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Der Nr.1-Bestseller aus Großbritannien für alle Fans von Miss Marple und Pater Brown.
Es ist einige Monate her, seit ein Mord die Gemeinde von Pfarrer Daniel Clement in Aufruhr versetzte. Er selbst konnte den Fall aufklären, nun hofft er auf ruhigere Zeiten im beschaulichen Champton. Doch da naht bereits die nächste Krise in Gestalt eines Geistlichen, der im Nachbarort seinen Dienst antritt. Er teilt sich die Betreuung seiner Schäfchen mit Daniel, doch die beiden könnten nicht unterschiedlicher sein. Der milde, verständnisvolle Daniel trifft in Chris Biddle auf einen strengen Verfechter von Ordnung und Regeln – nicht immer zur Freude seiner Frau und beiden Kinder. Dann geraten ausgerechnet die Biddles in den Mittelpunkt eines schrecklichen Verbrechens: Ihr Sohn wird tot aufgefunden, offenbar wurde er das Opfer eines Ritualmords. Und Daniel muss den Täter finden, bevor das Böse Kreise zieht ...
»Wären doch alle Pfarrer wie Daniel Clement, dessen Mitgefühl für seine Schäfchen auf gesundem Menschenverstand beruht und durch Witz ergänzt wird. Für mich ist Coles derzeit der beste Cosy-Crime-Autor.« The Telegraph
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Seitenzahl: 378
Es ist einige Monate her, seit ein Mord die Gemeinde von Pfarrer Daniel Clement in Aufruhr versetzte. Er selbst konnte den Fall aufklären, nun hofft er auf ruhigere Zeiten im beschaulichen Champton. Doch da naht bereits die nächste Krise in Gestalt eines Geistlichen, der im Nachbarort seinen Dienst antritt. Er teilt sich die Betreuung seiner Schäfchen mit Daniel, doch die beiden könnten nicht unterschiedlicher sein. Der milde, verständnisvolle Daniel trifft in Chris Biddle auf einen strengen Verfechter von Ordnung und Regeln – nicht immer zur Freude von dessen Frau und beiden Kindern. Dann geraten ausgerechnet die Biddles in den Mittelpunkt eines schrecklichen Verbrechens: Ihr Sohn wird tot aufgefunden, offenbar wurde er das Opfer eines Ritualmords. Und Daniel muss den Täter finden, bevor das Böse Kreise zieht …
Reverend Richard Coles studierte Theologie am King’s College London und hat bereits mehrere Sachbücher verfasst, bevor er sich mit Der Tote in der Dorfkirche dem Krimigenre zuwandte. Mit Der Priester und das schwarze Schaf liegt nun der zweite Fall für Pfarrer Daniel Clement vor. Der Autor selbst war lange Jahre Gemeindepfarrer von St Mary the Virgin in Finedon in der Grafschaft Northamptonshire. Und er ist der einzige Pfarrer in Großbritannien, der einen Nr.-1-Hit vorweisen kann – als Mitglied des Popduos The Communards – und der in Strictly Come Dancing auftrat.
Mehr zu Reverend Richard Coles unter www.richardcoles.com
Von Richard Coles bei Goldmann lieferbar:
Der Tote in der Dorfkirche. Ein Fall für Daniel Clement
Der Priester und das schwarze Schaf. Ein Fall für Daniel Clement
Richard Coles
Ein Fall für Pfarrer Daniel Clement
Aus dem Englischen von Sibylle Schmidt
Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »A Death in the Parish. A Canon Clement Mystery« bei Weidenfeld & Nicolson, an imprint of The Orion Publishing Group Ltd, London. An Hachette UK Company
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Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2024
Copyright © der Originalausgabe
2023 by Richard Coles
All Rights reserved.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Covergestaltung: UNO Werbeagentur GmbH, München
Covermotiv: iStockphoto / johnwoodcock; © FinePic®, München
Redaktion: Johanna Schwering
AB · Herstellung: ik
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-31642-6V001
www.goldmann-verlag.de
Für Martin
Ihr Kinder, seid gehorsam euren Eltern in dem Herrn; denn das ist recht. »Ehre deinen Vater und deine Mutter«, das ist das erste Gebot, das eine Verheißung hat: »auf dass dir’s wohl gehe und du lange lebest auf Erden«.
Epheser 6; 1 – 3
Audrey Clement verzog keine Miene, als ein halbes Brötchen mit Karacho über den Esstisch gefeuert wurde und sie nur knapp verfehlte.
In der folgenden Stille studierte Audrey eingehend das schnörkelige Monogramm der Adelsfamilie de Floures auf ihrem Teller – »de F«, von Blumen umrankt – und zog dann betont langsam eine Augenbraue hoch. Ob sich diese Reaktion auf die kunstvollen Buchstaben oder die Störung der Unterhaltung bezog, blieb ungewiss.
Das sonntägliche Mittagsmahl in Champton House verlief ganz und gar nicht so, wie es sich wohl alle Anwesenden erhofft hatten. Lord de Floures am Kopfende des Esstischs blickte jetzt stirnrunzelnd auf, die mit Wildbret beladene Gabel verharrte auf halbem Wege zum Mund des Gastgebers.
Währenddessen schlitterte das Brötchengeschoss übers Parkett wie eine Ente, die ungeschickt auf einem zugefrorenen See landet, und auf beiden Seiten des Tischs war mühsam unterdrücktes Kichern zu vernehmen.
»Joshua, bitte. Lydia, stachle ihn nicht auch noch auf«, sagte Sally Biddle zu ihren Kindern, was den Lachreiz der beiden Jugendlichen nur noch verstärkte. Sally sah hilfesuchend ihren Mann Chris an.
»Man kann die beiden wirklich nirgendwohin mitnehmen«, sagte der daraufhin lächelnd und erhob sich, um das Brötchen aufzuheben. Jetzt konnte Audrey ihre Entrüstung nicht mehr verbergen. Chris Biddle war groß und schlaksig wie ein Marathonläufer, die blonden Locken reichten ihm fast bis zu den knochigen Schultern. Sein Alter ließ sich kaum schätzen, angesichts von Kleidung und Auftreten hätte man ihn für einen Grundschullehrer in einem Londoner Trendviertel halten können.
»Lassen Sie das liegen«, sagte Lord de Floures barsch. »Wenn die Haushälterin es nicht entfernt, erledigen das die Mäuse.«
»Na, Sie haben es gut!«, bemerkte Chris und blickte in die Runde, als erwarte er beifällige Blicke oder zumindest ein nachsichtiges Lächeln. »Eine Haushälterin!«
Der Lord blinzelte lediglich und widmete sich wieder dem Wildbret, dessen Säfte nun auf die Regimentskrawatte des Hausherrn tropften, ein reichlich betagtes und etwas ausgefranstes Exemplar.
Daniel Clement, Gemeindepfarrer von Champton, Audreys Sohn und Bewohner des malerischen Pfarrhauses im Queen-Anne-Stil am Rande des Parks, hüstelte dezent und bemühte sich um einen Themenwechsel.
»Das Wild ist ganz vorzüglich, lieber Bernard.«
»Aber ein wenig zäh, finden Sie nicht?«, erwiderte der Lord. »Weiß nicht, ob das an der Köchin oder am Wildhüter liegt.«
»Ich erinnere mich lebhaft«, meldete Audrey sich jetzt zu Wort, »wie ich einmal mit deinem Vater, Daniel, sonntags in einem Restaurant speiste … in Norfolk, glaube ich, ja genau, in Brancaster … Es war spärlich besucht und recht still dort, bis plötzlich eine Dame zu würgen anfing. Die wenigen Gäste erstarrten entsetzt, aber ich sprang auf, umfasste von hinten die rundliche Taille der Dame und drückte und presste, bis das Stück Rindfleisch aus ihrem Mund flog und an die Wand gegenüber prallte wie ein Squashball. Dieses Fleisch war zäh. Dagegen ist das Wild hier butterzart.« Sie wandte sich zu Joshua Biddle, dem Brötchenwerfer. »Unter ballistischen Gesichtspunkten hättest du an diesem Rindfleisch gewiss deine helle Freude gehabt, junger Mann.«
Joshua wusste offenbar nicht, was er mit dieser Bemerkung anfangen sollte, und starrte Audrey verständnislos an.
