Der Rattenfänger - Heike Gabriele Wagner - E-Book

Der Rattenfänger E-Book

Heike Gabriele Wagner

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Beschreibung

Nichts ist, wie es scheint. Liegt ein Fluch aus der Vergangenheit über den Menschen von Tampa? Sind es Unfälle oder handelt es sich um eine Mordserie? Diese Fragen muss sich auch Hauptkommissarin Alexandra Brückner aus Erfurt stellen, als sie den Fall des ertrunkenen jungen Rettungsschwimmers Rene Schmitt übernimmt und dabei auf mehrere, mysteriöse Todesfälle stößt. Es beginnt eine fesselnde Jagd nach der Wahrheit mit überraschenden Wendungen. Zur Region: Die topografische Lage und vor allem die Entstehungsgeschichte des kleinen Bergsees Ebertswiese war Anlass, die Geschichte in dieser Gegend spielen zu lassen. Tampa und sein schöner Badesee sind also fiktiv am Nordhang des Thüringer Waldes, westlich von Ohrdruf, in der Nähe von Tambach-Dietharz angesiedelt. Es ist umgeben von sieben Tälern, eingebettet in eines der größten Waldgebiete Deutschlands.

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Der Rattenfänger

Ein Thüringen-Krimi

Die Hauptkommissarin-Brückner-Reihe im RhinoVerlag:

Der Rattenfänger – Hauptkommissarin Alexandra Brückners erster Fall

Der Rosenkiller – Hauptkommissarin Alexandra Brückners zweiter Fall

Impressum

© 2022 RhinoVerlag Dr. Lutz Gebhardt & Söhne GmbH & Co. KG

Am Hang 27, 98693 Ilmenau

Tel.: 03677 / 46628-0, Fax: 03677 / 46628-80

www.RhinoVerlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Nachdruck, Vervielfältigung und Verbreitung – auch von Teilen – bedürfen der ausdrücklichen Genehmigung des Verlages. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verbreitung in elektronischen Systemen.

Umschlagbilder: Titelbild: milkovasa/stock.adobe.com, Rückseite: saran25/stock.adobe.com

Layout, Satz: Sibylle Senftleben

Schrift: Garamond

Umschlaggestaltung: catnipsflavour

2. überarbeitete Auflage 2022

ISBN 978-3-95560-706-7 (EPUB)

Vorwort

L iebe Krimifreunde,

bitte suchen Sie nicht das Städtchen Tampa sowie den Neulinger See auf der Thüringer Landkarte. Sie brauchen auch keine Suchmaschine zu nötigen, die Lokalitäten und die dazu gehörigen Informationen preiszugeben. Denn diese zwei Orte sind frei erfunden!

Die topografische Lageund vor allem die Entstehungsgeschichte des kleinen Bergsees Ebertswiese bewegte mich, meine Geschichte in dieser Gegend spielen zu lassen. Tampa und sein schöner Badesee sind also fiktiv am Nordhang des Thüringer Waldes, westlich von Ohrdruf, in der Nähe von Tambach-Dietharz angesiedelt. Es ist umgeben von 7 Tälern, eingebettet in eines der größten Waldgebiete Deutschlands.

Ich wünsche Ihnen gute und spannende Unterhaltung.

Heike Gabriele Wagner

Kapitel 1

An einem wunderschönen Spätsommertag zogen weiße Schäfchenwolken langsam über den azurblauen Himmel hinweg. Die Sonne stand schon weit über dem Zenit. Die abgemähten Kornfelder glommen noch einmal mit einem goldenen Schimmer auf, während die Schatten von Sträuchern und Bäumen lang auf den ausgefahrenen Schotterweg fielen. Der anschließende alte Steinbruch war bereits in tiefe Schatten getaucht.

Oben, auf der schroff abfallenden Felswand, stand eine Gruppe von Beobachtern hinter der Absperrung und schaute in die Tiefe. Der Stadtapotheker Krämer, ein langer, hagerer Mann, beugte sich weit über das Geländer, um dem Geschehen im Steinbruch besser folgen zu können. Er wandte sich an die zwei jüngeren Frauen neben ihm, die ihn fragend anschauten.

„Als ich vorhin hier mit dem Fahrrad vorbeikam, sah ich zufällig den Jungen an der Kante stehen. Ich habe sofort abgebremst und wollte helfen, aber er war bereits verschwunden. Ich habe gleich den Notruf gewählt.“

„Was ist denn passiert?“, rief eine ältere Frau aufgeregt, die sich der Schar von Schaulustigen näherte. „In der Siedlung wird erzählt, es wäre jemand abgestürzt. Lieselotte, stimmt das?“ Sie hatte die Gruppe erreicht und schaute gespannt ihre Nachbarin an.

Die nickte ihr bestürzt entgegen. „Ja, aber wir wissen noch nicht, wer es ist.“ Beide lehnten sich nebeneinander weit über die Brüstung, die ihnen bis zur Taille reichte.

„Siehst was?“

Der Apotheker mischte sich ein. „Da liegt ein Junge. Er ist wahrscheinlich von hier oben abgestürzt. Besonders sicher finde ich ja die Absperrung für den Steinbruch nicht.“ Er wischte prüfend mit seiner Hand über die Brüstung. Die einzelnen Zaunfelder bestanden lediglich aus zwei an den Metallpfosten in unterschiedlicher Höhe angeschweißten Metallrohren. Einer von drei Schuljungen kroch unter dem niedrigen Hindernis bis zur Abbruchkante durch, um besser in die Tiefe schauen zu können. Entsetzt zerrte ihn einer der beiden Bauarbeiter, die neugierig einen Stopp auf dem Weg in den Feierabend eingelegt hatten, an den Füßen zurück.

„Mensch Junge, bist du lebensmüde? Da unten liegt doch schon einer!“

Die sich nähernde Sirene eines Einsatzwagens der Polizei zog die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich. Sie beobachteten gespannt das Geschehen, was sich ihnen unten im Steinbruch bot.

Der ankommende Streifenwagen reihte sich hinter den bereits parkenden Polizeifahrzeugen ein. Zwei Polizisten stiegen aus und meldeten sich beim leitenden Beamten. Im hinteren Bereich standen zwei Züge der Feuerwehr, deren Blaulichter weit sichtbar rotierten. Die Kameraden der Feuerwehr begannen, den Bereich zu sichern und mit Flatterband abzusperren.

Im Inneren des Steinbruches stand ein Krankenwagen quer und nahe der Abbruchwand war das Notarztauto geparkt. Die Sanitäter packten ihre Notfallkoffer und Taschen bereits wieder ein. Der Einsatzleiter der Polizei sprach mit der Notärztin. Die junge Frau zuckte traurig mit den Schultern.

„Für den Jungen kann ich leider nichts mehr tun. Soweit ich das sehen konnte, multiple Verletzungen und todesursächlich der Genickbruch. Ich lasse ihn in die Gerichtsmedizin überführen. Ich kann Ihnen nicht sagen, ob es sich hier um einen Unfall handelt.“

Beide schauten nach oben. Der Beamte winkte die zwei neu angekommenen Polizisten herbei. „Ihr fahrt jetzt sofort da hoch und sichert die Absturzstelle und nehmt Zeugenaussagen auf. Ein gewisser Krämer hat den Notruf gewählt. Den möchte ich unbedingt sprechen.“ Er zeigte mit dem Finger nach oben. Beide nickten und liefen zurück zu ihrem Dienstfahrzeug.

Unmittelbar neben dem Notarztwagen lag die Leiche des Jungen. Ein Polizist bemühte sich, den geschundenen schmalen Körper vor neugierigen Blicken zu schützen und deckte ihn mit einem weißen Tuch ab. Eine ältere Frau in Uniform sammelte herumliegende Utensilien in Asservaten-taschen ein. Ein dritter Beamter stand an einem der Einsatzfahrzeuge und sprach über ein Funkgerät mit der Zen-trale. Er schaute auf den alten Schotterweg zurück und sah, wie eine Frau in einem bunten Sommerkleid auf ihn zugelaufen kam. Ihr halblanges rotes Haar wirbelte im Wind wild durcheinander, ihre hellblauen Augen waren gerötet und Tränen liefen über ihre Wangen. Sie rief ihm weinend Worte zu, die er nicht verstehen konnte. Er beendete seinen Funkspruch und stellte sich ihr in den Weg.

