichkeit die Beweise kannte, trauten sich Richter, Urteile gegen angesehene Mitglieder der Gesellschaft zu fällen. Das hatte sie bereits am Anfang ihrer Karriere gelernt, als sie einen Bürgermeister angezeigt hatte, der die sechszehnjährige Babysitterin seiner Kinder geschwängert hatte. Er wurde aus Mangel an Beweisen freigesprochen, ein DNA Abgleich war nicht möglich gewesen, da das gesicherte Material leider im Labor verunreinigt worden war. Tja, so ein Pech aber auch.

Nach mittlerweile über zehn Jahren als investigative Journalistin wusste Lea, Gerechtigkeit hörte da auf, wo finanzkräftige Leute Bestechungsgelder zahlen konnten.

Sie erreichte das Ende der Sackgasse, und schlich auf einem verwilderten Stück sumpfigem Landes weiter zur Rückseite des alten Fabrikgebäudes. Überall lag Müll herum und sie achtete akribisch darauf, nicht versehentlich gegen einen verbeulten Eimer oder eine leere Flasche zu treten und Lärm zu machen.

Die Informationen entsprachen der Wahrheit. Hier war der Zaun beschädigt, ein Element hing halb herab und daneben waren alte Paletten aufgeschichtet worden, mit deren Hilfe sie hinüberklettern konnte. Es war fast zu einfach.

Angestrengt beobachtete sie das Halbdunkel um das riesige Gebäude herum. Es herrschte Ruhe. Kein Wachpersonal weit und breit, nur Ratten huschte an der Hauswand entlang. Entschlossen kletterte Lea auf die Paletten, hievte sich über den Zaun und ließ sich auf der anderen Seite hinabfallen.

Bei der Landung knickte sie mit dem Fuß um. Fuck! Tränen schossen ihr in die Augen, aber sie presste die Lippen fest zusammen und gab keinen Laut von sich.

Ärgerlich wischte sie sich mit dem Ärmel des Hoodys über das Gesicht und bewegte probeweise den Fuß. Es brannte wie Feuer, aber es ging. Glück gehabt. Nichts gebrochen.

Zwei breitschultrige Typen mit Funkgeräten tauchten an der Gebäudeecke auf. Lea warf sich auf den Boden und versteckte sich hinter einer umgekippten Mülltonne. Die Kerle wirken wie Türsteher im Rotlichtmilieu, Lea erkannte die Umrisse von Waffenholstern an ihren Hüften. Einer hatte eine Glatze, der andere halblange Haare und einen wild wuchernden Bart.

Zum Glück interessierten sich die beiden nicht für die Müllberge auf dem Gelände, sondern patrouillierten nur am Gebäude entlang. Sie trugen keine Uniformen. Es waren definitiv keine Angestellten einer Wachfirma. Noch ein Indiz dafür, dass hier krumme Geschäfte getätigt wurden.

Als sie verschwunden waren, rappelte Lea sich auf. Das Aufsetzen mit dem Fuß tat verflucht weh, aber darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Es nieselte immer noch und sie wischte sich das Wasser aus dem Gesicht, um einen klaren Blick zu haben. Lautlos humpelte sie auf die alte Fabrik zu. Eine Nebeneingangstür war verschlossen und die Fenster der Hallen zu hoch, um eine Scheibe einzuschlagen und hindurchzuklettern.

In dem anonymen Brief war ein Hinweis auf den Keller gewesen. Sie versuchte, mit den Augen die Dunkelheit zu durchdringen, und ihr Blick fiel auf ein durch den Regen glänzendes, massives Gitterrost auf dem Fußboden direkt an der Hauswand. Das war bestimmt ein Schacht mit einem Kellerfenster darin. Sie schlich näher und spähte hinein. Bingo! Richtig vermutet.

Sie sah sich kurz nach rechts und links um und steckte einen halb zerbrochenen Ziegelstein in die Bauchtasche ihres Hoodys, um damit die Scheibe zu zerschlagen. Dann griff sie in das Gitter und versuchte, es anzuheben. Raue Flugrostteilchen drückten sich in die Haut ihrer Finger. Es rührte sich nicht. Verdammt! Sie wischte sich die Hände an der Jeans ab, biss die Zähne zusammen und probierte es nochmal. Sie trainierte täglich mit Gewichten, da würde sie ja wohl das bisschen Kraft zusammenraffen können, um ein dämliches Eisengitter zu bewegen. Und tatsächlich, sie schaffte es, das Gitter kurz anzuheben und ein Stück zur Seite zu schieben. Der Spalt war breit genug, um sich hindurchzuschlängeln.

Es stank unangenehm nach Nässe und Fäulnis. Ihre Füße landeten in etwas Weichem, hoffentlich nur vergammeltes Laub und kein verwesendes Tier. Zum Glück hatte sie daran gedacht, den Ziegelstein einzustecken, sie holte ihn aus der Bauchtasche und schlug die Fensterscheibe ein. Das Scheppern der Glasstücke auf dem Beton dröhnte in ihren Ohren. Shit! Angespannt hielt sie inne und wartete, ob etwas passierte. Doch alles blieb ruhig. Glück gehabt.

Mühsam kämpfte sie sich robbend, Zentimeter für Zentimeter, durch das schmale Fenster und streckte die Arme aus, um in der undurchdringlichen Finsternis des Kellers irgendetwas zu finden, woran sie sich festhalten konnte, um nicht mit einem Sturz auf den Kopf zu enden. Es zahlte sich mal wieder aus, dass sie schlank und sportlich war. Mit etwas mehr Speck um die Hüften wäre sie wohl im Fensterrahmen stecken geblieben.

