Der Tote in der Dorfkirche - Richard Coles - E-Book
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Der Tote in der Dorfkirche E-Book

Richard Coles

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Beschreibung

Für alle Fans von Cosy-Crime-Romanen: der Nr.1-Bestseller aus Großbritannien!

»Ich warte schon lange auf einen Roman mit einem Pfarrer, dickköpfigen alten Damen, Mord und Dackeln – und hier ist er!« Dawn French

Pfarrer Daniel Clement liebt die kleine beschauliche Dorfgemeinde von Champton. Seit acht Jahren lebt er zusammen mit seiner Mutter – der so furchtlosen wie temperamentvollen Audrey – und den Dackeln Cosmo und Hilda im alten Pfarrhaus. Doch mit dem Frieden ist es vorbei, als Daniel den Plan fasst, im Kirchengebäude eine Toilette zu installieren. Plötzlich ist das Dorf in zwei Lager gespalten, und im Verlauf der Streitigkeiten drängen lange gehütete Geheimnisse ans Licht. Als der Archivar des imposanten Adelssitzes Champton House tot in der Kirche aufgefunden wird, tut Daniel alles, um seine Schäfchen vor weiterem Unheil zu bewahren. Und dazu muss er einen Mörder fassen ...

»Wie alle großartigen Cosy-Krimis vermittelt auch dieser ein wohliges Gefühl, ohne die Realität auszublenden. Und der Ton passt perfekt dazu: humorvoll und zugleich unaufdringlich weise.« Daily Telegraph

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Buch

Pfarrer Daniel Clement liebt die kleine beschauliche Dorfgemeinde von Champton. Seit acht Jahren lebt er zusammen mit seiner Mutter – der so furchtlosen wie temperamentvollen ­Audrey – und den Dackeln Cosmo und Hilda im alten Pfarrhaus. Doch mit dem Frieden ist es vorbei, als Daniel den Plan fasst, im Kirchengebäude eine Toilette zu installieren. Plötzlich ist das Dorf in zwei Lager gespalten, und im Verlauf der Streitig­keiten drängen lange gehütete Geheimnisse ans Licht. Als der Archivar des imposanten Adelssitzes Champton House tot in der Kirche aufgefunden wird, tut Daniel alles, um seine Schäfchen vor ­weiterem Unheil zu bewahren. Und dazu muss er einen Mörder fassen …

Autor

Reverend Richard Coles studierte Theologie am King’s College London und hat bereits mehrere Sachbücher verfasst, bevor er sich mit »Der Tote in der Dorfkirche« dem Krimigenre zuwandte. Er ist der einzige Pfarrer in Großbritannien, der einen Nr.-1-Hit vorweisen kann – als Mitglied des Popduos The Communards – und in Strictly Come Dancing auftrat. Der Autor war lange Jahre Gemeindepfarrer von St Mary the Virgin in Finedon in der Grafschaft Northamptonshire.

Mehr zu Reverend Richard Coles unter www.richardcoles.com

Richard Coles

Der Tote in der Dorfkirche

Ein Fall für Pfarrer Daniel Clement

Aus dem Englischenvon Sibylle Schmidt

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »Murder Before Evensong. A Canon Clement Mystery« bei Weidenfeld & Nicolson an imprint of The Orion Publishing Group Ltd, London. An Hachette UK Company

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstveröffentlichung Mai 2023

Copyright © der Originalausgabe

2022 by Richard Coles

All Rights reserved.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: UNO Werbeagentur GmbH, München

Covermotiv:

Kirche: Getty Images / Digital Vision Vectors / youngID;

Hintergrund, Papier, Hund, Blüten: FinePic©, München

Redaktion: Johanna Schwering

AB · Herstellung: ik

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-30638-0V002

www.goldmann-verlag.de

Für Lorna

(die immer die letzte Seite zuerst liest)

Erhelle unsere Dunkelheit, wir bitten dich, oh Herr;und durch deine große Gnade bewahre uns vor allen Fährnissen dieser Nacht.

Allgemeines Gebetbuch der anglikanischen Kirche

1

Daniel Clement, seines Zeichens Pfarrer der Kirche St Mary’s in Champton, blickte von der Kanzel auf seine Gemeinde hinab. Heute wollte er in seiner Predigt vom Vierten Buch Mose erzählen, in dem die Israeliten gegen Moses aufbegehren, weil er sie nicht ins Gelobte Land, sondern in die Wüste führt. Eine lehrreiche Geschichte, wie Daniel fand, und gewiss nicht nur für ihn, sondern auch für seine achtundfünfzig Vorgänger in dieser Gemeinde. Denn gelegentlich mussten nun einmal auch die Gläubigen mit ein wenig List zu etwas überredet werden.

Dem Propheten Moses war es gelungen, einen Aufstand zu verhindern, indem er auf einen Fels einschlug, aus dem daraufhin Wasser strömte. So konnte das erzürnte und erschöpfte Volk seinen Durst löschen. Daniel gedachte, eine ähnlich gewitzte Taktik bei seinen Schäfchen anzuwenden.

»Ebenso wie Moses und das entkräftete Volk Israel«, begann er, »müssen auch wir mit Hoffnung und Zuversicht in die Zukunft blicken und uns ihren Anforderungen in der Gegenwart stellen. So wie in Meriba Wasser aus dem Fels floss, auf den Moses geschlagen hatte, so soll auch in diesem Gotteshaus bald frisches Wasser strömen, und zwar in Form einer Spülung: Meine liebe Gemeinde, es ist dringend erforderlich, in unserer Kirche eine ­Toilette einbauen zu lassen.«

Ein aufgeregtes Raunen lief durch die Reihen, als sei bereits jetzt im Gotteshaus Unsägliches durch einen Wasserschwall beseitigt worden.

St Mary’s, ein erlesenes architektonisches Juwel des englischen Perpendikularstils, war vier Jahrhunderte lang ohne Abort ausgekommen. Nicht nur zahllose Einwohner von Champton hatten längere Gottesdienste als diesen ohne Malheur durchgestanden, sondern auch die Geistlichen – sogar die hochbetagten, auch wenn die Blase jenseits der neunzig nicht mehr ganz verlässlich war. Daniel hegte allerdings den Verdacht, dass er nicht der erste Gemeindevorsteher war, der die verborgene Ecke an der nörd­lichen Kirchhofmauer genutzt hatte, um sich zu erleichtern, wenn eine Braut sich verspätete.

Bis zum Abendmahl hatte sich der Aufruhr schließlich gelegt, und Daniel erwartete seine Schäfchen mit den geweihten Hostien auf der Altartreppe. Bis die ersten Gemeindemitglieder vorne an der Kommunionbank eintrafen, dauerte es wie üblich länger als nötig. Wie in vielen Kirchen kamen auch hier in der Regel die hinteren Reihen zuerst nach vorne, da die vordersten Plätze den Alten und Gebrechlichen vorbehalten waren, weil sie dort besser sehen und hören konnten (sobald das schrille Pfeifen der Hörgeräte nachgelassen hatte).

»Kommet vertrauensvoll zu mir«, rief Daniel mit nicht ganz verhohlener Ungeduld, »um den Leib unseres Herrn Jesus Christus zu empfangen, den er für euch geopfert hat, und das Blut, das er für euch vergossen hat.«

Man hätte nun erwarten können, dass alle, die ewiges Leben begehrten, sich eiligst nach vorne begeben hätten, um die großzügige Gabe entgegenzunehmen. Der Chor stand zügig zur Speisung an und kehrte dann zum Gestühl zurück, um die Hymne zu singen. Doch in den Bänken rührte sich niemand, bis sich schließlich Lord de Floures erhob – Kirchenpatron, adliger Gutsherr, Arbeitgeber und seltener Gast in der Kirche, den Daniel jedoch heute absichtlich einbestellt hatte. Bernard de Floures zwängte sich aus der Familienbank ganz vorne, die mit der Blumenrosette aus dem Wappen der de Floures verziert war, und bewegte sich etwas stockend Richtung Altar. Der Gutsherr trug seinen Sonntagsanzug aus Tweed (»altehrwürdig« wäre eine gnädige Vokabel dafür gewesen, fand Daniel, der sich immer fragte, ob der Anzug bereits die Leibesfülle von Bernards Vater umhüllt hatte). Jedoch nicht das Lebensalter von siebenundfünfzig Jahren sorgte für Bernards unsicheren Gang, sondern der Alkoholgenuss des Vorabends, und als der Lord an der Familiengruft in der Kapelle vorüberkam, wo die steinernen Ahnen auf Sarkophagen seiner harrten, geriet er kurz ins Stolpern.