Dann sagte seine Schwester: »Tut mir leid, aber ich muss ständig an Bambi denken«, und schob ihren Teller von sich.
»Wir sind eigentlich Vegetarier«, ergänzte ihr Bruder.
Bernard runzelte erneut missbilligend die Stirn, zuckte dann mit den Schultern und aß schweigend weiter.
Daniel wechselte einen Blick mit seiner Mutter. Das lief alles überhaupt nicht wünschenswert. Der neue Pfarrer, mit dem Daniel gezwungenermaßen auskommen musste, seit der Bischof die Pfarrgemeinden von Lower und Upper Badsaddle mit Champton St Mary’s zusammengelegt hatte, hatte den Sonntagsmahltest nicht bestanden. Seine Kinder benahmen sich schlecht, das Fleisch des Hausherrn wurde verschmäht, seine Willkommenseinladung nicht gewürdigt.
An den Wänden des Rudnam Room, in dem kleinere Mahlzeiten in Champton House serviert wurden, hingen etliche Gemälde von prächtigen Shorthorn-Rindern, die mit echten Tieren so wenig Ähnlichkeit hatten wie die geschönten Apostel von Künstlern des Manierismus mit lebendigen Menschen. Die Rinder waren derartig übertrieben muskulös und wuchtig dargestellt, dass sie im Park, mit dem Herrenhaus im Hintergrund, wie der legendäre Minotaurus wirkten.
»Gibt es das Rotwild hier auf dem Anwesen … schon lange?«, fragte Sally Biddle jetzt unvermittelt.
»Lange?« Bernard überlegte. »Der Wildpark existiert seit Jahrhunderten, wahrscheinlich schon, seit sich meine normannischen Vorfahren hier niedergelassen hatten. Aber der Bestand, den Sie jetzt hier sehen«, er wies mit der gerade nicht beladenen Gabel Richtung Fenster, »stammt von Tieren ab, die der Duke of Bedford meinem Urgroßvater geschenkt hat. Ich glaube, wir bekamen je ein Paar Sikahirsche, Muntjaks und Davidhirsche, nachdem wir der Familie einige unserer Mädchen überlassen hatten.«
»Hirschkühe, meinen Sie?«
»Nein, Töchter. Für deren Söhne zum Heiraten.«
»Dann geht es hier hauptsächlich um Erhaltung des Stammbaums?«, bemerkte Chris Biddle in einem Tonfall, in dem Audrey unterschwellige Kritik witterte.
»Ja, in gewisser Weise schon«, antwortete Bernard. »Darauf wird großen Wert gelegt. Damit man weiß, was man kriegt.«
Ein unbehagliches Schweigen trat ein.
»Klingt in meinen Ohren etwas feudalistisch«, bemerkte Chris dann.
»Das ist zutreffend«, erwiderte der Lord.
Audrey hielt einen weiteren Themawechsel für angebracht. »Mrs Biddle … oder soll ich Sie …«
»Sally, bitte.«
»… oder soll ich Sie Frau Pfarrerin nennen?«
»Ich bin Diakon.«
»Diakonin?«
»Es heißt ›Diakon‹, Audrey«, antwortete Sally Biddle. »Und ich bin nicht offiziell bestellt wie Chris, sondern ehrenamtlich tätig.«
»Also dann fast zwei zum Preis von einem?«, warf Bernard ein, dessen Interesse durch etwaige wirtschaftliche Vorteile geweckt worden war.
»Ich helfe natürlich immer gerne aus«, antwortete Sally, »aber da ich keine Pfarrerin bin, kann ich nur bestimmte Aufgaben übernehmen.«
»Bis jetzt«, sagte Audrey. »Glauben Sie nicht, dass sich das ändern kann?«
»Schon möglich …« Sally schien unwohl zumute bei diesem Gespräch, und Daniel fragte sich, ob es vielleicht an ein heikles Thema zwischen den Eheleuten rührte.
Audrey sinnierte laut: »Ich finde es eben nur absonderlich, dass Frauen noch immer nicht Pfarrerin werden können, obwohl wir inzwischen sogar einen weiblichen Premierminister haben.«
»Priesterinnen, Mum«, korrigierte Daniel. »Frauen können – noch nicht – zur Priesterin ordiniert werden.«
»Auf mich wirken Sie aber wie ein Pfarrer, Mrs Biddles«, sagte Bernard entschieden. »Mehr als einige Männer heutzutage.«
Sally – offenbar besonders bemüht, für das Essen in Champton House passend gekleidet zu sein – trug ein Laura-Ashley-Kleid.
»Thatcher ist doch ein Mann«, meldete sich jetzt Lydia Biddle zu Wort. »Ein Mann in Frauenkleidung.«
Audrey verzog das Gesicht. »Das würde ich so nicht sehen, meine Liebe. Ich gebe zu, dass sie manchmal wie ein Damendarsteller wirkt, aber sie hat es ganz nach oben geschafft – als Frau in einer Männerwelt.«
»Sie ist bestimmt keine Feministin«, entgegnete Lydia.
»Pfarrerinnen«, murmelte Bernard. »Wird gewiss nicht mehr lange dauern. Bald stehen Sie bestimmt auch am Altar, Mrs Biddle, wedeln mit den Händen und veranstalten diesen ganzen Hokuspokus …«
»Ich bin gerne Diakon«, betonte Sally. »Es ist ein wichtiges und wertvolles Amt, finde ich.«
Audrey zog erneut eine Augenbraue hoch. »Aber Sie können keine leitenden Aufgaben in der Gemeinde übernehmen, nicht wahr?«
»Wie war das denn bei Ihnen, Audrey?«, warf Chris ein. »Waren Sie berufstätig?«
»Ach, ich hatte eine kleine Tätigkeit, bevor ich Daniels Vater kennengelernt habe.«
»Und in welchem Bereich?«, erkundigte sich Chris.
»Ich war Krankenschwester. Im berühmten St Thomas Hospital in London. Während der Luftangriffe.« Audrey lächelte erhaben.
Jetzt betrat Mrs Shorely, die Haushälterin von Champton, den Raum. Sie war Mitte sechzig, schmal und zierlich, und regierte den Haushalt mit eiserner Hand. »Sind Sie fertig, Mylord?«, fragte sie in ihrem üblichen Tonfall (ausdruckslos, aber mit leicht gereiztem Unterton) und begann, den Tisch abzuräumen, ohne die Antwort abzuwarten. Als sie das Brötchen auf dem Parkettboden liegen sah, schnalzte sie verärgert mit der Zunge und marschierte darauf zu, woraufhin Joshua und Lydia erneut in Gekicher ausbrachen.