Ihre Hände ertasten Metall. Was war das? Sie fuhr mit den Fingern daran entlang und identifizierte ein massives an der Wand befestigtes Regal! Perfekt, um sich daran festzuklammern.

Eine Minute später erreichte sie mit dem gesunden Fuß den Boden und stellt sich auf. Das Auftreten mit dem verletzten Knöchel war nicht angenehm, aber wenn sie nur vorne die Zehen belastete, ging es. Spinnweben kitzelten ihre Stirn. Sie schloss die Augen und wischte sich mit dem Hoodyärmel über das Gesicht. Dann zog sie ihr Handy aus der Jeanstasche, schaltete die Taschenlampenfunktion an und sah sich um.

Der Raum war niedrig, aber großflächig. Überall standen Regale, die jedoch alle leer geräumt waren. Sie humpelte quer durch die Regalreihen hindurch zu einer Stahltür, machte das Licht wieder aus und drückte auf die Klinke. Mit einem leisen Knarren ließ sich die schwere Tür öffnen. Das Geräusch wirkte so schrill wie das Quietschen der Bremsen von ihrem Nissan. Sie erstarrte und ihr Herz hämmert schmerzhaft hart in ihrem Brustkorb. Aber sie hatte wieder Glück, alles blieb still, hier unten gab es anscheinend niemanden, der sie hätte hören können.

Erleichtert huschte sie durch den Türspalt und erkannte, dass sie in einem langen, leeren Gang stand. Als sie die Tür hinter sich schloss, sah sie die Hand vor Augen nicht mehr. Obwohl es noch dunkler war, als in dem Lagerraum, traute sie sich nicht, die Taschenlampe ihres Handys erneut einzuschalten. Stattdessen tastete sie sich mit den Händen an der Wand entlang und schob die Füße vorwärts, ohne sie anzuheben, um sicher zu sein, nicht über irgendetwas zu stolpern.

Sie bog um eine Ecke und erreichte eine schmale, steile Metalltreppe. Oben schimmerte Licht.

Auf den Fußspitzen schlich sie Stufe für Stufe dicht an der verdreckten Betonwand entlang hinauf. Es stank nach einem Mix aus Urin, Diesel oder Benzin und faulendem Fisch. Leas Magen rebellierte und sie atmete durch den Mund, um dem Geruch zu entgehen.

Es blieb still. Sie betrat eine Halle, die wirkte, als ob sie in einer Tiefgarage gelandet wäre. Lediglich die Deckenhöhe passte nicht. Hier ließ es sich etwas besser atmen. An einer Wand brannten zwei Neonröhren. Drei teuere Wagen standen mitten im Raum, einer davon war Lorenzos Limousine. Auch die beiden Lieferwagen, die sie beobachtet hatte, entdeckte sie etwas weiter rechts.

Stück für Stück tastete sie sich vorwärts und suchte immer wieder Schutz hinter den Fahrzeugen oder den massiven Stützpfeilern aus Beton. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust so laut, dass sie glaubte, ein Echo durch die Halle schallen zu hören.

Plötzlich schrie jemand. Lea zuckte zusammen und verharrte stocksteif. Es war ein heller Schrei, wie von einer Frau oder einem Kind. Er ging in ein Schluchzen über, eine Tür knallte zu und das Weinen war nicht mehr zu hören.

Leas Kehle wurde eng. Übelkeit stieg in ihr auf. Wurden hier Menschen gefangengehalten? Gefoltert? Ermordet?

Nachdem es eine Weile ruhig blieb, schlich sie mit weichen Knien weiter und erreichte erneut eine Stahltür. Sie griff nach der Klinke, drückte sie vorsichtig hinunter und zog. Die Tür gab nach. Sie war nicht abgeschlossen. Lea öffnete sie ein kleines Stück, lugte durch den Spalt und erkannte ein breites Treppenhaus. Neonlicht schimmerte von den oberen Stockwerken hinab. Es war sauberer als unten, und hier stank es auch nicht so widerlich. Sie näherte sich eindeutig den Teilen des Gebäudes, die genutzt wurden. Konnte sie es wagen, hinauf zu gehen?

Verflucht, sie musste, wenn ihre Exkursion ein Resultat bringen sollte.

Sie schlich Stufe für Stufe nach oben. Im ersten Stock konnte man durch eine Glastür auf den Flur eines Bürotraktes sehen, in dem eine Notbeleuchtung eingeschaltet war. Der Gegensatz zum verwahrlosten Zustand, den die alte Fabrik von außen bot, konnte nicht größer sein. Sauberer Teppich bedeckte den Boden und die Wände wirkten frisch gestrichen. Lea stieß gegen die Tür, doch sie war verschlossen. Hier fand anscheinend an diesem Abend nichts statt.

Im zweiten Stock hingegen brannte helles Licht hinter der dortigen Glastür und sie schwank leicht auf, als Lea dagegen drückte. Sie schlüpfte hindurch. Stille. Wieder schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass es zu einfach war. Fühlten die Arschlöcher sich tatsächlich so sicher? Oder hatte der Brief sie in eine Falle gelockt, die jeden Moment zuschnappen würde.