Margaret Porteous heftete sich augenblicklich an seine Fersen, weshalb es ihr flink gelang, Anthony Bowness zu überholen, Bernards Cousin, der kürzlich zum Archivar von Champton House ernannt worden war und nun hinter Bernard aus der Floures-Bank kam. Die flachen Slipper, die Margaret zu ihrem Tweed-Kostüm trug (das auch schon einiges erlebt hatte, aber nicht ganz so antik wirkte wie Bernards Anzug), waren ihr gewiss eine Hilfe dabei, zeitgleich mit dem Lord auf der Kommunionsbank niederzuknien. Margaret gehörte nicht zur Familie de Floures, war aber zuständig für die Koordination der Freiwilligen, die während des Sommers Führungen durch Champton House anboten und den Touristen die Schätze und Schönheiten des Anwesens präsentierten. Durch diese vom Finanzamt abgesegnete Regelung für zusätzliche Einnahmen konnte Bernard einen gewissen Ausgleich zu den hohen Erbschaftssteuern herstellen, die er für das Gut berappen musste.

Jetzt standen weitere Dorfbewohner an und ließen sich auf der Bank nieder, und Daniel kam es vor, als stellten die Anwesenden wie in einem Roman die gesamte Geschichte von Champton dar: Licht und Schatten, Macht und Machtlosigkeit, Glück und Unglück.

Norman Staveley in Cordhose und Blazer, als Mitglied des ­Gemeinderats immer sehr auf sein Ansehen bedacht, schritt betont eifrig nach vorne. Den Platz neben ihm auf der Bank nahm ­Katrina Gauchet ein, Rektorin der Grundschule, mitsamt ihren zwei Söhnen, aber ohne ihren atheistischen Gatten Hervé, der zu Hause den Brunch zubereitete (unter anderem eine Bloody Mary, die er sich zu Gemüte führte, wenn das Glockenläuten auf das nahende Ende des Gottesdiensts hinwies). Die beiden ledigen älteren Schwestern Dora und Kath Sharman in ihren steifen Sonntagskostümen zwängten sich neben den zappelnden Jungen auf die Bank.

Daniel schritt die Reihe ab und verteilte das Fleisch des Herrn.

»Christi Leib für dich …«

»Amen.«

»Christi Leib für dich …«

»Amen.«

»Christi Leib für dich …«

»Danke schön«, sagte Norman höflich, als habe man ihm ein Canapé gereicht.

Die Organistin Jane Thwaite, Frau des ehemaligen Schuldirektors Ned Thwaite, stimmte die Hymne an. Es war ein schwungvolles Kirchenlied aus dem achtzehnten Jahrhundert, das Daniel immer heiter stimmte.

Und er war auch voller Zuversicht, während Stäubchen in den Strahlen der Frühlingssonne tanzten, die den Kirchenraum erleuchteten, und die Gläubigen geduldig Schlange standen, um das Abendmahl zu empfangen. Danach kehrten die meisten an ihren Platz zurück, einige hingegen verließen die Kirche zügig, um die Begegnung mit Nachbarn – oder dem Pfarrer – zu vermeiden.

Nachdem das letzte Gebet gesprochen war, ging Daniel hinaus und nahm seinen üblichen Platz am Portal ein. Er blickte über den Kirchhof mit den verwitterten Grabsteinen, die ordentlich in Reih und Glied standen, damit der Küster den Rasen besser pflegen konnte. Hinter einem Graben befand sich der Park des Anwesens, der um 1790 von dem berühmten Landschaftsarchitekten Humphry Repton naturnah gestaltet worden war, wie es zum Ende dieses Jahrhunderts modern wurde. Damals hatte man auch den See angelegt und Follies erbaut, bizarre, zwecklose kleine Bauwerke, die dem romantischen Geschmack der Zeit entsprachen.

Bernard de Floures verließ die Kirche wie immer als Erster nach Daniel.

»Ist das Ihr Ernst, Daniel? Ein Klo?«, fragte Bernard. »Da haben Sie ja was losgetreten.«

»Ja, ist das nicht sonderbar? Was ist so schlimm an einem Klo?«, erwiderte Daniel.

»Pipi und Kacka. Daran möchte doch in einem Gotteshaus niemand erinnert werden«, antwortete Bernard. »Ich befürchte massiven Widerstand, offen gestanden. Kommen Sie doch heute Nachmittag zum Tee. Und bringen Sie die Frau Mama mit.«

»Sehr gern, danke«, erwiderte Daniel.

Margaret Porteous erschien wie üblich dicht in Bernards Gefolge. »Ein herrlicher Gottesdienst, Daniel«, bemerkte sie im Vor­übergehen und beeilte sich, dem Lord auf den Fersen zu bleiben.

Dann kamen die Damen der örtlichen Blumengilde heraus, die für das florale Dekor der Kirche zuständig war: die streitbare Stella Harper und ihre rechte Hand Anne Dollinger. Beide trugen fast identische geblümte Kleider aus Mrs Harpers Boutique, wirkten deshalb aber noch lange nicht wie das blühende Leben. Stella Harper war hager und kratzbürstig (Daniels Mutter Audrey hatte sie einmal als »miesepetrige Artischocke« beschrieben), Anne Dollinger dagegen wuchtig und grobschlächtig (»ein Schlachterhund im Fummel«, hatte Audreys gnadenloses Urteil gelautet). Beide gehörten zum Inventar des Dorfes und ließen sich regelmäßig in der Kirche blicken, ohne jedoch Interesse an den Finessen des Gottesdienstes zu zeigen – sie hatten nur ­Blumen im Sinn. Deshalb kam es auch alljährlich während der Fasten­zeit zu Debatten, weil Anne Dollinger sich weigerte, gemäß der religiösen Regeln auf Blumenschmuck zu verzichten.

Jedes Jahr behauptete sie von Neuem steif und fest, eine schlichte Hyazinthe sei kein Regelverstoß, worauf Daniel ihr alljährlich nicht minder hartnäckig widersprechen musste. Manchmal hatte er den Eindruck, dass St Mary’s von diesen beiden Frauen nur als Ausstellungsfläche betrachtet wurde.

»Guten Morgen, Daniel«, sagte Stella kühl, wobei sie beinahe von den beiden Gauchet-Jungs überrannt wurde, die wie Torpedos auf den Kirchhof rasten, um angestaute Energie loszuwerden. »Diese … Umbauten«, fügte Stella naserümpfend hinzu. »Steht schon fest, wann?«

»Nein. Vorerst ist es nur ein Vorschlag, über den der Kirchengemeinderat entscheiden muss. Was halten Sie denn davon?«

»Finde ich äußerst überflüssig. Und der Einbau wäre sicher technisch schwierig.«

»Da habe ich anderes gehört«, widersprach Daniel. »In vielen Kirchen wurde mittlerweile problemlos eine Toilette installiert. Es gäbe dann übrigens auch fließendes Wasser und ein großes Waschbecken. Wäre das nicht praktisch auch für die Blumen?«, fügte er listig hinzu.