„Sie können hier nicht durch! Sagen Sie mir bitte erst einmal Ihren Namen.“ Unter ihrem weinenden Geschrei konnte er sie kaum verstehen. Er vermutete, dass es sich um die Mutter des verunglückten Jungen handelte. „Bitte warten Sie einen Augenblick. Ich informiere die Kollegen.“

Mit ihrem unmittelbaren Kraftakt hatte er nicht gerechnet. Sie gab ihm einen mächtigen Stoß gegen die Brust. Er knallte mit dem Rücken gegen seinen Wagen und schnappte nach Luft. Sie fuchtelte mit den Armen, schrie etwas und lief an ihm vorbei. Die Ärztin und der Beamte unterbrachen ihr Gespräch und schauten in die Richtung des Lärms. Ein Polizist versuchte ebenfalls, sich der Frau entgegenzustellen, um sie festzuhalten. Aber auch hier riss sie sich los und lief auf die weiße Abdeckung zu. Sie kniete sich daneben und zog das Tuch vom Körper des Kindes und schluchzte. Mit beiden Händen streichelte sie das Gesicht des Jungen. Sie legte den Kopf auf die Brust des Kindes und ihr Körper wurde durch einen Weinkrampf geschüttelt.

Alle im Steinbruch hatten ihre Tätigkeit unterbrochen und schauten auf die weinende Frau, die ihr Kind umklammert hielt.

Eine junge Beamtin stand an einem der Einsatzfahrzeuge. Erst jetzt bemerkte sie die zwei Jungen, die der Frau gefolgt waren. Sie lief über die Einfahrt und hielt die Jugendlichen auf. „Wo wollt ihr denn hin? Ihr könnt hier nicht rein, es ist ein Unfall passiert!“

Ihr fiel auf, dass die Jungen sich sehr ähnlich sahen, schlank, kurze dunkle Haare, schmales Gesicht und die gleichen blauen Augen. Nur der Ältere war einen Kopf größer. Verstört schauten die Brüder sie an. Sie fragte: „Seid ihr Geschwister, ist das eure Mutter?“ Beide nickten, dann fragte sie der Jüngere: „Ist er tot?“

Für ein paar kurze Sekunden wusste sie nicht, wie sie antworten sollte. Die junge Frau verstand, dass es sich bei dem toten Kind um den Bruder der beiden handelte. Sie nahm den Jüngeren in den Arm, fasste den älteren Jungen an der Hand und zog beide zu ihrem Einsatzwagen.

„Es sieht aus wie ein Unfall. Allerdings können wir noch nicht sagen, was passiert ist.“ Sie bemühte sich, tröstende Worte für die beiden zu finden.

Die Frau lag noch immer weinend auf ihrem Kind. Ein Polizeibeamter stand über ihr und versuchte, sie mit beruhigenden Worten zum Aufstehen zu bewegen. Plötzlich wurde sie ganz still und schaute auf zu den Menschen, die oben auf der Felswand standen. Sie richtete sich auf, ihr Gesicht wirkte verzerrt.

„ICH VERFLUCHE EUCH!“ Die Felswände hallten mehrmals den Satz wider. Alle starrten erschrocken auf die Frau, die ihre Hände zu Fäusten ballte und den Menschen oben auf dem Felsen drohte. Sie schrie aus Leibeskräften:

„Jetzt ist er tot, jetzt habt ihr euren Willen, er ist tot! Ihr habt ihn gequält, beschimpft und gejagt. Ihr wolltet ihn weghaben und jetzt ist er tot! Es ist eure Schuld, ihr habt ihn in den Tod getrieben! Ich verfluche euch, euch und eure Brut! Ihr sollt auch kein Glück mehr haben, passt auf eure Kinder auf! Eure Kinder sind in Gefahr. ICH VERFLUCHE SIE!“ Die letzten Worte hallten noch einmal nach.

Erschrocken wichen die Menschen auf der Felswand zurück. Die drei Schuljungen rannten zu ihren Fahrrädern und verschwanden schnell hinter der Waldbiegung. Die Handwerker stiegen rasch in ihren Vito und fuhren zügig davon, während die zwei jungen Frauen ihre Kinder schnappten und eilig hinter den anderen in die Siedlung zurückliefen.

Es war, als wollten sie dem Fluch entfliehen.

Kapitel 2

17 Jahre später

Alex Brückner lief die Treppen zum Kommissariat hinauf. Es war früh am Morgen und wenige Kollegen der Nachtschicht verrichteten noch ihren Dienst. Ihr Stimmungspegel tendierte gegen null. So hatte sie sich den Einstieg in ihren alten Job als Hauptkommissarin nicht vorgestellt. Seit über einem halben Jahr besuchte sie nun Weiterbildungslehrgänge und hatte noch an keinem nennenswerten Fall mitarbeiten können.

Bei ihrem neuen Chef Jochen Ackermann hielt sich die Begeisterung in Grenzen, die freigewordene Stelle des Hauptkommissars mit ihr besetzen zu müssen. Die Anweisung kam von ganz oben. Sie, eine alleinerziehende Mutter von drei Kindern, die nach elf Jahren als Hausfrau wieder in den Polizeidienst drängte.

Dass es nicht einfach werden würde, hatte sie bereits vorher gewusst. Aber auf ihren Spürsinn und ihren Instinkt konnte sie sich auch heute noch hundert Prozent verlassen. Als angehende Kriminalbeamtin war es ihr damals gelungen, schnell die Karriereleiter aufzusteigen. Sie leitete als jüngste Hauptkommissarin eine Sonderkommission und brachte zwei knifflige Fälle in kurzer Zeit zum Abschluss.

Ihren Mann Michael lernte sie auf einer Weiterbildung über Bankenkriminalität kennen. Sie verliebte sich damals Hals über Kopf in den gut aussehenden Banker, heiratete ihn und wurde mit Tochter Lisa schwanger. Dank ihrer Eltern, vor allem ihrer Mutter, konnte sie nach kurzer Babypause wieder in ihren Job einsteigen. Oma Annette sprang immer ein, wenn ihre Hilfe benötigt wurde. Vier Jahre später wurden die Zwillinge geboren und die guten Vorsätze, so schnell wie möglich wieder in den Polizeidienst einzutreten, verworfen. Die Entscheidung für die Familie fiel ihr damals nicht leicht, dennoch bereute sie all die Jahre diesen Schritt nicht. Vor drei Wochen feierte ihre Tochter bereits den 15. Geburtstag. Auch über die Zwillinge konnte sie sich nicht beklagen. Die Jungs waren mit ihren elf Jahren schon so selbstständig, dass sie sich oftmals überflüssig vorkam. Jetzt auch noch die Scheidung von Michael. Da kam das Stellenangebot von ihrem Onkel Werner, der im Innenministerium arbeitete, gerade recht. Das war ihre Chance.

Alex ging in ihr Büro und erstellte am PC den Abschlussbericht ihrer letzten Weiterbildung. Das Telefon klingelte und Michael rief an.

„Hallo Alex, ich bin es. Die Scheidungsunterlagen sind gerade gekommen. Können wir noch mal miteinander reden? Ich würde gern morgen Abend vorbeischauen.“

Alex schloss kurz die Augen. Bitte nicht schon wieder die alte Leier. Diese ewigen Diskussionen über Schuld, Liebe, Kinder, ihren Berufseinstieg und ihre Vergebung für seinen kleinen, so genannten „Ausrutscher“.