Alles in ihr schrie KEHR UM, aber das konnte sie nicht. Sie hatte die einmalige Chance, Lorenzo und mit seinen Kumpanen unwiderruflich zu überführen. Die durfte sie sich nicht entgehen lassen. Der Hass war zu groß. Außerdem hatte sie einen Menschen schreien hören, der Hilfe brauchte.

Sie hielt das Handy fest in der Hand. Es war ihre Lebensversicherung und durfte ihr auf keinen Fall abhandenkommen. Sobald sie wusste, was hier gespielt wurde, würde sie damit nicht nur Fotos und Videos aufnehmen, sondern auch den Notruf wählen.

Sie lauschte an der ersten Tür des Flures. Als sie nichts hörte, öffnete sie sie und lugte hinein. Dunkelheit. Sie trat ein, schloss die Tür und aktivierte die Taschenlampe des Smartphones. Als sie sich umsah, wurde ihr übel. Bittere Galle sammelte sich in ihrem Mund. Sie stand in einem Studio mit Kameras und Scheinwerfern, dessen Bühne aus einem Kinderzimmer bestand. Die typische Einrichtung mit kitschigen Stofftieren und Spielzeug ließen ihre Erinnerungen wach werden. Fangen spielen ...

Ihr Brustkorb wurde eng, die Atemluft knapp. Entschlossen machte sie ein paar Fotos, wandte sich schnell ab und atmete bewusst lang aus. Eine Panikattacke konnte sie jetzt nicht gebrauchen. Sie musste klar im Kopf bleiben.

Sie verließ den Raum und schlich weiter, immer von Tür zu Tür und an die Rahmen gepresst, um nicht entdeckt zu werden, sollte plötzlich jemand im Flur erscheinen.

Der Teppich war sauber, weich und dick, wie in der Chefetage eines erfolgreichen Unternehmens.

Ein paar Türen standen halb auf und Lea blickte hinein. Es waren Schneideräume mit hochwertiger technischer Ausstattungen, weitere Studios, eins war wie ein Schulzimmer eingerichtet, eines wie eine Arztpraxis. In anderen Räumen standen jede Menge Computer, die vermutlich zum Kopieren und verbreiten des Filmmaterials genutzt wurden.

Sie fotografierte alles.

Plötzlich hörte sie leise Stimmen. Es waren tiefe Männerstimmen, die sich unterhielten und lachten. Sie schlich weiter und wagte einen Blick um die Ecke. Vor ihr öffnete sich der Flur zu einem großen Empfangsbereich mit mehreren pompösen Sitzgruppen. Auf einer, ungefähr fünfzehn Meter entfernten, saßen die Männer, die sie gehört hatte. Zwei Bodyguards hielten sich davor auf und drehten ihr den Rücken zu. Sie waren in Leder und Kutten gekleidet, als gehörten sie zu einer Rockergang. Einer hatte streichholzkurze schwarze Haare, der andere braune lange, die zu einem Zopf zusammengebunden waren.

Anscheinend erwartete man einen eventuellen Eindringling nicht von der Rückseite des Gebäudes, aus der Lea sich hereingeschlichen hatte, sondern nur von vorne. Das bedeutete, dass es mindestens ein weiteres Treppenhaus gab.

Drei Männer saßen in den schwarzen Ledersesseln. Sie hatten Gläser vor sich auf einem niedrigen Glastisch stehen. Papiere und Fotografien lagen ebenfalls auf dem Tisch und auf dem Boden standen geschlossene Aktenkoffer. Alle trugen edle Anzüge und an ihren Handgelenken glänzten protzige Uhren. Rechts erkannte Lea den grauen Haarkranz ihres Erzfeindes Matteo Lorenzo, links saß ein schlanker Blonder und auf der anderen Seite ein südländisch wirkender Schwarzhaariger mit dicken Goldringen an den Fingern.

Ihr Jagdfieber verdrängte die Angst. Wenn sie es näher ranschaffte, würde sie mit dem Handy das Gespräch aufnehmen können. Hier wurde garantiert über Geschäfte geredet. Was für eine Chance!

Ohne ein Geräusch zu verursachen, ließ Lea sich auf die Knie nieder und krabbelte im Schutz der ausladenden Polstermöbel so nah an die Männer heran, dass die Distanz nur noch sieben oder acht Meter betrug. Hier konnte sie Worte verstehen.

Sie schaltete die Aufnahmefunktion des Handys ein und schob es auf dem Fußboden vorsichtig noch ein Stück näher in Richtung der Männer.

«Asiaten sind nicht mehr so gefragt. Bringt mir ein paar blonde Europäer, Mädchen und Jungen. Locken machen sich gut, und blaue Augen», sagte Lorenzo, «und bloß nicht zu fett.»

Der Südländer lachte. «Ein bisschen Fettleibigkeit ist doch kein Problem, das reduziert die Futterkosten. Gib ihnen einfach nichts zu essen, bis sie dir dünn genug sind.»

Lorenzo lehnte sich zurück und schüttelte unwillig den Kopf. «Ich will das Material nicht so lange hier haben. Ankommen, Filmen, Abtransport. Fertig.»

Der Blonde schnaubte. «Mädchen und Jungen aus Deutschland oder Schweden sind dreimal so teuer wie die kleinen Dunkelhaarigen aus Asien oder Indien.»

Lorenzo winkte ab «Das macht nichts. Die Investition lohnt. Bringt mir regelmäßig vier bis fünf Neue, hinterher könnt ihr sie teuer weiterverkaufen.»