»Darum geht es nicht. Sondern um die Geräusche, Daniel, die Geräusche. Wer möchte denn bitte schön beim Gottesdienst eine Klospülung hören?«

»Niemand«, bekräftigte Anne Dollinger.

»Also, in meiner letzten Pfarrgemeinde gab es keinerlei Beschwerden, als eine Toilette eingebaut wurde«, sagte Daniel. »Ganz im Gegenteil – alle waren froh darüber.«

»Dort ist aber nicht hier«, erwiderte Stella.

»Sollen wir überall hinterherlaufen wie die Lemminge?«, fügte Anne bissig hinzu.

»Und wo soll sie überhaupt hin, in die Sakristei womöglich? Oder etwa in den Glockenturm?«, fragte Stella spitz.

»Hinten im Querschiff ist ausreichend Platz, Stella. Wir haben dort weit mehr Bänke als benötigt. Diesen Raum könnten wir …«

»Wusste ich’s doch!«, rief Stella entrüstet aus. »Was habt ihr Geistlichen nur immer gegen Kirchenbänke? Ich habe noch keinen Pfarrer kennengelernt, der nicht gerne Kleinholz aus ihnen gemacht hätte.«

»Und dabei sind sie doch ein historisches Vermächtnis«, warf Anne ein.

»Die meisten stammen vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts, sind also nicht gerade antik«, stellte Daniel klar. »Und ­vorher ist man ja auch jahrhundertelang ohne Bänke ausge­kommen.«

»Aber wo haben die Leute dann gesessen?«, fragte Stella.

»Gar nicht. Die meisten jedenfalls. Nur für die Alten und Schwachen gab es Bänke an den Wänden.«

»Sie wollen also unsere wunderschönen Kirchenbänke abschaffen und uns bei der Abendandacht herumstehen lassen?«

»Nein, nein, nein. Nur ein paar Bänke ganz hinten könnte man entfernen«, antwortete Daniel in einem Tonfall, den er für beschwichtigend hielt. »Und wie gesagt: Es ist ja vorerst noch gar nichts entschieden. Möchten Sie Kaffee?«

Anthony Bowness, der an diesem Tag mit den Sharman-Schwestern Getränkedienst hatte, goss bereits eine dampfende Flüssigkeit in Styroporbecher. Immerhin eine Variante mit Henkel, damit sie etwas würdevoller wirkten.

Aber Stella hatte nicht die Absicht, sich ablenken zu lassen. »Damit Sie mich noch weiter beschwatzen und womöglich überreden können? Sie haben doch bestimmt längst alles im Alleingang entschieden. Warum hört uns nie jemand zu?«

»Ich höre Ihnen doch zu, Stella«, entgegnete Daniel. »Ich höre allen Menschen zu. Es ist wirklich nur ein Vorschlag. Sollte die Gemeinde dagegen sein, wird die Toilette nicht eingebaut.«

»Das ist ein Wort! Sie können nämlich gar nicht so mir nichts, dir nichts Kirchenbänke abschaffen. Das ist ein Fall für den Denkmalschutz!«

»Die Bänke sind bloß aus der viktorianischen Ära, Stella«, mischte sich jetzt Ned Thwaite ein, der zu ihnen getreten war. »Sie sind wirklich nichts Besonderes.«

»Besten Dank für die Belehrung, Ned«, versetzte Stella pikiert. »Aber ich unterhalte mich gerade mit dem Herrn Pfarrer.«

Ned, der selten ein Blatt vor den Mund nahm, erwiderte: »Ich bin im Kirchenrat, Stella, und der entscheidet über diese Angelegenheit. Wenn Sie ein Problem damit haben, dann lassen Sie den Pfarrer in Frieden und wenden Sie sich direkt an den Rat.«

Nach dieser Rede reckte er das Kinn vor und ließ demonstrativ den Schlüsselbund klirren, der mitsamt allerlei Handwerkszeug und Täschchen von seinem Gürtel hing. Daniel wunderte sich immer, dass Neds Hose ihm nicht wegen des Gewichts in die Kniekehlen rutschte.

Die Ansprache verfehlte ihre Wirkung nicht. »Worauf du dich verlassen kannst«, versetzte Stella. »Morgen findet übrigens das Jahrestreffen der Blumengilde statt. Und wir haben einen Punkt auf der Tagesordnung, der Ihnen ganz schön zu denken geben wird, Daniel.«

Bevor Stella sich zum Gehen wandte, warf sie dem Pfarrer noch einen Blick zu, der alles andere als liebenswürdig war, und Daniel verspürte eine unangenehme Vorahnung.

»Ich hab’s Ihnen ja gesagt«, bemerkte Ned, nachdem die beiden abgezogen waren.

»Was denn?«

»Dass es wegen dem Klo einen Aufstand geben wird. Weil es nämlich eine Veränderung ist.«

2

Als Daniel zu Hause die Tür aufschloss, wurde er von ­seinen beiden Dackeln, Cosmo und Hilda, mit dem üb­lichen überschwänglichen Bellen begrüßt. Ob er nun eine Woche oder eine Viertelstunde weg gewesen war, spielte dabei keine Rolle.

Der Beruf des Pfarrers ist dem Wesen nach hundefreundlich. Pfarrer arbeiten von zu Hause aus. Landpfarrer haben für gewöhnlich einen Garten. Und an Dorfkirchen mit Amtsinhabern wie Daniel Clement wartet auf die vierbeinigen Geschöpfe Gottes am Portal grundsätzlich ein Wassernapf.

Daniel hatte allerdings auch ein etwas schnöderes Motiv für die Liebe zu seinen Hunden: Ihr erbostes Gebell, schon beim geringsten Anzeichen für unangekündigten Besuch, diente als wirksame Vorwarnung. Wenn man von Berufs wegen jederzeit ansprechbar sein musste, war das ungeheuer nützlich. Und wenn Daniel mit den beiden Dackeln spazieren ging, fand er es wiederum praktisch, dass sie sowohl Anlass für Gespräche mit Dorfbewohnern geben als auch ihm selbige vom Hals halten konnten.

Am meisten schätzte Daniel an Hunden jedoch ihre komplette Gleichgültigkeit gegenüber menschlichen Mängeln und Eitelkeiten sowie ihre bedingungslose Zuneigung. Deshalb konnte er gut verstehen, dass die Queen sich mit Corgis umgab: Die Hunde liebten ihr Frauchen ohne jegliche Unterwürfigkeit.

Als Daniel das Haus betrat, pfiff er lautstark eine Melodie, mit der er seiner Mutter ankündigte, dass er im Anmarsch war. ­Audrey Clements Umzug ins Pfarrhaus hatte neue Regeln im Haushalt zur Folge gehabt, die jedoch teilweise ebenso widersprüchlich und dehnbar waren wie die Gesetze der britischen Verfassung. Zum Beispiel hätte Audrey jederzeit behauptet, dass sie Pfeifen als vulgär verabscheue. Aus unerfindlichen Gründen konnte sie selbst jedoch so kraftvoll pfeifen wie ein Rohrspatz und antwortete jetzt mit einer schwungvollen Tonfolge, die besagte: »Ich bin auch da.«

Audrey wäre jedoch ohnehin schwer zu übersehen gewesen. Sie war seit jeher eine energische Persönlichkeit, aber mit dem Alter und dem Schwinden ihrer körperlichen Kräfte nahm ihre Willensstärke eher noch zu. Manchmal fand Daniel, seine Mutter habe Ähnlichkeit mit Papst Pius IX., der seinerzeit auf den Verlust seiner weltlichen Macht reagiert hatte, indem er sich für unfehlbar erklärt und im Vatikanpalast verschanzt hatte.