„Micha, es hat sich an meiner Entscheidung nichts geändert, die Nummer mit deiner Assistentin hättest du dir vorher überlegen können. Ich kann nicht mehr zurück.“

„Bitte Alex, ich komme trotzdem morgen Abend vorbei. Ich will noch ein paar Sachen abholen und würde gern die Kinder sehen. Wir hatten doch bisher eine gute Ehe. Das kannst du doch nicht einfach so löschen. Lass uns nochmal über das alles reden. Schlaf nochmal drüber. Mach’s gut.“

Alex lehnte sich zurück. Michaels Stimme klang wieder überaus sachlich, als ging es nicht um ihre Ehe, sondern um einen seiner Finanzabschlüsse in der Bank. Sie strich sich mit einer Hand über die Stirn, schloss für einen Moment die Augen und musste sich beruhigen. Nichts würde sie davon abhalten, ihren neu eingeschlagenen Weg zu gehen. Ohne Michael.

Dann nahm sie den Bericht, atmete nochmals tief durch und trat in den Flur. Mittlerweile herrschte auf den Fluren eine rege Betriebsamkeit. Die Kollegen der Tagschicht hatten den Dienst bereits angetreten. In Ackermanns Büro brannte schon Licht. Sie klopfte kurz und trat sofort ein. „Guten Morgen, Herr Ackermann. Kann ich mit Ihnen reden?“

Ihr Chef schaute von seinem Schreibtisch auf. Er war ein großer, hagerer Mann Mitte fünfzig, stets korrekt gekleidet mit edlen Anzügen und ausgefallenen Krawatten. Das lichte, ergraute Haar trug er streng nach hinten gekämmt. Seine stechenden Augen verdeckte eine dunkel gerahmte, modische Brille.

„Guten Morgen Frau Brückner. Was liegt denn an?“

Alex legte ihm ihren Bericht auf den Schreibtisch.

„Das ist mein Abschlussbericht vom Lehrgang in München und ich sage es gleich, ich weigere mich, noch irgendeine Schulung, Weiterbildung, Qualifizierung, Seminar oder ähnliches zu belegen. Das habe ich jetzt über ein halbes Jahr lang getan. Ich bin als Hauptkommissarin eingestellt worden und möchte endlich meiner Arbeit nachgehen.“

Er lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und grinste sie an. „Oh, spüre ich da einen Hauch von Rebellion? Sie waren schließlich elf Jahre außer Dienst.“

Alex trat einen Schritt vor. „Ja, aber deshalb verlernt man nicht alles. Außerdem habe ich ja jetzt alles wieder aufgefrischt und ich kann auf meine Erfahrung und Intuition als Hauptkommissarin sehr gut zurückgreifen.“

Ackermann beugte sich wieder nach vorn und kramte in seinen Papieren auf dem Schreibtisch. Er betrachtete eine Liste.

„Ja, was mach’ ich denn nur mit Ihnen? Wie wär’s, wenn Sie erst mal als Urlaubsvertretung in die Soko von Chris Bergmann mit einsteigen? Der hat einen ziemlich komplizierten Mordfall übernommen.“

Alex antwortete nur zögerlich. „Ja okay. Geht es da um die zwei Toten im Strichermilieu?“

Ackermann schien ihr gar nicht zuzuhören. Er kramte erneut auf seinem Schreibtisch und fand einen Zettel. „Ach Moment, vergessen Sie das mit Bergmann. Ich habe hier eine Sache aus Gotha bekommen. Mein geschätzter Kollege Stiegel hat mich kontaktiert und gebeten, ihm bei einem Fall behilflich zu sein. Ich glaube, die haben in Gotha ein kleines Personalproblem. Es geht um einen jungen Mann, der am Samstag im Neulinger See bei Tampa ertrunken ist. Die Zuständigkeit liegt bei uns. Er ist nämlich in Erfurt gemeldet, Student an der Fachhochschule für Landschaftsarchitektur und Gartenbau. Die Todesumstände müssen noch geklärt werden. Würden Sie das übernehmen?“

Alex brauchte nicht lange zu überlegen. Sie hätte in ihrer Situation jeden Fall übernommen und sei er auch noch so unbedeutend.

„Okay, ich werde mich darum kümmern.“

Er reichte ihr den Zettel. „Schauen Sie bei Frau Wegener vorbei, die hat noch mehr Infos zu dieser Sache. Ich erwarte dann Ihren Bericht. Na dann, viel Erfolg!“

Alex betrat das Großraumbüro, um von der Kommissarin Regina Wegener weitere Informationen über ihren ersten Fall zu erfahren. Sie kannte ihre Kollegin schon einige Monate, aber bis auf ein wenig Smalltalk in der Kantine oder am Kaffeeautomaten hatten sie bisher nicht viel miteinander zu tun.

Ihre Kollegin, eine etwas mollige Erscheinung, bot ihr gleich einen Kaffee und zehn Minuten später das Du an. Alex schätzte sie auf Anfang 50. Das sportliche Outfit und ihre kastanienbraune Kurzhaarfrisur kaschierten ihr Alter bestens. Sie mochte ihre lockeren Sprüche und konnte sich eine Zusammenarbeit mit ihr gut vorstellen. Regina erläuterte ihr den Fall und die Meldung vom Neulinger See aus Tampa.

Eine Stunde später machte Alex sich auf den Weg. Sie stieg in ihren BMW und drehte die Klimaanlage voll auf. Schon jetzt, in den Vormittagsstunden, kletterte das Thermometer auf 26 Grad Celsius. Die Wettervorhersage kündigte heute die erste große Hitzewelle dieses Sommers an.

Sie kannte Tampa, ein hübsches kleines Städtchen am Fuße des Thüringer Waldes. Wenn sie im Sommer mit den Kindern bei ihren Schwiegereltern in Gotha vorbeischaute und das Wetter es hergab, besuchten sie oft diesen wunderschönen Bergsee bei Tampa.

Sie konnte sich daran erinnern, dass im vergangenen Jahr dort schon einmal ein Jugendlicher ertrunken war. Der See war bis zur Klärung der Umstände wochenlang gesperrt gewesen. Danach verspürte Alex keine Lust mehr, mit ihrer Familie noch einmal an diesem Ort baden zu gehen. Und jetzt war schon wieder ein junger Mann ertrunken. Wie sie von ihrer Kollegin erfuhr, gehörte er sogar zu den besten Rettungsschwimmern in Thüringen, was den Notarzt dann doch stutzig machte. Alex wusste, dass der See, ein gefluteter, ehemaliger Steinbruch, im hinteren Bereich eine starke Strömung besaß, während der vordere Teil von der Stadt Tampa erst viel später als Badebucht angelegt worden war. Dieses Areal eignete sich hervorragend zum Baden, da der Strand nur allmählich ins Wasser abfiel. Das Terrain stufte die Behörde zweifellos als ungefährlich ein, da hier im flachen Bereich die Strömung ausblieb. Der Strandabschnitt wird regelmäßig mit weißem Sand aufgeschüttet, große Bäume säumten den See und spendeten Schatten. Der See galt als absoluter Geheimtipp. Alex beschloss, kurz daheim vorbeizuschauen. Sie vermutete, dass es heute Abend spät werden würde.

Sie parkte vor dem Haus und hörte die dumpfe Musik schon beim Aussteigen. Schwänzte Lisa etwa die Schule? Alex atmete erst mal durch. Sie wusste, es würde gleich mächtig Ärger geben. Die Pubertät hatte ihre Tochter voll im Griff, es gab fast jeden Tag Stress. Zu allem Überfluss liebte sie es, sich mit Gleichgesinnten in der Gothic-Szene herumzutreiben. In ihrem Zimmer, bei ihren Sachen und an ihr selbst herrschte nur eine Farbe vor: Schwarz. Den ganzen Tag schallte laute Musik aus ihrem Zimmer. Als sie die Haustür öffnete, kam Lisa ihr bereits entgegen, ganz in Schwarz gekleidet, schwarze lange Haare, schwarze Augen, schwarz-rote Lippen. Über die Schultern hing eine große, schwarze Stofftasche.