Der Rudnam Room, benannt nach dem Anwesen der de Floures in Norfolk, war zwar bei weitem nicht der größte und prächtigste Raum im Haus, aber immer noch groß genug für ein Echo. Jedes Geräusch verdoppelte sich mit kurzer Verzögerung – ein Lachen holte sich selbst ein, eine Gabel, die zu Boden fiel, klirrte zweimal, und eine Bemerkung wirkte doppelt bedeutsam. Daniel fragte sich manchmal, ob die politischen Salons des 18. Jahrhunderts wohl nicht nur aufgrund ihrer gelehrten Teilnehmer so viele kluge Gedanken und Aphorismen hervorgebracht hatten, sondern auch wegen der Akustik der Räume, in denen sie abgehalten wurden. Wer an solche Umstände gewöhnt ist, passt seine Äußerungen entsprechend an – und wer nicht damit umgehen kann, wird häufig von unerwarteten Momenten plötzlicher Stille auf dem falschen Fuß erwischt.
Das Kichern der zwei Jugendlichen hing noch in der Stille wie eine Rauchwolke, während Mrs Shorely sich bückte und das Geschoss aufhob.
»Soll ich das Dessert jetzt gleich servieren, Mylord, oder möchten Sie noch warten?«, fragte sie dann.
»Gerne gleich, Mrs Shorely, danke. Den Kaffee dann in der Bibliothek.«
»Sehr wohl, Mylord.«
Mrs Shorely entfernte sich, jedoch nicht, ohne vorher den Biddle-Kindern einen gnadenlos strafenden Blick zuzuwerfen.
»Haben Sie sich schon eingewöhnt, Mrs Biddle?«, fragte Bernard. »Entspricht das Pfarrhaus Ihren Wünschen?«
»Oh, es ist viel zu groß für uns. Weiß der Himmel, wie wir es in Schuss halten sollen. Oder beheizen!«
Diese Äußerung fand Daniel bestürzend, denn das Pfarrhaus von Lower Badsaddle war eines der ansehnlichsten der gesamten Diözese Stowe, ein georgianisches Gebäude von schlichter Schönheit, 1730 von einem berühmten Architekten erbaut.
»Ist es nicht in gutem Zustand?«, erkundigte er sich.
»Ein wenig vernachlässigt, würde ich sagen«, antwortete Chris. »Die Fenster müssten erneuert werden, aber ich bezweifle, dass die Diözese uns Doppelfenster einbaut.«
»Das ist gar nicht möglich«, schaltete Audrey sich ein, »das Haus steht unter Denkmalschutz. Aber ich kann Ihren Wunsch nachempfinden, bei uns im Wohnzimmer zieht es auch fürchterlich, wenn der Wind von den Fens herüberpfeift. Doch wozu gibt es Wollkleidung, nicht wahr …«
Daniel musste an seinen Vorgänger denken, Pfarrer Dolben, der im Ruhestand die Zentralheizung aus seinem Cottage hatte entfernen lassen, weil er sich nach dreißig Jahren im Pfarrhaus von Champton nicht fühlen wollte wie »eine Orchidee in einem Treibhaus«.
»… und außerdem«, fügte Audrey hinzu, »schickt die Gemeinde Ihnen gerne jemanden zum Streichen oder für kleine Reparaturen, wenn es nötig ist.«
»Ach ja?«, sagte Chris. »An wen muss ich mich da wenden?«
»An die Kirchenbehörde, fürchte ich«, warf Bernard rasch ein.
»Oh«, sagte Chris enttäuscht, »aber Sie sind doch der Patron von Champton St Mary’s …«
»Und auch nur von Champton St Mary’s. Sehen Sie, die Badsaddles wurden aufgrund von Sparmaßnahmen der Gemeinde hinzugefügt – um nicht zu sagen ›aufgezwungen‹. Doch natürlich ist der Bischof nicht der Einzige, der Kosten einsparen muss.« Das alles äußerte Bernard, ohne den Blick von seinem Tischset zu heben, auf dem eine schlichte Gravur des Herrenhauses abgebildet war.
Die nahenden Schritte der Haushälterin übertönten das entstandene Schweigen.
»Stellen Sie ihn einfach auf den Tisch, Mrs Shorely«, sagte Bernard, woraufhin der Apfel-Brombeer-Crumble, frisch aus dem Ofen, nebst einem Krug Vanillesoße vor dem Hausherrn platziert wurde. Als er die Portionen verteilte, erklärte er: »Unsere eigenen Äpfel übrigens.«
Während Audrey die Schalen weiterreichte, nahm Daniel auf Bernards Bitte hin die Flasche Sauternes Premier Cru von der Anrichte und schenkte seiner Mutter ein.
»Mrs Biddle?«, fragte er.
»Nein, danke, wir trinken keinen Wein.«
Bernard zog eine Augenbraue hoch.
»Sie schonen Ihre Leber?«, fragte Audrey.
»Ich mag den Geschmack von Alkohol nicht«, erklärte Chris. »Das war schon immer so.«
Bernard schwenkte die goldgelbe Flüssigkeit in seinem Glas und betrachtete sie wohlgefällig. »Ich dagegen könnte ohne Wein nicht leben, glaube ich.« Er trank genüsslich einen Schluck und lehnte sich zurück.
»Ah, da ist ja Honoria!«, rief Audrey munter und zeigte aus dem Fenster.
Die Tochter des Hauses, Honoria de Floures, machte einen Ausritt im Park.
»Sieht sie nicht wunderbar aus!«, fügte Audrey hinzu. »Ich könnte nie so lässig im Sattel sitzen. Und dann dieses Auf und Ab, wie bei einem Jo-Jo – niemals …«
»Ja, bei Honoria wirkt alles mühelos«, pflichtete Daniel seiner Mutter bewundernd bei, und sie fragte sich, ob er gleich schwärmerisch seufzen würde wie ein Verehrer.
»Honoria wird ja immer mehr zur Landfrau«, bemerkte Audrey. »War sie nicht letzte Woche erst hier?«
»Sie kommt im Moment recht häufig her«, antwortete Bernard. »Wenn sie nicht arbeitet. Meine Tochter«, fügte er dann, an die Biddles gewandt, hinzu. »Sie lebt in London. Hat dort eine Stelle.«
»Was macht sie denn?«, erkundigte sich Sally.
Bernard überlegte einen Moment und antwortete dann: »Ich weiß es nicht genau. Es hat irgendetwas mit einem Hotel zu tun.«
»Sie organisiert Veranstaltungen«, erklärte Audrey. »So etwas wie große Hochzeiten oder Geschäftsessen … Und deshalb ist Daniel auch hier.«
»Wieso?«, fragte Chris.
»Ich war Pfarrer von St Martin’s in London, bevor ich hierherkam«, antwortete Daniel, »und Honoria arbeitet im Motcombe Hotel nebenan. Wir haben oft gemeinsam die eigentümlichen Wünsche der Brautpaare von Belgravia erörtern müssen.«
»Was für Wünsche zum Beispiel?«, erkundigte sich Chris sichtlich interessiert.
»Ach, es ging immer um den Empfang. Die Kirche sollte lediglich als malerisches Element dienen, wie die Blumengestecke und die Kanapees. Wenn wir dann auf den notwendigen rechtlichen oder klerikalen Ablauf verwiesen, erlebten wir häufig starkes Befremden.«
»Ein großer Sprengel kann das ja nicht gewesen sein …«
»Winzig, kaum größer als eine Briefmarke.«
»Aber weshalb gab es dann so viele Hochzeiten dort?«
»Schöne Kirche, das Edelviertel Belgravia, die Nähe zu Luxushotels.«
»Aber wieso konnten sich so viele Paare dort zum Heiraten registrieren?«, bohrte Chris weiter.
Laut Gesetz durften Brautpaare – bis auf seltene Ausnahmen – nur in der Kirche des Viertels heiraten, in dem sie auch lebten.
»Wir haben bei den Qualifizierungskriterien einen … freidenkerischen Ansatz verfolgt.« Als ein abwartendes Schweigen eintrat, spürte Daniel, wie seine Wangen sich röteten. »Das hatten meine Vorgänger so etabliert.«
»Aha«, bemerkte Chris.