Daniel bückte sich, um den Hunden die Ohren zu kraulen. Dann legte er die Schlüssel in die Kommodenschublade und begab sich ins Wohnzimmer, das mittlerweile zum Hauptraum seiner Mutter geworden war. Es war das hellste Zimmer des Hauses, und seit Audreys Sehkraft nachließ, war sie ganz versessen auf Licht. Als Daniel noch allein im Haus gewesen war, hatte er wie alle Junggesellen seine Marotten und Eigenheiten gehabt und sich vorwiegend in seinem Studierzimmer aufgehalten. Seit der Ankunft seiner Mutter leistete er ihr meist im Wohnzimmer Gesellschaft, das überdies den Vorteil hatte, behaglicher und besser beheizbar zu sein als alle anderen Räume. Offizielle Besucher wurden im Salon empfangen.

»Hallo, Liebling«, sagte Audrey und hielt ihrem Sohn die Wange zum Kuss hin. Aus dem betagten Fünfzigerjahre-Radio schallte ein schottisches Kirchenlied.

»Nanu, gibt’s heute nicht deine Lieblingssendung?«, fragte ­Daniel erstaunt. »So etwas läuft doch da sonst nicht …«

Audrey hörte mit Vorliebe einen Radioklassiker, bei dem seit 1942 Prominente pro Sendung acht Schallplatten vorstellten, die sie auf eine einsame Insel mitnehmen würden.

»Doch, doch. Vorher kam Edith Piaf.«

»Ach so. Möchtest du Kaffee?« Daniel marschierte Richtung Küche, ohne die Antwort abzuwarten, da er sie ohnehin bereits kannte.

Seine Mutter hatte vor Kurzem den koffeinfreien Kaffee für sich entdeckt und bestand nun stets darauf, da sie ihn als Garanten für ruhigen, erholsamen Schlaf betrachtete. Daniel selbst war allerdings nicht bereit, auf seinen morgendlichen Muntermacher zu verzichten. Deshalb standen neuerdings neben zwei Press­kannen zwei Schraubgläser mit Kaffee, die er manchmal verwechselte, ohne dass er oder seine Mutter anschließend einen Unterschied bemerkte. Was wohl darauf hinwies, dass die Wirkung von Koffein manchmal auch Einbildung sein konnte.

»Und Kekse!«, rief Audrey ihm nach.

Als der Kaffee eingeschenkt war, nahm Daniel die grüne Blechdose vom Regal, in der die Kekse aufbewahrt wurden. Der Deckel passte noch immer, obwohl die Dose fünfzig Jahre alt und mittlerweile ziemlich verbeult war. Auch die aufgemalten einstmals gelben Rosen verblassten zusehends. Dennoch kam Daniel zum ersten Mal der Gedanke, dass die runde Dose mit dem verschnörkelten Blumenmuster vortrefflich in den Pfarrsprengel der Familie de Floures passte.

Diese Blechdose war Daniel so heilig wie eine Reliquie, obwohl nicht etwa die Knochen eines unbeschuhten Karmeliters, sondern lediglich schlichte Schokoladenkekse darin aufbewahrt wurden. Sie stammte nämlich aus seiner Kindheit, und Daniel hatte sie nach dem Tod seines Vaters aus dem Elternhaus mitgenommen. Seine Eltern hatten sie zur Hochzeit geschenkt bekommen, und so enthielt diese Dose nicht nur Kekse, sondern auch wohltuende Erinnerungen – wie die berühmten Madeleines für den Schriftsteller Marcel Proust.

Den Hunden war das Rasseln der süßen Happen in der Blechdose natürlich nicht entgangen, und jetzt hörte Daniel, wie in der Diele das Klacken der Krallen auf den Steinplatten immer lauter wurde, bis Hilda und Cosmo schließlich zur Tür hereinplatzten. Dann vollführten die beiden zu seinen Füßen eine Vollbremsung und blickten wild schwanzwedelnd hoffnungsvoll zu ihm auf.

Der Sonntagstee in Champton House am Nachmittag geriet durchaus nicht so opulent, wie Audrey sich das gewünscht hätte. Der Teller mit Petit Fours aus der Packung und der Früchtekuchen, der nach Kantine schmeckte, wirkten äußerst schäbig in der Bibliothek des hochherrschaftlichen Anwesens, das sich seit dem fünfzehnten Jahrhundert im Besitz der Familie de Floures befand. Die Bibliothek war ein Anbau aus der georgianischen Zeit, in der ein Edelmann für gehobeneren Wohnkomfort hatte sorgen wollen, als seine Vorfahren ihn für notwendig erachtet hatten. Der älteste Teil des Gebäudes, das mittelalterliche Gutshaus mit Kapelle, war in etwa so behaglich wie ein Kloster. Das angrenzende Tudorhaus mit seiner im siebzehnten Jahrhundert hinzugefügten prachtvollen Barockfassade verwies dagegen mit Pomp und Gloria auf den zunehmenden Reichtum der Familie. Doch wirklich komfortabel gewohnt hatte man in Champton House sicher erst hundert Jahre später, als Bibliothek, Ballsaal und ein großes Wohnzimmer hinzugefügt wurden. Und den letzten Schliff hatte das Anwesen dann im neunzehnten Jahrhundert erhalten, als ­neben Herrenzimmer, Billardsaal und Salon auch etliche Gästezimmer ergänzt wurden, sodass auf dem Gut rauschende Feste gefeiert werden konnten.

Aus der Bibliothek hatte man einen herrlichen Blick auf den Park, und Audrey genoss wie immer die Aussicht auf die alten Kastanien, Zypressen und Eichen. Weiter hinten weideten Schafe, und am See grasten Rehe vor dem silbrig glitzernden Wasser. Lediglich ein flauschiges weißes Wesen namens Jove störte das Bild, weil die Hauskatze nicht wie gewöhnlich auf der Treppe zur Bibliothek schlief, sondern ungeduldig mit der Pfote ans Fenster schlug, als habe sie Appetit auf die Rehe.

Bernard, der sich neben der Anrichte mit Daniel und Anthony Bowness unterhielt, trat jetzt zu Audrey.

»Noch Tee?«, fragte er, die tröpfelnde Edelstahlkanne im Anschlag.

»Gerne, danke.« Audrey versuchte, den schiefen Strahl mit der Tasse aufzufangen. Zu gerne hätte sie die Marke des Porzellans gekannt, aber jetzt war es wohl zu spät, die Tasse umzudrehen. Als sie nach ihrem Umzug zum ersten Mal mit ihrem Sohn bei den de Floures zum Lunch gewesen waren, hatte sie in dieser Hinsicht bereits die erste Enttäuschung verkraften müssen: Die Familie behandelte ihr edles Geschirr schlicht als Nutzgegenstand, wohingegen Audrey ihr Service verehrte und sorgsam pflegte.

Auch die zahlreichen Ölgemälde an den Wänden wirkten so beliebig arrangiert, als seien die Porträtierten – mit den typischen roten Haaren und blauen Augen der Familie de Floures – allesamt längst bedeutungslos geworden.

Und weitere Enttäuschungen ließen bei jenem ersten Besuch nicht lange auf sich warten: Als Audrey Bernard formvollendet mit seinem Titel begrüßte, sprach er sie einfach mit ihrem Vornamen an, ohne sich aber mit seinem vorzustellen. Deshalb wusste Audrey vier Jahre später immer noch nicht genau, wie sie ihn ansprechen sollte, und tat es aus diesem Grund lieber gar nicht.

Ihr Sohn war viel unbefangener und bewegte sich völlig ungeniert in dieser gehobenen Gesellschaftsschicht, aus der er wahrlich nicht stammte. Titel und Ränge schienen ihm gleichgültig zu sein, was Audrey auf seinen Beruf zurückführte, denn als Kind hatte er sich – von ihr dazu erzogen – stets angestrengt um tadellose Manieren bemüht.

Im Umgang mit der nächsten Generation, den Kindern aus Bernards zweiter Ehe, hatte auch Audrey zum Glück keine Mühe. Darum freute sie sich, als sich Bernards Tochter Honoria zu ihr setzte. Sie trug einen rosa Kaschmirpulli und eine hautenge Jeans, wohl eine dieser neumodischen »Designerjeans«, wie Audrey mutmaßte.