„Hey Mama, ich bin schon weg.“

Alex versuchte ruhig zu bleiben. „Wieso bist du noch da? Warum bist du nicht in der Schule? Und mach bitte mal die Musik aus.“

Widerwillig schaltete Lisa die Musik aus und verdrehte die Augen. „Ich habe nur etwas geholt. Wir haben heute Projekttag, das habe ich dir doch erzählt.“ Lisa tat beleidigt. „Du hast es wieder vergessen, du hörst mir nie zu.“

Alex fasste Lisa an die Schulter. Sie zog ernst die rechte Augenbraue hoch. „Entschuldige bitte! Ich stecke mitten in meinem ersten Fall. Ich habe daran nicht mehr gedacht.“

Lisa riss sich los. „Schon gut.“

Alex hielt Lisa auf. „Bei mir wird es heute etwas später werden. Ich möchte, dass du dich heute um das Abendbrot kümmerst und schaust, dass die Zwillinge ihre Hausaufgaben machen und nicht so spät ins Bett gehen. Ist das ok?“

Ihre Antwort kam zögerlich. „Ja, ich kümmere mich drum. Ich muss jetzt los.“ Sie steckte sich ihre Ohrstöpsel in die Ohren, drehte die Musik am Handy auf und lief aus dem Haus. Alex schaute ihrer Tochter nach und dachte wehmütig an die Zeit, als sie morgens ihrem niedlichen, kleinen Mädchen die blonden Haare zu Zöpfen geflochten und mit bunten Spangen versehen hatte.

Sie aß eine Kleinigkeit, schrieb den Zwillingen ein paar Zeilen und machte sich auf den Weg in Richtung Gotha.

Alex brauchte etwas mehr als eine Stunde bis nach Tampa. Auf der A4 bei Gotha gab es einen Auffahrunfall. Zum Glück war die Unfallstelle fast geräumt und die Kollegen der Autobahnpolizei bemühten sich, die angestaute Autoschlange zügig an der Unfallstelle vorbeizuleiten.

Alex mochte das kleine Städtchen mit seinen Fachwerkhäusern, dem schön gestalteten Marktplatz, den kleinen Geschäften und natürlich der außergewöhnlichen Eisdiele im Fünfziger-Jahre-Stil. Ihre Kinder liebten es, hier nach dem Baden Eis essen zu gehen. Am Ortseingang deutete ein großes Werbebanner auf das bevorstehende Waldmühlenfest am Wochenende hin.

Sie bremste den Wagen ab, denn Verkehrsschilder wiesen am Marktplatz auf die verkehrsberuhigte Zone hin. In einer Nebenstraße befand sich die kleine Polizeiwache. Sie parkte gleich neben einem davorstehenden Polizeiwagen.

In der Wache herrschte stickige Luft. Alex lief an dem kleinen Tresen vorbei und klopfte an die halboffene Bürotür. Eine junge Frau in Uniform sortierte in den unteren Schrank Aktenordner ein. Sie fuhr erschrocken hoch und starrte Alex an. Sie trug ihre lockige rote Haarmähne zu einem Zopf gebunden, eine Haarsträhne hing ihr über das leicht verschwitzte, herzförmige Gesicht mit vielen Sommersprossen. Ihre grünen Augen durchbohrten Alex regelrecht.

„Oh, entschuldigen Sie! Ich wollte Sie nicht erschrecken! Mein Name ist Alexandra Brückner, Hauptkommissarin aus Erfurt. Ich wurde angemeldet.“

Die junge Frau löste sich aus ihrer Starre und musterte Alex. Sie hatte eigentlich eine ältere Frau erwartet. Mutter mit drei fast erwachsenen Kindern, so war sie von ihrer guten Kollegin Regina angekündigt worden. Und hier stand jetzt eine sportliche, attraktive Frau mit modischem Haarschnitt, schmaler Hose, Sportschuhen, die Sonnenbrille ins Haar gesteckt und einer schicken, ärmellosen weißen Bluse.

„Oh, ich habe Sie gar nicht gehört. Ich räume gerade auf. Sie kommen in der Angelegenheit Rene Schmitt? Wirklich sehr tragisch. Ach, ich bin Polizeihauptmeisterin Lena Staller, sozusagen die Reviervorsteherin.“

Sie lächelte und gab Alex die Hand. „Nehmen Sie doch Platz. Kann ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee, Wasser oder einen Saft?“

„Ein Wasser, vielen Dank“, nickte Alex zurück.

Lena Staller verschwand in einer schmalen Tür und kam gleich darauf mit einem Glas Wasser zurück. Alex schätzte ihre Kollegin auf Mitte 30, eine attraktive, junge Frau mit einer tollen Figur – selbst in Uniform.

„Wie viele Kollegen arbeiten noch hier?“

„Oh, wir sind nur zu zweit. Mein Kollege Walter Stockelmeier ist zurzeit im Urlaub und geht in einem Jahr in Pension. Es wird schon gemunkelt, dass die Dienststelle dann geschlossen wird und ich wahrscheinlich versetzt werde. Naja, ich kann’s nicht ändern. Aber Sie sind wegen Rene Schmitt hier.“

„Ja, mir liegt hier Ihr Bericht vor, aber ich würde mir gern selbst einen Eindruck verschaffen. Es ist schon sehr merkwürdig, dass ein junger starker Mann, auch noch Rettungsschwimmer, an einem vielbesuchten, harmlosen Badesee ertrinkt. Rene traf sich mit Freunden am Strand?“

„Ja, die jungen Leute trafen sich am letzten Samstag am See, zwei Freunde von Rene und noch zwei junge Frauen. Bei dem schönen Wetter herrschte Hochkonjunktur am Strand. Rene wollte im Schwimmbereich noch ein paar Runden schwimmen. Die anderen vier legten sich in die Sonne und plötzlich verschwand Rene. Keiner kann es nachvollziehen. Er zählte zu den besten Rettungsschwimmern. Im vergangenen Jahr belegte er den ersten Platz beim nationalen Rettungsschwimmerausscheid. Der Junge war beliebt und Feinde schien er auch nicht zu haben. Es sind alle sehr geschockt.“

Alex trank einen Schluck. „Letztes Jahr ist doch schon ein Jugendlicher ertrunken. Ich kann mich erinnern, der See blieb wochenlang gesperrt. Gibt es da einen Zusammenhang?“

Lena Staller strich sich die widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ja, das kann man wohl sagen! Mark Keller, Fußballer aus Leidenschaft, ein guter Schwimmer und Renes bester Freund und ohne Laut oder Hilfeschrei im Schwimmbereich plötzlich verschwunden.“

Erstaunt schaute Alex Lena an. „Was, sein bester Freund? Das kann doch kein Zufall sein! Was ist bei der Untersuchung herausgekommen?“

Lena Staller griff in ihre Schreibtischschublade, holte einen Ordner heraus und öffnete ihn. „Wir haben monatelang ermittelt, deshalb blieb der See auch so lange gesperrt. Experten haben den Badebereich nach Gefahrenstellen untersucht. Weder Strömungen noch Strudel, Untiefen oder Schlingpflanzen wurden in der Badebucht entdeckt. Wir konnten auch nicht feststellen oder beweisen, dass eine Beteiligung anderer Personen vorlag. Bei Mark Keller erschien es mir sogar noch eindeutiger als bei Rene. Es gab nur wenige Badegäste, die wir befragen konnten. Alle Aussagen haben übereingestimmt. Er schwamm allein im Schwimmbereich und ist plötzlich verschwunden. Nach vier Stunden haben die Rettungskräfte ihn erst gefunden.“

Alex trank ihr Glas aus. „Und was ist mit dem Autopsie-Bericht? Es gab doch einen?“

Verwundert hob Lena die Augenbrauen.