»Ja«, ergänzte Audrey, »die Hälfte der Paare gab die Adresse des Pfarrhauses als Wohnort an. Da muss es zugegangen sein wie in einer Sardinenbüchse.«
»Etwas komplexer war es schon, Mum«, sagte Daniel. »Die Paare stammten oft aus Familien, die Häuser innerhalb des Sprengels hatten – oder früher gehabt hatten –, es gab also immer eine Verbindung …«
»Ich meine mich aber zu erinnern, dass du gesagt hast, die einzige Verbindung seien ihre Überweisungen an St Martin’s. Ein schwunghafter Handel also!«
Daniel warf einen raschen Blick auf Chris, der schwieg, sich aber eine Bemerkung zu verkneifen schien.
Statt seiner meldete sich Lydia zu Wort. »Typisch Church of England – Regeln umgehen für die Reichen und Privilegierten.«
»Dabei ging es um Hochzeiten, nicht um die Unterdrückung der Armen«, konterte Audrey. »Würdest du dir für einen solchen Anlass nicht auch etwas Flexibilität wünschen?«
»Es handelt sich aber um Gesetze«, wandte Chris ein, »und ein solches Vorgehen ist ein Verstoß dagegen.«
Erneut entstand ein unbehagliches Schweigen, bis Daniel sagte: »Wir haben uns nur an die Umstände angepasst. Wie Missionspriester, nur in Belgravia statt in Afrika.«
»Wollen Sie etwa Belgravia mit Äthiopien gleichsetzen?«, warf Joshua entrüstet ein.
»Nein, natürlich nicht. Aber ich war nun einmal in Belgravia und nicht in Äthiopien.«
Jetzt verkündete Audrey vergnügt: »Nun, der Herr Jesus sagte doch, weidet meine Schafe. Und diese Herde hier könnte jetzt gut einen Kaffee gebrauchen. In der Bibliothek, nicht wahr?«
Bernard erhob sich und führte seine Gäste vom reich gedeckten Tisch zur Eingangshalle, wo die Biddles stehen blieben und sich staunend umsahen, sichtlich eingeschüchtert angesichts der Größe und Pracht.
Die Familie Biddle hatte das Pfarrhaus in Lower Badsaddle vor kaum zwei Wochen bezogen. Sie war an Michaeli Ende September eingetroffen, in einer Phase der Übergänge, einer Zeit des Jahres, in der Sommer zu Herbst wird, die Blätter sich rot und gelb färben und morgens schon eine Vorahnung von Winter in der Luft liegt. Die Brombeeren sind reif, Kastanien fallen von den Bäumen, das neue Schuljahr beginnt, die Menschen kehren aus den Ferien zurück. Im Kirchenkalender markiert dieser Tag den Kampf des Erzengels Michael mit dem Teufel, ein episches Gefecht, in dem die himmlischen Heerscharen Satan besiegen und ihn mit dem feurigen Schwert der Wahrheit und Gerechtigkeit in die Hölle verbannen.
Audrey Clement liebte diese Zeit des Jahres am meisten. Sie erinnerte sich lebhaft daran, wie entzückt sie als Mädchen jedes Jahr von ihrem neuen Federmäppchen und den neuen Schuhen gewesen war, wenn sie mit ihrem Koffer in Grantham auf den Zug wartete, der sie wieder ins Internat in Schottland bringen würde. Die Mutter hatte ihr als Proviant Sandwiches, Kuchen und – offenbar war ihr nie aufgefallen, dass das für Zwölfjährige eher unüblich war – eine kleine Flasche Sherry eingepackt. Wie ihre Klassenkameradinnen warf Audrey dann einen Penny aus dem Fenster, wenn der Zug über die große Brücke am Firth of Forth fuhr. Dieser abergläubische Brauch gehörte sich natürlich nicht für Schülerinnen eines presbyterianischen Internats in den Zwanzigerjahren, aber sie wollten nun einmal unbedingt den Göttern ein Opfer bringen, um sie gewogen zu stimmen und sich ihre Unterstützung für die Tücken und Mühen des kommenden Schuljahrs zu sichern.
Auch das Thema des Kampfes mit den Mächten der Dunkelheit mochte Audrey sehr, und damit war sie in Gedanken beschäftigt, während sie mit ihrem Sohn nach dem reichlich missglückten Mittagsmahl in Champton House durch den Park zum Pfarrhaus zurückspazierte. Es war ein strahlender Tag, und die vom Wind gezausten Blätter leuchteten rot und golden an den Bäumen. Eine kühle Frische lag in der Luft, und die Schatten wurden schon länger.
»Na, dieser Chris Biddle ist ja spaßig«, sagte Audrey nach einer Weile. »Und was für eine Frechheit, dich zu rüffeln, weil du Menschen verheiratet hast!«
»Na ja, er hat nicht ganz Unrecht, Mum. Es war durchaus ein bisschen ungehörig von mir.«
»Ungehörig? Pah!«
»Mit solchem Benehmen kommt diese Art Mensch nicht gut zurecht«, gab Daniel zu bedenken.
»Welche Art Mensch?«, fragte Audrey.
»Evangelikale.«
»Aber wir sind doch alle keine Heiligen, Daniel«, wandte seine Mutter ein. »Benehmen wir uns nicht alle mal ungehörig? Gibt es nicht genau aus diesem Grund deinen Berufsstand? Damit wir lernen, brav zu sein?«
»Doch, durchaus. Aber meine Ziele sind andere«, antwortete Daniel. »Ich glaube, dass wir Menschen konstant in Entwicklung sind und vom alten Adam in uns zu ebenso alten Verhaltensweisen verführt werden. Sünde, Selbstsucht und so weiter.« Er atmete tief durch und fuhr fort in dem schwermütigen Tonfall, den er für andere Glaubensrichtungen reserviert hatte. »Chris dagegen würde wohl stark unterscheiden zwischen einer Person vor und nach der Begegnung mit dem lebenden Jesus. Das sind Wiedergeborene, weißt du.«
»Ich habe noch nie verstanden, was das zu bedeuten hat.«
»Die erste Geburt erfolgt aufgrund des Ungehorsams von Adam und Eva ins sündige Leben, die zweite Geburt ins Leben von Jesus Christus, und die gilt dann für immer. Nicht nur in diesem Leben, sondern bis in alle Ewigkeit.«
»Aber glaubst du das denn nicht auch?«, wollte Audrey wissen.
»Ich glaube, dass wir permanent auf der Suche sind und unser Leben ein großer Tanz ist, bis wir schließlich im Himmel Walzer tanzen – und das weit über unser irdisches Dasein hinaus. Wir beten für die Verstorbenen, um ihnen den Weg in den Himmel zu erleichtern. Das würde Chris garantiert als ungeheuerlich ungehörig betrachten.«
»Aber wieso denn? Was kann man dagegen einzuwenden haben?«
»Dass der Tod Gottes Angelegenheit ist und der Mensch sich dabei nicht einzumischen hat«, erklärte Daniel. »Wenn du stirbst, bist du erledigt. Und wenn du nicht ›den Herrn Jesus in deinem Herzen empfangen hast‹, bist du verdammt bis in alle Ewigkeit und landest in der Hölle.«
»Ach, du liebe Zeit, wie kleinlich!«, bemerkte Audrey. »Er hat gar nicht so einen strengen Eindruck auf mich gemacht.«
»Es kommt nicht selten vor, dass lässig wirkende Personen extrem engstirnige Meinungen vertreten«, erwiderte Daniel.