»Was halten Sie von diesem Toilettenzirkus, Audrey?«, erkundigte sich Honoria.

»Ach, die Aufregung legt sich bestimmt bald, sobald das Ding eingebaut ist«, antwortete Audrey. »Dann werden sicher alle dankbar dafür sein, und das ganze Theater ist vergessen, meinen Sie nicht auch?«

»Ja, kann sein.« Honoria strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Sie war eine hübsche junge Frau, und Audrey fand, dass die Farbe ihres Pullovers ihr zu den roten Haaren gut zu Gesicht stand.

»Aber irgendwas passt doch nicht richtig zusammen bei dem Thema Kirche und Klo, oder?«, fragte Honoria weiter.

»Na, warten Sie nur ab, bis Sie so alt sind wie ich.«

»Wussten Sie«, fuhr Honoria unbeirrt fort, »dass es hier im Haus zu Zeiten meines Urgroßvaters nur zwei Toiletten gab? Jede Menge Schlafräume, wenn man die Kammern im Dachboden dazurechnet, da mussten sich dann bestimmt zwanzig Leute ein Klo teilen.« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Und Anthony hat mir erzählt, dass früher im Dorf für die Bewohner von zwölf Cottages nur ein einziges Außenklo existierte, können Sie sich das vorstellen? Das hat er im Archiv in Protokollen von einem Gremium entdeckt, das sich ›Abort-Rat‹ nannte.«

»Doch, das kann ich mir durchaus vorstellen«, erwiderte Audrey. »Weil ich mich nämlich als Kind auch noch mit Schüssel und Wasserkrug waschen musste. In meinem Schlafsaal im Internat waren bei jedem Wetter die Fenster geöffnet, und im Winter hatten wir Eisblumen an den Scheiben. Versuchen Sie mal, sich bei solchen Temperaturen zu waschen. Ich weiß noch, wie ich einmal nachts pinkeln musste und die Vorstellung von dem eiskalten Klosett so schlimm fand, dass ich lieber die Waschschüssel benutzt habe …«

Honoria lachte. »Fände ich furchtbar, das Badezimmer mit so vielen Leuten teilen zu müssen. Ich brauche unbedingt mein eigenes.«

Sie wohnte in London und besserte die Unterstützung von zu Hause durch einen Job als Beraterin für ein Luxushotel auf. Deshalb konnte sie sich schon in jungen Jahren gehobene Ansprüche erlauben.

Honorias jüngerer Bruder Alex gesellte sich jetzt auch zu ihnen. Er war groß und schlank und hatte ebenfalls das typische dunkelrote Haar und die blauen Augen der de Floures. Seine Gesichtszüge allerdings waren weniger vorteilhaft geraten als die seiner Schwester: Er hatte den froschähnlichen Ausdruck der englischen Aristokratie, wenngleich sein Kleidungsstil eher alternativ als konservativ war.

Offiziell teilte sich Alex mit seiner Schwester die Wohnung in London, aber seit er sein Studium an der Kunstakademie desillusioniert abgebrochen hatte, hielt er sich häufiger in Champton auf, weil er hier mehr »künstlerische Möglichkeiten« habe, wie er sagte. Er hatte sich einer radikalen Kunstbewegung angeschlossen, deren anarchischen Ansatz er unwiderstehlich fand. An diesem Tag trug Alex ein T-Shirt, auf dem zwei Cowboys im Gespräch abgebildet waren, beide unterhalb der Hüfte nackt. Audrey entging nicht, dass es sich bei den Revolvern der beiden um deren Genitalien handelte.

»Du liebe Güte«, bemerkte sie, »ganz andere Sitten heutzutage im Wilden Westen!«

Alex, der ansonsten gerne den Provokateur spielte, lief jetzt erstaunlicherweise rot an und wechselte hastig das Thema. »Wie geht’s den Hunden?«, fragte er. »Habt ihr sie mitgebracht?«

»Nein, wir haben sie zu Hause gelassen«, antwortete Audrey. »In der Nähe von Antiquitäten sind sie immer ein Risiko.«

Sie erinnerte sich mit Schaudern daran, wie Cosmo hier einmal auf einem wertvollen alten Perserteppich das Bein gehoben hatte.

»Ja, Antiquitäten sind echt belastend«, erwiderte Alex. »Was glauben Sie, wie viele Ming-Vasen wir im Laufe der Zeit zertrümmert haben.« Er warf seiner Schwester einen Blick zu.

Audrey lächelte. Über Alex’ Schulter sah sie ihren Sohn im Gespräch mit Anthony und Bernard und ahnte, dass sich die drei auch über Porzellan unterhielten, wenn auch von einer ganz anderen Sorte.

»Entschuldigen Sie mich bitte«, sagte sie, »ich muss mal mit Ihrem Vater reden.«

»Kein Problem.«

Audrey wanderte mit ihrer Teetasse zu den drei Männern hi­nüber.

»Noch ein Tässchen, Audrey?«, fragte Bernard. »Ich hoffe, der Tee ist nicht schon zu stark …«

Die launische Stahlkanne – Audrey sann müßig darüber nach, wieso etwas so Unzuverlässiges überhaupt hergestellt wurde – stand auf einer Wärmeplatte auf der verschnörkelten Anrichte.

»Danke, ich trinke erst noch aus. Ich wollte nur mal hören, was so über das Toilettenthema gesprochen wird.«

»Darüber reden wir tatsächlich gerade«, antwortete Bernard. »Waren Sie nicht erstaunt über die Reaktion der Gemeinde?«

»Nicht so sehr«, antwortete Audrey. »Manches hat einfach in einer Predigt nichts zu suchen, finde ich. Es stört mich nicht, wenn jemand mit dem Kieferknochen eines Esels Leute erschlägt wie Samson oder wenn von der Kanzel herab zur Friedensbewegung aufgerufen wird. Aber Körperfunktionen sollten in der Kirche unerwähnt bleiben. Weißt du nicht mehr, Daniel, wie du mal in einem Gottesdienst über diese Frau und ihr Blut gesprochen hast? Als die Leute verstanden, dass es um Menstruationsblut ging, waren alle fassungslos vor Entsetzen.«

Daniel seufzte. »Das hatte ich tatsächlich vergessen. Aber so eine Reaktion wie heute ist doch vollkommen lächerlich. Dafür muss es einen anderen Grund geben, meint ihr nicht?«

»Keine Ahnung«, sagte Bernard. »Ich fände den Einbau einer Toilette nützlich und sinnvoll und hätte Ihnen heute auch direkt einen Scheck dafür ausgestellt, wenn ich nicht finanziell zurzeit so schlecht dastünde. Würde mir gefallen, dass Menschen dankbar an mich denken, wenn sie sich während Ihrer Predigt erleichtern. Aber Sie müssen das wohl im Alleingang hinbekommen.«

»Daniel«, meldete sich Anthony mit gewichtigem Tonfall zu Wort, »ich habe ein höchst interessantes Dokument im Archiv entdeckt.« Obwohl Anthony Ende vierzig war, wirkte er mit seiner leicht schiefen Brille, die er nie reparieren ließ, und seiner Begeisterung für Geheimnisse immer wie ein Klassenstreber.

Weil Audrey diesen Eifer albern fand, warf sie jetzt ein: »Der Abort-Rat, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Anthony, sichtlich enttäuscht, dass sie ihm die Pointe vermasselt hatte. »Woher wissen Sie das?«

»Honoria hat es mir erzählt.«

»Nun, jedenfalls geht daraus hervor«, fuhr Anthony fort, »dass es in Champton wegen des Klothemas in der Kirche nicht zum ersten Mal Kontroversen gibt. Einer Ihrer Vorgänger, Daniel, Pfarrer Segrave der Ältere, hat mit diesem Vorschlag bereits um 1820 für mächtigen Wirbel gesorgt.«

Nachfolger von Pfarrer Segrave dem Älteren war sein Sohn gewesen, Pfarrer Segrave der Jüngere. Die beiden hatten es zusammen auf eine Amtszeit von hundertundein Jahren gebracht.