«Wir können es versuchen, aber in Amsterdam ist man sich noch nicht einig. Fjodor verhandelt mit den Besitzern mehrerer Frachter.»

Der Südländer hob die Hand. «Sorry, Matteo, aber abgesehen von den Transportproblemen müssen wir über einen anderen Punkt sprechen. Sofort weiter verkaufen ist nicht immer möglich, die letzten waren ganz schön lädiert.»

Lorenzo winkte ab. «Ein, zwei Wochen Erholung und sie sind wie neu ...»

Mit wild klopfendem Herzen lauschte Lea konzentriert den Männern und merkte zu spät, dass sich jemand von hinten näherte. Ihr Kopf zuckte herum, doch da spürte sie bereits einen plötzlichen, fiesen Schmerz im Nacken, erschrak und schrie gellend auf.

2

Der Griff um ihren Hals war so fest und unnachgiebig wie eine Schraubzwinge. Und er kam so plötzlich, dass Lea keine Chance hatte, sich zu wehren.

Sie wurde mit Wucht hochgeschleudert und landete vor den sitzenden Männern in Bauchlage auf dem Boden.

Vor ihr ragte ein Kerl auf, der seinem Aussehen nach als Türsteher diente, doch er trug einen Werkzeuggürtel mit Schraubenziehern und Zangen um seine Hüften. Anscheinend war er ein Techniker, der aus dem hinteren Bereich des Gebäudes gekommen war und sie deshalb erwischt hatte.

«Verfluchter Mist, da fallen einmal die Kameras aus und schon schleicht sich eine Ratte hier rein.»

Bevor Lea sich aufrappeln konnte, versetzte der Typ ihr einen harten Tritt in die unteren Rippen. Vor ihren Augen platzen Sterne wie bei einem Feuerwerk, und sie konnte nicht mehr atmen. Sie drehte sich auf die Seite, zog die Beine an und riss den Mund auf, um röchelnd nach Luft zu gieren.

«Wie kommt die hier rein?», fragte einer der Männer.

«Keine Ahnung», knurrte der Typ, der sie aus ihrer Deckung gezerrt hatte. «Ich brauchte eine Stunde für die Reparatur, die Kamera läuft erst seit fünf Minuten wieder.»

Die Sterne verschwanden, Lea konnte etwas erkennen. Ihr Blick fiel auf die Militärstiefel des Typen. Die Stimme des Südländers ertönte. «Das Gesicht kommt mir bekannt vor, irgendwo hab ich die schon mal gesehen.»

Der Blonde zog die Augenbrauen hoch. «Ach ja?»

Leas Lunge funktionierte wieder. Sie wagte einen neuen Versuch, sich aufzurappeln, doch ein weiterer Tritt, diesmal in ihren Magen, ließ sie erneut aufschreien. Sie krümmte sich und verschränkte die Arme vor dem Bauch.

«Zeig mir ihr Gesicht», forderte Lorenzo. Der Glatzkopf packte Leas Kinn und drehte mit einer harten, schnellen Bewegung ihren Kopf. Lorenzo beugte sich vor. «Sieh an, Lea Johnson. Was für eine Überraschung.» Er sah auf. «Das ist die Journalistin, die mir seit Jahren hinterherspionieret. Ihr habt sie auf Fotos gesehen, ich habe euch vor ihr gewarnt. «

Er sah wieder auf Lea hinab. «Woher weißt du von diesem Ort?»

Lea presste die Lippen aufeinander.

Der Glatzkopf beugte sich vor und eine Sekunde später brannte ihre Wange von einer harten Ohrfeige. Wieder schrie sie.

«Antworte!»

Hammerschläge dröhnten in ihrem Kopf und Lea war klar, dass sie in dieser Nacht sterben würde. Sie hatte keine Chance. Die Männer würden sie töten, egal ob sie jetzt antwortete oder nicht. Sie konnten sie nicht laufen lassen, weil sie ihre Studios entdeckt hatte.

Verbrechern dieses Typs war Lea zu lange auf den Fersen und hatte während ihrer Recherchen zu oft Berichte aus der Pathologie über Folter und Sadismus gelesen, um sich Illusionen über ihre Zukunft machen zu können.

«Die Polizei hat per Handy euer Gespräch gehört und wird jeden Moment hier sein», krächzte sie, denn das war ihre einzige Chance, schnell getötet zu werden.

«Dumm nur, Sweetheart, dass hier überall Störsender installiert sind, die das Telefonieren und eine Handyortung unmöglich machen.» Der Blonde grinste sie an.

Der Rocker mit den langen Haaren benutzte sein Funkgerät, er sprach irgendwas, dann räusperte er sich und ließ das Gerät sinken. «Sie ist allein. Draußen ist alles ruhig.»

Der Techniker, ein breiter Riese in einem grauen T-Shirt mit unzähligen Tattoos an den Armen, kam auf sie zu. Er hielt ein Kabel in der Hand. Bevor Lea kapierte, was er plante, spürte sie das glatte Plastik um ihren Hals. Es wurde zugezogen. Unwillkürlich griff sie danach und ihre Finger wurden mit ihrem Hals eingeklemmt. Sie röchelte, während der Typ sie hinter sich her zog und mit einem Ruck in sitzender Position an einen Pfeiler lehnte. Ihre Arme wurden von einem der anderen herabgezogen und das Kabel legte sich so eng um ihren Hals, dass sie keine Luft mehr bekam.