Sie näherten sich dem Pfarrhaus. Es befand sich an der östlichen Seite der Kirche St Mary’s, die ursprünglich normannisch gewesen und 350 Jahre später im Perpendikular-Stil umgebaut worden war. Das Pfarrhaus war dann während der Regierungszeit von Queen Anne entstanden, ein prächtiges Exemplar des damaligen Baustils, errichtet für den dritten Sohn des damaligen Kirchenpatrons de Floures, nachdem eine Erbkrankheit und der Krieg den ersten und den zweiten Sohn dahingerafft hatten. Daniel und seine Mutter fühlten sich manchmal bemüßigt, ihr Leben entsprechend den Traditionen der damaligen Zeit zu gestalten, was aber in den wirtschaftlich eingeschränkten Zeiten kaum gelang, da es schon Herausforderung genug war, im Winter in dem historischen Haus nicht zu erfrieren. Über ihnen bemerkte Daniel jetzt eine bedrohlich düstere Wolke, die vom Wind über den Himmel gejagt wurde.
»Wofür waren die eigentlich angezogen?«, fragte seine Mutter unvermittelt.
»Die Kinder der Biddles?«
»Ja. Die sahen doch aus, als seien sie einen Monat zu früh dran für Halloween.«
»Ich glaube, das sind Goths«, sagte Daniel.
»Bitte was?«
»Goths. Das ist eine Art … Subkultur. Stammt aus dem Punk, soweit ich weiß, aber die Anhänger sind aufgemacht wie Vampire. Das ist als Kritik an … na ja, der Gesellschaft gemeint.«
»Die sehen beide unterernährt aus«, konstatierte Audrey. »Was kein Wunder ist, wenn sie kein Fleisch essen und Lebensmittel durch die Gegend schmeißen.«
»Das war ein starkes Stück, wie?«
»Allerdings. Bernard ist ja förmlich zur Salzsäule erstarrt, als das Brötchen durch die Luft flog. Was für entsetzliche Manieren!«, entrüstete sich Audrey. »Und die Eltern? Nicht ein mahnendes Wort! Hättest du so etwas früher gemacht, hätte ich dir aber heimgeleuchtet!«
»Das hätte ich nie gewagt«, sagte Daniel. Wie viele Menschen, die zu starker Angepasstheit neigen, empfand er manchmal einen Anflug von heimlicher Bewunderung für rebellisches Verhalten. »Ich vermute, das ist der laxe Erziehungsstil der Eltern – der eben vielleicht auch garkeine Erziehung ist. Ist dir aufgefallen, dass der Vater ein Armband trägt?« Daniel hatte den Perlenschmuck an Chris’ Handgelenk möglichst unauffällig beäugt. »Da waren Buchstaben drauf – nicht sein Name, sondern WWJT, glaube ich. Könnte heißen: Was würde Jesus tun, oder nicht?«
»Na, er würde jedenfalls bestimmt nicht tun, was die glauben«, erwiderte Audrey im Brustton der Überzeugung.
»Das wissen wir alle nicht«, murmelte Daniel, der Erwägungen, was Jesus wohl von den Irrungen und Wirrungen des menschlichen Geistes, geschweige denn des menschlichen Herzens hielt, nahezu aufgegeben hatte.
»Er wirkt so gar nicht … pfarrerlich«, bemerkte Audrey. »So ganz anders als du.«
»Er muss auch nicht so sein wie ich, Mum. Viele Wege führen zum Ziel. Bestimmt ist er ein guter Seelsorger und …«
»Mit Perlenarmband und Ringelpiez beim Abendmahl? In den Badsaddles?«, wandte Audrey ein. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Mrs Hawkins ihn ins Herz schließt, du vielleicht?«
»Nicht unbedingt«, räumte Daniel ein, »aber es geht ja um die gesamte Gemeinde. Er wird mit seiner Art Zugang zu Menschen finden, die ich nicht erreichen kann. Und er hat Kinder.«
»Aber was für welche«, erwiderte Audrey. »Die müssen erst mal gefüttert und zur Vernunft gebracht werden. Möhren und Strenge. Werden sie bei der Mutter beides nicht bekommen.«
»Ich mochte sie eigentlich«, sagte Daniel. »Sie ist doch recht entschieden aufgetreten.«
»Aber ist dir aufgefallen, dass sie sich auf die Lippe gebissen hat, als die Rede auf Frauen im Pfarramt kam?«, widersprach seine Mutter.
»Wahrscheinlich wollte sie Bernard nicht verärgern«, mutmaßte Daniel.
»Glaubst du wirklich?«
»Stell dir doch nur vor, wie schwierig das für sie ist … neu in der Gemeinde, alles hier ist fremd …«
»Aber was hatten die denn erwartet?«, erwiderte Audrey. »Eine Hippie-Kommune? Jesus Christ Superstar, oder was?«
Ein heftiger Windstoß fuhr in die Bäume, und ein gewaltiges Rauschen erhob sich wie eine düstere Vorahnung, während Audrey den Titelsong aus dem Musical schmetterte.
Indessen fuhren die Biddles in ihrem quietschenden, ratternden Wohnmobil zurück nach Lower Badsaddle. Die bunte Bemalung des Gefährts, vor einer Weile anlässlich eines christlichen Musikfestivals angefertigt, suggerierte eine Fröhlichkeit, von der im Inneren des Wagens nicht das Geringste zu spüren war.
Sohn und Tochter saßen auf der Rückbank und starrten schweigend links und rechts aus dem Fenster. Sally auf dem Beifahrersitz blickte wortlos durch die Windschutzscheibe. Seit sie etwas überstürzt bei Lord de Floures aufgebrochen waren – weil er plötzlich verkündet hatte: »Ich muss Sie jetzt leider verlassen, schön, dass Sie kommen konnten. Der Herr Pfarrer geleitet Sie hinaus« –, hatte keiner aus der Familie ein Wort gesprochen.
Jetzt brach Chris das Schweigen. »Das war eine interessante Erfahrung.«
»Interessant?«, wiederholte Sally. »Es war unerträglich!«
»Was hätten wir denn tun sollen?«, wandte ihr Mann ein. »Eine christliche Vorzeigefamilie mimen?«
»Auf jeden Fall verhindern, dass die Kinder ein Brötchen über den Esstisch des Adligen feuern, der zufällig der Kirchenpatron ist, dem du dein Einkommen verdankst.«
»Er ist gar nicht unser Patron, das hat er doch deutlich gesagt.«
»Aber wir sind trotzdem finanziell von ihm abhängig«, erwiderte Sally.
»Der ist doch nur ein Nachbar …«, meldete sich Lydia von hinten zu Wort.
»Es spielt keine Rolle, wer er ist – ihr habt euch zu benehmen, wenn wir bei anderen Leuten zu Gast sind, verflixt noch mal!«, sagte Sally verärgert.
»Ich werde nicht das brave christliche Mädchen spielen, das ihr euch wünscht«, lautete die Erwiderung. »Ich hab mir das alles nicht ausgesucht.«
»Augenblick mal, Lydia, du bist sechzehn Jahre alt«, sagte Chris, »genau wie dein Zwillingsbruder, und ihr werdet beide tun, was man euch sagt …«
»Jaja, und christliche Kinder sollen so gehorsam und gütig und mildtätig sein wie Er selbst«, zitierte Joshua spöttisch den Text eines Weihnachtslieds.
Woraufhin Chris abrupt auf die Bremse trat und sein Sohn verstummte.
»Es reicht jetzt! Oder es gibt richtig Ärger!«, sagte Chris scharf.
Sally fügte hinzu: »Wenn wir zu Hause sind, schreibt ihr beide an Lord de Floures, dass es euch leidtut.«
»Es tut mir aber nicht leid«, sagte Joshua.