»Er wollte seinen Schäfchen etwas Gutes tun und ließ vernünftige sanitäre Anlagen einbauen«, fuhr Anthony fort. »Der Gutsherr aber war strikt dagegen. Er meinte, das würde seine Pächter zum Müßiggang verleiten.«

»Und, war es so?«

»Nein, natürlich nicht. Hat bestimmt wesentlich zur allge­meinen Gesundheit beigetragen und womöglich Leben gerettet, hatte jedoch einen gigantischen Zwist zwischen Gutsherrn und Pfarrer zur Folge. Der Lord wollte nicht nachgeben, konnte den Pfarrer aber nicht absetzen, der außerdem noch ein Cousin von ihm war. Deshalb versuchte er, Segrave das Leben zur Hölle zu machen. Ließ alle Pforten zwischen Park und Kirchhof vernageln und bedrohte die Pächter, wenn sie zur Kirche gehen wollten. Außerdem hat er einen seiner Angestellten, einen unangenehmen Zeitgenossen, zum Hauskaplan gemacht und seine Pächter gezwungen, bei dem zum Gottesdienst zu gehen. Und der Kirche hat der Lord keinen Penny mehr gegeben. Das ging dann jahrzehntelang so.«

»Zum Glück herrscht heutzutage gutes Einvernehmen zwischen Anwesen und Pfarrhaus«, bemerkte Audrey.

Irgendwo im Haus schlug eine Uhr halb sechs. Um sechs Uhr fand die Abendandacht statt. Der Tagesrhythmus der kirchlichen Pflichten ihres Sohnes war Audrey so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie sich zeitgleich mit Daniel erhob, um aufzubrechen.

»Vielen Dank für den Tee«, sagte Audrey, während sie beide von Bernard und Alex zum Ausgang begleitet wurden. »Sie müssen unbedingt einmal zum Lunch ins Pfarrhaus kommen.«

Diese Einladung wurde routinemäßig ausgesprochen und ­dankend angenommen, aber nie in die Tat umgesetzt.

Im Foyer fiel die Abendsonne durch das große bunte Bleiglasfenster, und die steinernen Bodenplatten erstrahlten in Rubinrot, Bernsteingelb und Meergrün. In dem mittelalterlichen Fenster waren die Wappen sämtlicher de Floures vom fünfzehnten bis zum zwanzigsten Jahrhundert dargestellt.

»Wunderschön«, bemerkte Audrey. »Wie ein mittelalterliches Kaleidoskop.«

»Ist aber nicht aus dem Mittelalter, sondern aus dem zwanzigsten Jahrhundert«, sagte Alex. »Das Original wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Ein Flugzeug hat die Landebahn verfehlt und ist draußen abgestürzt und explodiert. Das Fenster zersprang durch den Druck in tausend Teile.«

»Aber wie fantastisch es wiederhergestellt worden ist!«

»Ich sehe das eher wie David Bowie«, murmelte Alex und schmetterte unversehens: »I love the sound of breaking glass.«

Das kann ich mir gut vorstellen, dachte Audrey bei sich.

3

Daniel hatte seinen Land Rover, eine uralte Rostlaube, auf der Zufahrt vor Champton House geparkt. Vor dem hochherrschaftlichen Haus hätte so ein verlottertes Gefährt sehr unpassend wirken können, doch die englische Aristokratie schätzte bekanntlich das Understatement und präsentierte sich selbst gerne mit abgetragener Kleidung und altertümlichen Schrott­karren.

Als Daniel die Beifahrertür öffnete, rümpfte Audrey angewidert die Nase.

»Puh, Daniel, das stinkt übel nach Verwesung.«

»Was, das Auto?«

»Ganz recht. Was machst du denn da drin, um alles in der Welt?«

»Nichts. Liegt wahrscheinlich an den Hunden … und Heu­ballen … und Fasanen.«

Den Land Rover hatte Daniel bei seinem Amtsantritt von Bernard geschenkt bekommen. »Betrachten Sie ihn als Firmenwagen«, hatte Bernard damals gesagt, als er die quietschende Fahrertür öffnete. Der Innenraum hatte Daniel an einen ländlichen Tatort erinnert, was ihn jedoch kein bisschen störte, weil er alte Dinge neuen grundsätzlich vorzog. Für ihn war die rauputzähnliche Schmutzschicht eine Art Patina, wohingegen seine Mutter jedes Mal demonstrativ vor dem Einsteigen Teile der Sonntagszeitung auf dem Beifahrersitz ausbreitete.

Langsam fuhr Daniel auf den breiten asphaltierten Weg, der durch den Park zum Tor führte. Frühlingslämmer, die noch keine Verkehrsregeln gelernt hatten, standen unbeholfen in der Gegend herum, bis sie von ihren Müttern angesichts des nahenden Fahrzeugs auf die Wiese geschubst wurden.

»Alex’ T-Shirt«, bemerkte Audrey jetzt. »Will der Junge sich als Skandalnudel gerieren? Hat Bernard es überhaupt bemerkt, was meinst du?«

»Ich glaube nicht, dass ihm viel entgeht«, antwortete Daniel. »Aber ich fand auch, es war typisch Alex, so was zum Tee mit dem Pfarrer zu tragen.«

»Das habe ich mir auch gedacht. Und ich finde, Bernard hätte ruhig etwas dazu sagen dürfen.«

»Vielleicht hat er keine Lust auf diese Art von Auseinander­setzung«, gab Daniel zu bedenken. »Oder er blendet einfach alles aus, was er nicht sehen will. Damit lebt es sich wahrscheinlich leichter.«

»Normalerweise nimmt Bernard doch kein Blatt vor den Mund«, sagte Audrey. »Ich weiß noch, wie er bei einer Führung durchs Haus von einer Dame gefragt wurde, wie es sich anfühle, in so einem historischen Gebäude zu leben. Er hat wirklich und wahrhaftig gesagt: ›Das ist ein – piep – Albtraum.‹«

Jetzt öffnete sich das Tor vor ihnen wie von Geisterhand; Bernard hatte eine Automatik einbauen lassen. Schon seit vielen Jahren gab es keinen Torwärter mehr, und dessen einstige Unterkunft hatte Alex mittlerweile für sich in Beschlag genommen.

Hinter dem Tor erstreckte sich die Hauptstraße von Champton mit ihren kleinen Geschäften: Gemischtwaren, Postamt, das Café The Flowers mit dem Wappen der de Floures im Ladenschild. Es wurde von den Staveleys betrieben und war nur während der Hauptsaison geöffnet, die offiziell mit dem Tag der offenen Tür in Champton House begann. Daneben befand sich Stella Harpers Boutique, die den albernen Namen Mode für die vornehme Dame trug. Stella hatte den Laden mit der Abfindung aus ihrer Scheidung gegründet, und er lief tatsächlich gut, denn die besser betuchten Frauen der Gegend – darunter auch Audrey – kauften alle dort ein.