Das wars also. Sie japste erfolglos nach Sauerstoff, während sich vor ihren Augen roter Nebel bildete.

«Noch nicht», befahl Lorenzo und das Kabel lockerte sich. Lea hustete und würgte. Der Typ befestigte die Schlinge an dem Pfeiler ein Stück über ihrem Kopf, sodass sie gezwungen war, aufrecht zu sitzen, wenn sie sich nicht selbst strangulieren wollte.

«Wer weiß, dass du hier bist?» Lorenzo sah auf sie hinab.

«Fick dich, Arschloch.»

«Nimm den Zeigefinger.»

Der Glatzkopf hockte sich vor sie. Er packte ihr rechtes Handgelenk und streckte seine andere Hand nach hinten. Er sah ihr in die Augen und lächelte. «Gib mir die Rohrzange.» Der Typ, der sie gefunden hatte, zückte aus seinem Gürtel die Zange und gab sie ihm. Er klemmte ihren Finger damit direkt unter Handrücken und Knöchel ein.

«Wer?», fragte Lorenzo.

Lea presste die Lippen zusammen und starrte auf ihre Hand und die Zange. Der Techniker beugte sich grinsend vor. Er packte ihren Finger und stieß ihn mit einem Ruck nach oben. Es knackte und der Schmerz zuckte bis in Leas Brustkorb. Sie schrie auf und wieder explodierten grelle Blitze vor ihren Augen.

«Die andere», hörte sie Lorenzo sagen.

Das andere Handgelenk wurde gepackt, die Rohrzange um ihren Zeigefinger gelegt und zugedrückt. Die Männer warteten. Es war still.

«Wer», flüsterte Lorenzo plötzlich so dicht an ihrem Gesicht, dass sie sein Rasierwasser und seinen unangenehmen Atem riechen musste. Die Erinnerung war wie ein Flashback. Bilder von dem Kinderzimmer in seinem Haus zuckten vor ihrem inneren Auge auf. Der Gestank ließ sie würgen.

Ein weiteres helles Knacken durchbrach die Stille und eine Sekunde später überfiel sie der Schmerz wie ein Tsunami. Sie brüllte und Tränen liefen über ihr Gesicht.

«Mittelfinger», hörte sie Lorenzo sagen und ihr rechtes Handgelenk wurde wieder fest umklammert, der Finger in die Zange geklemmt. Leas Widerstandskraft erlosch wie eine Kerze im Wind. Die Schmerzen waren nicht auszuhalten. Sie zogen wie glühende Pfeile durch ihren ganzen Körper. Es fühlte sich an, als wäre jede einzelne Muskelzelle wie ein Stück Papier zerfetzt worden. «Niemand weiß etwas», presste sie hervor.

«Fuck, jetzt fällt es mir ein, das ist die Journalistin, die vor zwei Jahren in LA die Brockman-Brothers in den Knast gebracht hat», rief der Blonde.

Lorenzo schnaubte. «Er hockte sich wieder vor Leas Gesicht und stierte sie an. «Letzte Chance: Woher hast du diese Adresse?», fragte er so leise, dass sich seine Stimme wie das Zischen einer Schlange anhörte.

Leas Herzschlag polterte unregelmäßig. Ihr Zwerchfell schien plötzlich aus einer Stahlplatte zu bestehen, die von unten gegen ihren Brustkorb drückte.

«Anonymer Hinweis», krächzte sie mühsam.

Das Knacken.

Bevor sie das hier erlebte, hatte sie nicht gewusst, wie sich das Brechen eines Knochens anhörte. Es war ein erschreckend unspektakuläres Geräusch, hell und kurz, als ob man im Herbst auf einen trockenen Zweig tritt. Doch der eine Sekunde später einsetzende Schmerz war nicht gewöhnlich, sondern brutal. In ihren Ohren rauschte es, sie hörte ihre eigenen heiseren Schreie und das Lachen der Männer um sie herum.

«Wer weiß, dass du hier bist, Schätzchen», forderte Lorenzo freundlich und nickte dem Glatzkopf zu. «Den anderen Mittelfinger.»

Lea bäumte sich verzweifelt auf, doch das stramme Kabel um ihren Hals zwang sie zur Aufgabe.

Sie schrie und schrie. Tränen rannen aus ihren Augen, doch gnadenlos kam erneut das kurze, trockene Knacken. Vor ihren Augen tobten seltsame bunte Wellen vorbei.

«Das dauert zu lange, nehmt die Füße», knurrte der südländische Typ. Lea spürte, wie ihre Beine gepackt wurden und die Männer ihr die Sneakers auszogen. Das Kabel um ihren Hals wurde enger, sie keuchte und würgte.

Jemand packte ihr Kinn. Ihr Blick schärfte sich. Es war Lorenzo. «Dein Informant und Mitwisser, Lea Johnson, jetzt, oder wir brechen dir erst die Füße, dann die Unterschenkel, die Oberschenkel und die Arme, alle Knochen deines Körpers einzeln, bevor du sterben darfst.»

Lea starrte ihn eine Sekunde lang an. Wie hasste sie diese Grimasse. Wie oft hatte sie diese Visage aus ihren Alpträumen hochschrecken lassen. Sie keuchte und spuckte ihm mit aller Kraft, die sie noch aktivieren konnte, in sein hässliches Gesicht.