»Dann bemüh dich darum.«
»Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten«, versetzte Joshua.
Chris drehte sich um und starrte seinen Sohn aufgebracht an. »Wie wär’s stattdessen mal mit dem zweiten Buch Mose, Kapitel zwanzig, Vers zwölf? Dem vierten Gebot? Du sollst Vater und Mutter ehren?«
Er startete den Motor wieder, und der Wagen setzte sich schwerfällig und keuchend in Bewegung. Während der restlichen Fahrt wurde kein weiteres Wort gewechselt.
In einer der typischen Launen dieser Jahreszeit begann der nächste Tag in jeder Hinsicht sommerlich. Es war nicht nur sonnig, sondern auch warm und windstill, und Audreys Lieblingsrose erblühte in voller Pracht, zum dritten Mal in diesem Jahr. Die Sorte hieß »Sexy Rexy«, was Audrey so anzüglich zu betonen pflegte, dass Daniel selbst rosa anlief. Er bevorzugte für den Pfarrgarten weiße oder zartgelbe Rosen, die nach Figuren aus den Canterbury-Erzählungen oder Enkelinnen von Queen Victoria benannt waren. Aber dass die prächtige Rose vor dem Frost noch einmal auftrumpfen wollte, fand er verständlich.
Es war kurz nach sieben Uhr morgens, und Daniel stand mit einem Becher Kaffee in dem von einer Mauer umgebenen Garten hinter dem Haus, während seine beiden Dackel, Cosmo und Hilda, ihre Morgeninspektion des Geländes vornahmen. Dachse hatten sich Zutritt verschafft und benutzten den Garten als Schleichweg. Die scheuen nachtaktiven Tiere bekam man normalerweise nicht zu Gesicht, aber wenn Daniel vom Abendgebet zurückkam, begegnete er manchmal einem alten Dachs, der ihn ausgesprochen feindselig anstarrte. Audrey hatte ihn Tyson genannt, nach dem Boxer, und Daniel befürchtete seither, dass sich Cosmo und Hilda – die schließlich Dachshunde waren, ursprünglich zur Jagd im Dachsbau gezüchtet – in einem Kräftemessen mit Tyson zu viel zutrauen könnten.
Beim Gedanken an den bevorstehenden Tag fluchte Daniel zwar nicht, seufzte aber tief. Sein neuer Kollege hatte für acht Uhr ein Frühstückstreffen im Pfarrhaus von Lower Badsaddle anberaumt, um »die religiöse Gemeinschaft zu pflegen, zu beten und zusammen das Brot zu brechen«.
»Warum?«, hatte Daniel zu seiner Mutter gesagt. »Wieso um alles in der Welt ein gutes Frühstück vermasseln, um den Dienstplan zu erörtern?« Aber Chris Biddle war eben voller Eifer – Menschen zu bekehren und tagtäglich Gottes Segen zu erlangen.
Dennoch konnte Daniel die Unterstützung des neuen Kollegen gut gebrauchen und bemühte sich, dessen eifernde Frömmelei durch sein ausgleichendes Gemüt an sich abprallen lassen. Chris Biddle war allerdings in der Tat ein Eiferer, und Daniel fühlte sich in den Unterhaltungen mit ihm nicht selten regelrecht verbal drangsaliert. Er seufzte erneut und rief nach den Hunden, die widerwillig angetrottet kamen. Normalerweise hätte Daniel jetzt in der Kirche die Morgenandacht gesprochen, korrekt gekleidet für seine wenig enthusiastische Gemeinde, bestehend aus Cosmo und Hilda, die das Ritual regelmäßig zu verschlafen pflegten. Heute jedoch war der übliche Ablauf gestört, da Chris auf religiösen Handlungen vor dem Frühstück bestand. Und obwohl Daniel selbstredend bemüht war, ein gottgefälliges Leben zu führen, hielt er doch eine Doppelportion des Te Deum weder für nötig noch für ratsam.
Gefolgt von den Hunden, kehrte er ins Haus zurück. Wie üblich war das schnelle Klackern ihrer Krallen auf dem gefliesten Küchenboden zu hören, bevor die beiden in ihren Korb an dem gusseisernen Herd hechteten.
»Ihr braucht es euch gar nicht erst gemütlich zu machen«, verkündete Daniel, »ihr kommt nämlich mit.« Als er ihre Leinen von dem Haken an der Tür nahm, begann Cosmo aufgeregt zu bellen. Die beiden rannten voraus, offenbar einig in ihrer Begeisterung über diese erfreuliche Überraschung – ein Ausflug zu ungewohnter Zeit.
Der Land Rover, ein widerspenstiges altes Ungeheuer, stand auf der Zufahrt, und Daniel hob die Hunde auf den Beifahrersitz, wo sie sich auf den Seiten des Telegraph niederließen, die Audrey auszubreiten pflegte, bevor sie im Wagen Platz nahm. Daniels Blick fiel auf einen Bericht über Druiden, die in Stonehenge verhaftet worden waren, weil sie dort zur Sommersonnenwende Rituale abgehalten und ausgelassen gefeiert hatten. Um bei Gottesdiensten der Church of England verhaftet zu werden, sinnierte Daniel, mangelte es den Gläubigen wohl eher an der Neigung zu Ausschweifungen. Er stieg ein, steckte den absurd winzigen Schlüssel ins Zündschloss, und der betagte Land Rover erwachte stotternd und ächzend zum Leben.
Man hätte vermuten können, dass neun Jahre Erfahrung im Umgang mit diesem Gefährt, das Bernard ihm in einem Anfall von Großzügigkeit überlassen hatte, Daniels Fahrkünste verbessert hätten, doch dem war leider nicht so. Er fühlte sich beim Fahren nach wie vor wie ein Kind, das neugierig an einer Schrotflinte herumspielt und sich über die Funktionen der diversen Hebel und Schalter nicht im Klaren ist. Und obwohl Daniel sich angestrengt bemühte, die Technik zu meistern, hatte sein Fahrstil sich nicht verbessert; er war tatsächlich eher noch schlimmer geworden, seit sein neuer Freund Neil Vanloo, Detective Sergeant bei der Kriminalpolizei von Braunstonbury, ihm Nachhilfe gegeben hatte.
An einem Sonntag nach dem Gottesdienst hatten sie auf dem stillgelegten Flugplatz nördlich von Champton House geübt, wo Daniel mit seinen Manövern keinen Schaden anrichten konnte. Geduldig hatte Neil ihm zunächst erklärt, wie die Pedale, Knöpfe und Hebel mit Gängen, Kolben und Bremsen verbunden waren, in der Hoffnung, dass Verständnis der Funktionsweise bei der Bedienung hilfreich sein könnte. Doch diese Erkenntnisse hatten Daniel eher noch mehr verunsichert, und seine Bemühungen führten zu bizarren Zickzackkurven, die nicht nur lächerlich wirkten, sondern im Straßenverkehr auch gefährlich waren. So übernahm Neil schließlich das Fahren bei ihren gemeinsamen Ausflügen zu all den malerischen Kirchen und Landsitzen, die Daniel seinem neuen Freund zeigen wollte, und auch zu den Rugby-Spielen, zu denen Neil Daniel einlud. Die Mysterien dieser Sportart begannen Daniel zusehends zu faszinieren.
Obwohl der Morgen eine sommerliche Note hatte, war doch der nahende Herbst schon spürbar, den Daniel seit jeher ebenso schätzte wie seine Mutter. Was hatte er früher die Rückkehr zur Schule geliebt, ausgestattet mit einem neuen Federmäppchen, das angespitzte Bleistifte, Füller und Tintenpatronen enthielt.