»Leute wie Bernard haben es heutzutage schwer, und einfacher wird es auch nicht«, sagte Audrey. »Du hättest mal erleben sollen, als nach dem Krieg die Einkommensteuer erhöht wurde. Sämt­liche Familien auf dem Land gingen deshalb pleite, zogen nach London und ließen ihre Häuser verfallen. Die meisten waren eh schon gepfändet worden und wurden abgerissen. Der Krieg hat alles verändert, auch unsere Sicht auf die Dinge.«

»Die de Floures scheinen davon aber nicht so betroffen gewesen zu sein«, erwiderte Daniel. »Offenbar waren sie doch reich genug, um alle Krisen zu überstehen.«

»Es war überhaupt nicht möglich, nicht davon betroffen zu sein, Daniel«, widersprach Audrey. »Hast du keinerlei Erinnerungen? Du bist während der Luftschlacht um England auf die Welt gekommen. Ich habe jedenfalls damals den von Churchill geforderten Anteil an Blut, Schweiß und Tränen geleistet, so viel kann ich dir sagen.«

»Nein, das ist alles sehr verschwommen. Bei Kriegsende war ich doch erst fünf«, sagte Daniel. »Ich erinnere mich an zerbombte Häuser. An Spiele, bei denen wir Deutsche dargestellt und ›Hände hoch, englischer Schweinehund!‹ geschrien haben. An einen Lehrer mit einem Holzbein, der sein Bein in der Schlacht von El Alamein verloren hatte. Und an das rationierte Essen natürlich, das hat sich eingeprägt.«

Eingeprägt hatte sich Daniel auch der Besuch bei einem Sterbenden vor einigen Tagen. Der Mann hatte sich unter dem Einfluss starker Schmerzmittel und angesichts des nahenden Todes schlimme Erinnerungen von der Seele geredet. Nach der Landung in der Normandie hatte er bei Kämpfen einen deutschen Soldaten, der fast noch ein Junge gewesen war, mit einem Bajonett erstochen. Die Erinnerung an diese Tat war im Laufe der Jahre immer intensiver geworden, bis der Mann schließlich unentwegt daran denken musste. Doch er hatte in seiner Familie nie darüber gesprochen, wie Daniel feststellte, als er mit der Witwe und den Söhnen die Bestattung vorbereitete. »Wahrscheinlich hat er geglaubt, er könne das dann für immer vergessen«, hatte die Witwe gesagt.

Dabei ist das Gegenteil der Fall, hatte Daniel gedacht. Wer Erinnerungen verdrängen will, wird erst recht davon heimgesucht.

Nachdem die wenigen Anwesenden nach der Abendandacht die Kirche verlassen hatten, geriet Daniel in nachdenkliche Stimmung und sann darüber nach, wie sehr sich sein Dasein in dieser Pfarrei von seiner früheren Stelle unterschied. Nicht nur Freunde und Verwandte waren damals verblüfft gewesen, als er sich zu dem Umzug entschlossen hatte, sondern vor allem auch er selbst.

Begonnen hatte diese Entwicklung mit Honoria. Daniel und sie hatten sich in London angefreundet. Das Motcombe Hotel, in dem sie arbeitete, lag direkt neben Daniels damaliger Kirche. Eines Tages tauchte Honoria bei ihm auf in einem eleganten Kostüm, über der Schulter eine rustikale Tasche. Daniel hatte sich zunächst über diesen Besuch gewundert, bis Honoria aus einem Wust von Papieren und Schlüsseln ihren Filofax zutage förderte und erklärte, sie strebe eine Zusammenarbeit an.

Sie arrangierte Hochzeiten für die Klientel des Luxushotels und empfand St Martin’s ästhetisch und logistisch als idealen Ort dafür. Die frischvermählten Brautpaare konnten nach der Trauung mit wenigen Schritten den Ballsaal des Motcombe Hotel erreichen. Man wurde sich einig, und Daniel akzeptierte auch, dass Honoria künftig die Termine für die Trauungen vorgab. Als Pfarrer musste man flexibel sein, fand er, und seine Liberalität wurde belohnt mit höheren Spenden und zunehmend jüngeren Gemeindemitgliedern.

Die Zusammenarbeit mit Honoria erbrachte auch noch weitere Vorteile. Als Daniel sich überlegte, wie er die Obdachlosen verpflegen konnte, die sich allabendlich auf dem Kirchhof versammelten, begann Honoria, die Reste der Hochzeitsbüfetts zu spenden, die ansonsten im Müll gelandet wären. Weshalb die ­Obdachlosen dieses wohlhabenden Stadtviertels jede Menge ­Räucherlachs, Gänseleberpastete und gelegentlich sogar Kaviar speisten, bis Firmen aus der Gegend begannen, diese erlesenen Reste zu beanspruchen, und die Armen wieder einmal das Nachsehen hatten.

Als Daniel schließlich immer unzufriedener damit wurde, im reichsten Viertel von London Bescheidenheit zu predigen, erwähnte Honoria eines Morgens bei einem gemeinsamen Kaffee, dass das Pfarramt von Champton unbesetzt sei. Und Daniel stellte sich vor, dass in diesem ländlichen Sprengel die Uhren noch langsamer gingen, dass sich das hektische Tempo einer zunehmend gleichgültigeren Welt dort noch nicht so massiv auswirken würde.

Honoria, die das Leuchten in seinen Augen vorausgeahnt hatte, fädelte alles ein, und nachdem Daniel beim Lunch mit ­Bernard in Champton dem reichlichen Genuss von Gin, Weißburgunder und Bordeaux standgehalten hatte, war die Sache besiegelt.

Als Daniel jetzt die vielen Getränke seines Einstands vor seinem inneren Auge sah, musste er unwillkürlich wieder an die Toi­lette denken, und die besinnliche Stimmung verflog. Und erst jetzt fiel ihm auf, dass am Portal jemand auf ihn wartete. Es war Dora, die umgänglichere der beiden Sharman-Schwestern, und Daniel hatte eine Vorahnung, dass sie nicht das Wetter mit ihm erörtern wollte.

»Guten Abend, Dora, wie geht es Ihnen?«

»Danke, gut.«

»Ist Kath schon gegangen?«, erkundigte sich Daniel.

»Sie hat sich beim letzten Lied rausgeschlichen, weil sie irgendwas im Fernsehen gucken wollte. Das ist hoffentlich keine schlimme Sünde, oder?«

»Der Herr ist gnädig.«

»Aber ich wollte mit Ihnen über die Toilette sprechen.«

»Gewiss. Sind Sie dafür oder dagegen?«

»Darum geht’s mir gar nicht. Sondern um die Kirchenbänke. Ich wünsche mir, dass sie da bleiben können, wo sie sind«, antwortete Dora.

»Können Sie mir diesen Wunsch näher erläutern?«

»Das sind unsere Plätze. Wir haben immer schon dort gesessen. Sie sollten uns nicht weggenommen werden.«

»Nichts bleibt, wie es ist, Dora. Was Sie aber immer haben werden, ist ein Platz in dieser Kirche, Sie und Ihre Schwester«, stellte Daniel klar. »Das ist Ihr Gotteshaus.«

»Das sagen Sie jetzt so. Aber ich glaube, Sie wollen uns zwingen wegzugehen«, entgegnete Dora verdrossen.