„Aber natürlich! Der Gerichtsmediziner konnte nichts weiter feststellen. Todesursache Ertrinken. Die Leiche von Rene Schmitt ist gestern in die Gerichtsmedizin nach Erfurt überführt worden. Wir können nur abwarten.“

„Okay und ausgerechnet jetzt ist Urlaubszeit. Da bekommen wir bis Ende nächster Woche bestimmt keinen Bericht. Ich werde morgen früh bei Dr. Wolter in der Rechtsmedizin vorbeischauen. Vielleicht kann ich ihn zu einer Sonderschicht überreden.“

Fragend sah Lena auf. „Was haben Sie jetzt vor?“

Alex blätterte im Bericht des Notarztes, der den Tod von Rene Schmitt festgestellt hatte. „Ich will jetzt am See vorbeifahren und danach mit diesem Notarzt, einem Dr. Ziegler sprechen. Wenn ich es schaffe, würde ich gern noch die jungen Leute, die mit Rene am See badeten, befragen.“

Lena stand auf, nahm ihre Pistole aus der gesicherten Schublade, steckte sie in den Halfter und griff nach ihrer Mütze.

„Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich Sie begleiten. Ich kenne mich hier sowieso besser aus als Sie.“

Alex stand ebenfalls auf und folgte ihrer Kollegin.

„Okay, das Angebot nehme ich gerne an. Können Sie denn einfach hier weg?“

„Wir haben hier in der Provinz auch schon Rufumleitung“, lachte Lena und hielt ihr Handy hoch.

Kapitel 3

Die beiden Frauen fuhren mit dem BMW zum Neulinger See. Alex parkte den Wagen auf dem großen, mit Kugelahorn umsäumten Parkplatz, auf dem trotz des schönen Wetters gähnende Leere herrschte.

Der Bergsee mit seinem kristallklaren Wasser lag tief in einem schmalen Tal. Durch zwei Landzungen, die das Gewässer in der Mitte rechts und links einengten, erhielt der See die Form einer Acht. Soweit man vom Strand blicken konnte, umgaben den hinteren Bereich schroffe, mit Sträuchern und Wildblumen bewachsene Felswände, die zu den Landzungen hin abfielen. Während der vordere Bereich des Sees sich zu einer großzügig gestalteten Badebucht mit weißem Sand öffnete, gab der Schilfgürtel, der sich bis zur linken Landspitze erstreckte, dem Ort ein idyllisches Flair. Große, exotische Bäume, die man hier vor langer Zeit am Strand gepflanzt hatte, spenden an heißen Sommertagen angenehmen Schatten. Rotweiß gestreifte Bänder sperrten die Badebucht komplett ab und Schilder wiesen auf das Badeverbot hin.

Lena Staller lief voran zum Strand.

„Der See ist wohl ein Geschenk der Natur an Tampa. Bis nach dem Krieg ist hier Bergbau betrieben worden, dabei ist man auf ein Labyrinth im unteren Teil des Berges gestoßen. Doch ehe man es erkunden konnte, sind Arbeiter bei weiteren Sprengungen auf eine Wasserader gestoßen und innerhalb von ein paar Tagen ist der Steinbruch komplett vollgelaufen.“

Alex holte Lena mit ein paar großen Schritten ein.

„Aber da sah es hier sicher noch nicht so aus.“

Lena lachte. „Die Stadt Tampa hat die Vorlage der Natur genutzt und gleich nach der Wende Fördergelder beantragt. Dann richtig Geld in die Hand genommen und das ganze Tal rekultivieren lassen. Ich finde es sehr gelungen.“

Alex nickte. „Es ist ein wunderschönes Fleckchen Erde, ein absoluter Geheimtipp. Ich bin hier schon ein paarmal mit den Kindern zum Baden hergefahren.“

Sie blieben beide am Ufer stehen und schauten auf den See.

Alex zeigte auf die massive Absperrung im See: „Soviel ich weiß, darf doch nur hier in dieser größeren Bucht gebadet werden? Im hinteren Teil des Sees ist das Baden strengstens verboten.“

Lena schaute ihre Kollegin von der Seite an. „Ja, das stimmt. Hier vorn, vom Strand aus, ist der See ziemlich flach und liegt auf einer massiven Felsplatte, während der hintere Bereich dann steil in einen tiefen Krater abgleitet. Dort ist der See zirka 30 bis 40 Meter tief. Sie sehen hier die zwei Absperrungen. Bis zu der ersten Bojenkette geht der Badebereich. Er ist nur anderthalb Meter tief. Die zweite massive Absperrung zeigt den Schwimmbereich an, da haben wir eine Wassertiefe von zirka zwei bis vier Metern. Aber Rene wurde im zehn Meter tiefen Bereich des Kraters auf einem Felsvorsprung im hinteren Teil des Sees gefunden. Wir haben hier einen Geologen, der gleichzeitig dem hiesigen Tauchverein vorsteht, Helmut Zober. Dieser erforscht schon seit Jahren den See und sein Labyrinth. Er und seine Leute, einige sind Berufstaucher, haben nach Rene gesucht und konnten sich nicht erklären, ihn so weit von der Badestelle gefunden zu haben.“

Alex nahm beide Hände über die Augen, um das grelle Sonnenlicht abzuschatten und zum gegenüberliegenden Ufer zu schauen.

„Was sind das für Leute dort ganz hinten, sehen Sie sie? Sie sind sehr weit weg.“

Auch Lena schaute in die gezeigte Richtung.

„Ja, das könnten Zober und seine Leute sein. Ich bat ihn, nochmal hier in der Badebucht nach dem Rechten zu sehen. Nicht, dass am Ende doch der See unser Übeltäter ist.“

Alex bückte sich und schüttelte Sand aus ihren Schuhen. „Ich würde gern bei denen vorbeischauen. Wir kommen doch mit dem Auto hin?“, wollte sie wissen.

Lena ging bereits los.

„Kein Problem. Es führt eine kleine Allee dorthin.“

Auf der schmalen, frisch geteerten Straße dirigierte Lena Alex zum Sterngrund. Sie hielten neben Zobers VW Bus und einem großen dunklen Kombi. Durch eine von der Straße nicht einsehbare lange, enge Grotte gelangten die zwei zu einem breiten Felsvorsprung am Ufer. Alex blieb stehen und schaute sich kurz um. „So eine Felshöhle hätte ich hier gar nicht erwartet. Ich bin begeistert.“ Dann deutete sie mit der Fußspitze auf die im Felsboden eingelassenen LED-Lichter, die die Grotte in ein geheimnisvolles Licht tauchten. „Und das, hätte ich jetzt erst recht nicht hier erwartet. Ich dachte, das ist so ein absoluter Geheimtipp?“ Lena, die vorgegangen war, kam ein paar Schritte zurück. „Ja, die Strahler sind ganz neu installiert worden. Unser Bürgermeister möchte das hier als Touristenmagnet vermarkten. Es gab zwar viele Proteste seitens der Bevölkerung, aber im Stadtrat wurde es durchgewunken.“ Schade drum, dachte Alex und folgte Lena.

Zober und seine Leute – drei weitere Taucher – zogen ein größeres Schlauchboot aus dem Wasser. Taucherflaschen und Tauchutensilien lagen auf der Böschung verstreut.

Helmut Zober, ein großer, kräftiger Mann mit graugelocktem, kurzem Haar und schwarzem Neopren-Anzug sah auf und lief den zwei Frauen entgegen.

„Hallo Frau Staller. Wir haben gerade unseren Kontrolltauchgang beendet und konnten nichts Beunruhigendes feststellen. Der See scheint keine Schuld zu haben.“

Lena reichte ihm die Hand. „Hallo Herr Zober. Da kommen wir wohl gerade recht. Das ist meine Kollegin Frau Brückner, Hauptkommissarin aus Erfurt. Sie leitet die Ermittlung.“

Mit einem sehr festen Händedruck begrüßte er Alex, die sich verkniff, die schmerzende Hand zu reiben.

„Guten Tag. Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.“

Zober lächelte und nickte. „Aber natürlich, wenn ich helfen kann.“

„Sind Ihnen Besonderheiten aufgefallen, die uns irgendwie bei der Ermittlung der Unglücksursache weiterhelfen könnten?“, begann Alex gleich mit der Befragung.