Er schwelgte eine Weile in seinen Erinnerungen, doch als das Pfarrhaus von Lower Badsaddle näher kam, überfiel ihn eine gewisse Beklommenheit. Die Hecke vor dem Haus wirkte verwahrlost, der Rasen war nicht gemäht, und das Wohnmobil mit der bunten Bemalung wirkte in diesem Ambiente noch verfehlter als der Land Rover vor dem Pfarrhaus in Champton.
Daniel ließ die Hunde aus dem Wagen, und sie verschwanden sofort tobend im hohen Gras, wobei sie mit fliegenden Ohren immer wieder hochhopsten, um sich zu orientieren.
Inzwischen erschien Chris Biddle in der Haustür und winkte Daniel zu.
»Kommen Sie herein!«, rief er. »Wunderschöner Morgen, nicht wahr?« Dabei hob er theatralisch die Arme, was Daniel unwillkürlich an die verhafteten Druiden in Stonehenge erinnerte.
Bei seiner Kleidung hatte er an diesem Morgen besonders auf Lässigkeit geachtet, um sich ein wenig dem Stil von Chris anzupassen. Daniel trug das Sportsakko, das seine Mutter ihm seinerzeit für die – letztlich gescheiterte – Aufnahmeprüfung an der University of Oxford gekauft hatte. Es hatte Lederflicken an den Ellbogen, und die ebenfalls mit Leder gesäumten Ärmel waren etwas kurz, weil er später noch einen unerwarteten Wachstumsschub bekommen hatte. Dazu hatte Daniel eine leicht verwaschene schiefergraue Hose mit Aufschlag gewählt, die er als zum Sakko passend empfand, sowie braune Lederschuhe. Er kam sich in dieser Aufmachung ein wenig vor wie ein Student, der sich bemüht, wie ein Schriftsteller zu wirken.
Chris dagegen trug eine erbsengrüne Latzhose. Ein Träger hing herunter und gab den Ausblick frei auf ein knallrotes T-Shirt, das Daniel an den Kleidungsstil von Bernards Künstlersohn Alex de Floures erinnerte. Auf Chris’ T-Shirt stand »100 %«, was Daniel rätselhaft fand – 100 % wovon?
»Daniel. Dan«, sagte Chris jetzt. »Schön, dass Sie da sind. Kommen Sie rein, kommen Sie rein. Sie haben Ihre Hunde mitgebracht?«
»Ja, ist das in Ordnung?«
»Natürlich, nur herein alle miteinander.«
Auf Daniels Ruf pflügten sich Cosmo und Hilda eine Gasse durch das wogende Gras.
»Wie in Kinder des Zorns«, bemerkte Chris.
»Wie bitte?«
»Der Film, kennen Sie ihn nicht? Nach einem Roman von Stephen King über einen Dämon, der in einem Maisfeld wohnt – also dieser hohe amerikanische Mais, wissen Sie? Der Dämon ergreift Macht über die Kinder des Ortes und verlangt Menschenopfer, und jedes Mal, wenn sie jemanden holen, wogt der Mais so wie hier gerade – sehr gruselig!«
Jetzt platzten die Hunde aus dem Gras heraus auf die Schotterzufahrt und schossen, ohne eine Sekunde zu zögern, an den beiden Männern vorbei ins Haus.
»Cosmo! Hilda!«, rief Daniel und entschuldigte sich bei Chris.
»Macht gar nichts, wir mögen Hunde«, erwiderte der.
Sie folgten den Dackeln in den Vorraum, der kleiner, aber gediegener war als in Daniels Haus. Der traditionelle Charakter wurde allerdings beeinträchtigt durch die Tatsache, dass an der Wandtäfelung Fahrräder lehnten und die Kleiderhaken an der Wand so überladen waren, dass man fürchten musste, das Holz könnte bersten. Auf dem schwarz-weiß gekachelten Boden lagen Gummistiefel, Schläger und Bälle verstreut. Neben einer Gitarre lehnte ein Skateboard so wackelig an der Wand, als würde es gleich von alleine losrasen und Passanten zu Fall bringen. Hinter einer Tür ertönte jetzt ein Schrei, und als Nächstes kamen die Dackel herausgepest und legten vor Chris eine Vollbremsung hin. Er bückte sich und streichelte die beiden, bis Cosmo bellend zurückwich und Hilda eine komplette Drehung auf ihrem Rücken vollführte, sich dann hinsetzte und Chris so auffordernd anstarrte, als frage sie sich, was von ihm zu erwarten war.
»Oh, sie können Tricks«, sagte Chris. »Wie pfiffig.«
»So etwas habe ich noch nie bei ihr gesehen«, gestand Daniel verblüfft.
»Na, dann fühle ich mich geehrt. Braves Mädchen … Hilda, sagten Sie?«
»Ja. Weil ich sie an deren Gedenktag bekommen habe, ist sie nach der Heiligen Hilda von Whitby benannt. Und weshalb Cosmo so heißt, können Sie sich ja sicher denken.«
»Wegen Cosmo Smallpiece?«
»Wem?«
»Na, diesem Komiker aus der Fernsehserie. Der immer solche Grimassen schnitt.« Chris kniff das Gesicht zusammen, als habe er gerade in eine Zitrone gebissen.
»Aber nein. Nach Cosmo Gordon Lang«, stellte Daniel klar. »Dem Erzbischof von Canterbury.«
»Ach so.«
»Der möglicherweise die erzwungene Abdankung von Edward III vorangetrieben hat«, ergänzte Daniel, um seinem Gegenüber auf die Sprünge zu helfen.
Sally Biddle, die den Schrei ausgestoßen hatte, streckte jetzt den Kopf durch die Tür.
»Daniel, hallo! Ich dachte mir, dass Sie es sind. Sie haben die Hunde dabei!«
Daniel meinte, eine leichte Ungehaltenheit herauszuhören, und bot deshalb an, die ungeladenen vierbeinigen Gäste im Land Rover einzusperren.
»Nein, nein.« Sally winkte mit mehlbestäubter Hand ab. »Kein Problem, ich war nur ein bisschen überrascht. Sie sind so … stürmisch. Die Katze hat sich auch erschrocken.«
»Mum!«, war jetzt Lydias Stimme von oben zu hören. »Bat ist wieder auf den Baum geklettert!«
»Kommen Sie rein, Daniel«, sagte Sally. »Wir sind in der Küche.«
Dort herrschte ein Tohuwabohu aus Büchern, Papieren, Geschirr, Taschen, Kleidungsstücken, Stiefeln. Die Stühle waren uneinheitlich, und eine Vielfalt an mehr oder weniger angenehmen Gerüchen lag in der Luft: überreife Früchte auf einer Schale, Kochtöpfe auf dem gusseisernen Herd, Lebensmittel in einer offen stehenden Speisekammer, schmutziges Geschirr in der Spüle und ein Katzenklo, von dem Daniel den Eindruck hatte, dass es längere Zeit nicht geleert worden war. Auf einer Hälfte des langen Esstischs standen zwei Teller, und die Arbeitsfläche war mit Mehl bestäubt. Hier begann Sally jetzt, einen großen Klumpen Teig zu kneten.
»Sie backen Ihr Brot selbst«, bemerkte Daniel. »Das ist ja großartig.«
»Sally bäckt unser ganzes Brot«, sagte Chris. »Sie ist berühmt für ihr fantastisches Krustenbrot und gibt sogar Kurse bei Festivals.«
»Sie können eines mitnehmen, Daniel«, bot Sally an. »Fürs Abendmahl. Brot aus der Gemeinde für die Gemeinde.«
Daniel runzelte die Stirn. »Das ist sehr nett von Ihnen, Sally, ist jedoch nicht möglich. Ich würde aber gerne eines fürs Pfarrhaus nehmen.«
»Und warum nicht fürs Abendmahl?«
»Ähm«, sagte Daniel verlegen, »wegen … der Krümel.«
»Haben Sie Angst vor Mäusen?«, witzelte Chris.