»Ich schlage doch nur vor, dass Sie zugunsten der Toilette einen anderen Platz einnehmen.«

»Warum geben Sie denn nicht Ihren Platz auf?«

Dieser absurde Vorschlag verblüffte Daniel so, dass es ihm kurz die Sprache verschlug. Schließlich sagte er: »Nun … weil mein Platz der des Geistlichen ist. An diesem Platz übe ich meinen Beruf aus. Sie würden doch auch nicht erwarten, dass der Organist auf der Kanzel steht, oder?«

»Ihr Platz ist also immer für Sie reserviert.«

»Nicht für mich persönlich, sondern für den jeweiligen Amts­inhaber.«

Dora dachte einen Moment nach und sagte dann: »Ich weiß, dass wir nicht nur zur Kirche gehen sollten, um auf unseren Lieblingsplätzen zu sitzen. Aber sie sind uns nun mal sehr wichtig, und wir wollen sie nicht verlieren. Einige von uns haben ohnehin nicht viel im Leben, und das Wenige, das uns gehört, wollen wir nicht verlieren. Verstehen Sie?«

»Gewiss, aber Sie würden gar nichts verlieren, Dora«, antwortete Daniel, »sondern nur an einer anderen Stelle sitzen.«

»Ja, aber genau dieser Platz ganz hinten ist unserer, und wir wollen ihn nicht aufgeben.«

Daniel unterdrückte ein Seufzen. »Aber Sie könnten doch immer noch ganz hinten sitzen, Dora, in der letzten Reihe.«

Dieses Argument fruchtete auch nicht, Dora war nicht bereit aufzugeben. »Warum muss denn die Toilette ausgerechnet dorthin?«

»Wo sollte man sie sonst einbauen?«

»Könnte man nicht die seitlichen Bänke rausnehmen?«

»Aber das würde doch den Kirchenraum in zwei Teile spalten, Dora«, erwiderte Daniel. »Von Ihrem Sitzplatz aus könnte man den Altar nicht mehr sehen, wenn man die Toilette weiter vorne anlegen würde. Außerdem müsste dann jeder, der sie aufsuchen will, das vor den Augen der gesamten Gemeinde tun.«

»Na ja, dann … weshalb brauchen wir das Ding überhaupt? Wir sind doch jahrhundertelang ohne ausgekommen …«

»Weil auch die Kirche den Gläubigen heutzutage einen gewissen Komfort bieten muss, um nicht unterzugehen, Dora. Und Pinkeln ist ein menschliches Bedürfnis.«

»Aber eine Kirche ist doch kein Kino!«

Daniel musste an eine Kirche in London denken, in der die Wandbilder inzwischen von kostspieligen audiovisuellen Gerätschaften verdeckt waren. Darauf wurden während des Gottesdiensts allerlei Texte projiziert, die Daniel nicht sonderlich religiös erschienen.

»Das Kirchensterben greift um sich, Dora«, sagte er. »Wir müssen uns anpassen, wenn uns dieses Schicksal nicht auch ereilen soll.«

»Manchmal müssen wir aber auch Traditionen bewahren, wenn wir verhindern wollen, dass etwas stirbt«, erwiderte Dora.

4

Audrey saß behaglich mit den Hunden vor dem Fernseher, als Daniel zurückkam. Cosmo und Hilda begrüßten ihr Herrchen wie immer, kehrten jedoch dann rasch auf Audreys Schoß zurück, wo sie sich auf der Wolldecke zu einem perfekten Yin und Yang einrollten.

Sonntagabends gab es grundsätzlich Suppe und Sandwiches bei den Clements, ein Ritual aus Daniels Kindheit. Audrey hatte die Sandwiches damals mit Resten vom Braten und Pickles zubereitet, die Tomatensuppe wurde aus einem Henkelbecher getrunken, und dabei hörte sich die Familie eine Komödie im Radio an. Es war die einzige Mahlzeit der Woche, die nicht ordentlich am Tisch eingenommen wurde.

Heutzutage gab es sonntags höchstens Eintopf oder Auflauf zum Mittagessen, keinen Braten mehr, weil die Zubereitung für Audrey zu anstrengend war und Daniel an diesem Tag zu viele Verpflichtungen hatte. Doch die Tradition von Suppe und Sandwiches wurde aufrechterhalten, wenn auch inzwischen vor dem Fernseher.

Als Daniel in die Küche ging, fand er dort bereits einen Teller voller pikanter Käse-Schinken-Sandwiches mit französischem Senf und Audreys hausgemachtem Pflaumen-Chutney vor. Während Daniel eine Dose Tomatensuppe öffnete und in einen Topf goss, um sie auf dem betagten Aga-Herd zu erwärmen, beschloss er, die Hunde zu füttern. Als die beiden Vierbeiner die Tür des Schranks vernahmen, in dem ihr Essen aufbewahrt wurde, kamen sie sofort angeschossen wie geölte Blitze. Hilda hatte als Alphatier wie immer die Nase vorn. Dann standen beide schwanzwedelnd vor Daniel und starrten zu ihm hoch, als gäbe es nichts Aufregenderes auf der Welt.

In Bezug auf die Hunde hatte Audrey eigentlich strikte Regeln, die sie aber samt und sonders selbst missachtete. Die Hunde durften auf ihrem Schoß und auf dem Bett liegen und bekamen sogar Häppchen von ihrem Teller gefüttert, womit sie Daniels Trockenfutterdiät für die beiden effektiv untergrub.

Jetzt erteilte er das Kommando zum Sitzen, den einzigen Befehl, den Cosmo und Hilda befolgten, weil er mit Futter belohnt wurde. Nachdem er die Näpfe abgestellt hatte, mussten die Hunde warten, bis er ihnen das Zeichen gab. Dann verputzten die beiden die Mahlzeit mit derart wölfischem Appetit, dass zu ihrem eigenen Erstaunen binnen Sekunden nichts mehr übrig war und sie den Napf so säuberlich ausleckten, als sei vielleicht noch irgendwo etwas versteckt.

Der Appetit von Daniel und Audrey war weniger ausgeprägt, aber vorhanden, und so verzehrten sie gemütlich ihre Mahlzeit vor dem Fernseher, während die Hunde ausnahmsweise artig zu ihren Füßen lagen. Später sollte es einen Spielfilm geben, in dem Tom Conti einen Papst verkörperte, der in eine Krise mit seiner Berufung gerät; ein angemessenes Programm für einen Sonntagabend, fand Daniel. Zuvor musste er jedoch eine seichte Talkshow ertragen, in der aufgeblasene Prominente andere aufgeblasene Prominente interviewten. Was Audrey allerdings Gelegenheit gab, nach Herzenslust über die jeweiligen Gäste zu lästern, und je ­älter sie wurde, desto ausgiebiger tat sie es.

Daniel musste unwillkürlich an seine Großmutter denken, die ihren Lebensabend in einem Altersheim für gut betuchte ältere Herrschaften verbracht hatte. Sie hatte ihm damals gesagt, dass sie nur noch an Schadenfreude und Überheblichkeit Spaß hätte. Mit einer Freundin hockte sie gerne im Aufenthaltsraum, wies hochnäsig Kontaktversuche von anderen Senioren ab, die sie für ihrer nicht würdig hielt, und kicherte hämisch, wenn mal wieder jemand vom Leichenwagen abgeholt wurde.

Als Daniel sie zum letzten Mal sah, nachdem sie einen schlimmen Sturz gehabt hatte und nicht mehr sprechen konnte, nahm er die letzte Salbung vor und sprach Gebete. Dann hielt er die Hand seiner Großmutter, aber offenbar zu kurz, denn als er aufbrach, wollte sie ihn nicht loslassen. Später am Abend starb sie alleine, und das hatte sich Daniel nie verzeihen können.

Jetzt begann der Film, der aber sterbenslangweilig war, weshalb Audrey auch prompt mitten in der Seelenkrise des gepeinigten Papstes einschlief. Daniel schob den Servierwagen zurück in die Küche und begann mit dem Abwasch.

Die Hunde fingen unvermittelt an zu bellen und ließen sich partout nicht beruhigen. Daniel hörte, wie draußen eine Autotür zugeschlagen wurde, was seltsam war, denn sonntags nach der Abendandacht kamen für gewöhnlich keine Besucher mehr. Als er zur Haustür ging, sah er einen ihm unbekannten Wagen auf der Zufahrt stehen. Es war ein nagelneuer Golf GTI, schimmernd und kompakt, mit modernem Fließheck. Daniel hatte in der ­Zeitung eine Lobeshymne über dieses Auto gelesen, das als bescheiden im Verbrauch, aber schnell und kraftvoll galt. Es gab nur eine Person, die für ein solches Fahrzeug infrage kam: Daniels Bruder Theo. Der natürlich wieder einmal unangekündigt auftauchte.

»Und, was hältst du von meinem neuen Schlitten, Dan?«, ­waren Theos erste Worte, als er ins Haus trat.