Der Taucher zuckte mit den Schultern. „Es tut mir leid, aber mit dem See ist alles in Ordnung. Vor allem im Badebereich gibt es keine Beanstandungen.“

Alex’ Gedanken rotierten. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass zwei gute Schwimmer ohne Zutun eines Dritten einfach so ertranken. Einer vielleicht, aber nicht zwei. „Haben Sie hier schon andere Taucher gesehen?“

Helmut Zober verzog sein Gesicht und ließ verwundert seine Augenbrauen in die Höhe schnellen.

„Nein und hier kann auch nicht jeder tauchen. Selbst wir kommen hier an unsere Grenzen. Der See ist im hinteren Bereich 40 Meter tief. Es ist viel zu gefährlich im Krater, denn durch das Labyrinth herrscht hier eine starke Strömung. Aber, wie gesagt, nur im hinteren Bereich des Sees, vorn am Strand kann man auch ungefährdet schnorcheln. Selbst wir Profis gehen nur in der Gruppe in den Krater oder in das Labyrinth runter, um uns gegenseitig abzusichern. Wer hier tauchen will, muss eine Genehmigung beim Landratsamt einholen.“

Alex überlegte kurz. Sie beobachtete, wie sich zwei Taucher halfen, gegenseitig ihre Neopren-Anzüge auszuziehen. Ein Dritter hantierte noch am Schlauchboot.

„Und Ihre Taucherausrüstung? Ist die irgendwie gesichert oder kommt da jeder ran?“

„Natürlich ist die Ausrüstung in unserem Vereinsheim eingeschlossen und nur mein Stellvertreter Karl Benke, das ist der Blonde dort am Boot, und ich haben einen Schlüssel für das Objekt. Für meine Leute lege ich meine Hand ins Feuer.“ Er deutete auf jeden einzelnen.

„Das ist Elmar Schreiber und der andere ist Winfried Zeutschel. Beide sind Berufstaucher und sehr erfahren. Die zwei anderen Kollegen sind zurzeit im Urlaub.“

Alex lächelte ihn an. „Ich hätte trotzdem gern von Ihnen eine aktuelle Mitgliederliste und auch die Namen der Leute, die aus Ihrem Verein ausgeschieden sind.“

Helmut Zober nickte verwundert. „Okay, die lasse ich Ihnen zukommen.“ Alex bedankte sich. „Wenn Sie noch Fragen haben, stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung“, ergänzte Helmut Zober und verabschiedete sich. Die zwei Frauen fuhren zurück nach Tampa. Lena schaute Alex an.

„Sie glauben nicht an einen Unfall?“

Alex schüttelte den Kopf. „Nicht bei allen beiden.“

Kurz vor dem Ortseingang fragte Alex Lena nach ihrem Dienstschluss. „Ich würde heute gern noch mit dem Notarzt sprechen. Wissen Sie, wo ich den jetzt noch erreichen kann?“

Lena schaute auf die Uhr. Es war schon später Nachmittag. „Eigentlich ist schon Schicht im Schacht, aber wenn wir Glück haben, treffen wir Dr. Ziegler noch in seiner Praxis in der Poliklinik an. An der nächsten Kreuzung bitte links abbiegen auf die Hauptstraße Richtung Gotha, ein paar Meter hin rechts liegt gleich die Klinik, das große, gelbe Gebäude.“

Das Display im Wagen zeigte bereits kurz vor 17 Uhr an und immer noch 29 Grad. Alex musste eigentlich erst daheim anrufen. Zu Hause würden die Zwillinge bestimmt schon auf sie warten. Sie hoffte, dass Lisa ihrer Aufgabe nachkam und sich um die zwei Jungs kümmerte.

Sie parkten vor der Klinik. Der Parkplatz sowie das Wartezimmer der Praxis waren trotz der späteren Stunde noch gut besucht. Am Tresen hantierte eine ältere Schwester und schaute über ihre Brille den beiden Frauen entgegen. Als sie Lena Staller erkannte, hellte sich ihre Miene sichtlich auf.

„Guten Tag Lena. Schön, dass du mal wieder vorbeischaust. Was kann ich denn für dich tun?“

Lena lächelte ebenfalls und legte ihren Unterarm auf den Tresen. „Hallo Renate, wir kommen heute dienstlich. Das ist meine Kollegin Frau Brückner. Wir müssten unbedingt mit Dr. Ziegler sprechen. Ich sehe, das Wartezimmer ist voll, aber es dauert nicht lange. Könntest du uns schnell dazwischenschieben?“

Die Schwester blinzelte auch Alex freundlich zu. „Na klar. Wenn die Patientin rauskommt, huscht ihr schnell rein. Ach, da kommt sie schon.“

Lena winkte nochmal dankend über den Tresen. Alex klopfte kurz an die offene Tür und beide Frauen traten in das Behandlungszimmer.

Der Arzt saß an seinem Behandlungstisch und sah erstaunt auf. Der große stämmige Mann mit Halbglatze und breitem, freundlichem Gesicht erkannte die Polizistin sofort. „Ach Lena, so spät noch unterwegs? Was führt dich denn zu mir?“ Dr. Ziegler stand auf und reichte Lena, dann Alex die Hand. „Ihr kommt sicher wegen Rene Schmitt. Über diese Sache habe ich mir auch schon den Kopf zerbrochen. Nehmt doch Platz.“

Die Frauen setzten sich und Lena stellte ihre Kollegin vor. Alex übernahm das Gespräch.

„Doktor, Sie waren der Notarzt am letzten Samstag am Neulinger See und haben die erste Leichenschau bei Rene Schmitt übernommen. In ihrem Protokoll und im Totenschein haben Sie eine unnatürliche Todesart angegeben. Können Sie das näher erläutern?“

„Ich bin am Wochenende für eine Kollegin beim Notdienst eingesprungen und wir wurden am Samstagabend zum See gerufen. Rene verschwand beim Schwimmen ganz plötzlich, was mich schon sehr stutzig machte. Ich kenne Rene schon seit Kindesbeinen an. Er war ein fabelhafter Schwimmer und ein ganz liebenswerter junger Mann. Mit ihm habe ich schon mehrere Rettungseinsätze erlebt. Er bewegte sich im Wasser wie ein Fisch. Wasser war sein Element. Ich hatte also berechtigte Zweifel an einer natürlichen Todesursache. Helmut Zober und seine Leute wurden angefordert und haben ihn erst nach elf Stunden oberhalb des Kraters gefunden, allerdings mit Nachtunterbrechung. Rene hat kopfüber in der Felswand gehangen. Keiner weiß, wie er dorthin kam.“

Er strich sich mit der Hand über die Stirn.

„Er ist sichtlich ertrunken und ich konnte Hämatome an Armen und Beinen feststellen. Aufgefallen sind mir die Abschürfungen um das linke Fußgelenk, an den Unterarmen und an den Händen. Ich habe sofort die Polizei verständigt.“

Alex nahm sich ihr Notizbuch aus der Tasche, um einige Angaben mitzuschreiben. „Haben Sie eine Vermutung, was die Abschürfungen verursacht hat?“

Der Arzt zuckte mit den Schultern. „Da kann ich nur spekulieren. Vielleicht ein Seil oder eine Kette von einer Boje oder von einem Schlauchboot oder der Absperrung zwischen den Bojen. Ich weiß es nicht.“

Alex notierte dies in ihr Buch und machte ein großes Fragezeichen dahinter. „Okay, Doktor Ziegler, da wollen wir Sie nicht länger aufhalten. Da draußen warten noch viele Patienten auf Sie. Vielen Dank und sollte Ihnen noch etwas einfallen, bitte rufen Sie mich an.“ Sie legte ihre Karte auf den Tisch und beide Frauen verabschiedeten sich.