Er zuckte zurück. «Macht sie fertig», hörte sie ihn befehlen, dann verschwand er aus ihrem Sichtfeld.

Brennender Schmerz, schlimmer als alles, was sie vorher erlebt hatte, schoss von ihren Füßen durch ihre Beine in ihren Körper. Sie hörte ihre Schreie, erst schrill und dann auf merkwürdige Weise allmählich entfernter und leiser werdend, bis es um sie herum ganz still wurde und die Welt in tröstlicher Dunkelheit versank.

Das Brummen eines Motors drang in ihr Bewusstsein ein. Ihr Körper wurde auf einem harten Boden hin und hergeworfen, aber sie konnte die Gliedmaßen nicht bewegen. Sie öffnete die Lippen und hörte sich selbst röcheln. Ihr Mund war so trocken, als hätte sie Sand gegessen.

Sie begriff, dass sie im Laderaum eines Lieferwagens lag, der sich dem Motorengeräusch nach in hohem Tempo auf einer unebenen Strecke vorwärts bewegte. Schemenhaft erkannte sie die Metallwände. Durch die hinteren Fenster fiel kein Licht herein. Es war tiefe Nacht.

Noch einmal versuchte sie, die Hände zu heben, aber das ging nicht, sie war von allen Seiten eng eingeschlossen. Etwas knisterte und es roch nach Chemie. Endlich kapierte sie, was sie fühlte. Ihr Körper war von Kopf bis Fuß fest in eine dicke Plastikplane eingewickelt worden.

War sie bereits tot? Nein, dafür spürte sie die Schmerzen zu stark. Sie erinnerte sich an alles. Die Arschlöcher hatten ihr Knochen gebrochen und sie war ohnmächtig geworden. Vielleicht dachten sie, sie wäre tot und brachten sie irgendwo hin, um ihre Leiche zu entsorgen.

In ihren Händen und in ihren Füßen pochte der Schmerz im Takt ihres Herzschlages. Waren ihre Beine auch gebrochen? Sie konzentrierte sich, um in sich hineinzufühlen, aber es ließ sich keine direkte Schmerzquelle lokalisieren. Durchdringende Qualen zogen von ihren Händen und Füßen die Gliedmaßen nach oben. Spitze Pfeile schienen in den Adern zu stecken und jedes Rütteln und hin und her geworfen werden erzeugte neue Schmerzwellen, die durch den Körper tobten. Wie lange war sie ohnmächtig gewesen? Wohin fuhren sie? War es noch Nacht oder bereits Tag?

Gott, was für Schmerzen. Alles in ihr war so verkrampft, dass sie nur zitternd atmen konnte.

Was würde geschehen, wenn sie ihr Ziel erreichten? Kalte Panik kroch ihren Nacken herauf und in ihrer Kehle bildete sich ein dicker Felsbrocken. Ruhiger atmen, befahl sie sich selbst, ruhiger atmen. Du darfst nicht kolabieren! Solange du lebst und denkst, hast du eine Chance.

Der Wagen fuhr jetzt langsamer und ihr Körper wurde noch heftiger durchgerüttelt. Vermutlich waren sie vom Weg abgebogen und fuhren querfeldein. Tränen rannen aus ihren Augen. Sie schmeckte Salz auf den spröden Lippen, die Plastikfolie an ihrem Gesicht wurde nass.

Die Arschlöcher wollten sie irgendwo in der Wildnis töten und dort verrotten lassen. Fast war es ihr egal, denn die Schmerzen in ihren Gliedmaßen waren nicht zu ertragen. Der Tod würde Erlösung bedeuten. Hoffentlich ging es schnell. Vielleicht schossen sie ihr in den Kopf.

Der Wagen bremste. Der Motor ging aus. Stille. Lea hörte ihren Herzschlag von Sekunde zu Sekunde härter und immer schneller. Sie konnte nichts denken. Atemlos wartete sie darauf, dass die Schiebetür geöffnet würde, doch als es passierte, zuckte sie trotzdem zusammen.

Ein Lichtschimmer fiel herein. Schemenhaft durch die Folie im matten Schein des Mondes und etwas Licht von den nach vorne gerichteten Autoscheinwerfern, erkannte sie unscharf zwei Typen. Sie zerrten an der dicken Plastikplane, in die Lea eingerollt war, zogen sie heraus und ließen sie auf den Boden aufprallen. Lea wimmerte auf.

Einer der Typen trat ein paar Mal mit seiner Fußspitze gegen die Rolle. «Sie ist fast hinüber, wir können sie einfach liegen lassen.»

«Sei kein Arsch, gib ihr den Gnadenschuss.»

«Dann ist schon wieder eine Waffe verbrannt, oder wolltest du die Kugel aus ihrem hübschen Body buddeln, um sie mitzunehmen.»

«Fuck, dann lass es eben bleiben. Steig ein, ich hab heute noch mehr vor.»

Die Schiebetür wurde zugeschoben, die Männer entfernten sich. Autotüren schlugen zu, der Motor sprang an. Der Lieferwagen fuhr davon.

Lea lag unbeweglich da. Sie lebte. Die Typen hatten nicht geschossen. Ihr Körper fühlte sich an, als ob sie bei lebendigem Leibe verbrennen würde, aber sie lebte. Erschöpft schloss sie die Augen und alles wurde schwarz und still.