»Nein. Also, das ist zumindest nicht der Grund. Aber wir benutzen Hostien – ungesäuertes Brot, wie es die Liturgie vorschreibt. Es wäre unpassend, wenn Krümel Unseres Herrn … in Gestalt eines Krustenbrots … herumliegen würden.«
Ein Schweigen entstand.
Schließlich sagte Sally: »Das verstehe ich nicht.«
»Transsubstantiation«, war von der Tür zu vernehmen, wo Joshua aufgetaucht war, in der Uniform der Bishop-Oakley-Oberschule in Braunstonbury. Für die Schule war er deutlich weniger geschminkt als beim Mittagessen am Sonntag, bemerkte Daniel.
Joshua deutete auf das Schulwappen auf der Brusttasche seines Blazers – eine Hostie und ein Kelch mit Hostienteller. Die Oblate schwebte wie ein Heiligenschein über dem Weinkelch für die Eucharistie. »Die Lehre, dass ein Geistlicher bei der Messe Brot und Wein in den Leib und das Blut von Jesus verwandelt. Haben wir im Religionsunterricht durchgenommen. Ich dachte aber, das gäbe es nur bei den Katholiken.«
»Ja, das vermuten die meisten Leute«, bestätigte Daniel. »Aber es kommt tatsächlich auch in der anglikanischen Kirche vor – zumindest ein ähnlicher Ritus. Bischof Oakley, nach dem deine Schule benannt wurde, hat die Eucharistie sehr befürwortet, zu einer Zeit, als sie noch mit Misstrauen betrachtet wurde.«
»Warum?«, fragte Joshua.
»Das Misstrauen? Nun, viele hielten sie für ›Papismus‹.«
»Ist ja auch quasi Voodoo.«
»Joshua!«, wies Chris seinen Sohn zurecht.
»Wieso, stimmt doch. Zauberei, aus Brot und Wein werden Fleisch und Blut. Voll cool.«
Daniel sagte etwas irritiert: »Also, Voodoo würde ich dazu nicht sagen, ist das nicht schwarze Magie?«
»Und genau diese Art von Magie mag ich«, erklärte Joshua. »Magisches Blut trinken und in Fleisch beißen …«
Sally seufzte und deckte ihren Teig mit einem Küchentuch ab. »Bisschen früh am Tage für Vampirismus, Joshua. Ich muss euch jetzt zur Schule fahren. Wo ist deine Schwester?«
»Versucht, die Katze vom Baum zu holen.«
»Ich sollte die Hunde wohl doch ins Auto sperren«, sagte Daniel betreten.
»Das würde es vielleicht wirklich etwas einfacher machen, die Katze vom Baum herunter zu locken …«, erwiderte Sally.
Daniel klemmte sich je einen der empört zappelnden Dackel unter den Arm und schloss sie im Land Rover ein, von wo aus sie ihm anklagend nachsahen.
Sally und die Zwillinge standen jetzt vor dem Haus, bereit zum Aufbruch.
»Oh, die Hunde, wie süß!«, rief Lydia entzückt aus, als sie die kleinen braunen Gesichter hinter der Fensterscheibe entdeckte. Alle mürrische Bockigkeit war plötzlich wie weggeblasen, das Mädchen wirkte lebhaft und fröhlich.
Ihr Bruder verzog das Gesicht. »Lyds, wir müssen los. Lass den Klerus seine Aufgaben erledigen.«
Als hätte er nichts gesagt, rannte Lydia zum Land Rover und machte Kussgeräusche, woraufhin die Hunde natürlich zu toben anfingen.
»Lydia! Ins Auto! Sofort!«, rief Sally erbost.
Das Mädchen warf den Hunden noch ein Kusshändchen zu, lief dann zu Daniel zurück und fragte drängend: »Kann ich sie mal besuchen kommen?«
»Aber sicher«, antwortete er. »Wir können sie auch gemeinsam ausführen, wenn du möchtest. Wenn deine Eltern einverstanden sind …«
»Au ja! Wann?«
»Nach der Schule vielleicht?« Daniel sah fragend Sally an.
»Wenn Ihnen das recht ist … Ich könnte Lydia etwa um vier bei Ihnen absetzen. Aber passt Ihnen das wirklich?«
»Selbstverständlich. Ich bringe sie dann wieder nach Hause. Um halb sechs? Möchtest du auch mitkommen, Joshua?«
»Kann nicht. Hab nach der Schule Bandprobe.« Er hielt den Basskoffer in seiner Hand hoch, als müsse diese Aussage bewiesen werden.
»Das ist sehr nett von Ihnen, Daniel, danke«, sagte Sally. »Bis später dann.«
Daniel winkte zum Abschied und ging ins Haus zurück, begleitet vom erbosten Gebell der Hunde. Chris war inzwischen in der Küche damit beschäftigt, etwas in zwei Schalen zu verteilen, das für Daniel verdächtig nach Vogelfutter aussah. Eine der Schalen wurde vor ihm platziert, nachdem er sich am Tisch niedergelassen hatte.
»Müsli«, erklärte Chris. »Selbst gemacht, von mir.«
»Ah, interessant. Was enthält es?«, erkundigte sich Daniel.
»Haferflocken, Weizenkeime, Sultaninen, Nüsse«, zählte Chris auf. »Kokosraspeln, braunen Zucker. Gut für Leib und Seele.«
Als Daniel nach dem Milchkrug greifen wollte, hielt Chris die Hand hoch.
»Sollten wir nicht zuerst ein Dankesgebet sprechen?«
»Oh ja, sicher«, sagte Daniel etwas beschämt und schloss in Erwartung des Gebets die Augen.
»Gott, unser Vater, wir danken dir für diese Gaben und deine Liebe und Zuwendung … für Speis und Trank und Gemeinschaft und deine Verbundenheit in deinem Evangelium …«
»Ame…«
»… und ich möchte dir danken für meine Familie und für Daniel und seine Familie und dich bitten, unsere Heime zu segnen und die vereinten Pfarrgemeinden von Champton und den Badsaddles …«
»Ame…«
»… und Gott, unser Vater, gnädiger Gott, wir danken dir auch dafür, dass wir an diesen Orten dein Wort verbreiten dürfen, damit allen Menschen deine liebevolle Obhut und Fürsorge zuteilwird …«
»…«
»… liebender Gottvater, wir bitten um Kraft, um dir zu dienen … und sollte unser Eifer erlahmen … wenn unser Salz den Geschmack einbüßt … wenn der Weg zu schmal und steinig ist … bitten wir dich, dass du uns weiterhin mit deinen Gaben segnest, damit wir nicht stolpern oder von deinem Wege abkommen … und du mögest wissen, dass dir zu dienen niemals eine Bürde ist … sondern stets ein Geschenk …«
Daniel war endgültig verstummt, und Chris öffnete ein Auge. »Möchten Sie auch ein Gebet sprechen?«
»Oh. Ja. Allmächtiger und ewiger Gott, der du uns alle guten Gaben bescherst – sende unseren Bischöfen und Geistlichen und deren Gemeinden deinen heilenden Geist und deine Gnade, und damit sie dir wahrhaft ein Wohlgefallen sind, gewähre ihnen den stetigen Tau deines Segens. Beschere uns dies, oh Herr, zu Ehren deines Fürsprechers und Vermittlers, Jesus Christus …«
Chris schwieg.
»Amen«, endete Daniel.