Jede in ihre Gedanken versunken liefen sie zum Auto. Lena blieb plötzlich stehen. „Die Abschürfungen an den Gliedmaßen von Rene werfen doch erstmal viele Fragen auf. Da könnte man jetzt doch von Fremdeinwirkung ausgehen?“

Alex blieb ebenfalls stehen. „Ja, das glaube ich auch. Wir müssen sein Umfeld nochmal prüfen. Und wir brauchen den Autopsie-Bericht. Darum werde ich mich gleich morgen früh kümmern. Heute machen wir erst einmal Schluss. Außerdem muss ich mich in den Fall erst einlesen. Das wird heute meine Bettlektüre werden.“

Alex deutete mit der Hand auf den Rücksitz ihres Wagens. Hier lagen die Akten von Mark Keller und Rene Schmitt.

Lena lief um den Wagen herum. „Na dann viel Spaß!“

Bevor sie in das Auto stieg, rief Alex schnell ihre Kinder an. Leon meldete sich. Er schaute mit Tim gerade die „Die Simpsons“. „Mama, ich habe beim Pizzamann die große Familienpizza bestellt, die kommt jetzt gleich. Wir heben dir auch ein Stück auf. Nur Lisa bekommt nichts, sie ist noch nicht da.“ Alex nervte es, dass sie sich nicht mehr auf ihre Tochter verlassen konnte. Sie versicherte Leon in einer Stunde daheim zu sein.

Den Vorschlag, Lena am Polizeirevier abzusetzen und die weiteren Ermittlungen auf morgen zu verschieben, nahm ihre Kollegin gerne an.

Die schwüle, drückende Hitze, die auch am Abend noch vorherrschte, machte Alex schwer zu schaffen. Sie fühlte sich müde und abgespannt, als sie ihren Wagen in der Einfahrt parkte. Tim öffnete ihr die Tür. Er trug immer noch seine Tennissachen.

„Hey Mama, wir haben dir noch ein bisschen Pizza übrig gelassen.“

Alex trat in den Flur. Sie ließ die Akten auf das Sideboard fallen, warf ihre Tasche über das Treppengeländer, zog ihre Schuhe aus und gab den Zwillingen einen Kuss auf die Stirn. Erschöpft ließ sie sich in den Sessel fallen. Leon stopfte gerade ein Stück Schokolade in sich hinein. „Mama, du hast heute deinen ersten Fall bekommen. Ist der spannend?“

Alex musste kurz überlegen. „Ja, er ist mysteriös, aber auch traurig. Ich darf darüber nicht reden, Dienstgeheimnis. Ist denn Lisa endlich da?“

Leon brüllte mit vollem Mund. „Ja, Lisa ist in ihrem Zimmer, aber total schlecht gelaunt.“

Alex hörte von oben die dumpfen Klänge. Ein sicheres Zeichen, dass ihre Tochter doch noch den Weg nach Hause gefunden hatte. Tim schlang von hinten seine Arme um seine Mutter. „Ach sei nicht traurig, kleine Mama.“

Alex musste laut lachen. Sie gab Tim einen Kuss, legte die Füße hoch und aß genüsslich ein Stück von der kalten Pizza.

Kapitel 4

Als Alex erwachte, ließ die aufgehende Sonne ihre ersten Strahlen durch das bodentiefe Fenster gleiten. Sie schob die Akten beiseite und richtete ihren verspannten Körper auf. Sie lag noch immer auf dem Sofa, auf dem sie beim Lesen der Akten gestern Abend eingeschlafen sein musste. Erst eine kühle Dusche brachte sie wieder in Schwung. Sie bereitete das Frühstück für die Kinder vor, machte sich einen Kaffee und schaute sich nochmals die Unterlagen an. Der Autopsie-Bericht von Mark Keller erweckte ihre Aufmerksamkeit. Zwar konnte man bei ihm keine Schürfwunden wie bei Rene feststellen, aber an seinen Unterschenkeln diagnostizierte die Gerichtsmedizinerin alte und neue Hämatome. Nun ja, es handelte sich hier um einen leidenschaftlichen Fußballer, der laut Aussage seiner Freundin, bevor er schwimmen gegangen war, mit ein paar Jungen am Strand barfuß Fußball gespielt hatte. Somit ließen sich die Hämatome erklären. Wenn man alle Tatsachen und Ermittlungsergebnisse verglich, konnte man abschließend sagen, dass es sich beim Tod von Mark Keller um ein Unglück handelte, wäre da nicht die Sache mit Rene.

Alex hörte einen Wecker klingeln. Das Haus füllte sich mit Leben. Oben gab es Streit ums Bad. Lisa kam wütend die Treppe herunter, lief an Alex vorbei, verschwand im kleinen Gästebad und knallte die Tür hinter sich zu. Die Jungs kamen nacheinander zum Frühstück. Alex goss Kakao ein. Tim und Leon, die eineiigen Zwillinge, sahen sich zum Verwechseln ähnlich und ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie liebten ihre coole Surferfrisur. Während Leon, ständig mit Essen beschäftigt, sich für alle Sportarten begeistern konnte, ging Tim, der Besonnene von beiden, im Tennis auf.

„Ich habe euch eure Frühstücksdosen und euer Taschengeld hergelegt.“

Leon plärrte mit vollem Mund. „Wir wollen ab heute eine Taschengelderhöhung beantragen. Papa hat gesagt, bei ihm würden wir mehr bekommen.“

Alex setzte sich an den Tisch.

„Eine Taschengelderhöhung hattet ihr erst an eurem Geburtstag und ihr könnt euch gern noch etwas dazuverdienen. Der Garten ist mal wieder fällig. Wie wäre es mit ein bisschen Hilfe?“

Leon maulte und pustete Luft aus seinen Wangen. Tim legte seine Hand auf ihre Schulter. „Ich helfe dir, aber heute und morgen muss ich nachmittags zum Training.“

Alex tätschelte seine Hand.

„Okay, aber die nächsten zwei Tage habe ich auch keine Zeit. Ich habe da eher an das Wochenende gedacht. Übrigens heute Abend kommt Papa vorbei.“

Die Jungs jubelten. Leon machte Tim ein Zeichen.

„Da kann er sich den neuen Lego-Kran angucken, toll!“

Lisa kam aus dem Bad. Sie trug ein schwarzes Kleid und kniehohe, schwarze Plateaustiefel. Ihr weiß gepudertes Gesicht mit den schwarz umrandeten Augen und den dunkelrot geschminkten Lippen erinnerte Alex an eine schöne Maske. Ihre langen schwarzen Haare trug sie mit einem Samtband zum Zopf gebunden. Beeindruckt von ihrer Tochter biss sich Alex auf die Lippen. Du wirst jetzt nichts dazu sagen. Das ist ganz normal, du bist eine tolerante Mutter.

Lisa setzte sich an den Tisch. „Morgen.“

„Guten Morgen, möchtest du auch Kakao?“ Lisa nickte.

„Wo warst du gestern Abend? Ich bat dich doch darum, pünktlich zu Hause zu sein und für euch drei das Abendbrot zu machen.“

Leon rief mit vollem Mund.

„Die Lisa hat ’nen neuen Freund, der heißt Felix.“

„Alte Petze!“, zischte Lisa ihren Bruder an.

„Er wollte mich gestern nach Hause fahren und unterwegs ist das Auto stehen geblieben.“

Alex horchte auf. „Auto? Er hat schon ein Auto? Wie alt ist er denn und wo wohnt er?“

Lisa schmollte schon wieder. „Er ist 19 und er fährt sehr gut Auto.“

Alex rechnete nach. „Da ist er ja 4 Jahre älter als du.“

„Das ist doch nicht schlimm. Wie du und Papa. Außerdem wohnt er in Tampa.“

Alex zuckte zusammen. „Was? Da ermittle ich gerade!“

Lisa schaute erstaunt auf. „Etwa wegen des ertrunkenen Mannes am See? Das ist der Freund von Felix’ Bruder gewesen.“

„Wie heißt denn der Bruder?“

Lisa überlegte kurz. „Ich glaube Robert Zimmermann.“

Alex stand auf und suchte eine Liste in den Akten. Tatsächlich, dieser Name tauchte in der Freundesliste von Rene Schmitt auf.