3

«Oh, Fuck.» In Sams Kopf schlug eine viel zu früh erwachte Gehirnzelle mit einem Hammer eine Wand ein. Konnte die nicht damit aufhören?

Mit einem Stöhnen drehte er sich auf den Rücken. Das Zimmer war halb dunkel und es roch unangenehm nach verbrauchter Luft und Bier. Er sah sich um. Er lag nicht in seinem Schlafzimmer. Aber das Bett war bequem. Neben ihm schlief eine Frau. Sie drehte ihm den Rücken zu und schnarchte leise. Über dem Rand der Decke waren zerzauste blonde Haare zu erkennen.

Auf dem Nachtschrank stand ein altmodischer Wecker. Falls das Teil richtig funktionierte, war es gleich zwölf Uhr am Mittag.

Sam stemmte sich auf einen Ellenbogen, beugte sich halb über sie und erkannte einen Teil ihres Gesichts. Es war Sophia. Bei dieser Erkenntnis fiel ihm auch der Verlauf des Abends und der Nacht wieder ein. Die süße, kleine, freche Sophia war die neue Praktikantin in der Redaktion und hatte so offensiv mit ihm geflirtet, dass es die reine Freude gewesen war. Unwillkürlich musste er trotz der Kopfschmerzen grinsen, als er daran dachte, wie sie ihn vor dem Klo des irischen Pubs, in dem sie mit einigen Kollegen gelandet waren, abgefangen und geküsst hatte. Schamlos, herrlich schamlos und unkompliziert die Kleine.

Er zupfte an ihren Haaren. «Hey Süße, muss ich mir was anziehen, bevor ich das Klo suchen gehe?»

Sie seufzte und räkelte sich. «Nimm die Tür schräg gegenüber. Dies ist eine Frauen WG, du brauchst dir also nichts anziehen. Meine Mitbewohnerinnen mögen schöne Schwänze.» Sie stöhnte und zog sich die Decke über den Kopf. «Lass bloß den Vorhang zu, mein Gehirn erträgt noch kein Tageslicht.»

«Okay, Babe.»

Sam richtete sich auf und stellte die Füße auf den Boden.

«Falls eine der anderen dich in ihr Zimmer zerren will, sag, dass ich noch nicht mit dir fertig bin», nuschelte sie mit dem Kopf unter der Decke.

Er gluckste.»Aye, Sir.»

«Nicht so laut.»

«Ich sorge mal für frische Luft, das wird dir guttun.» Er öffnete das Fenster einen Spalt, ohne dafür die Gardine aufzuziehen und verließ das Schlafzimmer. Sie hatten drei Kondome gebraucht, die jetzt alle im Papierkorb ihres Schreibtisches lagen. Und das trotz der vielen Guinness. Normalerweise schlief er vom Alkohol eher ein, als dass er aktiv wurde.

Als er die Angelegenheiten im Bad erledigt hatte und es verließ, stieg ihm der verführerische Duft von Kaffee in die Nase. Er ging dem nach und landete im Türrahmen einer kleinen Küche, in der sich eine junge Frau in Jogging-Outfit mit dunkler Hautfarbe und langen Dreadlocks gerade einen Becher einschenkte. «Guten Morgen.»

Sie drehte sich halb. Ihr Blick glitt an seinem nackten Körper hinab und sie stieß einen leisen Pfiff aus. «Sophia oder Carmen?»

«Sophia. Ich bin Sam.»

«Hi, Sam. Ich bin Loren.»

«Hi, Loren. Schön, dich kennenzulernen. Hast du für uns ein paar Tropfen übrig?» Er deutete auf die Kaffeekanne.

«Klar doch.» Sie holte zwei Becher aus dem Schrank, schenkte ein und reichte sie ihm. «Zucker? Milch?»

«Zucker. Äh ... weißt du, wie Sophia ihn trinkt?»

«Einfach Schwarz.»

Sie schob eine Zuckerdose näher und er bediente sich.

«Danke. Du rettest gerade Leben.»

«Gern geschehen.» Sie zeigte auf einen Berg Geschirr im Becken. «Erinnere Sophia daran, dass sie mit dem Abwasch dran ist.»

«Habt ihr keine Geschirrspülmaschine?»

Loren zuckte mit den Schultern und schlenderte mit ihrem Kaffeebecher in der Hand an ihm vorbei. «Ist grad defekt und die Reparatur zu teuer. Übrigens ...», sie warf im Vorbeigehen einen Blick nach unten. «Hübscher Schwanz.»

«Danke. Ich soll sagen, sie ist noch nicht fertig mit mir.» Loren gluckste. «Sophia war schon immer schlecht im Teilen.»

Sam grinste, drückte mit dem Unterarm die Tür zu Sophias Zimmer auf und ging hinein. Nachdem er sie mit dem Fuß wieder zugedrückt und den zweiten Becher neben dem Bett abgestellt hatte, ließ er sich auf der Matratze nieder. Die Luft im Raum hatte sich bereits merklich verbessert. Er rutschte so hoch, dass er an der Wand lehnen konnte. «Es gibt Kaffee, Sophia.»

«Mmh.» Sie rührte sich nicht.

Er trank einen Schluck und sein Blick fiel auf sein Smartphone, das neben der Jeans auf dem Fußboden lag. Vielleicht sollte er in der Redaktion Bescheid geben, dass sie beide heute nicht mehr erscheinen würden.

Seufzend beugte er sich hinab, angelte mit den Fingerspitzen und zog es nah genug, um es hochheben zu können. Mit dem Telefon in der Hand richtete er sich wieder auf, nahm einen Schluck Kaffee und tippte aufs Display.

Eine Whatsapp von Lea. Er öffnete die Nachricht und las.

Hi Sam, ich folge einer Spur zu Matteo Lorenzo. Falls ich nicht wieder auftauche, sind hier die Koordinaten meines Autos, und lies die ausgedruckte Mail, die auf meinem Schreibtisch liegt. Ciao.

«Fuck!»

Sophias Kopf zuckte hoch. «Was ist los?»

«Nichts», brummte er, während er bereits Leas Nummer wählte. Es klingelte. Es klingelte. Es klingelte. «Verflucht! Geh ran!»

Es klingelte. Es klingelte.

«Scheiße.» Er ließ das Handy fallen, sprang auf und begann, sich anzuziehen.

Sophia setzte sich auf. «Was ist passiert?»

«Ich muss los, Süße.» Er schloss die Jeans, zerrte sich das T-Shirt über den Kopf und drückte einen Kuss auf ihre Haare. «Tut mir leid. Wir sehen uns Morgen in der Redaktion.»

Sophia schnaubte. «Stress mit deiner Freundin? Bist du fremd gegangen?»

«Nein. Keine Sorge, ich habe nicht gelogen, ich bin wirklich solo. Eine Kollegin braucht Unterstützung.»

«Welche Kollegin?»

«Lea Johnsen. Du kennst sie nicht, sie arbeitet nicht bei uns, sondern ist eine freie Journalistin und gute Freundin von mir.»

«Gute Freundin mit gelegentlichem Sex, so wie ich?»

«Nein, Lea ist eine rein platonische gute Freundin. Ich stelle sie dir bei Gelegenheit vor. Du wirst sie mögen, und als angehende Journalistin kannst du viel von ihr lernen. Sie ist eine der Besten in der Branche. Ciao Babe.»

*

Irgendetwas weckte Lea. Mühsam riss sie die Augenlider auf. Sie spürte ein Stoßen in Höhe ihres Oberschenkels. Was war das? Unwillkürlich zuckte sie, wurde von einer Schmerzwelle zum Wimmern gebracht und die Bewegung an ihren Beinen hörte auf. Stattdessen raschelte es in einem Gebüsch. Anscheinend hatte ein Tier die Rolle aus Plastikplane untersucht. Leas Augen klappten wieder zu, doch gleichzeitig setzte ihr Überlebenswille ein. Sie durfte nicht schlafen. Sie musste sich befreien und fortbewegen, um Hilfe zu finden.

Denk nach, befahl sie ihrem Gehirn. DENK GEFÄLLIGST NACH!

Ihre Hose und ihr Shirt fühlten sich nass an. Entweder hatte sie eingewickelt in das Plastik geschwitzt oder sie hatte während ihrer Ohnmacht uriniert. Letzteres schien ihr wahrscheinlicher, denn der Gestank war widerlich.

Die schwere Plane um ihren Körper fühlte sich nicht so an, als ob ein Strick darum gebunden wäre. Vielleicht musste sie es bloß schaffen, sich auf dem Boden zu wälzen, sich ein paar Mal zu drehen, um sich auszuwickeln.

Sie versuchte, Schwung zu holen und schrie auf. Wenn doch bloß nicht diese fiesen Schmerzen wären!

Nicht aufgeben, du darfst nicht aufgeben. Du willst leben und diese Schweine ins Gefängnis bringen, redete sie sich selbst im Kopf Mut zu. Sie biss die Zähne zusammen und versuchte hin und her zu schaukeln und tatsächlich, als sie genügend Schwung hatte, kippte sie auf den Bauch. Neue Schmerzenwellen zogen von Händen und Füßen durch ihren Körper, doch sie kämpfte weiter und landete wieder auf dem Rücken. Erschöpft keuchend gönnte sie sich eine Pause, dann begann sie erneut, um ihre Freiheit zu kämpfen. Noch mal. Und nochmal. Und nochmal. Endlich fühlte sich die Plane leichter an, sie konnte ihre Arme etwas bewegen, noch eine Umdrehung und Lea war frei. Sie blieb keuchend auf dem Rücken liegen und konzentrierte sich darauf, den Baum zu fixieren, der in ihrem Sichtfeld am nächsten stand. Es war taghell, die Nacht war vorbei. Die Sonne schien, aber ihre Strahlen brannten nicht wie im Hochsommer. Wolkenfelder zogen über den Himmel. Es war kalt. Allmählich klärte sich ihr Blick, ihr Kreislauf stabilisierte sich, sie konnte ruhiger atmen. Ihre spröden Lippen rissen ein. Sie leckte sich darüber und schmeckte Blut. Ihre Mundhöhle war ausgetrocknet. Sie hatte schrecklichen Durst. Vielleicht gab es einen Bach in der Nähe.

Unwillkürlich wollte sie sich mit den Händen aufstützen, um sich aufzusetzen, doch in dem Moment, in dem ihre Finger den Boden berührten, musste sie wieder aufschreien. Als der Schmerz abebbte, betrachtete Lea ihre Hände. Beide Zeige- und Mittelfinger waren übermäßig dick angeschwollen und von allen Seiten blau-lila angelaufen. Jede noch so kleine Bewegung brannte, als würde heißes Benzin durch ihre Adern fließen.