„Okay, ich möchte dich bitten, dich von Tampa erst einmal fernzuhalten, vor allem von dem See. Bitte versprich es mir.“

Lisa starrte ihre Mutter an. „Aber der See ist doch eh gesperrt.“

„Lisa, ich bitte dich. Wir wissen noch nicht, warum der junge Mann dort gestorben ist. Ich möchte nicht, dass du dort bist, hast du mich verstanden?“

Lisa nickte.

„Außerdem möchte ich, dass du heute Abend zu Hause bist, da kommt Papa vorbei. Er möchte euch gern sehen“, betonte Alex. „So und jetzt alle ab in die Schule.“

Eine Stunde später betrat Alex die Gerichtsmedizin und musste erst ein ganzes Weilchen suchen, ehe sie die junge Assistentin von Dr. Wolter fand. Eigentlich nannten ihn alle nur Doc Brown, weil er dem Schauspieler Christopher Lloyd aus dem Filmklassiker „Zurück in die Zukunft“ wie ein Ei dem anderen glich.

„Guten Morgen Frau Michaelis, ich suche eigentlich den Doc.“

Die junge Frau unterbrach ihre Arbeit und kam auf Alex zu. „Ach Frau Brückner, das tut mir leid, aber Doc Brown ist im Einsatz.“

Alex konnte ihre Enttäuschung kaum verbergen. „Wissen Sie, ob er schon mit der Autopsie an Rene Schmitt begonnen hat?“

Carmen Michaelis lachte laut auf.

„Sie meinen die Wasserleiche aus Tampa? Wo denken Sie hin? Bestimmt nicht! Wir sind total unterbesetzt. Zurzeit stapeln sich die Leichen bei uns. Es ist Urlaubszeit und zwei Kollegen sind diese Woche wegen Krankheit ausgefallen. Heute ist außer mir nur noch Frau Dr. Kiesewalter da.“

Alex horchte auf. An eine Frau Dr. Kiesewalter konnte sich Alex erinnern, sie wurde im Obduktionsbericht Keller erwähnt und führte vor einem Jahr die Autopsie an Mark durch.

„Oh, die Frau Doktor würde ich gerne sprechen.“

Frau Michaelis deutete auf eine Tür und grinste. „Da können Sie gleich durch. Sie obduziert gerade. Bis dann.“

Alex bedankte sich und betrat den Nebenraum. Ein unerträglicher Gestank schlug ihr entgegen. Die Gerichtsmedizinerin glich einem operierenden Chirurgen in grüner OP-Kleidung. Selbst der Mundschutz fehlte nicht. Sie stand über ein verwestes Skelett gebeugt und sammelte mit einer Pinzette kleine Teile in eine Petrischale. Als Alex näherkam, sah sie, dass es sich um Maden handelte.

„Doktor, mein Name ist Alexandra Brückner, die neue Hauptkommissarin. Kann ich Sie kurz sprechen?“

Maria Kiesewalter schaute auf, legte die abgedeckte Schale und die Pinzette beiseite. Als sie sah, dass Alex mit ihrem Brechreiz kämpfte, winkte sie ihr zu, ihr zu folgen. Sie verließen den Raum durch eine Schwingtür und atmeten die frische Luft durch das offene Fenster ein.

„Ja, das ist schon gewöhnungsbedürftig. Aber ich brauchte jetzt auch mal ’ne Pause.“

Die Gerichtsmedizinerin zog ihre Handschuhe aus, legte den Mundschutz ab und begrüßte Alex. „Ich habe schon von Ihnen gehört, Frau Brückner. Ich finde es sehr mutig, sich alleinerziehend mit drei Kindern ins Berufsleben zurück zu kämpfen.“

Alex winkte ab. „Es ist wirklich nicht so einfach, alles unter einen Hut zu bekommen. Es muss halt gehen. Aber wissen Sie, warum ich da bin? Sie haben vor einem Jahr die Autopsie an Mark Keller vorgenommen. Können Sie sich noch daran erinnern?“

„Aber natürlich, sehr gut sogar! Es tat mir leid um den Jungen. Außerdem habe ich die Akte für den Chef bereitgelegt, als ich von dem zweiten Unfall gehört habe.“

Alex trat an Frau Kiesewalter heran. „Die Hämatome an Marks Unterschenkeln und Füßen. Konnten Sie eine Ursache feststellen?“

„Nein, der Junge war Fußballer. Einige Hämatome entstanden kurz vor seinem Tod, aber es gab auch ältere Blutergüsse. Er spielte noch am Stand barfuß mit ein paar Freunden Fußball. Was für ein Schlag, Tritt, Stoß oder ähnliches ihm widerfahren war, konnte man im Einzelnen nicht mehr nachvollziehen.“

Alex überlegte kurz. „Und wie können Sie sich sein Ertrinken erklären? Es handelte sich schließlich um einen guten Schwimmer und einen durchtrainierten Sportler.“

Dr. Kiesewalter beugte sich etwas nach vorn, als wollte sie Alex ein Geheimnis anvertrauen.

„Wissen Sie, Frau Brückner, Ertrinken ist sehr oft ein lautloses Ereignis. Der Körper ist plötzlich völlig erschöpft. Nur wenige Menschen haben noch die Kraft, um Hilfe zu rufen oder mit Händen und Füßen um sich zu schlagen und sich bemerkbar zu machen. Man ist sozusagen bewegungsunfähig. Gefährlich wird es erst, wenn man mit vollem Bauch zum Schwimmen geht. Der Organismus ist dann voll mit der Verdauung beschäftigt und es bleibt dann nicht mehr genug Energie, die für die Muskeln gebraucht wird. Man ist sozusagen zu schwach für die Muskelarbeit. Und das kann dem besten Sportler passieren. Wenn ich mich richtig erinnere, konnte ich bei Mark einen ziemlich vollen Magen diagnostizieren und sogar 1,2 Promille im Blut.“

Alex beeindruckte ihr Vortrag. Sie dachte automatisch an die Strandtage mit den Zwillingen, die es nach dem Essen, trotz Ermahnungen, so schnell wie möglich wieder ins Wasser gezogen hatte.

„Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“

Die Ärztin riss sie aus ihren Gedanken.

„Oh, danke, aber ich bin schon spät dran. Ein anderes Mal gern. Vielen Dank für Ihre Ausführungen, Sie haben mir sehr geholfen. Nehmen Sie die Autopsie von Rene Schmitt auch vor?“

Maria Kiesewalter schüttelte den Kopf. „Ich nehme an, den Jungen obduziert der Chef höchstpersönlich. Ich habe gehört, dass es sich bei Mark und Rene um Freunde handelte. Das ist aber schon ein merkwürdiger Zufall?“

Alex stimmte ihr zu. „Ja, ich glaube nur nicht an Zufälle, deshalb brauche ich den Befund sehr dringend.“

Die Ärztin nickte. „Verstehe. Ich werde dem Doc Bescheid sagen.“

Die beiden Frauen verabschiedeten sich.

Nach einem kurzen, mündlichen Bericht bei Jochen Acker­mann schaute Alex bei Regina Wegener vorbei und bat sie, das Umfeld von Rene Schmitt abzuchecken und alles Relevante herauszusuchen.

Kapitel 5

Alex stieg in ihren Wagen und quälte sich durch den morgendlichen Verkehr. Ihr kam es vor, als würde Erfurt jeden Tag eine neue Baustelle dazubekommen. Auch auf der Landstraße nach Tampa stand sie öfter im Stau. Die Klimaanlage gab ihr Bestes. Heute schien wieder ein heißer Tag zu werden.

Ihre Kollegin Lena Staller hatte schon alle Fenster aufgerissen, um die Wärme vom Vortag entweichen zu lassen. Sie saß an ihrem Schreibtisch und lächelte.

„Guten Morgen Frau Kollegin.“

„Hallo Frau Staller, haben Sie gut geschlafen bei der Hitze?“

Alex gab Lena die Hand. „Na, es ging bei weit geöffnetem Fenster und bei Ihnen? Hatten Sie Glück in der Rechtsmedizin?“